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Vor vierzig Jahren | APuZ 24/1954 | bpb.de

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APuZ 24/1954 Vor vierzig Jahren Der erste Weltkrieg

Vor vierzig Jahren

Bruno Brehm

Zur Erinnerung an Sarajevo — aus österreichischer Sicht

Abbildung 1

Die Geschichte Europas, die bis zu den beiden Weltkriegen für uns die Weltgeschichte war, ist seit der Teilung des römischen Reiches zweigeteilt. Das zweite Rom, das an der Stelle entstand, wo Asien und Europa einander berühren und wo um Troja zum ersten Male der Kampf zwischen Osten und Westen entbrannte, hat auf das westliche Rom voll Verachtung geblickt. Byzanz, die neue Stadt, der vorgeschobene Posten des römischen Reiches zuerst, und dann seine Hauptstadt, hatte sechsundzwanzig Belagerungen überstanden und abgewiesen: die Perser, Avaren, Bulgaren, Russen, Ungarn, Araber und Osmanen waren vor ihren Mauern erschienen und die Völkerfluten an ihnen zerschellt. Alle Großtaten dieser Stadt sind uns im Westen nie zum Bewußtsein gekommen. Ein Wort ist uns von dieser Stadt geblieben, das nicht ihren Ruhm, sondern die Unterwürfigkeit der Untertanen vor dem Gottkaiser bezeichnen soll: Byzantinismus. Nichts von der weit nach dem Osten vorgeschobenen Militärgrenze, nichts von den byzantinischen Prinzessinnen, die gleich den chinesischen durch Heiraten die Völker an den Grenzen botmäßig machen mußten, nichts von Fortleben einer Welt, die im Westen der Stadt längst von Barbaren überrannt und zerstört worden war Das alte Rom hatte nicht Widerstand leisten können. Augustinus hat seinen Gottesstaat geschrieben, um die Christen gegen den Vorwurf zu verteidigen, daß ihretwegen und als Strafe für den Abfall von den alten Göttern, Rom von Alarich eingenommen worden sei. Rom missionierte Kelten und Germanen, Byzanz die Slaven. Jene Slaven aber, die katholisch wurden, die Polen, die Tschechen, die Slowaken und die Kroaten gehörten nicht nur zum Westen, machten nicht nur die Kunst des Westens mit, sondern wurden auch, wie Polen und Kroaten, dessen opferfreudige Verteidiger. Rom war ein armseliges Nest zwischen den großen Trümmern einer verfallenden Stadt geworden, in der der Papst hauste, Byzanz war eine große Stadt wie es im Westen keine ähnliche gab. Wenn sich der Franke in Rom zum Kaiser krönen ließ, so schien das den stolzen Byzantinern ein armseliges barbarisches Possenspiel und wenn der Papst im zerstörten Rom die Unterwerfung der östlichen Kirche verlangte, so schien ihnen das Anmaßung und Tollheit. Aber östlich von Byzanz versank nun auch die Alte Welt. Der Islam rückte näher, die Stadt wurde einsam, das Vorfeld wurde immer kleiner. Byzanz blieb, was es war. Die größte und die reichste Stadt, uneinnehmbar, stolz, hochmütig und dem Wandel der Zeit trotzend. Vielleicht konnte in letzter Stunde der Westen helfen. Aber der Westen -und das war Rom -half nur, wenn sich Byzanz unterwarf, wenn das Schisma überwunden, wenn die kirchliche Einigung hergestellt wurde. Zwei Jahre (1438— 1439) beriet man zu Florenz. Der russische Metropolit, der für die Einigung der Ost-und Westkirche gesprochen hatte, wurde bei seiner Heimkehr vom russischen Großfürsten in den Kerker geworfen. Für Rußland, das das Erbe von Byzanz übernehmen wollte, gab es nur einen Feind, der für ihn der Vertreter des Westens war: der Papst in Rom. Wenn Byzanz nachgab, Rußland gab nicht nach. Von jener Zeit an wählte es seinen Metropoliten selbst.

Lieber den Turban als die Tiara Am 18. Dezember 1452, fünf Monate vor dem Untergang des kaiserlichen Byzanz, verkündete der aus seinem Gefängnis entsprungene russische Metropolit in lateinischer Sprache in der Hagia Sophia, nach der Lesung der Messe im lateinischen Ritus, die Union der beiden Kirchen. Die Byzantiner schrien vor Schmerz auf: Entweiht sei ihre Kirche, lieber den Turban als die Tiara, lieber den Türken als den Papstl So sehr waren die Byzantiner von Haß und Verachtung auf die Emporkömmlinge des Abendlandes erfüllt, daß sie, selbst wenn ihnen ein Engel erschienen wäre und ihnen die Aussöhnung mit Rom als Preis der Rettung angeboten hätte, sie doch den Untergang ihrer Stadt vorgezogen hätten. Rings um die Stadt war alles in die Hand der Osmanen gefallen. Neun Jahre nach der Schlacht bei Varna entschloß sich der Sultan zum entscheidenden Angriff. In der Stadt weilten damals neunhundert genuesische Söldner, kampferprobte Soldaten, deren Erfolge während der Belagerung den Neid der Byzantiner erregten. Kaiser Konstantin XII. lehnte wiederholt das Begehren nach Uebergabe und Abzug ab. Er wollte inmitten seiner Stadt fallen. Als man erkannte, daß der große Angriff bevorstehe, nahm der Kaiser in der Hagia Sophia das Abendmahl und weihte sich dem Tode Alle Glocken der Stadt erdröhnten. Die Türken griffen an, die Griechen wehrten sich mit griechischem Feuer und mit Pech und siedendem Wasser, aber Verrat öffnete ein Tor, der Anführer der Genuesen wurde verwundet, der Kaiser legte den Purpurmantel ab und stürzte sich in das Gerümmel. Er fiel, man fand ihn erst nach langem Suchen und erkannte ihn an den roten Halbstiefeln mit dem goldenen Doppeladler. Sein Kopf wurde abgehauen und auf die Justinianssäule gesteckt, ein Kruzifix wurde mit einer Janitscharenmütze bedeckt und durch die Stadt getragen: Seht, das ist der Gott der Christen! Die Stadt wurde wohl geplündert, doch die Gebäude wurden verschont, der Sultan Mohamed II. wollte hier seine Residenz aufschlagen. Das orthodoxe Patriarchat blieb erhalten. Damals schrieb der russische Einsiedler Filofei: „Zwei Rom sind gefallen. Das dritte Rom ist Moskau. Ein viertes Rom wird es nie geben." Hundert Jahre nach der Eroberung von Byzanz gibt es drei Kaiser: den westlichen, den deutschen Wahlkaiser, den östlichen türkischen Kaiser, den S u 11 a n in Stambul, und neben ihm, den Anspruch auf die alte byzantinische Residenz erhebend, der Vertreter des östlichen Christentums, der Herr des dritten Roms, den Zar in Moskau. Es gibt von da an zwei große Richtifhgen im abendländischen Machtstreben, die nun von neuen Kräften besetzt sind: die westliche, die sich im Kampf um das Werden der Nationen und im Drang zur atlantischen Küste erschöpft, da seit der Eroberung von Byzanz der mediterrane Seeweg versperrt ist, und eine östliche, die nach dem Kaisertum von Byzanz trachtet. In dem Augenblick, in dem die Türken nach der zweiten Belagerung Wiens den Höhepunkt ihrer Macht erreicht und auch überschritten hatten, stieß der russische Zar vor. Wien, dessen Aufgabe es wäre, nachzustoßen und den Türken nicht freizugeben, kann dies nicht tun, da Frankreich immer wieder seinen Rücken bedroht. Rußland hat den Rücken frei. Rußland kann, seit es die westliche Technik übernommen hat, den Türken nachstoßen und sie immer weiter nach Süden drücken. Das Zweite Rom, die Stadt am Bosporus lockt, der Halbmond soll von der Hagia Sophia weichen, das Kreuz soll sich auf ihn stellen wie der Heilige Georg auf den besiegten Drachen. Die Raja, die von den Türken unterworfenen christlichen Völker, sehen in dem aufsteigenden Rußland den kommenden Befreier. Die lateinische Welt des Westens ist dem orthodoxen Osten fremd geblieben wie eh und je. Diese unsichtbare Mauer hatte auch das vordringende und den weichenden Türken folgende Österreich nicht übersteigen können. Lieber den Turban als die Tiara! Das war auch unter der türkischen Herrschaft nicht anders geworden. Die deutsche Prinzessin von Anhalt-Zerbst, die sich eine Gallierin des Nordens nannte und die russische Kaiserin Katherina II. wurde, rief zum Kampf gegen die Türken auf. Deutsche Generale führten die russischen Soldaten. Die Teilung Polens war einer der schwersten Fehler, den in seiner furchtbaren Tragweite nur Kaiserin Maria Theresia begriff. Aber Friedrich der Große vermochte nicht in der alten religiösen Ost-West-Latein-Griechisch-Katholisch-Prewaslawischen Kategorie zu denken, und Maria Theresias Nachfolger Josef II. auch nicht. So zerschlug sich Europa selbst sein östliches Vorwerk.

Die Heilige Allianz Auch den Völkern des Ostens brachte die französische Revolution das völkische Erwachen, gleichviel ob sie nun mit oder gegen die Franzosen kämpften. Zum ersten Male rückte das Bürgertum zu den Freiwilligen-und Jägerformationen ein, neue Gedanken drangen in die alten von Adeligen geführten Heere. Als man die Revolution in St. Helena angekettet zu haben vermeinte, beschloß der Wiener Kongreß, alles was geschehen war, wieder ungeschehen zu machen. Die Heilige Allianz verbürgte die Ruhe und das Stillestehen der Zeit. Die Regierungen dachten anders als die Regierten. Aufstände flammten überall auf, wo in den Jahren der großen Zeit gefochten worden war. Aber es waren andere Kriege, die damals begannen. Goya hat sie als erster gemalt und radiert. Es waren Volkskriege, Kinder der großen Revolution, mit all der Unerbittlichkeit des Bürgerkrieges. Rußland benützte die Erregung jener orthodoxen Völker, die nicht unter seiner Herrschaft standen und wiegelte auf, wo es nur konnte, bei den Serben, bei den Griechen, bei den Albanern, bei den Rumänen und bei den Bulgaren. Die Türken antworteten hart und grausam, sie hängten Priester vor den Kirchen auf und brannten Dörfer nieder.

Rußland vertrat die Freiheit der nicht von ihm beherrschten Völker: Österreich, Frankreich und England waren gegen die Lostrennung Griechenlands von der Türkei, weil dadurch alles, was in Europa nach Freiheit verlangte, gegen die Heilige Allianz aufgerufen wurde. Die westlichen Regierungen stellten sich auf die Seite der Pforte, die westlichen Menschen auf die Seite der Freiheit. Deutsche, Engländer und Franzosen meldeten sich als Phil-hellenen. Lord Byron starb 1824 bei Missolunghi am Fieber.

Die große Wende trat im Jahre 1825 ein. Es starb der Zar der Heiligen Allianz, Alexander I. zu Tananrog am Asowschen Meere. Nach seinem Tod setzte der Edelmuts-Wettstreit, eine seltsame Mischung aus Rousseauscher Sentimentalität und russischer Brutalität ein. Der in Warschau residierende, aber morganatisch mit einer polnischen Fürstin verlobte Konstantin hätte als der ältere Bruder folgen müssen, wenn er nicht verzichtet hätte. Der jüngere Bruder Nikolaus ließ Konstantin zum Zaren ausrufen, eine Deputation ging nach Warschau, aber Konstantin beharrte auf seinem Verzicht. Die Unklarheit benützten einige Offiziere, es kam zu Schießereien, die bereits auf Konstantin vereidigten Truppen wollten nicht nachgeben und mußten mit der Waffe überwältigt werden. Fünf Verschwörer wurden gehängt, die andern wurden nach Sibirien verschickt.

Das Programm von Nikolaus lautetekurz zusammen-gefaßt: Russifizierung der Völker, Gräzisierung der Religion. Kenntnis der russischen Sprache in den Ostseeländern und in Polen war unbedingt für die Aufnahme in den Staatsdienst erforderlich. Befreiung der Orthodoxen von den Türken.

Die Nachricht von den Thronstreitigkeiten löste in Persien einen Angriff auf Rußland aus, um durch die von England organisierten Truppen, die verlorenen Provinzen zurückzugewinnen. In Persien hatten die Russen Erfolg. Im Westen, wo sie im Verein mit England und Frankreich angriffen, die Rußland nicht allein an die große Beute heranlassen wollten, setzten sich die Türken unerwartet stark zur Wehr. Denn auch die Türken hatten sich der neuen Zeit angepaßt. Die Janitscharen waren entmachtet und zum größten Teil niedergemetzelt und die Truppen nach europäischer Art uniformiert und zusammengefaßt worden. Die Heilige Allianz war nicht mehr. Georg Canning, der Gegner des kontinentalen Absolutismus, stellte sich auf die Seite der Griechen. Die englische Flotte vernichtete ihre türkische Gegnerin bei Navarino im Süden des Peloponnes. Die Russen marschierten in Bulgarien ein und drangen über die Balkan-pässe auf Adrianopel vor. Sie kamen nicht über die Stadt hinaus, da die Pest sie aufhielt. Aber sie verstanden ihre Schwäche zu verbergen. Die Türken mußten die Donaufürstentümer räumen und die Unabhängigkeit Griechenlands anerkennen.

Was nun geschah, ist kennzeichnend für die Geschichte des Balkans im neunzehnten Jahrhundert. Frankreich schlug für den griechischen Thron einen bayrischen Prinzen vor, nachdem der griechische Thronanwärter beim Betreten der Kirche zu Nauplia niedergemacht worden war. Der Wittelsbacher Otto wurden König von Griechenland, wie später der Hohe izoller König vonRum ä n i e n und der Coburger König von Bulgarien. Otto hatte es in Griechenland nicht leicht. Je nachdem, ob der russische oder der englische Einfluß obsiegte, kam oder ging die Regierung.

Die besiegte Türkei kam nicht zur Ruhe. Mahmud Ali, der Pascha von Ägypten, bedrohte den Sultan und Rußland bot Konstantinopel seinen Schutz an, wie es diesen ein paar Jahre später den Österreichern gegen die Aufständischen Ungarn anbieten wird. Es ist geschickter als jede andere Macht; bald stellt es sich als Befreier der Völker, bald als Stütze der bedrohten Throne dar.

Metternich, der seine ganze Aufmerksamkeit dem durch die französische Revolution und die napoleonischen Kriege beunruhigten Europa zuwandte, konnte nicht so nach dem Osten ausgreifen, ihm lagen Deutsch-land und Italien näher. Wien erlebte seine edelste Zeit. Die Wiener Klassik, die innigste Musik, hüllte die Stadt ein. Grillparzer sprach das aus, was man im Grunde hoffte:

Mein Haus wird bleiben immerdar, ich weiß, Weil es mH eitler Menschenklugheit nicht Dem Neuen vorgeht oder es begleitet.

Nein, weil es, einig mit dem Geist des All, Durch Klug und scheinbar Unklug, rasch und zögernd, Den Gang nachahmt der ewigen Natur Und in den Mittelpunkt der eignen Schwerkraft Der Rückkehr harrt der Geister, welche schweifen.

Oder wie es Kaiser Franz in seinem Testament ausgedrückt hat: Regiere, verändere nichts. Oder wie es Hebbel im Gyges sagt: Rühr nicht an den Schlaf der Welt!

Der Aufstieg Rußlands Die Welt verändert sich, die Welt schläft nicht, die schweifenden Geister kehrten nicht zurück. Österreich, die beharrende Macht im Westen, stand einer ununterbrochen a n g r e i f e n d e n , seine Völker n i e d e r w e r f e n d e n , die andern Völker aufwiegelnden und befreienden Macht, Rußland, gegenüber. Die Logik, die heute dialektischer Materialismus genannt wird, ist älter. Rußland befreit mit einer Hand die G r i e c h e n und würgt mit der andern die Polen ab, es befreit die Bulgaren und wirft die Ungarn nieder, es unterstützt die Serben und bedrückt die Ukrainer. Die Zeit nach Napoleon kennt in Europa nur kleine Räume und kleine Maßstäbe. Die Großräumigkeit des Barocks ist nicht nur in den hohen Sälen und den weiten Ausblicken, sondern auch in den staatlichen Planungen im kontinentalen Europa verloren gegangen. Die nach Osten vorgeschobenen Schlösser Wiens wie Schloßhof und Eisenstadt sind verlassen und einsam. Die westliche Landschaft Schuberts siegt über die östliche Landschaft Haydns. Der Aufstieg Rußlands löste bei allen Slawen — mit Ausnahme der katholischen, auf Vorposten des Westens stehenden Polen — Begeisterung aus. Da Rußland für seine Hilfe in den Revolutionsjahren auf Österreichs Dank rechnete, glaubte es freie Hand gegen die Türkei zu bekommen. Es verlangte von den Türken freie Benützung der heiligen Stätten in Jerusalem und das Protektorat über die griechische Kirche im heiligen Land. Die Völker der Türkei sind von Unruhe erfaßt. Es heißt, die türkische Herrschaft habe nur eine Dauer von vierhundert Jahren, und die Zeit sei bald abgelaufen. Im Jahre 1853 werde Konstantinopel wieder an die Christen fallen. Rußland schürt Aufruhr, 1853 erheben sich die Montenegriner, Österreich schreitet ein und warnt die erbitterten Türken vor einer allzu grausamen Bestrafung der aufständischen Christen.

Auch Frankreich will etwas für die Katholiken im Heiligen Land tun, die dort durch die Orthodoxen ganz an die Wand gedrückt sind. Das gerade war es, was Rußland nicht dulden konnte. Am Sterbebett der Türkei wollte es allein sitzen und warten, was es erben könne. Wie gebannt marschierte auch diesmal Rußland auf Konstantinopel los. Österreich sandte sein Observationskorps in die Walachei, um den russischen Vormarsch aus der Flanke zu bedrohen. Engländer und Türken und Franzosen griffen, von einem sardinischen Kontigent unterstützt, die Russen auf der Krim an. Es kam zu der ebenso blutigen wie langwierigen Belagerung von Sebastopol. Der russische Soldat, tapfer, standhaft und genügsam wie immer, wenn er gut geführt wird, leistete hartnäckigen Widerstand. Die Verbündeten hatten große Verluste. Rußland mußte wohl Sebastopol aufgeben, aber von einem Sieg konnte keine der beiden Mächtegruppen sprechen. Der eigentliche Besiegte dieses Krieges war Österreich, daß sich weder für den Westen gegen Rußland, noch für Rußland gegen den Westen hatte entschließen können. Rußland mußte sein Protektorat über die Donau-fürstentümer aufgeben und ein Stück Bessarabiens abtreten. Sebastopol sollte nicht mehr aufgebaut werden. 1854 wurde der Frieden zu Paris unterzeichnet. Napoleon III. hatte sich seinen ersten Krieg leichter und unblutiger vorgestellt. Es folgen die westlichen Kriege; Napoleon gegen Österreich in Italien, der zweite polnische Aufstand, der dänische Krieg, der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland, die Entscheidung zwischen Nord und Süd auch in den Vereinigten Staaten und der deutsch-französische Krieg, alles Kämpfe in Europa um die Form des Nationalstaates. Die mit dem Nationalstaat seit der französischen Revolution verbundene Idee der Freiheit zwingt auch Österreich zu einem Umbau seines Staates; die andere Reichshälfte, die ungarische, beansprucht für sich die nationale Selbständigkeit, um diese im gleichen Atemzug den Völkern ihrer Krone, den Slowaken, Rumänen, Serben, Kroaten und Deutschen abzustreiten. Der Freiheitsgedanke des Westens arbeitet in Rußland weiter, es treten einander die Westler und Rußlandgläubigen in langen Kämpfen gegenüber. Dostojewski sieht Rußlands Mission in der Christianisierung des gottlosen, fauligen Westens, in der Eroberung Konstantinopels und in der Befreiung der Christen vom Joch der Ungläubigen. Ehe sich diesmal Rußland zum dritten und wie alle Russen glaubten, entscheidenden Vorstoß anschickte, bereitete es ihn politisch besser vor, sicherte es vor allem dessen Westflanke. Österreich sollte auch Anteil an der erhofften Beute haben. Bei der Zusammenkunft der beiden Kaiser in Reichstadt im Jahre 1876 wurde ihm Bosnien und Herzegowina versprochen. Die Türkei wehrte sich kräftiger, als man von dem sterbenden Mann am Bosporus erwartet hatte. Wieder bezwang Rußland nach schweren Kämpfen im Vorfeld die Balkanpässe, wieder stand es zwei Tagmärsche vor Konstantinopel, als ihm die englischen Schiffsgeschütze an der türkischen Küste halt geboten. Der Vorfriede von St. Stefano gab Rumänien, Serbien, Montenegro und Bulgarien die Unabhängigkeit, Serbien und Montenegro sollten Gebietserweiterungen in Bosnien und der Herzegowina erhalten. Bevor noch die zu kurz gekommenen Staaten des Westens auf dem Kongreß zu Berlin zusammentraten, hatten sich die Engländer — sicher ist sicher — Zypern genommen, das ihm — falls die Russen doch einmal aus dem Schwarzen Meer ausbrechen und ins Mittelmeer gelangen sollten, dessen östlichen Teil beherrschte.

Der ehrliche Makler Da nun das geeinte Deutschland an Stelle von Frankreich die Vormacht des Westens auf dem europäischen Festland war, fiel Bismarck das undankbare Amt des ehrlichen Maklers zu. Der Ungar Andrässy, der 1848 in effigie gehängt worden war, vertrat die Doppelmonarchie bei diesem Kongreß. Er drängte vor allem darauf, daß die Entstehung großer Balkan-staaten verhindert und daß die Türkei erhalten werde. Jetzt, da der alte Erbfeind der Donaumonarchie dahinschwand, ahnte man, daß es ein vornehmer Staat war, der dahinging und daß die jungen Staaten, die auf seinem Gebiet entstanden, weit größere Forderungen stellten und weit gefährlicher waren. An die Stelle des Kismet war in den neuen Staaten eine heftige Gier nach Hochkommen und Ausgreifen über die Grenzen getreten und ein Nationalbewußtsein, das vor keiner Übertreibung zurückschreckte. Aus den Schatzkammern der Geschichte wurden alte Kronen versunkener Reiche und märchenhafte Erinnerungen hervorgeholt und blank gescheuert. Was man in Wien nicht denken wollte, das schrien die befreiten Völker in die ganze Welt hinaus: dem Sultan in Stambul müsse der Kaiser in Wien folgen, denn nicht nur von der Türkei habe man Menschen und Land zu fordern, sondern von der Donaumonarchie auch. Nun werde es aus sein mit der Teilung der Slawen und Puschkins Wort werde wahr werden, daß die slawischen Bäche bestimmt seien, in ein russisches Meer zu münden. Serbien und Montenegro blieben ohne den erhofften Gebietszuwachs in Bosnien und in der Herzegowina, Österreich erhielt den Auftrag, die beiden Länder zu okkupieren und dort die Ruhe wieder herzustellen. Außerdem wurde es mit der Besetzung eines Gebietsstreifens, des Sandschaks betraut, der Serbien von Montenegro trennte. Der Kongreß hätte es gern gesehen, wenn Österreich die Länder annektiert und nicht bloß okkupiert hätte, aber die Türkei drohte mit der Fortsetzung des Krieges und Österreich gab leider nach um jenes lieben Friedens willen, der dann die beiden großen Weltkriege gebar. Daß es sich um mehr handelte als um zwei Provinzen des türkischen Reiches, war allen klar. Andrässy hatte dem Kaiser gemeldet, daß er der Monarchie die Pforten des Orients geöffnet habe und er rechtfertigte sich, daß es doch nicht ganz geschehen sei: „Wir hätten entweder zugeben müssen, daß die russischen Truppen in Konstantinopel einziehen oder selbst dahin marschieren müssen, um der russischen Armee zuvorzukommen. Hierzu war die Monarchie dermalen nicht vorbereitet." Die Pforte nach dem Orient war nur so weit geöffnet, daß ein scharfer Wind durch sie eindrang, ohne daß man selbst durch sie ins Freie gelangen konnte. Man begnügte sich mit dem halben Gewinn, was schlimmer war als ein ganzer Verzicht. Die Völker der Monarchie freuten sich wenig über diesen Gewinn. Die Deutschen fürchteten den Zuwachs an Slawen, die Slawen wünschten keine Befreiung ihrer Brüder von der Türkenherrschaft durch das Haus Habsburg-Lothringen, die Ungarn beanspruchten die beiden Länder für ihre Krone, die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder, wie die namenlose österreichische Reichshälfte hieß, konnte der ungarischen Krone diesen Zuwachs nicht gönnen, da er ihr das absolute Übergewicht verliehen hätte. Man mußte ein gelernter Österreicher sein, um sich in dieser Lage auszukennen und zu hoffen, daß die gütige Zeit einst alle Fragen wohlwollend und friedlich lösen werde. Die Okkupation werde der Orientpolitik Österreichs das Grab bereiten, prophezeite der russische Kanzler Gortschakow. Stephanie werde Kaiserin von Byzanz werden, versprach Kronprinz Rudolf seiner Gemahlin beim Antritt seiner Orientreise im Jahre 1 8 8 4 , die ihn in jene Länder führen sollte, die seit der Okkupation wieder in das Blickfeld der Donaumonarchie gerückt waren. Der Kronprinz hoffte die freisinnigen Kreise auf seine Seite zu ziehen. Wie Kronprinz Friedrich von Preußen mit Ludwig Bamberger unterhielt auch Rudolf mit einem liberalen Journalisten Moritz Szeps Verbindung. Die Schwägerin von Szeps, eine Tochter von Dr. Zuckerkandl, war mit Clemenceaus Bruder verheiratet. Clemenceau — und daran sollte man sich bei Clemenceaus heftiger Reaktion gegen Kaiser Karl in der Sixtus-Affäre erinnern — kam heimlich bei Nacht zu Kronprinz Rudolf in die Hofburg, um Zukunftsfragen zu besprechen, die wohl alle um das Bündnis mit dem deutschen Reiche kreisten. Der Tod Friedrichs, der neuundneunzig Tage Kaiser war, zur kurz, um seine Reformgedanken durchzuführen, lang genug, um Bismarck zu verbittern, zog den Tod des österreichischen Thronfolgers nach sich. Das Ende beider war tragisch. Als Kaiser Friedrich in den letzten Zügen lag, ließ der Kronprinz, der nachmalige Kaiser Wilhelm II. das Neue Palais von Gardehusaren umstellen. Wenn die Kaiserin, erzählte der rumänische König Carol, vom Sterbelager ihres Gemahls für einen Augenblick an ein Fenster trat, um Luft zu schöpfen, sah sie die roten Uniformen der Husaren, die zu verhindern hatten, daß jemand unkontrolliert das Neue Palais verließe. Insbesonders sei es darauf abgesehen gewesen, jede Korrespondenz der Kaiserin mit dem Auslande zu verhindern. Die Kaiserin vergaß ihrem Sohn dieses Benehmen nie. Als sie, die Tochter der Königin Viktoria von England starb, wünschte sie, in die englische Flagge gehüllt, begraben zu werden. Der Hauptgrund des Zerwürfnisses war eine Balkanfrage, die mit einer Herzensgeschichte verquickt war. Der auf Betreiben Rußlands abgesetzte Fürst Alexander von Bulgarien, war mit Wilhelms Schwester verlobt, doch Bismarck war gegen diese Heirat, die Deutschland mit Rußland zu verfeinden drohte.

Kaiser Friedrich war an Krebs gestorben, der österreichische Kronprinz nahm sich das Leben, weil seine Hoffnungen und halben Pläne gescheitert waren. Die kleine Baronin nahm er mit in den Tod, weil er nicht allein sterben wollte. Die Angst vor einem Angriff Rußlands und vor der Unbeherrschtheit des jungen deutschen Kaisers, der nach Rudolfs Ansicht Unheil über das Reich bringen würde, waren wohl auch Gründe, die den Prinzen den Abschied notwendig erscheinen ließen. Damals schrieb eine amerikanische Zeitung: »Nicht nur von Anarchisten werden die Monarchen und solche, die es werden wollen, verfolgt, sondern auch von der inneren Stimme, die ihnen sagt, daß in einer Zeit der freien demokratischen Völker für sie kein Platz mehr ist. Gerade weil dieser Prinz aus einem der ältesten Herrscher-geschlechter des alten Europa mit den Ideen der neuen Zeit geliebäugelt haben soll, eben deshalb mußte er sterben. Man muß nicht immer an Jesuiten-und Freimaurerverschwörungen denken. Es gibt zwei Seelen in einer Brust, wie das ein Dichter der Deutschen sagt, die sich so nicht vertragen können, daß erst eine Seele die andere verkümmern läßt und dann vergiftete. Hätte dieser junge Mann ernst gearbeitet, wäre er nicht auf solche Gedanken gekommen, die ihm aus dem Müßiggang erwuchsen. Wir stehen betrübt vor dem menschlichen Schicksal, wir wissen, daß auch er Eltern hat, die den Verlust schwer verwinden werden, aber wir sind nicht in der Lage, das Schicksal, das unerbittliche, anzuklagen. Es vollzieht sich, was sich vollziehen muß. Die Klage, daß ein wahrscheinlich demokratischer Herrscher der Zukunft verloren gegangen ist, will uns nicht viel sagen, denn wir glauben, daß die Zukunft jedwede Art von Herrschern verlieren wird. Sein Onkel ist in Mexiko gefallen, weil der Boden der Neuen Welt keinen Kaiser dulden kann — der Neffe hat sich selbst gefällt." Fortimbras Amerika hält denEpilog der abendländischen Tragödie. Die Neue Welt duldete den Einbruch des Alten in ihre Hemisphäre nicht. Auch der Rücktritt des Kaisers von Brasilien, dessen Mutter eine Habsburgerin und dessen Vater ein Braganza waren, wurde von den Vereinigten Staaten erzwungen. War mit Rudolf die Hoffnung der liberalen Bürger dahingegangen, so kam mit dem Neffen das Kaisers, mit Franz Ferdinand, deren Befürchtung und Bedrohung, und der neue Thronfolger erinnerte nicht nur die Tschechen an die habsburgischen Ferdinande, die Träger der Gegenreformation. Auch er war ein Kronprinz, der mit seinem Regierungsantritt alles zum Besseren wenden wollte. Franz Ferdinand hatte in Oedenburg bei den Husaren gedient und dort den ungarischen Chauvinismus kennen gelernt, den zu bändigen und auf ein erträgliches Maß zurückzuschrauben eines seiner Hauptziele war. Er hatte sehen gelernt, wie Ungarn jede Reform verhinderte, wie es die Armee verdorren ließ, weil es jede Budget-Debatte zu Erpressungen benützte. Franz Ferdinand wollte sich mit dem Ausgleich nicht abfinden, den sein Oheim 1867 mit Ungarn geschlossen hatte; er dachte einen vollkommenen Umbau der Donaumonarchie auf föderativer Grundlage vorzunehmen. Vor allem verlangte er immer wieder Frieden, damit er, wenn er an die Regierung kam, sich seiner Aufgabe widmen könne.

Die bosnisch-herzegowinische Frage Damals hatte sich Rußland, da ihm im Westen kein Erfolg beschieden war, gegen Osten gewandt. Es war im Jahre 1904 zum Krieg mit Japan gekommen. Rußland hatte eine große Niederlage erlitten, die eine Revolution nach sich gezogen hatte. Alois Freiherr Lexa von Aehrenthal war während der Zeit russischer Schwäche und Niederlage Botschafter der Donaumonarchie in Petersburg. 1906 kam er als Minister des Äußeren auf den Ballhausplatz. Im Jänner 1908 teilte er den Delegationen mit, daß er im Sandschak die Bosnische Ostbahn so ausbauen werde, daß sie den Anschluß an die Strecke nach Saloniki erreiche. Der Aufstieg Japans rüttelte auch die Türken auf. Eine Militärrevolution, die durch eine Geheimorganisation getragen wurde, stürzte das alte Regime und verlangte von Österreich die Herausgabe der okkupierten Provinzen Bosnien und die Herzegowina. Hatte bei der Ankündigung des Baues der Anschlußstrecke nach dem ägäischen Meere schon Rußland getobt und die anderen ‘Staaten ihre Befürchtungen geäußert, daß durch solch einen Schritt Österreichs ein Krieg heraufbeschworen werden könnte, so sah sich Aehrenthal der verjüngten Türkei gegenüber zur doppelten Vorsicht genötigt. Nur den russischen Außenminister zog Aehrenthal ins Vertrauen, der einer Annexion zustimmte, wenn Österreich den Russen in der Dardanellenfrage, ihrem immer wieder angestrebtem Ziel, entgegenkomme.

Der Thronfolger mahnte zur Vorsicht; er schrieb am 6. August 1908 an Aehrenthal: „Sollte eine Annexion für unbedingt notwendig erachtet werden, so kann ich derselben nur zustimmen, wenn die Provinzen als Reichsland, also beiden Teilen der Monarchie angehörend, erklärt werden. Im allgemeinen bin ich überhaupt bei unseren desolateninnern Verhältnissen gegen alle solche Kraftstückeln. Meiner Ansicht nach kann sich solche Sachen nur ein konsolidierter Staat erlauben; nachdem wir aber, dank dem Kampf der beiden Reichshälften, weder konsolidiert noch kräftig sind, würde ich eher zuwarten." Der Chef des Generalstabes Franz Conrad von Hötzendorf war der Ansicht, daß Rußland noch immer zu geschwächt sei, um einen Krieg führen zu können. Er kannte die unversöhnliche Feindschaft und die unablässige Wühlarbeit der Serben und die Unverläßlichkeit Italiens. Er wollte die Schwäche Rußlands benützen, Serbien unschädlich zu machen. Der Thronfolger wünschte Ruhe, er schrieb an den damaligen Chef seiner Militärkanzlei Oberstleutnant von Brosch: „Bitte, bändigen Sie nur Conrad. Er soll dieses Kriegsgehetze aufgeben. Es wäre ja sehr verlockend, diese Serben und Montenegriner in die Pfanne zuhauen, aber was nützen diese billigen Lorbeeren, wenn wir uns dadurch eine allgemeine europäische Entwicklung hinauf-dividieren und dann womöglich mit zwei bis drei Fronten zu kämpfen haben und das nicht aushalten können. Also Conrad soll nicht auf das Kriegsgeschrei jedes Generalstabshauptmanns wieder ein Korps mobilisieren wollen. Er soll sein operatives Büro Tag und Nacht arbeiten lassen, aber ansonsten Ruhe geben und nicht zum Kriege hetzen. Zum Schluß fällt dann noch Italien über uns her und England macht uns Schwierigkeiten und wir können mit zwei Fronten kämpfen. Das wird das Ende vom Lied sein.“ (Oktober 1908)

An einen Krieg mit Rußland dachte der Thronfolger deshalb nicht, weil er ihn nicht wünschte. Er war der Ansicht, daß solch ein Krieg nur von Frankreich und von den Freimaurern geschürt werde, die alle Monarchen von dem Thron stoßen wollten. Viel näher lag ihm ein Krieg gegen Italien, dessen König zu besuchen er sich nicht entschließen konnte, weil es den Anschein haben könnte, er billige das Vorgehen des Königreiches gegen den Papst. Die Zurück-gewinnung der Lombardei und Venetiens schien ihm erstrebenswert, ein Kampf gegen Rußland aber kam ihm wie ein Selbstmord der Dynastien vor.

Aber der Thronfolger wußte auch, wie sehr der Staat im Argen lag, den er übernehmen sollte. So sehr Franz Ferdinand die Fähigkeiten Conrads anerkannte, so schlecht vertrug er sich mit diesem eigenwilligen und selbstbewußten Mahner, der immer wieder auf eine Entscheidung hin drängte, so lange Rußland noch Zeit dazu ließ. Deshalb schrieb noch im gleichen gewitterschwülen Sommer 1908 der Thronfolger an den Kaiser: „ .. . Der Offizier ist viel schlechter bezahlt als der inferiorste Beamte; dazu sind die Staatskassen so überfüllt, daß man hier 20 Millionen für die gutgestellten Beamten, dort ebensoviel für die Eisenbahnangestellten geben konnte. Es wird eine zu große und zu lange Probe auf das Anstandsgefühl der Offiziere gestellt. Das Ziel, auf das alles mit gemeinsamen Kräften hinarbeitet, ist eben, den Geist und die Verläßlichkeit der Offiziere und der Armee zugrunde zu richten, damit der Herrscher, wenn er die Armee zur Erhaltung seines Thrones braucht, sich auf dieselbe absolut nicht mehr verlassen kann und zum Spielball der schlechten destruktiven Elemente werden muß. Ungarn, Freimaurer und Sozialisten sind an der Arbeit, um die Grundfesten des Thrones zu erschüttern, und das Objekt, auf das sich alle stürzen, ist die Armee. Verzeihung, Eure Majestät, daß ich dies alles vorgebracht habe, aber ich hielt es für meine Pflicht, und ich hätte es vor meinem Gewissen nicht verantworten können, dies nicht Eurer Majestät gemeldet zu haben. Zum Schluß bitte ich Eure Majestät noch auf das inständigste, F. M. L. Conrad nicht fallen zu lassen. Solange ich die Verantwortung im Falle einer Mobilisierung zu tragen habe, kann ich einen Mann mit dieser Tat-kraft und diesem weiten Blick wie Conrad nicht entbehren. Gott möge einen Krieg verhindern, ich bin und bleibe immer dagegen, aber man muß gerüstet sein, und da habe ich niemanden als F. M. L. Conrad, der mein volles Vertrauen genießt, daß er im Frieden das durch Rat und Tat vorbereitet, wofür wir beide später verantwortlich gemacht werden können.“

Die Verkündigung der Annexion der beiden türkischen Provinzen am 5. Oktober 1908, die man sowohl vor dem Thronfolger wie vor dem deutschen Bundesgenossen bis zum letzten Augenblick geheimgehalten hatte, wirkte wie ein Donnerschlag. In Rußland brach ein panslawischer Sturm los, der Isowlsky für einen Dummkopf erklärte und ihn bald darauf zu Fall brachte. Aehrenthal, der, um die Türken zu beschwichtigen, den Sandschak abtrat, der Serbien und Montenegro trennte, wurde, weil auf die Herausforderungen Serbiens nicht geantwortet wurde, Ehrengrab, und der Sandschak von der Armee der österreichische Schandsack getauft. Serbien mobilisierte, sein Außenminister und sein Kronprinz traten eine Rundreise zu den Großmächten an, um diese zu bitten, Serbiens Rechte mit der Waffe zu verteidigen. Dem serbischen Ministerpräsidenten Pasic, der nach Petersburg geeilt war, teilte man mit, mit den Rüstungen noch nicht fertig zu sein und jetzt noch nicht Krieg führen zu können. Die Auskunft klang so zufriedenstellend, daß der serbische Ministerpräsident nach Belgrad telegraphierte, „die bosnisch-herzegowinische Frage wird nur durch einen Krieg entschieden.“ In Berlin verzieh man etwas zu rasch das Vorgehen Aehrenthals, vielleicht weil man sich doch über diese kräftige Äußerung eines Lebenswillen freute, den man der Monarchie wohl kaum mehr zugetraut hatte. Man fand, daß solch ein Vorgehen einer großen und selbständigen Monarchie entspreche und man legte sogar nach einiger Zeit den Russen nahe, durch die Anerkennung der Annexion den Serben jeden Vorwand für alles weitere Kriegsgeschrei zu nehmen. Rußland gab nach, Serbien erklärte feierlich, daß durch die Annexion seine Rechte nicht berührt seien, der serbische Kronprinz, der wildeste Kriegshetzer, verzichtete auf die Thronfolge und Ruhe schien wieder einzukehren in Europa. Conrad allein und seine klardenkenden Offiziere wußten, welche Gelegenheit man verspielt hatte. Man hatte den Gegner gereizt, man hatte sich als Großmacht benommen und hatte doch nicht vom Leder gezogen, als Serbien in Raserei versetzt, die große Monarchie herausforderte: „Entweder muß Europa unseren Ansprüchen nachgeben, oder es wird zu einem schrecklichen und blutigen Krieg kommen,“ hatte die „Politika“ in Belgrad im Feber 1909 geschrieben. Als Satyrspiel folgten der Annexionskrise zwei schlecht vorbereitete Prozesse in Agram und in Wien, die mit gefälschtem Material das dartun wollten, was sich bei einiger Geschicklichkeit auch mit echten Beleg-stücken hätte nachweisen lassen. Die Gerichtssaalillustrationen zu den politischen Ereignissen wirkten nur als Karikaturen. Der Agramer Hochverratsprozeß und der Friedjungprozeß in Wien bestätigten vor den schadenfrohen Augen der Welt die Unschuld Serbiens und die Lügen der Österreicher. Die Prozesse, die klären sollten, trübten das Wasser. Iswolsky, der seine Niederlage nicht hatte verwinden können, brachte die Zusammenkunft des Zaren mit dem italienischen König in Racconigi bei Turin im Jahre 1909 zustande. Wohl hielten die Vereinbarungen an der gegenwärtigen Machtverteilung auf dem Balkan fest, aber Rußland hatte Italien einen Vorschuß aus der türkischen Erbschaft versprochen.

Conrad v. Hötzendorfs Warnungen Conrad ahnte den Abfall des Bundesgenossen, er wollte Italien zum Kampf zwingen. Er glaubte mehr dem, was die irredentistischen Blätter schrieben, als den Versicherungen der Diplomaten und Militärattaches. Conrad, der lästiger Mahner, mußte gehen. Die Armee wurde verletzt, sie fühlte, wie man dem Unheil entgegentrieb. Aehrenthal glaubte nicht an die drohende Gefahr. Gewohnt an ein Gleichgewicht durch das Gegeneinanderausspielen der Völker, vermochte er sich nicht vorzustellen, daß irgend eine Macht imstande wäre, die zerstrittenen Balkanvölker auf ein Ziel hin auszurichten. Die Lagerung und die Vergangenheit dieser Völker verlockte förmlich zu solchem Spiel. Bulgarien verlangte die gleichen Gebiete wie Serbien und deshalb war Bulgarien, trotzdem ihm Österreich 1882 in den Arm gefallen war, als es Serbien zu Boden werfen wollte, der Freund der Monarchie. Rumänien, das die slawischen Balkanvölker von Rußland trennte, mußte bei Österreich-Ungarn Schutz suchen, wenn es nicht in der slawischen Flut zugrunde gehen wollte, aber seine Bündnistreue war dadurch beeinträchtigt, daß es sowohl von der Donaumonarchie Siebenbürgen, von Rußland Bessarabien und von Bulgarien die Dobrudscha fordern zu können vermeinte. Den Weltkrieg begann im Jahre 1911 Italien durch seinen Angriff auf Tripolis, den die Marokko-Krise ausgelöst hatte. Österreich-Ungarn mahnte zur Vorsicht, es fürchtete, daß eine weitere Schwächung der Türkei die Balkanstaaten zum Angriff ermuntern werde. Italiens . Neigung zu Österreich wurde durch solche Behinderungen nicht größer. Conrad drängte noch einmal: jetzt sei die allerletzte Gelegenheit! Man hörte nicht auf den kleinen General der so Großes wollte. Als Aehrenthal 1912 starb, wurde Graf Berchtold sein Nachfolger, der wußte, welche Erbschaft er übernahm: „Wir dürfen uns darüber keiner Illusion hingeben, daß unsere Vorgangsweise bei der Annexion Bosniens und der Herzegowina nicht nur den ersten Anstoß zum Bunde der Balkanstaaten gegeben und dadurch ein zuvor nicht bestandenes Band des Einvernehmens unter denselben in Bezug auf die Stellung zu unserer Orientpolitik geschaffen hat." Die russischen Vertreter in den Balkanstaaten arbeiteten nur auf ein Ziel hin: auf den großen Angriff gegen die Türkei. Hatten die Großmächte dreimal Rußland vor den Toren Konstantinopels zum Stehen gebracht, so würden sie sich doch nicht einem Selbstbefreiungskampf der Balkanvölker entgegenstellen können. Und mit den Balkanvölkern siegte jene Macht, die sie unterstützte und die Völker der Orthodoxie beschützte. Den gestaffelten Angriff begann Montenegro; Serbien, Griechenland, Bulgarien schlossen sich an und warfen in siegreichen Kämpfen die Türken zurück. Die Großmächte versuchten ordnend und beschwichtigend einzugreifen, aber die Balkanvölker kehrten sich nicht an die Großmächte, ja, sie hörten nicht einmal auf Rußland. Im Streit um die Beute fielen sie übereinander her, Serbien und Griechenland über Bulgarien, das bis in die Tschataldscha-Linie dicht vor Konstantinopel vorgedrungen war. Als Rumänien die Bedrängnis der Bulgarien sah, marschierte es in das Land ein und nahm sich die Dobrudscha. Conrad, der dies alles kommen gesehen und der vorausgesagt hatte, daß Frankreich den Weg beschritten habe, Deutschland finanziell zu besiegen, indem es sich zuerst Rußland dienstbar gemacht und dann die Balkan-staaten ausgerüstet habe, wies immer wieder auf die hoffnungslose Lage der Donaumonarchie hin. Die Balkankriege hatten bewiesen, wozu Serbien imstande war. Die Kämpfe waren grausam und erbittert geführt worden. Österreich hatte Reservisten unter die Fahnen gerufen und war im Süden aufmarschiert. Aber es war für Österreich schwer, in diesem Durcheinander der Kämpfe eine Entscheidung zu treffen. Unterstützte es Rumänien, so verletzte es Bulgarien, das sein Bundesgenosse gegen Serbien war, unterstützte es Serbien, so hatte es die andern Staaten gegen sich, trat es auf die Seite der Türkei, so wurde es, gleich dieser, zum Tode verurteilt durch die vom Siegestaumel berauschten Völker. Österreich sah wieder nur einen Ausweg: Serbien um keinen Preis an das M e e r zu lassen, damit es die Monarchie nicht im Nordende der Adria einsperren könne. Es wurde Albanien gegründet, das den Serben und Montenegrinern als Sperrwall vorgeschoben werden sollte. Conrad legte dem Kaiser die Lage am 20. Jänner 1913 in einer Denkschrift dar, in der er auf die Anziehungskraft hinwies, die ein großes und siegreiches Serbien auf die Slawen der Monarchie haben müsse: „daß . .. dieser Prestigeverlust von nachteiligster Wirkung auf alle Patrioten, insbesonders auf den Geist der Armee und deren pflichttreues, arbeitsfreudiges Offizierkorps ist und damit jener Faktor ruiniert wird, an welchen schließlich immer appelliert werden muß. Eingekeilt zwischen Rußland, dann ein mächtig gewordenes Serbien und Montenegro und einem auf die Dauer kaum verläßlichen Italien wird die Monarchie zur politischen Ohnmacht und dadurch zum sicheren Niedergang verurteilt sein. Dies zu vermeiden, muß also der Kern des Übels erfaßt werden, das heißt, die Monarchie muß durch eine politische Kraftäußerung ihr Prestige, besser gesagt, ihre politische Geltung, wiederherstellen. Am wirksamsten wäre dies der Fall, wenn es gelänge, in einem Krieg gegen Rußland Sieger zu sein. Mit dieser rationellsten Lösung wären auch alle andern Fragen . . . gelöst. Wenn Deutschland nur etwas in die Zukunft blicken wollte, so müßte es zu analogen Schlüssen kommen, denn sein Fiasko in der Orientpolitik kann ihm kaum entgehen, ebenso wenig wie die Umklam-merung, welche ihm in der Zukunft droht, wenn nach Niedergang der Türkei die durch die Balkanstaaten verstärkte Tripleentente sich gegen den Dreibund wendet ... Ich bin der Ansicht, daß für Deutschland die Stunde zu dieser entscheidenden Tat geschlagen hat und das es dieselbe nicht versäumen sollte, so lange es ein Österreich-Ungarn an der Seite hat, in dessen Armee wohl jetzt noch das traditionelle Gefüge die Ober-hand besitzt, an welchem aber in Hinkunft umso erfolgreicher gerüttelt wird, je mehr dermalen einer Kraftprobe mit den aggressiven Gegnern ausgewichen wird. Zudem muß Deutschland bedenken, daß unter dem Schutz des Ringes, der es umschließen wird, die Mächte der Tripleentente sich den asiatischen Besitz der Türkei teilen und damit alle Hoffnungen zerstören werden, welche Deutschland auf eine Wirtschaftspolitik im Orient gesetzt hat. Es ist also ganz irrig, wenn das Eintreten Deutschlands in den Dreibundkrieg als ein lediglich der Erhaltung Österreichs geltender Dienst hingestellt wird — gleichsam als ein Opfer, welches man Deutschland nicht zumuten darf.“ Die Vorstellungen des Generals blieben ungehört. Als man in Deutschland von albanischen Ziegenweiden und im Belvedere zu Wien von serbischen Zwetschkenbäumen sprach, um die der Kampf sich zu entwickeln 'drohe, schrieb Conrad noch deutlicher: „Es handelt sich ebensowenig um „albanische Ziegenweiden“ als um „serbische Zwetschkenbäume", auch nicht um das „bescheidene Fensterchen" in Gestalt eines serbischen Adriahafens, es handelt sich um Österreich-Ungarns Machtstellung am Balkan, um seine eigenen südslawischen Gebiete, um seinen Küstenbesitz, damit aber um Österreich-Ungarns Machtstellung überhaupt, also auch um seinen Bundeswert für Deutschland, das isoliert inmitten seiner Feinde stand. Die Zeiten, in denen das Wort gesagt wurde, daß der ganze Balkan nicht die Knochen eines pommerschen Grenadiers wert seien, waren vorüber..." Die Pariser Presse nahm feindliche Stellung gegen Österreich. Paris Midi schrieb am 4. April 1913: „Was Österreich betrifft, so folgt dieser Zwitterstaat nur seiner undankbaren Bestimmung: getreu seinem Programm, die Schwachen zu bedrücken und die Gewissen zu vergewaltigen. Die schönen Diplomaten, die mit Glacehandschuhen und mit Backenbärten, wie man sie vor fünfzig Jahren trug, die Politik am Ballhausplatz dirigieren, gleichen einem Personal von Edelleuten, die durch die Ironie des Schicksals zu schmutzigen Kanalräumerarbeiten verurteilt wurden. Der Wahn einer südslawischen Union ist ebenso wie der Versuch, mit dem winzigen Montenegro einen Krieg anzufangen, schon zweimal an Lächerlichkeit und verachtungswürdigem Haß, den sie sich damit zuzogen, gescheitert. Der Kreuzer „Edgar Quinet“, der entsendet wurde, um die österreichische Eskade vor Antivari zu begleiten, ist eigentlich nur als Krankenwärter aufzufassen, den man einem reichen, verderbten Greis auf seine letzten Spaziergänge mitgibt, um den öffentlichen Skandal zu verhindern, daß er auf der Straße kleine Mädchen schändet." In die allgemeine Erregung hinein platzte durch die Indiskretion eines Prager Journalisten die Nachricht, daß man den Generalstabschef des Prager Korps gezwungen habe, in einem Wiener Hotel Hand an sich zu legen. Wie immer hatten die Russen den Mann, den sie als Spion verwenden wollten, gut beobachtet. Sie wußten, daß Redl homosexuell war, Geld brauchte und ihnen dadurch auf Gnade und Ungnade ausgeliefert war. Man hatte postlagernde Chiffrebriefe von einer russischen Grenzstation in Wien geöffnet und hohe Rubelbeträge gefunden. Man war lange auf der Lauer gelegen und gerade an dem Tag, an dem der Brief abgeholt wurde, war der Polizeiagent nicht auf seinem Posten. Aber schließlich wurde der Chauffeur ausfindig gemacht, in dessen Wagen jener Herr sein Taschenmesserfutteral liegen gelassen hatte. Die Audienz, zu der Conrad vom Thronfolger befohlen wurde, war „eine der unerquicklichsten in seiner Dienstzeit als Chef des Generalstabes." Der Thronfolger verpönte von kirchlichem Standpunkt aus den Selbstmord und anerkannte nicht, daß man eine solche Angelegenheit ohne Untersuchung und Verhör durch eigenmächtiges Vorgehen aus der Welt schaffen könne. Er machte Conrad den Vorwurf zu gut zu sein und befahl ihm, den „Generalstab wieder in Ordnung zu bringen." Bei den Herbstmanövern in Böhmen drohte ein neues Zerwürfnis. Nach der Meldung der zahlreichen Generale und deren Gefolge im Schloßhof von Chotowin begab sich der Thronfolger mit den Offizieren in die Kirche, während Conrad die Kanzlei der Manöverleitung in der Schule aufsuchte. Ungefähr nach einer Stunde wurde er zum Thronfolger gerufen, der ihn barsch anfuhr und fragte, warum er nicht in der Kirche gewesen sei. Conrad erwiderte, daß er dienstlich zu tun gehabt habe und als der Erzherzog dies nicht gelten lassen wollte, sagte Conrad, er hätte sich in der Kirche eingefunden, wenn es ein befohlener Kirchgang gewesen wäre. Conrad hatte sich einige Zeit vorher darüber beklagt, daß der Thronfolger in Albanien erst einzugreifen bereit gewesen sei, als er von einer Bedrohung albanischer Katholiken gehört habe. Als am Nachmittag der Thronfolger dann Conrads Manöver abbrach und eine Übung nach seinen Entwürfen anordnete — mit dicht massierter Infanterie und Attacke eines Kavalleriekorps — der Erzherzog ertrug wie Kaiser Wilhelm den „unsichtbaren", modernen Angriff nicht — sah Conrad wieder einmal die Stunde gekommen, um seinen Abschied einzureichen. In einem eigenhändigen Brief beschwor am 23. September 1913 der Thronfolger den General zu bleiben. „Die Gründe, die mich bewegen, dieses Opfer von Ihnen, lieber Baron Conrad, zu erbitten, sind erstens, daß es einen merkwürdigen Eindruck machen würde, wenn Sie jetzt so bald wieder ihren Posten an meiner Seite verlassen würden, wo die ganze Welt weiß, mit welcher Schwierigkeit ich Sie das zweitemal angesichts der Kriegsgefahr bei Seiner Majestät erbeten habe. Man würde daran viele Kommentare knüpfen, die weder in Ihrem noch in meinem Interesse liegen. Zweitens wurden Sie jetzt von Kaiser Wilhelm eingeladen und so geehrt, daß jetzt ein Verlassen Ihrer Stellung auch nicht möglich ist. ..“ Conrad blieb: „Die harten Worte, welche Eure Kaiserliche Hoheit anläßlich des Falles Redl in nur zu begreiflicher Erregung über diesen einzig dastehenden Verbrecher gegen mich und gegen den unter meiner Leitung stehenden Generalstab wendeten, haben mich schon damals veranlaßt, Eure Kaiserliche Hoheit zu bitten, mich durch einen anderen General zu ersetzen ... Die ungnädigen Worte Eurer Kaiserlichen Hoheit sowohl in Chotowin als am Manöverfeld und der Umstand, daß Eure Kaiserliche Hoheit die auf die Unterbrechung und Abänderung der Manöver bezüglichen Verfügungen mit voller Ausschaltung meiner Stellung, beziehungsweise meiner Person zu treffen geruhten, erschien mir nun ein deutlicher Fingerzeig, daß meine Rolle ausgespielt und für mich der Moment gekommen ist, aus dem Dienst zu scheiden. Ich war ohne die geringste Verbitterung bereit und entschlossen, weil ich sehr gut einsehc, daß für jeden General endlich der Zeitpunkt kommt, wo er im Interesse des Dienstes durch eine jüngere Persönlichkeit ersetzt werden muß, und weil ich seit jeher das Gefühl hatte, daß meine Kräfte und meine Leistungen seit jeher überschätzt werden, ein Gefühl, das mich geradezu bedrückt..." Noch einmal kam es zu einem heftigen Zusammenstoß zwischen Thronfolger und Generalstabschef in Gegenwart deutscher Offiziere bei der Völkerschlachtfeier in Leipzig, die, wie Conrad schreibt, den Eindruck erweckte, als habe man vergessen, daß Österreich damals den Oberbefehl geführt habe.

Der Bericht des Grafen Czernin Ein Bericht des österreichisch-ungarischen Botschafters in Bukarest des Grafen Czernin vom 11. März 1914 schildert nicht nur die Unverläßlichkeit Rumäniens, dessen auswärtige Vertreter gar nicht gegen den König zu handeln glauben, wenn sie sich für die Tripleentente einsetzen, sondern er umreißt mit wenigen Strichen die Rolle aller Herrscher deutschen Geblüts, die sich die Völker des Ostens auf ihre neuen Throne geholt hatten, um gewissenhafte Verwalter ihrer jungen Staaten zu haben. „Seine Majestät (Carol I. von Hohenzollem) ist älter als seine Jahre. Gegen den Strom zu schwimmen ist nicht mehr sein Verlangen, die vorjährige hostile Stimmung gegen ihn — er wurde ganz allgemein als Ausländer und Verräter am Volke bezeichnet —, diese Stimmung hat ihn erschreckt, und er traut sich nicht mehr gegen das Volksempfinden aufzutreten. Ein Monarch, der allzu ängstlich lauscht, was das Volk schwätzt, beweist aber damit immer, daß er mehr getrieben wird, als er selber führt. Der König fühlt, daß ein offenes Einbekenntnis zu einer austrophilen Politik ... zu einer Kraftprobe werden würde zwischen ihm und seinem Volke, und diese Kraftprobe scheut er, und freiwillig wird er sich ihrer sehr ungern unterziehen." Am 22. Juni 1914 meldete Czernin nach Wien: „ . . . Seit vorigem Jahre .. hat sich hier, wie auch an manchen andern Stellen Europas, der feste Glaube eingebürgert, daß die Monarchie ein dem Untergang und der Auflösung verfallener Körper ist, daß wir bei der Aufteilung der Türkei nichts geerbt haben als ihr Schicksal, daß mit andern Worten in nächster Zeit die habsburgische Monarchie zur europäischen Auktion gelangen wird. Hier setzt die französische und russische Wühlarbeit ein ..."

Manöver in Bosnien Als sich der Thronfolger vor seiner Abreise zu den bosnischen Manövern beim Kaiser in Schönbrunn abmeldete, berichtete er, wie der deutsche Kaiser, den er im Auftrage Franz Josephs gefragt hatte, ob Österreich sich in Hinkunft unbedingt auf Deutschland verlassen könne, dieser Frage ausgewichen sei. Als Franz Joseph erwähnte, daß Kaiser Wilhelm wohl schon auf seiner Nordlandreise sei, bemerkte der Thronfolger, daß ihm eine Seereise auch lieber wäre als die Fahrt nach dem heißen Bosnien, da er die Flitze scheue. Der Kaiser stellte dem Erzherzog Reise oder Absage anheim, aber Franz Ferdinand entschied sich für die Reise, bei der seine Gemahlin, die zur Herzogin von Hohenberg ernannte Gräfin Chotek, zum erstenmal an seiner Seite bei einer offiziellen Fürstenreise auftreten sollte. Es gehörte Mut zu solchem Entschluß. Serbische Attentäter hatten in vier Jahren fünf Anschläge auf bosnische und kroatische Vertreter der Regierung verübt. Der Thronfolger selbst war vor einigen Jahren Zeuge des /. tentates auf den spanischen König gewesen. Er wußte, daß man auf Fürsten Jagd machte und auch nicht vor Frauen, wie die Kaiserin Elisabeth, zurückschreckte, deren Attentäter vor Freude die Stufen des Schafottes hinauftanzen wollte. Der russische Revolutionär Netschajew hatte in den Sechzigerjahren, auf die Frage, welche Mitglieder des Zarenhauses man vertilgen müsse, geantwortet: das ganze große Responsorium, also alle im Kirchengebet genannten Mitglieder des Hauses Romanow. Es war, als gehörten die Fürsten einer jener aussterbenden Rassen an, die mitleidlos gejagt und ausgerottet werden von den neuen Menschen, die in ihr Gebiet eingedrungen sind. Die Griechen hatten in ihren Tragödien den Untergang der alten Herrschergeschlechter dargestellt, aber diese, unsere Zeit, die den gleichen Untergang erlebt, ist sich noch nicht klar geworden über die Weltwende.

Dem russischen Militärattache in Belgrad schien es bedenklich, daß die Herren von der Schwarzen Hand, der Oberst im Generalstab Dragutin Dimitrijevic und der Major Vojan Tankosic, unter den Serben aus Bosnien und aus Kroatien, mit denen sie „arbeiteten“, auch Leute hatten, die mit politischen Emigranten aus Rußland verkehrten. Einem von ihnen, einem gewissen Cainovi, hatte ein russischer Kommunist namens Leo Trotzki in der Schweiz das Vorwort für eine politische Broschüre geschrieben. Die Zusammenarbeit mit solchen Leuten fand der Attache Oberst Artamanow sehr bedenklich, ja gefährlich.

Die serbischen Gymnasiasten aus Bosnien, die von den Offizieren in Belgrad über die Grenze geschickt worden waren, um am Veitstag den österreichischen Thronfolger in Sarajevo mit Bomben und Schüssen zu empfangen, hatten auf der Belgrader Militärschießstätte im Topcider Schießen und Bombenwerfen gelernt, der serbische Kronprinz hatte sie dort gesehen, er hatte sich nicht über die Zivilisten auf einer Militärschießstätte gewundert, ja er hatte sogar mit ihnen ein paar recht unverfängliche Worte gesprochen. Diese jungen Verschwörer hatten im Verband „Vereinigung oder Tod" geschworen, den Auftrag zu erfüllen und über die Auftraggeber zu schweigen, und damit ihnen dies leichter falle, hatte man ihnen Gift mitgegeben. Daß man allein auf die Verschwiegenheit der Toten bauen kann, mußte Dragutin Dimitrijevic-Apis selbst erfahren, den die Feindeskugeln verschont hatten und die serbischen Kugeln vom Leben zum Tode gebracht haben, als im Jahre 1917 der Zar gefangen, der russische Generalstab machtlos und ein Sonderfrieden Serbiens mit der österreichisch-ungarischen Monarchie in greifbare Nähe gerückt war. Die Anzahlung auf ihn sollte die Hinrichtung des Apis sein. Montenegro und Serbien waren damals besetzt, Albanien war gefallen, der Zar war gestürzt, der russische Generalstab, der Apis hätte schützen können, war entmachtet, Jugoslawien mußte trachten, mit dem siegreichen Nachbar in ein Gespräch zu kommen, das man so hätte beginnen können: Ihr habt die Attentäter von Sarajevo, wir haben den Anstifter bestraft. Man war zu voreilig gewesen. Das Geschick sollte sich noch einmal wenden, der Kronprinz, der Apis zum Schweigen brachte, sollte König des geeinten Jugoslawien werden, aber der tote Apis holte sich den König 1934 in Marseille. Damals hatte Europa keine Zeit lange aufzuhorchen, es drängte so viel zu Entscheidungen, die alle von jenen Schüssen von Sarajevo eingeleitet worden waren. Der Tote von Sarajevo, der nie Monarch geworden war, hatte die Monarchien mit sich in sein Grab genommen. Im Jahre 1953 nahm ein Gericht in Belgrad den Prozeß gegen Apis wieder auf. Man stellte fest, daß er in Saloniki zu Unrecht verurteilt worden sei. Apis, der den König macht rnd den des Königs Sohn hinrichten läßt, ist der Held für einen Staat, der sich vom Königtum losgesagt hat.

Veitstag in Sarajevo Aber wir sind den Ereignissen vorausgeeilt. Der österreichisch-ungarische Thronfolger fuhr auf dem Seeweg, die Herzogin auf dem Landweg nach Sarajevo. Der Erzherzog wohnte den Manövern bei und ging auch eines Abends mit der Herzogin in den Bazar. Die Verschwörer blieben ihnen auf den Fersen, aber sie schossen nicht, denn ihr Opfer sollte am Veitstag fallen. Es sollte der erste Veitstag im befreiten und fast vereinten Serbien sein, der auch in Brünn durch ein großes allslawisches Sokolfest begangen wurde. Im Jahre 13 89, am Veitstag, am 28. Juni, vor 425 Jahren also, hatten die Serben an die siegreichen Türken auf dem Amselfeld die Freiheit verloren. Nun sollte das goldene Kreuz der erhabenen Freiheit wieder erstrahlen. Am Veitstag fuhr der Erzherzog mit der Herzogin von dem Badeort Ilidze unter dem Donner der salutschießenden Batterien in das Rathaus von Sarajevo. Die Verschwörer waren den Weg entlang aufgestellt. Eine Bombe wurde geworfen, sie fiel auf das zurückgeschlagene Verdeck des Wagens des Erzherzogs, ihre abspringende Kapsel verletzte die Herzogin leicht am Halse, dann explodierte die Bombe vor dem nachfolgenden Wagen und verwundete einen Oberstleutnant schwer; auch der dritte Wagen in der Reihe bekam noch etwas ab. Nach einem kurzen Halt wurde weitergefahren. Der Bombenwerfer, der über die Kaimauer gesprungen war, wurde festgenommen. Die Herzogin ging in den Oberstock des Rathauses, wo sie von den türkischen Frauen in ihren bunten Trachten empfangen wurde. Sie trat hier, kurz vor ihrem Ende, zum erstenmal wie eine Landesmutter auf, sie war beherrscht, sie schien den Anschlag vergessen zu wollen. Im Erdgeschoß berieten der Erzherzog, sein Gefolge, der Landeschef und der Bürgermeister, was jetzt zu geschehen habe. Feldzeugmeister Potiorek erwiderte auf die Frage des Erzherzogs, ob das nun mit den Bomben so weitergehen werde, er sei überzeugt, daß nichts mehr geschehen werde. Der Erzherzog bestand darauf, den verwundeten Oberstleutnant von Merizzi im Spital zu besuchen. Die Herzogin, die aus dem Oberstock zurückkam, bat, ihren Gemahl auch auf dieser Fahrt begleiten zu dürfen. Die Route wurde festgelegt, aber der aufgeregte Bürgermeister hielt sie nicht ein, sein Wagen wich von ihr ab, man merkte es, die Kolonne stockte und in diesem Augenblick sprang der Gymnasiast Princip vor und gab drei Schüsse ab, die trafen. Als der Wagen mit dem Erzherzog und der Herzogin im Konak eintraf, war beiden nicht mehr zu helfen.

Erste Reaktionen Als Franz Joseph die Nachricht überbracht wurde, murmelte der Kaiser in Ischl hinter dem Schreibtisch des kleinen Zimmers vor sich hin: Entsetzlich! Der Allmächtige läßt sich nicht herausfordern! Eine höhere Gewalt hat wieder jene Ordnung hergestellt, die ich leider nicht zu erhalten vermochte." Der Kaiser hatte dem Thronfolger weder die unebenbürtige Heirat, noch die eigene Militärkanzlei und das Dreinreden in Regierungsfragen verziehen. Der Hof hielt sich daran und zeigte bei der Beerdigung der beiden Toten in Wien und in Artstetten, daß man nichts vergessen hatte. AIs dem österreichisch-ungarischen Botschafter, dem Grafen Szögyenyi, in Berlin kondoliert wurde, sagte der Ungar: „Als Christ wie als ungarischer Edelmann beweine ich das Schicksal des Erzherzogs und seiner edlen Gemahlin. Politisch aber sehe ich in dem Ausscheiden des Thronerben eine gnädige Fügung der göttlichen Vorsehung. Sein leidenschaftlicher Charakter, sein Haß gegen die Madjaren, seine blinde Vorliebe für Tschechen und Südslawen, sein outrierter Klerikalismus hätten zu schweren Erschütterungen führen können. Nach außenhin wäre er kein bequemer Bundesgenosse für Deutschland geworden. Requiescat in pace!" In Italien traf einige Tage nach dem Attentat den von Conrad so hoch-geschätzten und zum Dreibund stehenden Generalstabschef P o 11 i o der Schlag. In Kiel wollte der deutsche Kaiser anfangs die Regatta nicht unterbrechen, da er gute Chancen hatte, den von ihm selbst ausgesetzten Preis zu gewinnen. Bethmann-Hollweg, der deutsche Außenminister, war der Ansicht, daß das Verbrechen von Sarajevo das eine Gute habe, es werde durch seine Abscheulichkeit dem Zaren die Serben gründlich verekeln.

Ultimatum an Serbien Unter dem Vorsitz des Ministers des k. u. k. Hauses und des Äußeren trat am 7. Juli 1914 in Wien der Ministerrat für Gemeinsame Angelegenheiten zusammen. Einleitend wies Berchtold darauf hin, daß die Besprechungen in Berlin zu einem sehr befriedigenden Resultat geführt haben, da sowohl der Kaiser wie Bethmann-Hollweg für den Fall einer kriegerischen Komplikation mit Serbien die unbedingte Unterstützung Deutschlands zugesagt haben. Rußland treibe eine Politik auf lange Sicht, es strebe die Einigung aller Balkanstaaten unter seiner Führung an, und dem könne man nur durch einen Angriff auf Serbien zuvorkommen. Der ungarische Ministerpräsident Graf Tisza warnte vor einem überraschenden Angriff auf Serbien, weil man den ganzen Balkan dadurch gegen sich aufbringen könne. Ferner sei er gegen jegliche Annektion serbischen Gebietes. Tisza sah nur Serbien und Rumänien, er, wie auch die andern Minister, weigerten sich förmlich an Rußland zu denken. Tisza stellte noch fest, daß allein die Monarchie, nicht aber Deutschland zu entscheiden habe, ob man gegen Serbien vorgehen solle oder nicht. Darauf gab Berchtold zu bedenken, ob man nicht durch dieses ewige Hin und Her, durch diese ständigen halben Maßnahmen so viel an Ansehen verlieren werde, daß man dann auf einmal nicht mehr auf die jetzt noch unbedingt zugesagten deutschen Unterstützungen werde rechnen können. Als darauf hingewiesen wurde, daß der Landeschef von Bosnien, der Feldzeugmeister Potiorek für Krieg gegen Serbien sei, brauste Tisza auf: Der Landeschef möge ein guter Soldat sein, von Zivilverwaltung und politischer Führung verstehe er gar nichts, sonst hätte es niemals vorkommen können, daß sich sechs oder sieben polizeibekannte Gestalten auf der Route des Erzherzogs aufstellen und unbeobachtet mit Bomben und Pistolen den Erzherzog erwarten können. Auf Tiszas Weigerung, einer Strafexpedition zuzustimmen, für die übrigens schon viel zu viel Zeit verloren gegangen war, erwiderte Kriegsminister Krobatin, daß sowohl der japanische wie auch die Balkan-Kriege ohne Kriegserklärung begonnen haben. Das beste wäre, heimlich zu mobilisieren, und dann eine Sommation an Serbien zu richten. Der Kriegsminister Feldzeugmeister von Krobatin stellte an den Chef des Generalstabes drei Fragen; einmal ob es möglich sei, nur gegen Serbien, und dann später erst, wenn notwendig, gegen Rußland anzutreten, dann, ob man zur Einschüchterung Rumäniens Truppen stehen lassen müsse, und schließlich, ob man den Kampf gegen Rußland aufnehmen müsse.

Der Chef des Generalstabes erwiderte, es sei möglich, gegen Serbien zu mobilisieren, und dann, wenn es notwendig wäre, auch gegen Rußland, wenn man etwa bis zum fünften Mobilisierungstag das Eingreifen Rußlands erführe. Was Rumänien anlange, könne man zusätzlich zu den gegen Serbien aufgestellten Korps zwei gegen Rumänien aufstellen, aber man möge sich klar darüber sein, daß dies von Rumänien als Provokation aufgefaßt werden könne. Träte aber Rußland als Gegner auf, dann sei es der Hauptgegner, gegen den man alle Kräfte ansetzen müsse, gegen Serbien hätte man dann nur zwei Armeen zur Verfügung. Als Graf Hoyos, der für Berchtold in Berlin unterhandelt hatte, versicherte, er habe in Berlin die Ansicht vertreten, das Oesterreich alle Kräfte gegen den Balkan einsetzen und Deutschland Rußland auf sich nehmen müsse, bemerkte Conrad, daß darüber bestimmte Abmachungen zwischen den Generalstäben getroffen worden seien. Man wollte noch das Ergebnis der gerichtlichen Untersuchung abwarten, damit man mit seinem Ultimatum an Serbien vor den Augen der ganzen Welt gerechtfertigt dastehe. Aber man bedachte nicht, daß die Zeit, die damit verging, den Mord kleiner und die Kriegsdrohung bösartiger erscheinen ließ. Am 10. Juli kam Nicola von Hartwig, der russische Botschafter in die Wohnung des österreichischen Gesandten Feldmarschalleutnant von Giesl in Belgrad und protestierte gegen die Unterstellung, er wäre nicht in Gala und obendrein noch zu spät beim Requiem für Erzherzog Ferdinand in der Kapelle der österreichischen Gesandtschaft erschienen, er hätte am gleichen Tag ein Festdiner gegeben und die Fahne nicht auf Halbmast gesetzt, weshalb man ihn aufgefordert habe, sich in Petersburg zu rechtfertigen. Gesandter Giesl versuchte den aufgeregten Botschafter zu beruhigen: Die Luft schwirre voll unsinniger Gerüchte. Eine Belgrader Zeitung behaupte, Prinzip sei der Sohn der Gräfin Lonyay, der ehemaligen Kronprinzessin Stephanie, der Franz Ferdinand umgebracht habe, weil dieser Erzherzog seinen, Prinzips Vater, Rudolf in Mayerling ermordet habe. Ein gefälschter Brief der Gräfin Lonyay an Prinzip, denn Principe heiße wohl Fürst, werde von der Zeitung abgedruckt. Der russische Botschafter wollte etwas erwidern, er griff nach seinem Herzen und brach zusammen; ehe Ärzte herankamen war er verschieden. In Belgrad hieß es, Hartwig, der Schutzherr und Fürsprecher des serbischen Volkes sei von dem österreichischen General vergiftet worden. Hartwigs Begräbnis in Belgrad war feierlich, das Schweigen über der Stadt war drohend. In Wien überlegte man, wann man das Ultimatum absenden solle, man wünschte das Ergebnis der Gerichtsverhandlungen in Sarajevo und die Einbringung der Ernte abzuwarten. Conrad warnte vor solchen Verzögerungen, die dem Feinde zu Gegenmaßnahmen Zeit ließen, man könne die eigenen Vorbereitungen nicht so geheim halten. Dann müßten diese Vorbereitungen eben unterbleiben, wurde entschieden. Conrad warnte: Im Jahre 1908 wäre es ein Spiel mit aufgelegten Karten gewesen, 1912 noch ein Spiel mit Chancen, jetzt sei es ein va banque-Spiel. Am 20. Juli erschien der Präsident der Französischen Republik Poin-c a r e am Zarenhof. Die Marseillaise ertönte neben der Zarenhymne. Am 23. Juli wurde das österreichisch-ungarische Ultimatum — das nach Berchtolds Ansicht kein Ultimatum, sondern nur eine Androhung des Abbruches der Beziehungen sein sollte, — in Belgrad überreicht. Am 25. Juli wurde in Rußland die Kriegsvorbereitungsperiode angeordnet und am gleichen Nachmittag hieß es in Belgrad, es sei ein Telegramm des Zaren eingetroffen, das anweise, man möge die Forderungen der Monarchie ablehnen, der Zar stelle sich mit ganzer Kraft hinter Belgrad. Daraufhin gab die serbische Regierung fast in allen Punkten der österreichischen Forderung nach, nur in jenem nicht, der die Teilnahme der österreichischen Organe an der Untersuchung des Attentates in Belgrad forderte. „Eine brillante Leistung für eine Frist von bloß 48 Stunden", lobte Kaiser Wilhelm die serbische Regierung", das ist mehr, als man erwarten konnte. Giesl hätte ruhig in Belgrad bleiben sollen, daraufhin hätte i c h keine Mobilmachung befohlen.“

Die Völker Europas ziehen jubelnd in den Krieg An diesem Tage unterzeichnete Franz Josef den Mobilmachungsbefehl für acht Korps gegen Serbien, weil Giesl die vollständige Annahme verlangt und nach der unvollständigen serbischen Antwort aus Belgrad abgereist war. Am 28. erging an Serbien die Kriegserklärung, nachdem man fälschlich gemeldet hatte, daß die Serben mit den Feindseligkeiten begonnen hätten. England schlug eine Viererkonferenz von Frankreich, England, Deutschland und Italien vor, die zwischen Österreich und Serbien vermitteln sollte. Man empfahl Wien die Vermittlung anzunehmen. In Petersburg versuchte Wilhelm den Zaren zur Zurücknahme der Vorbereitungen zu bewegen, aber der Zar konnte sich nicht mehr gegen seinen Kriegsminister durchsetzen. Am 30. Juli erfolgte die Mobilmachung der russischen, am 31. Juli die der österreichischen Armee. Am 1. August erklärte Deutschland Rußland den Krieg und Frankreich verkündet, Rußland gegenüber seine Bündnispflicht erfüllen zu wollen. Daraufhin erklärt das zu einem Zweifrontenkrieg gezwungene Deutschland an Frankreich den Krieg, worauf sich Italien am 4. August für neutral erklärt und es Frankreich ermöglicht, die gegen Italien bereitgestellten Truppen nach Norden zu verschieben. Deutschland, das schnell mit Frankreich fertig werden wollte und mußte, ersuchte Belgien und Luxemburg um Durchmarscherlaubnis und begann, obwohl sie Belgien verwehrte, einzumarschieren, worauf ihm Belgien und dann England den Krieg erklärten. Dann folgten die Kriegserklärungen einander, denen sich als vorläufig letzte die von Japan anschloß. Am 4. August konnte die Revue des Deux Mondes in Paris schreiben, der Krieg sei unter Bedingungen erklärt worden, wie man sie sich günstiger hätte nicht träumen lassen können. Wenn eine gütige Fee erschienen wäre, und gesagt hätte: der Krieg ist sicher, unausweichlich und nahe bevorstehend, wie zieht ihr es vor, ihn zu führen, so hätte man keine besseren Umstände als diese nennen können, da Rußland der Verbündete, England der Freund und Italien die lateinische Schwester ist. Als Bülow nach der Kriegserklärung in Berlin mit dem Außenminister Bethmann-Hollweg zusammentraf, fragte er ihn: „Nun sagen Sie mir bloß, wie das gekommen ist?" Bethmann hob seine langen Arme gegen den Himmel und sagte mit dumpfer Stimme: „Ja, wer das wüßte." Wie es gekommen war? Es war nur eine Macht, die dauernd angriff, die sich ständig nach Westen vorschob und unter deren Schutz die Balkan-völker gegen die Türkei und gegen Österreich vorstießen. Deutschland hatte sie nicht sehen wollen. Der Kaiser hatte in seiner Reklamesprache verkündet: Deutschlands Zukunft liegt auf dem Wasser! Mit Volldampf voran! Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güter! Auf den Bericht des Fürsten Lichnowsky im Jahre 1912 über seine Unterredung mit Lord Haldane über das Gleichgewicht der Kräfte, auf dem England bestehen müsse, hatte Wilhelm, die Randbemerkungen Friedrichs des Großen nachahmend, geschrieben: Kampf der Gallo-Slawen gegen die Germanen! Endkampf der Slawen und Germanen! — eine Formulierung, vor der Conrad einigemale gewarnt hatte, da die österreichisch-ungarische Armee mehr Slawen als Deutsche gegen den Feind zu führen hatte. Die Völker Europas zogen jubelnd in jenen Krieg, der die Entmachtung dieses Erdteiles einleitete. Es schien ihnen, als sei der seit Jahren lastende Drude von ihnen genommen. Man jubelte und jauchzte in Paris, London, Berlin, Wien und Petersburg. Man glaubte, wie es General Bernhardi geschrieben und Bethmann Hollweg dargelegt hatte: Das die Luft reinigende Gewitter werde höchstens ein Vierteljahr dauern und nachher werden sich Deutschland, Frankreich und England zu einer Gruppierung gegen das barbarische, die europäische Zivilisation bedrohende Rußland, zusammenzuschließen. Auch ich, ein kleiner österreichisch-ungarischer Artillerieleutnant, zog mit eingegipstem Fuß hinaus, weil ich fürchtete, der Krieg könnte zu Ende sein, ehe mein in der Mobilsierung durch einen Sturz mit dem Pferd gebrochener Fuß geheilt sei. Anfang September geriet ich verwundet in russische Gefangenschaft und das erste Wort, das mir von einer Schwester auf dem russischen Verbandplatz übersetzt wurde, war die Vorhersage des Arztes, der meine Wunde untersuchte: „Nach dem Kriege werden wir in Rußland Revolution haben.“ Und als ich das ein Vierteljahr später einem andern russischen Arzt erzählte, sagte der: „Das glauben wir auch. Wer hier in dem Land etwas taugt, ist 1906 eingesperrt gewesen. Dann haben wir Frieden mit dem Staat gemacht. Er hat Anleihe über Anleihe ausgenommen, er hat Bahnen gebaut und er hat gerüstet. Und jetzt kommen wir nicht einmal über die Karpaten. Das ist ein fauler Staat." Dreimal blieben die großangelegten russischen Offensiven liegen, ohne die weitgesteckten Ziele erreicht zu haben, 1914 in den Karpaten, 1916 in Ostgalizien und 1917 nicht allzu weit vor der Ausgangsstellung. Jedesmal war die Erzeugung hinter dem

Fussnoten

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