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Charakter und Demokratie | APuZ 25/1954 | bpb.de

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APuZ 25/1954 Der 30. Juni 1934 Charakter und Demokratie

Charakter und Demokratie

Franziska Baumgarten-Tramer

zwei ihrer einst prominentesten Generale, ein beträchtliches Stück ihrer Tradition dem totalen Parteistaat geopfert. Selbst den cheinsieg gönnte ihr Himmler nicht. „Die Armee steht wunderbar als die loyale, treue brave Armee da“, bemerkte er hämisch noch zehn Jahre später im Hinblick auf den 30. Juni. Am Todestage ‘lindenburgs genügte Blomberg, mit der verhängnisvollen Vereidigung der Reichswehr auf Hitler persönlich, der von ihm sogleich proklamierten Dankespflicht. Das deutsche Volk in seiner Gesamtheit aber wurde von dem Schlage der Staatsführung zunächst einmal betäubt. Ein großer Teil war von der brutalen Gewaltsamkeit ihres Vorgehens entsetzt. Einer Mehrheit aber erschien angesichts der hochfahrenden Allüren zahlreicher Funktionäre der SA, ihrer unvergessenen Terrorakte des Vorjahres, ihrer nun von der eigenen obersten Führung tendenziös herausgestellten Sittenlosigkeit die Abwendung der „zweiten Revolution“ tatsächlich als Befreiung von einem Alpdruck. Noch einmal klammerten sich viele an Hitlers großes Versprechen einer inneren Läuterung der Partei. Die wahre Bedeutung der Vorgänge haben wir uns eingangs vergegenwärtigt. Man kann sie abschließend kaum treffender kennzeichnen als mit den Worten Graf Schwerin-Krosigks, dessen Plaidoyer für den verantwortlichen Justizminister wir nicht zu akzeptieren vermochten: „Mit den Landsknechten der SA war eine Opposition gegen die Clique der Postenjäger verschwunden. Die saß jetzt fest im Sattel . . . Die Parteikamarilla mit ihrer Kollektivwillkür war gefährlicher als die Einzelakte gewalttätiger SA-Männer. Hitler verschrieb sich der Clique. Er gab den potentiellen Revolutionären freie Bahn. . . An die Stelle der Röhmschen Revolutionäre war der Himrmlersche Apparat getreten, der aus dem Hinterhalt angriff. Er erzeugte die Atmosphäre des Argwohns, die sich über Deutschland ausbreitete.“

Im Jahre 1944 veröffentlichte Franziska Baumgarten, eine bekannte Dozentin der Psychologie an der Berner Universität, ein Buch betitelt . DEMOKRATIE UND CHARAKTER* (Rascher-Verlag, Zürich). Wegen der Aktualität der darin entwickelten Gedankengänge für die politische Bildung möchten wir sie unseren Lesern nicht vorenthalten. Wir haben daher Frau Prof. Baumgarten um eine kurze Darstellung des Haupt-inhaltes ihres Buches gebeten.

Mensch sein heißt auch Mitmensdi sein.

Vorbemerkung Die verschiedenen Staatsformen, in denen sich das Leben der Völker abspielt, wie die des Absolutismus oder die der Demokratie, sind in hohem Grade vom Charakter des Menschen und von seiner „sozialen Reife“ abhängig. Ob ein Volk den Absolutismus und die Diktatur duldet oder das Bedürfnis hat, an der Gestaltung seines politischen Lebens teilzunchmen und mitzusprechen, hängt wesentlich davon ab, ob sich sein Charakter auf einer niederen oder höheren Entwicklungsstufe befindet, ob er in sozialer 1) Beziehung gereift ist. Wir wollen das näher erläutern.

Intellekt und Charakter Wir nennen Charakter die Gesamtheit derjenigen seelischen Eigenschaften, die den Menschen zu bestimmtem Tun und Verhalten veranlassen. Der Charakter ist demnach die Art und Weise, auf die das Individuum seine Selbsterhaltung und Selbstentfaltung durchsetzt, bzw. sich seiner Umwelt anpaßt. Bekanntlich sind die Charaktere der Menschen sehr verschieden, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, wie sich der einzelne gegenüber seinen Mitmenschen verhält, z. B. ob er rücksichtslos oder auf fremdes Wohl bedacht ist, egoistische oder Gemeinschaftsgefühle besitzt. Wie wir sicherlich alle schon beobachtet haben, zeigt sich das beieits bei Kindern, doch können sich die natürlichen Veranlagungen mit fortschreitendem Alter mehr oder weniger stark ausprägen. Der noch kindliche Charakter wird durch Erziehung und äußere Umstände stark beeinflußt.

Wie geht nun diese Charakterentfaltung vor sich? Wir wissen, wie sich die intellektuellen Fähigkeiten des Kindes nach und nach entwickeln, so daß in der Schule — dieser Entwicklung Rechnung tragend — der jedem Altersjahr entsprechende Stoff geboten wird.

In ähnlicher Weise reift auch der Charakter allmählich heran. Nur vollzieht sich das nicht ganz so offensichtlich wie mit dem Intellekt oder dem Körper. Das Kind wird zunächst einzig von dem Drang beherrscht, seine Urtriebe zu befriedigen, es will gut genährt und umsorgt sein. Die Umgebung wird von ihm nur soweit beachtet, als sie auf dieses sein Begehren Bezug hat. (Bild: Kind . . . „haben — haben!“ — Wutanfall.) Das Kind ist also zuerst einmal egoistisch, egozentrisch. Es versucht, seine Wünsche so gut es kann gegen andere durchzusetzen. Die Jungen im Alter von 10— 12 Jahren brennen vor Kampfeslust, sie balgen sich, führen auch gruppenweise richtige Feldzüge gegen andere Gruppen aus, um ihre Kräfte zu messen, — bei den Mädchen treibt die Eifersüchtelei große Blüten. (Bild: sich balgende Jungens) Ganz allmählich entwickelt sich dann die Sozialität. Der Jugendliche wendet sein Interesse der Außenwelt zu und versucht, sich der Umwelt anzupassen. Im Alter von 12— 14 Jahren, in der Zeit der sogenannten Pubertät, beginnt die Hinneigung zum „Du“, neuartige Formen anzunehmen. Die unbestimmte Sehnsucht entsteht, mit Altersgenossen nicht nur zusammen zu sein, zu spielen, sich auseinanderzusetzen, sondern mit ihnen eine neue Form der Gemeinschaft zu bilden, die auf bewußterer Gegenseitigkeit beruht. Das Mitteilungsbedürfnis macht sich bemerkbar in dem Drang, Freud und Leid mit einem Kameraden zu teilen. In der Zeit der Pubertät werden die meisten impulsiven Freundschaften geschlossen, die nicht selten ein ganzes Leben lang dauern. In diese Epoche fallen auch die ersten stärkeren sozialen Bindungen. Auf Grund des Bewußtseins seiner zunehmenden geistigen Kräfte hat der Jugendliche ein erhöhtes Selbstgefühl und möchte dies auch nach außen betonen, indem er danach strebt, sich von der elterlichen Gewalt und der der Erzieher loszulösen.

Doch der Jugendliche, seiner eigenen, noch unreifen Kräfte nicht ganz sicher, sucht nach einem Schutz und einer Hilfe von außen. In der Zeit der Pubertät äußert sich daher auch sein Verlangen nach Gemeinschaft mit Stärkeren, Klügeren und Wissenderen, also nach einem Führer. In dieser seelischen Lage des Anlehnungsbedürfnisses haben es Erwachsene — berufene und unberufene — leicht, Einflußauf den Jugendlichen zu gewinnen. Die Sehnsucht nach einem Führer dauert aber normalerweise nicht lange, sie ist nur ein Übergangsstadium. Der Jugendliche, dessen geistige Entwicklung weiter-schreitet, schüttelt auch den Führer ab und will selbst über sich bestimmen. Er nimmt sich selbst als ein bewußtes Ich mit eigenem Urteilsvermögen und eigener Selbstverantwortlichkeit wahr, — er wird sich selbst zu einem Objekt der Besinnung. Der Wille zur Selbstbestimmung ist immer ein Zeichen der seelischen Reife.

Zu dieser Entwicklung der sozialen Gefühle gesellt sich noch das Heranreifen zum Handeln. Das Kleinkind hat zwar auch einen Tätigkeitsdrang, aber es handelt mehr impulsiv, ohne Bedenken, ohne Verantwortungsbewußtsein, seinen eigenen Gefühlsregungen ganz ausgeliefert; dabei unterliegt es stark fremden Einflüssen. Der charakterlich Reife dagegen läßt sich nicht so leicht von der eigenen Impulsivität hinreißen, sondern vermag seiner Gemütsbewegungen Herr zu werden und sie einer höheren Idee unterzuordnen. Er ist bereit, an die Folgen seiner Handlungen zu denken und die Verantwortung bewußt auf sich zu nehmen.

Darin äußert sich der dem Menschen angeborene Sinn für die Gemeinschaft. Wie sich dieser charakterlich ausprägt, das ist ebenfalls nur eine Frage der Entwicklung und Reifung im Laufe der stetigen Auseinandersetzung mit der Umwelt und ihren Forderungen.

Was lehrt uns das Verhalten der Tiere?

Aus der Tierpsychologie wissen wir: Dort, wo viele Tiere gleicher Art zusammenleben, entsteht von selbst eine soziale Rangordnung. Das stärkere Tier ist bestrebt, die schwächeren zu unterjochen. So hackt z. B. die größere Henne auf die kleineren ein und jagt sie vom Futter weg, um sich selbst den größeren Teil und den besseren Bissen zu sichern. Bei den Herdentieren, z. B.den Rindern und Schafen, führt das stärkste Tier, und die andern folgen ihm blindlings nach.

Bei den Kindern sehen wir zuerst ähnliche soziale Gebilde wie bei den Hühnern und den Wölfen. In jeder Schulklasse gibt es ein Kind, dessen Willen sich gegenüber den anderen maßgeblich durchsetzt. Erstaunlicherweise ist es in der Regel durchaus nicht immer der Begabteste oder der Gütigste, nicht immer sogar der Stärkste, dem sich seine Kameraden unterordnen, sondern der Aktivste, Temperamentvollste und Rücksichtsloseste, der den Mut findet, die Macht bzw. die Führerschaft an sich zu reißen. Die Initiative aller Gruppenhandlungen geht immer vom Führer aus, die Unterordnung ergibt sich bei den andern von selbst.

Erst wenn die jungen Menschen zu einer gewissen Persönlichkeitsreife gelangt sind, wenn ihr Gemeinschafts-und Gerechtigkeitssinn so weit erstarkt ist, daß sie mit den Kameraden als gleichberechtigten Partnern verkehren, löst sich die Rangordnung allmählich auf und es bildet sich an deren Stelle ein Verhältnis gegenseitiger Teilhabe, je nach der Eigenart, Resonanzbereitschaft und Persönlichkeitsausstrahlung des Partners. Es entsteht eine Art Rechtsordnung auf Gegenseitigkeit, eine Gemeinschaft grundsätzlich Gleichberechtigter. Je weiter sich Geist und Charakter in ihnen entwickelt haben, desto freier von jedem Zwang sind ihre Gruppen und Gemeinschaftsbildungen. Wenn sie sich gemeinsame Ziele stecken wie Studium, Ausflüge, Gruppen-arbeiten, Hilfsaktionen für in Not geratene Kameraden oder für eine durch Naturkatastrophen gefährdete Bevölkerung, so geschieht das in freier Vereinbarung, bei der jede Meinung zur Geltung kommen kann. Hat einer der Kameraden eine besondere Gabe, so wird sie freudig anerkannt und Gegenstand allseitiger Teilhabe. Wer sich immer kritiklos unterwirft, wird nicht sehr hoch geachtet.

Wir sehen also, wie sich bei charakterlicher Reife eine neue Form des Zusammenlebens herausbilden kann, wie man im „Du" das „Ich" entdeckt. An der primitiveren oder der höheren Form eines Gemeinwesens vermögen wir daher leicht den charakterlichen Reifegrad seiner Mitglieder zu erkennen. „Das höhere „Wir“ ist eine ethische Leistung, die nicht ohne harte Selbstzucht gelingt"

Demokratie als Reifeprozeß Was wir über das Zusammenleben der reifenden Jugend gesagt haben, gilt auch für die Gemeinschaft der Erwachsenen innerhalb einer Staatsform. Welche Staatsform vorherrscht, das richtet sich in entscheidendem Maße nach der charakterlichen und geistigen Reife der Angehörigen des Staates. Nicht alle Menschen erreichen einen gleich hohen Grad der Persönlichkeitsreife. Viele bleiben in ihrer Entwicklung vorzeitig stehen. Auch die soziale Reifung eines ganzen Volkes kann durch innere und äußere Geschehnisse verzögert werden. Dabei kann sich ein höchst interessanter seelischer Prozeß vollziehen: Ein Volk vermag in Bezug auf seine Arbeitsfähigkeit, sein technisches Wissen, sein methodisches Denken und seine wissenschaftliche Veranlagung auf voller Höhe, aber bezüglich seiner Gemeinschaftsformen auf der Stufe des Pubertierenden stehen geblieben sein. Die intellektuelle und die soziale Reifung verlaufen nicht immer parallel. Ein Volk, das sich noch nicht auf einer höheren Entwicklungsstufe menschlicher Gemeinschaftsformen befindet, wird leichter als andere Völker zu willenlosen Masse, die mehr oder weniger blind das ausführt, was ihr von einem herrschsüchtigen und machtgierigen Menschen, der sich als Führer aufspielt, eingegeben wird. Von Versprechen betört, die ihren Wünschen entgegenkommen, und noch nicht zum Bewußtsein eines Gemeinschaftsethos gelangt, das sich auf freie Mitarbeit verantwortlicher Menschen gründet, neigt die Masse dazu, kritiklos alles zu glauben, was „von oben“ kommt, so daß der Führer von ihr fast alles erreichen kann, was er will. Mangel an sozialer Reife und politischer Einstellung verhindern, daß seine Anordnungen und Gesetze kritisch überprüft werden. Der politisch unreife Mensch ist nicht imstande, suggestiven Phrasen geistigen Widerstand entgegenzusetzen. Er ist in politischer Hinsicht ähnlich beeinflußbar wie Kinder in ihrem Spiel von Seiten ihres Anführers. Eine Gabe zu gefühlsgeladener oder temperamentvoller Rede, der eine lebhafte Gestik zu Gebote steht, eine laute, selbst schrille Stimme, der Gebrauch von Schlagwörtern wirken für diese Menschen mitreißend. Je mehr dann die primitiven Gefühlsregungen der Masse aufgewühlt, je mehr Rivalitäts-und Selbstbehauptungs-, ja sogar Haß-und Neidgefühle in der Masse mobilisiert werden, umso mehr wird sie zu gedankenlosen Taten aufgepeitscht. So ist es dem Führer eines politisch unreifen Volkes auch ein Leichtes, einen angeblich „gerechten Krieg" auszulösen, den Gegner zu verleumden un sich selbst zu preisen und zu erhöhen. Die geistig und in der Gemeinschaftsentwicklung noch Unkritischen gehen auf Alles ein, was die Obrigkeit von ihnen verlangt, auf Gutes und Schlechtes, wenn es nur den Nimbus des zuständigen Führers in sich birgt. Ja, ihnen behagt sogar diese Bevormundung, weil sie jede Eigenverantwortung als Belastung empfinden und froh sind, sie nicht tragen zu müssen. Die Psychologen behaupten, das Verlangen der Menschen nach Einswerden mit der Masse sei ein seelisches „Residuum", d. h. ein zurückgebliebener Rest aus der frühesten Kindheit, da man keine Verantwortung trug und sich bei andern geborgen und sicher fühlte. Das Streben nach Geführtwerden ist aber im Grunde immer eine Pubertätserscheinung. Bei Erwachsenen ist es ein Prozeß .der Regression, d. h.des Rückganges in der Entwicklung, ein Zeugnis seelischer Unreife oder Unfähigkeit, das Leben zu meistern. Diese politische Unreife eines Volkes kann eine weltpolitische Bedeutung haben. Je machtgieriger, despotischer, „prim •’ " ein Herrscher ist, desto mehr ist er bestrebt, aus dem ihm unterstellten Volke eine ebenso primitive Masse zu formen, die in ihrer Bedenken-und Kritiklosigkeit alles, was offiziell als „Recht" erklärt wird, glaubt und zu jedem Gehorsam bereit sein wird. Ein solches Volk hat es daher verhältnismäßig leicht, sich durch Gewalt und Rücksichtslosigkeit zur Führernation aufzuwerfen. Sind die anderen Völker sozial ebenso unreif, so werden auch sie sich verhältnismäßig leicht unterjochen lassen, bis sie ebenfalls reif genug sind, um zu erkennen, daß und wie sie sich selbst regieren und befreien können.

Autokratie und Demokratie Das Zusammenleben der Menschen wird, wie wir sahen, weitgehend von derem charakterlichen und sozialen Entwicklungsgrad bestimmt. Von ihm erhalten die sozialen Bindungen ihr Gesicht und von ihm hängt die Staatsform, unter der ein Volk lebt, weitgehend ab. Zwei Hauptformen des Staatslebens sind es, die sich im Laufe der Zeiten herausgebildet haben: Die Autokratie und die Demokratie. Die autokratische Form finden wir vorzugsweise dort, wo noch allgemein die Neigung entweder zu Herrschsucht, Intoleranz und Rivalität oder zu unselbständigem, kritiklosem Gehorchen und . Mitlaufen“ überwiegt. Dort ist alles auf Selbstbehauptung und Kampf sowie auf Befehlen und Folgen eingestellt. Die persönliche Sicherheit ist ständig gefährdet, Meinungsverschiedenheiten werden nicht in fairer Weise ausgetragen. Macht geht vor Recht, und jede Handlung ist recht, wenn sie den Absichten der Obrigkeit entspricht. Ein großer Schriftsteller (Paul Valery) hat einmal gesagt: »Diktatur ist nur dort möglich, wo der Gruppenegoismus den Blick für den Nutzen des Ganzen trübt.“ Ebenso richtig drückte es ein Mitglied des Schweizer Bundesrates aus: „Im Grunde genommen ist die Diktatur eine Staatsform des menschlichen Größenwahns.“ Mögen die Diktatoren auch von einer „Volksgemeinschaft“ sprechen, so darf dieses Wort doch nicht über die wahre Natur des von ihnen so bezeichneten Staatswesens hinwegtäuschen. Wo aber bei der Mehrheit der Staatsangehörigen der Sinn für Fairneß, Gleichberechtigung, Verträglichkeit, Hilfsbereitschaft, und Gerechtigkeit Freiheit schon stärker entwickelt ist als triebhafer Egoismus und der Hang zu blinder Unterwerfung, dort bildet sich ein Staatswesen heraus, das als demokratisch bezeichnet wird. Wörtlich übersetzt, heißt Demokratie „Herrschaft des Volkes“, mit anderen Worten: sie ist ein System, bei dem jeder Einzelne in allen Dingen, die das Leben der Gemeinschaft betreffen, Mitspracherecht besitzt. (Bild: Direkte Demokratie einer Schweizer Gemeinde) Demokratie bedeutet Mitregieren jedes einzelnen, wobei grundsätzlich Jedem die Möglichkeit zugestanden wird, sich durchzusetzen und frei auszuwirken, sofern er nur das Wohl der Gesamtheit dabei nicht aus den Augen verliert, d. h. also — sofern er nicht darauf aus ist. Andere zu unterdrücken.

In gerechten der Demokratie strebt man nach Übereinkünften und möglichst friedlicher Zusammenarbeit; wo es Unterdrückte oder gar »Terrorisierte" gibt, dort besteht dauernd die Gefahr zu Auflehnung und Bürgerkrieg. Demokratie setzt immer gegenseitiges Vertrauen voraus.

Das Vertrauen ist ein Begriff, der sich nur auf moralisch positive Kategorien anwenden läßt. Man kann auf Ehrlichkeit, Verantwortungsbewußtsein, Barmherzigkeit, Wohlwollen, Treue usw. vertrauen, nicht aber auf Gemeinheit, Haß, Rachedurst, Verleumdung, Neid. Vertrauen ist daher das positive Bindeglied zwischen den Menschen. Wo gegen-seliges Vertrauen herrscht, ist man auch in der Lage, das Leben in größerem Ausmaße zu genießen. Wo es fehlt, verwendet man einen beträchtlichen Teil der Energie auf den Schutz der eigenen Interessen. Alle Übereinkommen, Pakte und Verträge, die Menschen und auch Staaten untereinander abschließen, haben Dauer, so lange alle Parteien die sittliche Verpflichtung fühlen, sie einzuhalten. Mit der ständigen Angst, der Nachbar liege auf der Lauer, um einen zu schädigen, kann niemand mit voller Kraft sein Leben genießen. Man macht sich keine Vorstellung davon, welch eine große Behinderung des sozialen und politischen Lebens der Mangel an gegenseitigem Vertrauen bedeutet. Die Menschheit stünde längst auf einer höheren Entwicklungsstufe, wenn sie nicht so viel Zeit, Kraft und Vermögen zum eigenen Schutze vergeuden müßte. Daher befreit Demokratie auch von Angst vor dem Mitmenschen, also vor der Kriegsgefahr. Das gegenseitige Vertrauen ist eine der tragenden Säulen der menschlichen Gemeinschaft und zugleich ein Zeichen der charakterlichen und politischen Reife eines Gemeinwesens. Demokratie ist die Staatsform gegenseitigen Vertrauens. In ihr heißt es: Einer für Alle, Alle für Einen. (In der Autokratie dagegen nur: Alle für Einen.) Wir möchten hier noch besonders hervorheben, daß sich die Demokratie grundsätzlich auf moralische Grundsätze stützt. Keine andere Staatsform läßt sich in einem gleich hohen Maße wie die Demokratie mit dem allgemeinen Sittengesetz in Einklang bringen. In der Demokratie besteht mehr als in irgend einer anderen Staatsform Sinn für Gerechtigkeit; fremde Leistungen und fremde Ansprüche auf gleiche Rechte werden in ihr grundsätzlich anerkannt. Beeinflussungsversuche zu unmoralischem Verhalten verfallen der öffentlichen Kritik. Die Demokratie erblickt in der Humanitäts-Idee die Grundlage aller Ethik, der demokratische Mensch achtet den Mitmenschen und anerkennt seine Menschenwürde. Die Demokratie tritt für das Wahrheitsprinzip und für Objektivität aller Beurteilungen ein. Freie Meinungsäußerungen bringen keine Nachteile mit sich, es sei denn, sie zielen darauf ab. die Freiheit wieder zu unterdrücken, also die Entwicklung der Sozialität rückläufig zu machen. Wer aber im Mitmenschen nicht immer nur den Rivalen sieht, den er zu bekämpfen hat, also keine egoistischen Hemmungen zeigt, ihm beizustehen, der hat in sich bereits die charakterliche Reife entwickelt, die zur Demokratie führt, er ist also ein „echter Demokrat". Die Demokratie ist der Hort der Hilfsbereitschaft und der gegenseitigen Hilfeleistung. Sie bietet jedem durch die gegenseitige Teilhabe die Möglichkeit, sich zu erhalten, sich zu entfalten und sich entsprechend seinen Gaben durchzusetzen. Demokratie bedeutet auf diese Weise auch Sicherheit für Leben und Besitz jedes Einzelnen. Die demokratische Staatsform ist eine Gewähr, ein Schutz gegen Eingriffe fremder Willkür, so daß der Mensch in Ruhe seinem frei gewählten Berufe nachgehen und sich seines Privatlebens freuen kann. Niemand darf ungestraft den Besitz eines Anderen an sich reißen, niemand dessen Ehre antasten. Unter solchen gesicherten Zuständen erhält das Leben für jeden einen erhöhten Wert. Der Begriff Demokratie schließt also auch eine Steigerung des Lebenswertes ein.

Demokratie und Frieden Zwischen echten Demokratien ist die Kriegsgefahr gering, wenn nicht gar überhaupt beseitigt. Denn ^s fehlt in der Demokratie ja der Hauptgrund aller Angriffskriege: Der unkontrollierte Drang eines Machthabers, seine Herrschaft rücksichtslos zu erweitern. In der Demokratie muß im Gegensatz zur Autokratie der Beschluß zum Kriege von einer Volksvertretung gefaßt werden. Damit wird die Gefahr einer willkürlichen Entscheidung gebannt und die Möglichkeit zur Überprüfung des Streitfalles durch die Volksvertreter geboten. Die Erfahrung hat immer wieder bewiesen, daß sich Kriege nicht mehr bezahlt machen, und seien sie anfangs noch so erfolgreich, wie die Eroberungsfeldzüge von Napoleon, Hitler oder Nordkorea, — ja selbst die Sieger kommen nicht auf ihre Kosten.

Während die Autokratie dazu neigt, Konflikte mit Gewalt, also auch mit kriegerischen Mitteln aus der Welt zu schaffen, versucht die Demokratie, die feindliche Gegensätzlichkeit der Interessen, wo es solche gibt, durch Verständigung, Konzessionen und Schiedsverträge zu versöhnen und zu befriedigen. Der Demokrat weiß, daß er Kompromisse machen muß, damit auch die andere Partei sich zu einem Entgegenkommen bereit erklärt. Eine derartige beiderseitige Bereitschaft vermag viele Schwierigkeiten zu beheben und Streitigkeiten zu schlichten.

Ein besonders bezeichnendes Merkmal des charakterlich reifen Menschen ist sein Verantwortungsbewußtsein bei allem Denken und Handeln. Er läßt sich nicht so leicht von Trieben und Affekten leiten, sondern wägt sein Tun im Hinblick auf die möglichen Folgen — nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Mitmenschen, — ab. Das ist die typische Haltung eines Demokraten. Dagegen weiß man, daß so manche Diktatoren, die einen Weltbrand entfacht haben, erst nach verlorenem Krieg ihr gewissenloses Spiel mit dem Feuer bereuten und dann ausriefen: „Das habe ich nicht gewollt!“

Die im Reifezustand der menschlichen Charaktere Verschiedenheit mit und Völker bringt es sich, daß die Einen sich leicht und bedingungslos unterordnen und ein dumpfes, zwar bequem-verantwortungsfreies, aber rechtloses Sklavendasein führen, während die Anderen, — übrigens schon auch in der frühesten Zeit der Geschichte — sich keinem Diktat fügten, sondern den Kampf gegen die Machthaber ausgenommen haben. Es war dabei keineswegs immer nur der Geknechtete selbst, der rebellierte; Knechtschaft rief jederzeit auch bei nicht betroffenen Menschen größte Empörung hervor, bei solchen nämlich, die Sinn für Freiheit, Humanität und Gerechtigkeit bewahrt haben. Sie nahmen mutig den Kampf gegen den Unterdrücker auf. „Es drückt ein Volk das andere nieder Und schwelgt in Siegesruhm und Glück, Das andre Volk erhebt sich wieder, Gibt die erlittne Schmach zurück.'

Die seelische Kraft des Widerstandes gegen Unrecht, das von Machthabern unter Mißbrauch ihrer Regierungsgewalt begangen wird, ist von entscheidender Bedeutung für die Erhaltung ethischer Grundsätze im Leben der Menschen. Ohne diese Kraft wäre die Menschheit längst dem Chaos, einem Kampf Aller gegen Alle, anheimgefallen. Die Aufstände und Revolutionen, besonders die große französische Revolution im Jahre 1789, zeugen von der geschichtlichen Bedeutung der ethischen Triebkräfte reifer und veranwortungsbewußter Menschen: Viele Aristokraten standen damals auf der Seite der unterdrückten Bürger. Die Erhebungen gegen die Machthaber haben daher — wie dies die französische Revolution lehrt — früher oder später zum Ziele geführt. Ihre Proklamation der Menschen-und Bürgerrechte ist ein Markstein in der Entwicklung der menschlichen Kultur und der sozialen Beziehungen. Es war ein entscheidender Schritt zur sozialen, charakterlichen und damit politischen Reife der Franzosen.

Was war aber das Neue und soziale Wertvolle dieser Proklamation? Sie hat sämtliche Privilegien der bisher bevorzugten Stände abgeschafft. Jeder Mensch erhielt ein Anrecht auf seinen Platz an der Sonne. Die Ansprüche eines jeden konnten vorgebracht werden und durften auf staatlichen Schutz zählen. Es kam also zu einer Angleichung der Rechte. Die bevorzugte Stellung des Stärkeren, der mit Gewalt die Macht an sich reißt, wurde erschüttert. Auch der Schwache erhielt sein Recht vor dem Gesetz und zwar genau das gleiche wie der bisher Machtvolle. Der Staat, die Obrigkeit, bemühte sich, von nun an auch den Schwachen zu schützen. So wurde in dieser Ecke Europas die Demokratie geboren.

Nun gibt es freilich Verfechter des autoritären, des diktatorischen Systems, die sich auf die folgende, vermeintlich wissenschaftliche Feststellung berufen: „Überall in der Welt muß es allein schon wegen der Ungleichheit hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der Gehirne Führer und Geführte geben . . . Der Feststellung, daß sich unser ganzes menschliches Leben, im kleinen wie im großen, nach dem Prinzip der Zweigeteiltheit vollzog, der Masse einerseits und dem Führer der Masse andererseits, kann sich keiner entziehen, es sei denn, daß er völlig blind sei Es sei daher eine Utopie, eine Demokratie bilden zu wollen, von der gänzlich falschen Annahme ausgehend, alle Menschen seien „gleich“, Es fällt dann auch das bekannte Schlagwort „Gleichmacherei!“ In dieser Darlegung befinden sich aber zwei Denkfehler: 1. Es gibt der Natur nach nicht nur zwei Sorten von Menschen, Führer und Massenmenschen, sondern viele tausende, ja millionen von Variationen. „Jedes Herz schlägt seinen eigenen Rhythmus." Jene Zweiteilung stellt eine unzulässige, künstliche Vergröberung der Wirklichkeit dar, wie sie bei politisch unreifem Denken sehr häufig vorkommt. 2. Die Demokraten behaupten keineswegs, alle Menschen seien „gleich“, Im Gegenteil, da sie sich sehr genau der Tatsache bewußt sind, daß die Menschen allesamt verschieden geartet sind, ziehen sie daraus die Folgerung, daß sich die Menschen je nach ihrer geistigen, charakterlichen und körperlichen Veranlagung sinnvoll ergänzen, d. h. also mit verteilten Rollen, jeder an seinem Platz und in eigener Verantwortung zusammenarbeiten sollten. — Von „Gleichmacherei“ kann also eigentlich nur dort gesprochen werden, wo das Volk zur folgsamen Masse degradiert wird oder sogar freiwillig, infolge ihres sozialen Entwicklungsrückstandes, im Zustand des Massenmenschen verharrt. Demokratie und Führertum Auch in der Demokratie entstehen selbstverständlich führende Rollen und Funktionen neben mehr untergeordneten Rollen und Obliegenheiten, — und wer jene oder diese übernimmt, das ergibt sich je danach, eine wie große Verantwortung der einzelne zu übernehmen nach seiner Veranlagung geeignet und berufen erscheint und darüber hinaus auch vor seinem Gewissen zu tragen bereit ist. „Verantwortung“, bedeutet ja, daß man für eine sachliche und gerechte Ausübung seines Amtes auch wirklich selbst einsteht. Auch in der Diktatur spricht man gern von „Verantwortung“, damit meint man aber ganz etwas anderes: man meint Rechenschaftsablegung gegenüber dem Vorgesetzten darüber, daß genau befehlsgemäß gehandelt worden ist, und Aufsichnehmen von Maßregelungen, falls dies nicht der Fall war, ganz gleich, ob man gegenüber seinem Gewissen recht oder unrecht gehandelt hat. Anstelle des Gewissens, der Selbst Verantwortung, tritt der Vorgesetzte, auf den man die Verantwortung a b-schiebt. „Idi habe nur das ausgeführt, was mir befohlen wurde“, lautet die Verteidigung.

In der Diktatur werden daher oft völlig Ungeeignete zu maßgeblichen Stellungen berufen, — nur weil sie als zuverlässige Gefolgsleute des Diktators gelten. Sie werden dann Alles tun, um diesen zufriedenzustellen, darin erschöpft sich ihr Pflichtbewußtsein. Sie kümmern sich nicht darum, ob hierbei die ihnen anvertrauten Menschen ungerecht behandelt, vielleicht gar gequält und terrorisiert werden, — genau sowenig, wie sich das Kleinkind darüber Gedanken macht, wenn es das schwächere andere Kind verletzt. In der Demokratie können solche willkürlichen Gewaltakte nicht Platz greifen, weil die Mitbürger wissen, daß es in ihrer Hand liegt, sich gegen jedes Unrecht zur Wehr zu setzen. Dieses „Grundrecht“ ist ihnen in jeder demokratischen Staatsverfassung sichergestellt, — es bildet den Eckstein seiner Freiheit.

Derartiges Zugeständnis ist aber — von anderer Seite betrachtet — Ausdruck des Wohlwollens und der Menschenfreundlichkeit, also der Charaktereigenschaften. Und so sehen wir hier wieder, wie der Charakter die Demokratie bestimmt.

Anmerkung Dr. Helmut Krausnick, geb. 19. 2. 1905 in Wenden, Kreis Braunschweig, Referent im Institut für Zeitgeschichte, München.

Professor Dr. Franziska Baumgarten-Tramer, Universität Bern, Honorar-Generalsekretärin der Internationalen Vereinigung für Psychotechnik, Redaktorin der Internationalen Zeitschrift für Berufsethik.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ed Spranger: „Psychologie des Jugendalters“, S. 224.

  2. W. Poppelreuter: „Hitler als politischer Psychologe." Langensalza 1943, S. 1.

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