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Zur Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus | APuZ 32/1954 | bpb.de

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APuZ 32/1954 Englische und deutsche Demokratie Zur Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus

Zur Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus

Helmut Krausnick

Die Zahl der durch Hitler und den Nationalsozialismus ermordeten und vergasten Juden in Europa ist immer wieder Gegenstand vielfältiger Diskussion. Wir werden an dieser Stelle dann auf diese Frage zurückkommen, wenn die erschlossenen Quellen zu neuen Einsichten oder Erkenntnissen führen. Wir legen heute einen ersten Bericht über den Stand der Diskussion vor.

Abbildung 2

Bundeszentrale für Heimatdienst.

Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus gehört noch immer zu den am lebhaftesten diskutierten Fragen der Zeitgeschichte. Es soll im folgenden nicht von der offenkundigen Tendenz die Rede sein, mit der diese Frage von manchen Seiten aufgegriffen wird, sondern allein von dem Zahlenproblem selbst.

Es ist zunächst festzustellen, daß man innerhalb eines bevölkerungsstatistisch begrenzten Gesamtrahmens auf Schätzungen angewiesen bleibt, da diejenigen Juden, die in den polnischen Vernichtungslagern nach ihrer Ankunft sofort den Gaskammern zugeführt wurden, nicht registriert worden sind. Von einer Reihe von Transporten liegen zwar die Zahlen der zunächst noch als Arbeitskräfte verwendeten Juden vor, so daß man indirekt auf die Zahl der Getöteten schließen kann; aber dies gilt, wie gesagt, nur für eine Reihe von Transporten.

Die Zahl von 6 Millionen getöteten Juden beruht unter anderem auf der Nürnberger Aussage des ehemaligen stellvertretenden Gruppenleiters im Amt VI (Auslandsnachrichten) des Reichssicherheitshauptamts, SS-Sturmbannführer Dr. Hoettl (Dokument 2738-PS, IMT Bd. XXXI, S. 86). Danach hat der Judenreferent im Reichssicherheitshauptamt (Amt IV/Gestapo), SS-Obersturmbannführer Eichmann, Hoettl im August 1944 in Budapest auf Grund eines kurz vorher an Himmler erstatteten Berichts erklärt, in den verschiedenen Vernichtungslagern seien etwa 4 Millionen Juden getötet worden, während weitere 2 Millionen auf andere Weise den Tod gefunden hätten, wobei der Großteil der letzteren durch die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD während des Rußlandfeldzuges durch Erschießen getötet worden seien. Himmler sei mit diesem Bericht nicht zufrieden gewesen, da nach seiner Meinung die Zahl der getöteten Juden 6 Millionen überschritten habe. Dr. Hoettl hält an seiner Nürnberger Aussage auch heute fest und bezeugt einige nähere Erläuterungen Eichmanns, mit denen dieser die Stichhaltigkeit seiner Angaben zu erhärten gesucht habe.

Die Zahl von nur etwa 1, 5 Millionen getöteten Juden, die sich angeblich auf jüdische Statistiken stützte, wurde in den „Baseler Nachrichten“ bereits im Juni 1946, also vor Abschluß des Nürnberger Hauptprozesses und näherem Bekanntwerden seiner dokumentarischen Unterlagen genannt. Sie wurde dessen ungeachtet in der Folgezeit in anderen Organen, wie z. B. in dem ebenfalls schweizerischen „Turmwart" und auch im „Fortschritt“ (am 12. 12. 1952), erneut verwendet. Eine Untersuchung des Institute of Jewish Affairs in New York hat dazu festgestellt, daß die „Baseler Nachrichten“ die Zahl der 193 3 in Europa (außerhalb der Sowjetunion) lebenden Juden um etwa 1, 4 Millionen zu niedrig, die Zahl der ausgewanderten Juden zu hoch, die Zahl der in Sowjetrußland einschließlich der 1939 annektierten polnischen und baltischen Gebiete umgebrachten Juden mit 500 000 wiederum viel zu niedrig angesetzt haben. Eine Gegenrechnung des Institute of Jewish Affairs gelangt durch Vergleich der Zahl der im Jahre 1939 in Europa lebenden Juden (9, 5 Millionen) mit deren Gesamtzahl im Jahre 1945 (3, 1 Millionen) zu 5, 8 Millionen während des Krieges umgekommener Juden, von denen nur relativ wenige, vielleicht 150 bis 200 000 als unmittelbare Kriegsopfer und nicht als Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gelten dürften. Hierbei sind, wie ein Vergleich der Zahlen annähernd ergibt, die in den Jahren 1940— 45 aus Europa ausgewanderten bzw. evakuierten oder geflohenen Juden mit 580 000 berücksichtigt, wovon auf Abwanderung aus dem europäischen in das asiatische Sowjetrußland allein 400 000 gerechnet werden.

Eine andere Berechnung, durchgeführt von dem Bevölkerungsstatistiker Jacob Lestschinsky (The Decline of European Jewry, Congress Weekly New York 24. 9. 1951), zitiert von Dr. Hans Lamm in der „Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland“ vom 8. 5. 1953, geht ebenfalls von einer Zahl der Juden in Europa im Jahre 1939 von 9, 5 Millionen aus und gelangt auf Grund einer Zahl von 2 750 000 im Jahre 1950 verbleibenden Juden, jedoch bei einem zweifellos zu niedrigen Ansatz von 700 000 zwischen 1939 und 1950 abgewanderten, zu einer Gesamtzahl von über 6 000 000 jüdischen Opfern des Nationalsozialismus.

Eine dritte Berechnung, durchgeführt von dem genannten Dr. Lamm an der gleichen Stelle, kommt auf Grund eines Vergleichs jüdischer Statistiken hinsichtlich der hauptsächlich von der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik betroffenen Ländern für 1933 (wiederum rund 9, 5 Millionen) und 1945 (etwas über 3 Millionen), bei einem Abzug von 700 000 Abgewanderten für die fraglichen Jahre, ebenfalls zu einer Gesamtzahl von 5, 8 Millionen jüdischer Opfer des NS. Bei allen Zahlen, die den Ausgangs-und Endberechnungen zugrunde liegen, ist übrigens zu berücksichtigen, daß es sich ohne Zweifel ganz überwiegend um Glaubensjuden handelt.

Der Verfasser des bekannten Buches „Breviaire de la Haine“ (Paris 1951), Leon Poliakov (Centre de Documentation Juive Contemporaine, Paris), übernimmt hinsichtlich der durch die NS-Einsatzgruppen erschossenen Juden die Berechnung des genannten Statistikers Lestschinsky von 5 Millionen. Hinsichtlich der in den Lagern Belzec (600 000), Sobibor (250 000), Treblinka (700 000), Chelmno(300 000) durch Gas getöteten Juden übernimmt er die Angaben der polnischen Kommission zur Untersuchung der Kriegsverbrechen mit insgesamt 1 850 000 Opfern, zu denen auf Grund der gleichen Quelle noch über 200 000 Tote in Maidanek, das im Gegensatz zu den vorgenannten Plätzen kein Lager sofortiger Vernichtung darstellte, hinzukommen. Dagegen bezweifelt Poliakov die von Höß, dem Kommandanten des Lagers Auschwitz, ursprünglich bezeugte Zahl von 21/2 Millionen in Auschwitz vergaster Juden und schätzt selbst stattdessen nur etwa 2 Millionen Auschwitzer Opfer. Damit gelangt er allein auf Grund dieser Zahlen bereits auf über 51/2 Millionen jüdische Tote, denen natürlich noch zahlreiche direkte oder indirekte Opfer des Nationalsozialismus in den Konzentrationslagern, durch Selbstmord, erhöhte Sterblichkeit usw. zugezählt werden müssen.

Alle diese Berechnungen enthalten zwangsläufig Unsicherheitsfaktoren, die besonders auf der Ungewißheit hinsichtlich der jüdischen Bevölkerungsverschiebungen und -Verluste in den gegenwärtig von der Sowjetunion beherrschten Ländern, einschließlich Rumäniens, beruhen. So schwanken die Schätzungen der Zahl der überlebenden Juden in Sowjetrußland zwischen 2 650 000 und 1 600 000. Der Verfasser des neuesten Buches über die Endlösung der Judenfrage, Gerald Reitlinger (The Final Solution, London 1953), hat sich daher darangemacht, auf Grund wohl aller erreichbaren Angaben, die Verlustzahlen der jüdischen Bevölkerung Land für Land sehr kritisch zu untersuchen. Er hat dabei die im April 1946 vom Anglo-American Committee of Inquiry regarding the Problems of European Jewry and Palestine aufgegliederte Zahl der Nürnberger Anklage von 5 721 800 gegenüber dem ursprünglichen Stand nicht mehr feststellbarer Juden lediglich als Ausgangs-und Orientierungspunkt benutzt. Er hat vor allem weitgehend die als (umngedruckte) Nürnberger Dokumente vorliegenden statistischen Berichte des Inspekteurs für Statistik beim Reichsführer SS, Dr. Korherr, vom 23. März und 19. April 1943 über „die Endlösung der europäischen Judenfrage“ verwertet. Korherr weist in seiner Vorbemerkung selbst darauf hin, daß die Statistik „bis zuletzt die Juden nicht nach ihrer Rasse, sondern nach ihrem religiösen Bekenntnis erfaßt“ hat. Er schließt daher den einleitenden Absatz mit der Bemerkung: „Jüdische Bestandszahlen sind im allgemeinen nur als Mindestzahlen zu werten, wobei der Fehler mit geringerem jüdischen Blutanteil immer größer wird".

Dieser amtliche nationalsozialistische Bericht konnte neben den allgemein zugänglichen Statistiken die im Reichssicherheitshauptamt gesammelten Unterlagen über Transporte und „Sonderbehandlung" (d. h. eingestandenermaßen Liquidierung), sowie die Einsatzgruppenberichte über die Massenerschießungen auswerten. Obwohl er nur bis zum 31. März 1943 reicht, genügt er bereits, um die in den Baseler Nachrichten 1946 gegebenen Zahlen sowohl der 1933 in Europa (außerhalb der Sowjetunion) lebenden Juden von 5, 6 Millionen wie insbesondere der „noch nicht 1, 5 Millionen" von den NS getöteten Juden zu widerlegen. Korherr gibt die Zahl der in Europa lebenden Juden für 1937 mit 10, 3 Millionen an (wohlgemerkt Glaubensjuden); er übertrifft damit also eher die eingangs angeführten jüdischen Berechnungen, zumal seine bewußt vage Schätzung für Sowjetrußland im Jahre 1943 mit etwa 4 Millionen im Hinblick auf die erst später eingetretenen Grenzveränderungen, sowie die Abwanderung von Juden nach dem nationalsozialistischen Angriff von 1941, um etwa 1 Million zu hoch greift 1). Was nun die Zahl der getöteten Juden betrifft, so findet sich — nach Verzeichnis der Abnahme der jüdischen Bevölkerung in den deutsch-beherrschten Gebieten durch Auswanderung und „außerordentlich" großen Sterbeüberschuß — in dem Bericht die Zahl von 1 714 031 „Evakuierte n", allein bis zum 31. Dezember 1 9 4 2. Diese müssen, abgesehen von relativ sehr wenigen, die noch für eine Galgenfrist als Arbeitskräfte verwendet wurden, als unmittelbare Opfer der systematischen Judenvernichtung angesprochen werden. Darüber hinaus verzeichnet Korherr für die Zeit bis zum 31. März 1943 die „Evakuierung“ von weiteren 113 015 Juden „nach dem Osten", was eingestandenermaßen gleichbedeutend mit sofortiger Vernichtung ihres allergrößten Teiles ist. Ferner verzeichnet Korherr,, aus anderen europäischen Ländern" bis zum 31. 3. 1943 nicht weniger als 842 072 „Evakuierte", davon für die „russischen Gebiete einschließlich der früheren baltischen Länder seit Beginn des Ostfeldzuges“ allein 633 300: — hier handelt es sich natürlich zum allergrößten Teil um die von den Einsatzgruppen Erschossenen. Bis zum 31. März 1943 gelangt man somit, auf Grund des Korherr-Berichts, bereits zu über 2 % Millionen unmittelbaren Opfern der NS-Ausrottungspolitik. Er sagt selbst, daß von den (natürlichen) Todesfällen der sowjetrussischen Juden in den besetzten Ostgebieten nur ein Teil erfaßt werden konnte.

Es würde hier zu weit führen, wollte man nunmehr die eingehenden, sehr kritisch vorgenommenen Berechnungen Reitlingers selbst im einzelnen wiedergeben und sich mit ihnen auseinander setzen. Wie vorsichtig er zu Werke geht, bezeugt sein ausdrücklicher Hinweis darauf, daß Höß, entgegen seiner ursprünglichen Angabe (2 % Millionen), später nur noch von 1 135 000 Auschwitzer Opfern gesprochen hat, sowie die Tatsache, daß Reitlinger selbst die sehr niedrig erscheinende Zahl von nur etwa 750 000 für Auschwitz annimmt. Seine kritische Vorsicht zeigt sich weiter darin, daß er die in einer von Himmler selbst gezeichneten mit sogenannter „Führertype“ geschriebenen Meldung an Hitler vom 29. Dezember 1942 (Nr. 51) angegebene Zahl von 363 211 in den 4 Monaten von August bis November 1942 außerhalb der Vernichtungslager „exekutierten“ Juden ohne nähere Begründung als „offensichtliche Übertreibung“ bezeichnet. Es mag genügen, anschließend Reitlingers Minimal-und Maximalschätzungen der allein im Rahmen der „Endlösung der Judenfragen" umgekommenen Juden aus den einzelnen Ländern aufzuführen:

Dies ist, wie gesagt, das Ergebnis einer sehr Vorsichtigen und kritischen Untersuchung, die sich auf die Phase der „Endlösung" bezieht. Ist man sidi dessen bewußt und berücksichtigt man zugleich mit dem Statistiker der SS, daß die Ausgangszahlen wesentlich Glaubensjuden betreffen, zieht man weiter die jüdischen Bevölkerungsverluste in Betracht, die mittelbar der nationalsozialistischen Verfolgung zuzuschreiben sind, und schließlich diejenigen, die in den ersten Jahren der Herrschaft Hitlers mittelbar und unmittelbar auf seine Judenpolitik zurüdezuführen sind, so wird man sagen müssen, daß die viel diskutierte Zahl von 6 000 000 mindestens noch nicht hinreichend widerlegt ist, sondern immer noch als durchaus möglich erscheinen muß. Auf jeden Fall kann mit hoher Wahrscheinlichkeit immer noch von 5 — 6 Millionen jüdischer Opfer gesprochen werden.

Anmerkung Prof. Dr. Michael Freund, Lehrgebiet: Neuere Geschichte, Mitherausgeber der Zeitschrift „DIE GEGENWART".

Dr. Helmut Krausnick, geb. 19. 2. 1905 in Wenden, Kreis Braunschweig, Referent im Institut für Zeitgeschichte, München.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Es liegt für Sowjetrußland eine Zählung von 1939 mit 3 020 000 Juden vor.

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