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Das Amerikanisch-Russische Verhältnis | APuZ 48/1954 | bpb.de

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APuZ 48/1954 Das Amerikanisch-Russische Verhältnis Probleme praktischer Menschenführung in zukünftigen Streitkräften

Das Amerikanisch-Russische Verhältnis

George F. Kennan

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages veröffentlichen wir in dieser und in den nächsten Ausgaben der Beilagen vier Vorträge des ehemaligen amerikanischen Botschafters in Moskau, George F. Kennan über das amerikanisch-russische Verhältnis. Die Vorträge sind zusammengefaßt erschienen bei der DEUTSCHEN VERLAGSANSTALT GMBH, STUTTGART, unter dem Titel: „Das Amerikanisch-Russische Verhältnis“. Wir beginnen heute mit den beiden eröffnenden Vorworten und dem ersten Vortrag: „Der historische Hintergrund".

Zur Persönlichkeit des Autors

INHALT DIESER BEILAGE: George F. Kennan:

Der historische Hintergrund (S. 631) Wolf von Baudissin Probleme praktischer Menschenführung in zukünftigen Streitkräften (S. 435)

Es gibt wohl keinen lebenden Menschen, der befugter wäre, das Thema der amerikanisch-russischen Beziehungen zu behandeln, als George Kennan, der frühere Botschafter der USA in Moskau, der ehemalige Chef der Planungsabteilung des State Department, der „Mr. X." aus den „Foreign Affairs", der 1947 in einem weltberühmt gewordenen Aufsatz die Politik der „Eindämmung“, des Containment, gegenüber der sowjetischen Nachkriegsexpansion entwarf.

So ist es leicht zu verstehen, daß dieser Mann, der in der Stille der Gelehrtenrepublik von Princeton zum Geschichtsforscher und Theoretiker der Politik geworden Ist, mit den hier vorgelegten Vorträgen in Frankfurt einen ganz außergewöhnlichen akademischen Erfolg hatte.

Allerdings erklärt sich dieser Erfolg nicht nur vom Gedanklichen her; der Historiker, der, wie Prof. Carlo Schmid, der Gastgeber Kennans sagte, „selbst Geschichte gemacht" hat, wirkte auch durch eine sehr persönliche Art:, durch die ernste Trauer eines Mannes, der sich keine Illusionen über den unerbittlichen Kampfcharakter geschichtlichen Geschehens macht und der doch an die Überlegenheit transzendenter Kräfte glaubt, an die „sauberen und anständigen Mittel in der Politik"; durch die strenge Wissenschaftlichkeit im Abwägen der Ursachen, den Verzicht auf die „schreckliche Vereinfachung" unserer Zeit, die unvermutet aufleuchtende Ironie, die aus der Souveränität des Einzelmenschen gegenüber der politischen Machtsphäre kommt. Vielleicht war eine Erklärung des Erfolges auch die verblüffende Erfahrung, daß mit dem amerikanischen Gast sich etwas wie die Rückkehr eines alten europäischen Erbes vollzog, das hier in unserer alten Welt, zumindest im Denken der Staats-leute und Politiker, so oft verlorengegangen zu sein scheint; des Historismus, eines durch die Versenkung in die Geschichte verfeinerten politischen Denkens. Wie dem auch sei, der Erfolg bei der deutschen Jugend, die ar vier Vormittagen die große Aula der Frankfurter Universität und dazu noch benachbarte Hörsäle bis auf den letzten Platz füllte, verrät, daß sich hier eine sonst unerfüllt bleibende Sehnsucht nach echtem politischem Verstehen manifestierte.

Bekanntlich ist Kennans Theorie der „Eindämmung" zur offiziellen Doktrin der Truman-Politik geworden. Die Sowjetregierung erteilte trotzdem 1952 diesem besten amerikanischen Kenner und zugleich klügsten Gegner der Sowjetmacht das Agreement für den Moskauer Posten — ein weiser Entschluß, der nach einem halben Jahr rückgängig gemacht wurde, als Stalin den Botschafter nach einer kritischen Bemerkung über das Leben des diplomatischen Korps in der russischen Hauptstadt zur persona non grata erklären ließ, was ihn nicht nur die Moskauer Stellung kostete, sondern auch die weitere diplomatische Karriere. Denn kurze Zeit danach kam die Republikanische Partei an die Macht, und da Kennan sich offen von der Kreuzzugsideologie distanziert hatte, die der spätere Außenminister Dulles im Wahlkampf vertrat, erhielt er keinen neuen Posten. Dies hat sich als segensreich für die amerikanische Geschichtsschreibung erwiesen. George Kennan kann in seinem Land zu einem geistigen Einfluß werden, der den eines Berufsdiplomaten überschreitet.

George Kennan gehört heute also zur Opposition in seinem Land. Dulles verwendete ihn nicht wieder, weil der neue Minister 1952 offen für die Lehre der „Befreiung“ der von der Sowjetunion unterdrückten Völker eingetreten war, so daß er einen Diplomaten, der sich realistisch auf die „Eindämmung" beschränken wollte, als Gegner empfand. Aber inzwischen ist man in Washington längst zu der Praxis zurückgekehrt, dem sowjetischen Druck diplomatisch und militärisch einen Gegendruck entgegenzusetzen, ihn also „einzudämmen". Auch die als „Dulles-Doktrin“ bekannt gewordene Lehre von der massiven Vergeltung durch Atombomben ist bald wieder durch realistische Erwägungen eingeschränkt worden; diese äußerste strategische Lehre erscheint in allen jenen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Welten, wie es zuletzt die indochinesische war, unanwendbar. Die auf geschichtlichen Erfahrungen, auf der-Geduld und der Weisheit des Wartens gegenüber dem historischen Wandel beruhende Diplomatie Kennans ist in der heutigen Weltsituation notwendiger denn je. Unser eigenes politisches Denken in der gefährdeten Mittellage kann viel gewinnen, wenn der sachliche Gehalt dieser Vorträge und ihr geistiges Klima eine Verbreitung finden, die die spontane Bereitschaft, mit der die deutsche Jugend in der Frankfurter Aula dem Gast aus Princeton gebannt zuhörte, in einer weiteren deutschen Öffentlichkeit bestätigte. Es wäre nicht nur ein Erfolg des Autors, es wäre vor allem ein Erfolg für uns selbst.

Herbert von Bordi

Vorwort des Verfassers

Die folgenden Ausführungen vereinigen vier Vorträge*, die ich auf Grund einer Einladung des Instituts für politische Wissenschaften im Juli 1954 an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt gehalten habe. Die Ford-Stiftung (Ford Foundation) in New York hatte mir in großzügiger Weise die Reise nach Europa ermöglicht. Diese Vorträge habe ich ursprünglich nur in Hinsicht auf die Ansprüche eines verhältnismäßig kleinen akademischen Hörerkreises sowie auf die für solche Veranstaltungen zur Verfügung stehende Zeit verfaßt. Das bedeutete, daß ich mir, sowohl was die Wahl als auch was die Durchführung des Themas anging, starke Beschränkungen auferlegen mußte: an vielen Punkten mußte das Problem sehr vereinfacht oder das Material konnte nur andeutungsweise behandelt werden.

Dem ursprünglichen Entwurf der Vorträge lag keine weitere Absicht zugrunde als die, dem deutschen Hörer einen Begriff von gewissen geschichtlichen Vorgängen zu geben, die sogar in Amerika vielfach unbekannt geblieben oder in Vergessenheit geraten sind und die dem deutschen Studenten in der eigenen historischen Literatur nicht leicht zugänglich sein werden. Dabei habe ich nur in geringem Maße versucht, auf den tieferen Sinn dieser geschichtlichen Vorgänge näher einzugehen oder ihre Bedeutung im Licht der gegenwärtigen internationalen Probleme zu zeigen. Erst als mir an der ernsten, erwartungsvollen Aufmerksamkeit des jungen deutchen Hörers klar wurde, wie sehr sich dieser nicht nur für das „was“, sondern auch für das „wie“ und „warum" interessiert, erst als ich begriff, wie viel für ihn daran lag, etwas mehr von dem Wesen der trüben, unheilvollen und drohenden Epoche zu verstehen, in die er geboren wurde — erst dann erkannte ich, daß ihm die bloße Aufzählung der geschichtlichen Tatsachen nicht genügte und daß es notwendig war, etwas mehr von den Gedankengängen und Schlüssen mitzuteilen, zu denen mir die Betrachtung dieses historischen Materials Anlaß gegeben hatte.

Wie aus dem Ende des vierten Vortrages hervorgeht, konnte ich das besondere Wesen dieser geschichtlichen Auseinandersetzung darin erblicken, daß die große Spannung, die heute'die Beziehungen zwischen Sowjetrußland und Amerika kennzeichnet, weder das Produkt des bösen Willens einzelner noch das Resultat einer bewußten Politik beider Staaten, sondern ein Ergebnis ist, das aus einer langen und tiefen historischen Entwicklung, und zwar auf Wegen, die keiner ausdrücklich wählte oder gar voraussehen konnte, hervortrat und daß eben deswegen diese Spannung nicht durch irgendeine plötzliche Wendung in der Politik der Großmächte oder durch irgendeinen Handgriff vereinzelter Staatsmänner, sondern nur durch einen ähnlich langen, komplizierten und nicht ganz vorauszusehenden geschichtlichen Prozeß ihre Lösung finden kann.

Diese Auffassung darf jedoch nicht den Eindruck erwecken, als stünde ich den dieser Spannung zugrunde liegenden Differenzen irgendwie neutral oder gleichgültig gegenüber. Wie ich die kommunistische Denkart als eine Art Zynismus verabscheue, der seinen Träger dadurch korrumpiert, daß er dessen Opfer erniedrigt, so bekenne ich mich angesichts dieses ost-westlichen Gegensatzes eindeutig zu dem alten, brüchigen, sooft als dem Untergang geweiht und als dekadent verpönten Abendlande. Denn hinter dessen trauriger Zwietracht und schmerzlicher Verworrenheit steht doch immer noch der hartnäckige Glaube an die menschliche Seele — an den Menschen schlechthin.

Andererseits bin ich nicht imstande, mich über den russischen Kommunisten moralisch zu entrüsten, wie es viele meiner Landsleute tun. Dazu fehlen mir die Voraussetzungen. Der Westeuropäer oder der Amerikaner, der die westliche Kultur verrät, kann mich empören, denn ich trage ja eine Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Grundsätze, von denen er und ich als Mitglieder der westlichen Kulturgemeinschaft geleitet werden sollten — wobei ich hinzufügen möchte, daß es viele andere Arten von Verrat geben kann als nur den, daß man sich den Russen als Agent zur Verfügung stellt. Wie soll ich mich aber über den russischen Kommunisten entrüsten, da er von Grundsätzen ausgeht, die nicht die meinigen sind und die mir nichts sagen? Er muß seine Taten und das große Leid, das er über so viele Millionen Menschen gebracht hat, vor seinem eigenen Gewissen, vor seiner Ideologie, vor seinem Ungott oder vor den Instanzen, denen er sich sonst verschrieben und verpflichtet fühlt, verantworten. Mir lag in diesen Vorträgen nur daran, sein Handeln zu beschreiben. So wird der Leser eine kritische Einschätzung der amerikanischen Politik finden, aber nicht der russischen.

Angesichts der Grenzen, die solchen Vorträgen gesetzt sind, darf man von ihrer Wirkung nicht zu viel erhoffen. Ich werde zufrieden sein, wenn sie nur den deutschen Leser der Einsicht näher bringen, daß die Probleme, mit denen sich die amerikanischen Staatsmänner im Laufe der Jahrzehnte in Beziehung zu Sowjetrußland haben auseinandersetzen müssen, zu einem erheblichen Teil auch die Probleme Deutschlands und Westeuropas im allgemeinen gewesen sind. Wer das begreift, wird nicht dem irrtümlichen und gefährlichen Gedanken anheimfallen, daß er als Europäer bequem beiseite stehen und der sowjet-amerikanischen Auseinandersetzung, wenn auch nicht mit Schadenfreude, so doch als Neutraler zuschauen kann. Das Wesentliche an dieser Auseinandersetzung ist eben die Tatsache, daß cs hier in erster Linie um das Schicksal der Zwischenwelt geht, zu der — und zwar als wichtigster Bestandteil — Europa gehört. Wenn Amerika die Interessen dieser Zwischenwelt preisgeben würde, so könnte es sich ohne Zweifel für die Zukunft, soweit sie übersehbar erscheint, eine enorme Erleichterung seiner eigenen Beziehungen zu Sowjetrußland erkaufen. Wenn es bis jetzt dieser Versuchung nicht verfallen ist, so deshalb, weil man bei uns im großen ganzen eingesehen hat, daß Amerika auf lange Sicht von dem Untergang des traditionellen Europa ebenso betroffen würde, wie Europa von der Schwächung oder gar Ausschaltung des amerikanischen Einflusses in anderen Erdteilen. Die gegenwärtige Schicksalsgemeinschaft Europas und Amerikas ist nicht von einzelnen Menschen erfunden oder gewollt — sie ist ein Gebot der Selbsterhaltung für beide Teile. Sie ist entstanden aus den gegebenen geographischen und historischen Realitäten, aus dem Wesen der Sowjetmacht, aus der Entwicklung der Waffentechnik, und vielleicht verbirgt sich in ihr eine tiefere geschichtliche Logik. Unter dem Eindrude dieser Erkenntnis habe ich mir erlaubt, zu deutschen Studenten so zu sprechen, als ob es die eigenen wären. Die Art, wie sie meine Ausführungen ausgenommen haben, ermutigt mich zu hoffen, daß auch ihnen diese Erkenntnis nicht fern lag.

George F. Kennan

Der historische Hintergrund

Meine Damen und meine Herren!

Ich brauche Ihnen kaum zu sagen, daß es für mich sowohl eine Ehre als auch eine persönliche Genugtuung ist, an dieser Stelle vor einer deutschen Hörerschaft sprechen zu dürfen. Vor langer Zeit hatte ich den Vorzug, selbst an deutschen Universitäten zu hören. Diesem Erlebnis schulde ich einen guten Teil meiner akademischen Ausbildung. Jetzt nehme ich gern die Gelegenheit wahr, diese Schuld — wenn auch in geringem Maße — zu begleichen.

Als man mich bei der Einladung zu diesen Vorträgen fragte, über welches Thema ich sprechen möchte, habe ich um die Erlaubnis gebeten, dasselbe Thema zu behandeln, mit dem ich mich in den letzten Monaten in Princeton als Historiker beschäftigt habe. Das war die Geschichte der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen, ein 1 Kapitel, das unmittelbar in das zweite Jahrzehnt dieses Jahrhunderts zurückgreift und dessen Anfänge noch weiter zurück in das 19. Jahrhundert reichen. Ich kann mir gut vorstellen, daß es einige unter Ihnen gibt, denen es lieber wäre, wenn ich sofort zu den brennenden Fragen der Gegenwart überginge, und die es als Zeitverlust betrachten, wenn wir uns jetzt mit alten und halbvergessenen Geschehnissen befassen. Ich muß aber sagen, daß ich selber nach ziemlich langer Erfahrung mit sowjetrussischen Dingen nicht imstande bin, das russische Phänomen anders als in seiner historischen Perspektive ins Auge zu fassen, und ich bezweifle, daß eine Erörterung, die auf die historische Seite dieses Problems keine Rücksicht nimmt, vollständig und nützlich sein könnte.

Ich werde deshalb Ihre Geduld jetzt etwas in Anspruch nehmen müssen, indem ich mich heute nicht nur der früheren Geschichte, sondern eigentlich der Vorgeschichte der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen zuwende und Sie bitte, mit mir zusammen — wenn auch ganz flüchtig — die Entwicklung dieser Vorgeschichte zu verfolgen.

Zu formellen diplomatischen Beziehungen zwischen dem russischen Reich und dem jungen amerikanischen Staat jenseits des Ozeans kam es erst im Jahr 1809. Man muß sich vergegenwärtigen, daß Rußland damals schon ein mächtiges, seit langem in die internationale Gesellschaft eingeführtes Reich war, dessen Bedeutung und Einfluß gerade zu dieser Zeit durch die napoleonischen Kriege gewachsen war, während die Vereinigten Staaten nur ein verhältnismäßig kleines und dünn besiedeltes Gebiet am Rande eines noch unentwickelten Kontinents bildeten. Angesichts dieser Tatsache waren es die Russen, die, als stolze und starke Großmacht, lange mit der Anerkennung der amerikanischen Regierung zögerten; so wie ein Jahrhundert später wiederum die Vereinigten Staaten sich erst viele Jahre nach dem Entstehen des Sowjetstaates entschlossen, die Sowjetregierung anzuerkennen *).

Im allgemeinen kann man nicht sagen, daß die Beziehungen zwischen den beiden Ländern im Laufe des 19. Jahrhunderts weltpolitisch besonders wichtig waren. Für die Russen hatte dieser diplomatische Kontakt nur eine zweitrangige Bedeutung. Sie wurde vom russischen Hof hauptsächlich nach dem jeweiligen Stand der Beziehungen zu England beurteilt und behandelt, das heißt, wenn das russisch-englische Verhältnis gespannt war, trugen die Russen den Amerikanern gegenüber eine gewisse Nachsicht und Liebenswürdigkeit zur Schau und versuchten, die junge Republik, die schon eine nicht unbedeutende Flottenmacht entwickelte, gegen das mächtige England auszuspielen. Wenn sich dagegen die Beziehungen zwischen Rußland und England verbesserten, ließ das russische Interesse an den Vereinigten Staaten deutlich nach. Denn es kam hinzu, daß die amerikanische Republik, obwohl klein und unbedeutend, dennoch ein Hort des politischen Liberalismus und als solcher dem rus-sichen Hof in ideologischer Hinsicht eigentlich höchst unwillkommen war.

Die Amerikaner andererseits, schon damals von einer gewissen Weltfremdheit befangen, fanden es schwierig, die wahren Gründe dieser Schwankungen der russischen Realpolitik zu verstehen, und neigten zu der Annahme, daß die Ursache in der persönlichen Einstellung des Zaren zu den Vereinigten Staaten zu suchen sei. Da nun die russisch-englischen Beziehungen meistens gespannt waren, wurden die Amerikaner gewöhnlich von den Russen mit betonter Höflichkeit behandelt. Auf diese Weise verbreitete sich in den Vereinigten Staaten die Auffassung, daß Rußland unter den europäischen

Großmächten der einzige Freund der Vereinigten Staaten wäre. Dieser Eindruck wurde durch die russische Einstellung zum amerikanischen Bürgerkrieg noch vertieft. Im Gegensatz zu den Engländern und Franzosen unterstützte die russische Politik die Anstrengungen des Nordens, das Land zusammenzuhalten. Die Russen wollten die Bedeutung der Vereinigten Staaten als Gegengewicht gegen die Engländer nicht geschwächt sehen. Deshalb wünschten sie nicht, daß das Land auseinanderfiele. Und in einem der schwärzesten Augenblicke des Krieges erschienen ganz plötzlich und ohne Ankündigung russische Flotteneinheiten in den Häfen von New York und San Franzisko und verbrachten da einige Monate. Wir wissen heute, daß diese Flottenbesuche aus Gründen geschahen, die mit dem amerikanischen Bürgerkrieg nichts zu tun hatten — daß die Russen gerade zu dieser Zeit wegen der polnischen Aufstände einen neuen Krieg mit den Engländern fürchteten und es vermeiden wollten, daß ihre Flotteneinheiten in russischen Häfen von den Engländern blockiert würden, wie es kurz vorher im Krimkrieg der Fall gewesen war. Aber von allen diesen Dingen verstand das weit-entlegene Amerika, dessen Bevölkerung von der Leidenschaft und der Not-eines Bürgerkrieges in Anspruch genommen war, überhaupt nichts. Man glaubte, die Flottenbesuche einfach einer freundschaftlichen Gesinnung des Zaren zuschreiben zu dürfen. Auf diese Weise entstand eine von jenen charakteristischen populären Legenden, die — wie mir scheint — sehr oft die politischen Einstellungen moderner Nationalstaaten beeinflussen und die meistens nur eine ganz entfernte Beziehung zur Wirklichkeit haben. Hier war es die Legende von der besonderen Freundschaft des russischen Zaren zu den Vereinigten Staaten.

Blättern in alten Depeschen

Was also das amerikanische Publikum betrifft, so galten die Beziehungen zu Rußland allgemein als gut. Die amerikanischen Diplomaten dagegen, die in Petersburg leben und arbeiten mußten, hatten eine etwas andere Ansicht. Die engere Berührung mit Hof und Politik in der zaristischen Hauptstadt ließ sie tiefer in die Wirklichkeit hineinsehen. Diese frühen amerikanischen Diplomaten litten unter der Atmosphäre des schweren persönlichen Despotismus, die besonders während der Regierungszeit des Zaren Nikolaus I. (1825— 185 5) das politische Klima der russischen Hauptstadt bestimmte, und sie unterließen es nicht, diesen unangenehmen Eindruck in ihren Depeschen nach Hause weiterzuleiten. Vor zwanzig Jahren, zu einer Zeit, in der ich als Botschaftssekretär in Moskau tätig war, . glückte es uns, im alten Pferdestall des ehemali-. gen amerikanischen Botschaftsgebäudes in Leningrad die Akten der Botschaft aus allen Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts aufzufinden. Idi hatte als erster das Vergnügen, in diesen alten Depeschen zu blättern. Da war ich erstaunt festzustellen, welch eintönige Ähnlichkeit zwischen den Unannehmlichkeiten bestand, über die sich die Diplomaten damals beklagten, und jenen, über die wir als amerikanische Diplomaten des 20. Jahrhunderts in Moskau auch ununterbrochen in unseren Depeschen nach Washington klagten. Diese Ähnlichkeit war so frappant, daß wir einmal zum Scherz eine diplomatische Depesche an unser Auswärtiges Amt schickten, die aus lauter Zitaten aus diesen alten Texten zusammengestellt war. Nur am Schluß der Depesche vermerkte der Botschafter, daß das Ehrgefühl ihn verpflichte zu gestehen, daß die oben angeführten Behauptungen, obwohl heute ebenso wahr wie damals, nicht seine eigenen wären, sondern von seinem illustren Vorgänger stammten, der 80 Jahre früher in Petersburg residiert hatte. So manches an diesen alten Depeschen hat immer noch einen bekannten Klang. Da klagten die verschiedenen Gesandten über die dauernde Bespitzelung, der sie ausgesetzt waren, über die Unzuverlässigkeit der Dienerschaft, über die Durchschnüffelung ihrer Post, über die Zensur, über die Weigerung der Regierung, irgend etwas über innerrussische Verhältnisse mitzuteilen, über die Unaufrichtigkeit und das Mißtrauen, mit denen sie von den russischen Behörden behandelt wurden, und über den allgemeinen Fremdenhaß der russischen Regierung. „Kein Volk“, heißt es in einem Bericht aus dem Jahre 1851, „braucht Ausländer nötiger, und keins ist so eifersüchtig auf sie.“ „Geheimhalterei und Geheimnistuerei sind bezeichnend für alles.

Nichts Wissenswertes wird veröffentlicht. Man wird keine zwei Personen finden, die über die Stärke der Armee und der Flotte, über die Höhe der Staatsschuld oder über das Staatseinkommen einer Meinung sind. Meiner Ansicht nach wünscht die Regierung nicht, daß solche Sachen bekannt werden sollen.“ „Die Vorspiegelung“, heißt es an anderer Stelle, „ist für die russische Regierung sowohl eine politische Taktik als auch eine Leidenschaft. Mit einem Teil ihrer Flotte im Baltikum, mit einem andern Teil im Schwarzen Meer, um den Sultan und die anderen östlichen Mächte einzuschüchtern, mit einer wahrlich mächtigen Landarmee, die, über das ganze Reich zerstreut, hin und her marschiert mit dem ganzen Aufgebot und der ganzen Großartigkeit des wirklichen Kriegsmanövers — dies alles macht ein prächtiges Bild im großen Rahmen, das von der Einbildungskraft des Volkes eher vergrößert als verkleinert wird. Die Mentalität des Volkes ist für diese Art von Finesse sehr empfänglich. Es herrscht unter den Russen ein merkwürdiger Aberglaube, daß sie prädestiniert seien, die Welt zu erobern, und die Gebete der Priester in den Kirchen sind mit Bitten vereinigt, diese heilige Mission zu beschleunigen und zu vollenden.“

Die Briefe des Marquis de Custine

In diesen Depeschen spiegelten sich — wie es mir jetzt scheint —die Gedankengänge des russischen Westlertums, vor allem des bekannten Schriftstellers Tschajedajews, und wahrscheinlich noch mehr des berühmten französischen Schriftstellers, des Marquis de Custine. Custine war ein junger französischer Adliger. Er fuhr nach Ruß-land, weil er von der Französischen Revolution tief enttäuscht war, und hoffte, in der ungebrochenen monarchischen Tradition Rußlands das politisch Gesunde und Solide zu finden, das er in Frankreich entbehrte. Entgegen seiner Erwartung war er von dem, was er in Rußland vorfand, aufs tiefste abgestoßen und entsetzt, und er schrieb an seine Freunde zu Hause eine lange Reihe von Briefen, die meines Erachtens zu den hervorragendsten und einsichtigsten politischen Reiseeindrücken aller Zeiten zählen.

Die heutige russische Emigration hört nicht gerne von Custine. Sie deutet mit Recht darauf hin, daß er die russische Sprache nicht beherrschte, nur mit Hof-und Regierungskreisen in Verbindung kam und keine Kenntnis hatte von anderen Seiten des russischen Lebens, vor allen Dingen von den kulturellen Strömungen der Zeit und von der Oppositionsbewegung, die sich damals schon unter der Oberfläche zu entwickeln begann. Das stimmt wohl alles; aber man kann nicht umhin anzuerkennen, daß die Briefe von Custine als eine Art anatomische Studie des politischen Despotismus überhaupt und des russischen Despotismus im besonderen noch heute von geradezu klassischer Bedeutung sind. Es tritt in ihnen eine so große Weisheit zutage, in so schöner schriftstellerischer Form aus-gedrückt, daß ich mit Vergnügen den ganzen Tag Zitate daraus vorlesen könnte. Aber vielleicht genügt es, folgende Auszüge als Beispiele zu notieren: „Die Russen sehen in Europa eine Beute, welche ihnen früher oder später infolge unseres Zwiespaltes anheimfallen muß. In Petersburg sagt man, Europa wird den Weg Polens gehen; es wird sich in nutzlosem Liberalismus aufreiben, während wir stark bleiben, ausgerechnet deshalb, weil wir nicht frei sind. Aber die glänzende Zukunft, von der die Russen träumen, hängt nicht von ihnen allein ab. Wenn die Leidenschaften im Westen abklingen, wenn zwischen den europäischen Völkern und ihren Regierungen wieder Harmonie hergestellt sein wird, dann kann sich die gierige Hoffnung der slawischen Aggressoren als eine Chimäre erweisen. Daher die große Gefahr, ihnen Einfluß auf unsere Politik und die unserer Nachbarn zu gewähren. Als ich Frankreich verließ, war ich von dem Mißbrauch entsetzt, den wir mit der Idee der Freiheit übten.

Ich kehre in mein Land zurück, überzeugt, daß das republikanische System, obwohl es aus der eigenen Logik heraus nicht die moralisch höchste Regierungsform darstellt, doch praktisch die weiseste und mäßigste ist, weil es das Volk sowohl vor den Ausschreitungen demokratischer Willkür als auch vor den Mißbräuchen des Despotismus bewahrt. Man muß nach Rußland fahren, um die furchtbaren Folgen der Verschmelzung des westlichen Denkens und der westlichen Wissenschaft mit dem eigentümlichen Geiste Asiens zu sehen. Wenn Ihr Sohn in Frankreich je unzufrieden werden sollte, gebrauchen Sie mein Rezept: sagen Sie ihm, . fahr nach Ruß-land'. Das ist eine höchst nützliche Reise. Denn wer Rußland einmal gesehen hat, wird zufrieden sein, irgendwo anders zu leben. Es ist immer gut zu wissen, daß es eine Gesellschaft gibt, in welcher das Glück unmöglich ist, weil der Mensch nach den Gesetzen seiner Natur nicht glücklich sein kann, ohne frei zu sein.“

So schrieb vor 120 Jahren dieser tiefblickende französische Marquis. Die Briefe wurden, wenn ich mich nicht irre, Anfang der vierziger Jahre in Frankreich veröffentlicht und machten, wie ich schon vorhin sagte, auf die in Petersburg lebenden westlichen Diplomaten, einschließlich der Amerikaner, einen großen Eindruck. An diesen Briefen hat man auch Gelegenheit, festzustellen, daß in der ganzen Problematik der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen ein nicht unerheblicher Bestandteil aus der Vergangenheit vererbt und historisch bedingt ist. Um diesen Punkt zu betonen, habe ich mir erlaubt, diese Auszüge aus Dokumenten zu zitieren, die sonst zu unserem Thema keine direkte Beziehung hätten.

Der Verkauf von Alaska

Von einer gewissen Bedeutung für die spätere Entwicklung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern war der Verkauf von Alaska an die Vereinigten Staaten im Jahre 1867. Hier waren es wiederum keine sentimentalen Beweggründe, die die russische Regierung zu diesem Schritt bewegten. Seit dem Krimkrieg war man sich in Petersburg vollkommen klar darüber, daß man gegebenenfalls nicht imstande sein würde, dieses Gebiet militärisch zu verteidigen — nicht einmal gegen die Amerikaner, wenn es darauf ankommen sollte. Man befürchtete in Petersburg, daß dieses Gebiet bald unter großem Prestigeverlust für die russische Regierung verloren-gehen könnte, wenn es nicht auf friedlichem Wege den Besitzer wechselte. Das enorme Gebiet mit allen seinen Reichtümern, zu denen auch gtoße Goldvorkommen gehörten, wurde also von der russischen Regierung für sieben und eine halbe Million Dollar an die Vereinigten Staaten verkauft — und dabei klagten noch einige entrüstete amerikanische Senatoren, das wäre zu teuer.

Spätere Historiker haben die Bereitschaft des Zaren, das Gebiet zu verkaufen, mit der Behauptung zu erklären versucht, der Zar hätte von den Reichtümern des Landes nichts gewußt. Wahr ist eher das Gegenteil — nämlich, daß der Zar über die Reichtümer sehr gut unterrichtet war und gerade deshalb befürchtete, daß das Gebiet bald den Blick der anderen Mächte auf sich lenken könnte. So zog er die Nachbarschaft der Vereinigten Staaten in Alaska dem Risiko vor, das Gebiet einmal gegen die Engländer verteidigen zu müssen. Auf alle Fälle muß man anerkennen, daß dieser Verkauf die späteren Beziehungen zwischen den beiden Ländern erheblich erleichtert hat. Wenn er damals nicht zustande gekommen wäre, so würde es ohne Zweifel viel früher zu einer Spannung zwischen Amerika und Rußland gekommen sein. Denn nur einige Jahre später brach der bekannte Goldrausch aus, der amerikanische Abenteurer zu Tausenden nach Alaska lodete und das amerikanische Publikum zum ersten Male auf die reichen Bodenschätze der Halbinsel nachdrücklich aufmerksam machte.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde das eben gezeichnete Bild der amerikanisch-russischen Beziehungen durch ein neues Moment ergänzt und geändert. Es entstand nämlich in der amerikanischen Öffentlichkeit ein starkes ideologisches Ressentiment gegen das Zarenregime.

Dies kam teilweise dadurch zustande, daß die Leiden der russischen politischen Gefangenen in der sibirischen Verbannung während der achtziger Jahre der amerikanischen Intelligenz zum ersten Male zur Kenntnis gebracht wurden. Daß dies geschah, war in großem Maße das Verdienst eines Namensvetters und Verwandten von mir, des älteren George Kennan, dessen Schicksal ich durch Zufall in vieler Hinsicht bis auf den gemeinsamen Namen und Geburtstag geteilt zu haben scheine. Dieser ältere Kennan hatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen so großen Einfluß auf die Einstellung der amerikanischen öffentlichen Meinung zu Rußland, daß es sich vielleicht lohnt, etwas von seiner Tätigkeit zu erzählen.

Er kam als Zwanzigjähriger, in den sechziger Jahren, nach Sibirien, und zwar unter folgenden merkwürdigen Umständen. Der erste Versuch, ein Kabel über den Atlantik zu legen, war da. mals eben gescheitert. Eine Zeitlang zweifelte man, daß es je möglich sein würde, eine solche telegraphische Verbindung über den großen Ozean herzustellen. Man wandte sich deshalb der Idee zu, eine telegraphische Leitung durch Kanada, Alaska, durch die Beringstraße und Sibirien zu legen, um das amerikanische Telegraphennetz über das russische mit dem europäischen zu vereinigen. Der junge Kennan wurde im Jahre 1867 als Mitglied einer vierköpfigen Expedition nach Ostsibirien mit der Aufgabe gesandt, das unendliche Polargebiet zwischen der Beringstraße und dem Amurbezirk zu erforschen.

Anderthalb Jahre mühten sich die Mitglieder dieser kleinen Expedition, von der Außenwelt völlig abgeschnitten und auf sich selbst angewiesen, mit ihrer schweren Aufgabe ab, wobei der junge Kennan manchmal wochenlang vollkommen allein mit Hundeschlitten bei 40 bis 50 Grad Kälte durch die sibirische Einöde fahren mußte. Als die Arbeit zu Ende war und ein Schiff wie vereinbart nach Nikolajewsk kam, um die Mitglieder der Expedition abzuholen, brachte das Schiff die Nachricht mit, daß es doch schließlich gelungen war, das Kabel über den Atlantik zu legen, und daß die ganze sibirische Expedition deshalb umsonst gewesen war. Kennan fuhr dann über Sibirien und das europäische Rußland nach Hause zurück. Auf diese Weise bekam er seine seltene Kenntnis der Geographie und der Bevölkerung des ungeheuren, damals noch sehr entlegenen und wenig bekannten sibirischen Raumes.

Zwanzig Jahre später kehrte er wieder nach Sibirien zurück, diesmal schon als erfahrener Journalist, um zwei Jahre lang das russische Exilsystem zu untersuchen. Darüber schrieb er ein sehr bekanntes Buch und hielt jahrelang Vorträge in den großen amerikanischen Städten über russische Zustände. Diese Beschreibungen des schweren Schicksals des russischen politischen Gefangenen machten auf die alteingessene, gebildete Schicht Amerikas einen großen Eindruck. Hier wirkte wiederum dieselbe Weltfremdheit mit, die ich vorhin erwähnte. Die Amerikaner dieser Zeit, unsere Eltern und Großeltern, hatten eigentlich vergessen, wieviel Grausamkeit und Elend es noch in der Welt gab. Es war für die ganze führende Gesellschaft der angelsächsischen Länder in der Zeit um die Jahrhundertwende bezeichnend, daß man glaubte, solche Dinge wie körperliche Grausamkeiten und Erniedrigung des Einzelmenschen im Zuge des allgemeinen Fortschritts der Zivilisation überwunden zu haben. Als dann durch die Berichte über die sibirische Verbannung der Vorhang etwas aufging und diesen Menschen ein Bruchteil dessen sichtbar wurde, was an politischer Unterdrückung in der Welt noch existierte, waren sie voller Staunen und Entrüstung und ließen sich in ihren Gefühlen der zaristischen Regierung gegenüber stark beeinflussen.

Der Einfluß der Juden

Ein ebenso wichtiger Faktor bei der Veränderung der amerikanischen öffentlichen Meinung Rußland gegenüber war der wachsende Einfluß der aus Rußland nach Amerika eingewanderten Juden. Sie werden sich erinnern, daß mit der Einverleibung der Ukraine und eines großen Teils von Polen das russische Reich einen erheblichen Teil des Weltjudentums in seine Grenzen einbezog — eine sehr bedenkliche Entwicklung in einem Lande, wo das religiöse Gefühl immer sehr stark mit dem Nationalbewußtsein verbunden war. Zu ernsten inneren Schwierigkeiten kam es aber erst mit der starken Entwicklung der revolutionären Bewegung in Rußland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und besonders nach der Ermordung des Zaren Alexander II. im Jahre 1881. Damals begann eine Reihe von schweren Pogromen und antisemitischen Ausschreitungen aller Art — eine Erscheinung, die bis zum zweiten Weltkrieg andauerte. Diese Entwicklung begünstigte — ja verursachte zum Teil — eine große Abwanderung russischer Juden nach den Vereinigten Staaten. Im Jahre 1882 waren in den Vereinigten Staaten nur 230 000 Juden, fast ausschließlich deutscher Abstammung. Dreißig Jahre später, kurz vor dem ersten Weltkrieg, waren es schon zwei Millionen, also fast das Zehnfache, und ein großer Teil der Neuangekommenen stammte aus Rußland.

Diese zwei Strömungen der öffentlichen Meinung — das fromme Entsetzen der altamerikanischen protestantischen Oberschicht über die politische Unterdrückung in Rußland und die düsteren Erfahrungen der aus den russischen Westgebieten neu eingewanderten Juden — trafen sich am Anfang dieses Jahrhunderts in einer allgemeinen Auflehnung der öffentlichen Meinung gegen den zaristischen Despotismus. Dies geschah ironischerweise in einer Zeit, als das zaristische System — in den Jahrzehnten unmittelbar vor der Revolution — eigentlich bereits stark liberalisierte Züge annahm. So kam es, daß man dem Zarentum am Anfang des 19. Jahrhunderts, also zu einer Zeit, in der der politische Despotismus in Rußland tatsächlich bedrückend war, in Amerika sehr freundlich gegenüberstand, während sich die amerikanische Öffentlichkeit am Anfang des 20. Jahrhunderts, als der Absolutismus in Rußland schon stark im Abflauen begriffen war, gegen ihn auflehnte.

Zu praktischen Schwierigkeiten in den formellen Beziehungen zwischen den beiden Staaten kam es nur durch die Auswirkungen der jüdischen Einwanderung. Zum Beispiel entstanden erhebliche Unannehmlichkeiten dadurch, daß die Russen die Auslieferung politischer Flüchtlinge jüdischer Abstammung verlangten. Die Juden waren an der revolutionären Bewegung in Rußland sehr stark beteiligt, was sowohl bei der russischen Regierung als auch bei einem Teile der Bevölkerung eine ganz besondere Erbitterung hervorrief. Ab und zu fanden Vertreter dieses revolutionären Judentums, die aus Rußland geflohen waren, den Weg nach Amerika. Dort wurden sie vom Publikum als politische Flüchtlinge angesehen und entsprechend gefeiert. Die russische Regierung dagegen beschuldigte sie krimineller Verbrechen und verlangte ihre Auslieferung. Dabei muß man berücksichtigen, daß in Rußland die Trennungslinie zwischen politischen und kriminellen Verbrechen nicht immer sehr deutlich war. Was sollte unter diesen Umständen die amerikanische Regierung machen? Schickte sie diese Leute zurück, so war das amerikanische Publikum entrüstet, verweigerte sie die Auslieferung, so nahm es die russische Regierung als eine Unfreundlichkeit und manchmal als Herausforderung auf.

Noch größere Schwierigkeiten entstanden aus den Versuchen eingebürgerter amerikanischer Juden, unter dem Schutz eines amerikanischen Passes wieder am geschäftlichen Leben in Ruß-land teilzunehmen, um auf diese Weise den Beschränkungen auszuweichen, die dort für die jüdische Bevölkerung noch galten.

Durch solche Reibereien kam es kurz vor dem ersten Weltkrieg zu einer ziemlichen Spannung der Beziehungen zwischen den zwei Regierungen und schließlich, seitens der Amerikaner, zur Kündigung des Wirtschaftsvertrages, der seit 75 Jahren in Kraft gewesen war.

Dann kam der Weltkrieg. Trotz des fehlenden Wirtschaftsvertrages blühte der Handel mit Rußland in den ersten Kriegsjahren. Die politischen Beziehungen dagegen blieben kühl. Die jüdischen Bankiers in New York waren damals, so merkwürdig das auch heute klingen mag, stark deutschfreundlich, weil sie eben antirussisch waren. Ihr Einfluß wurde in Washington für die Einhaltung der Neutralität und gegen die Unterstützung der Entente geltend gemacht, und obwohl dieser Einfluß nicht stark genug war, um den Eintritt Amerikas in den Krieg auf der Seite der Entente im Jahre 1917 zu verhindern, so war er doch jedenfalls eine der Ursachen, daß diese Entwicklung nicht schon früher eintrat.

Die erste russische Revolution, die im März 1917 ausbrach, war — wie Sie sich erinnern werden — noch nicht die bolschewistische, sondern eine bürgerlich-liberale. Diese erste Revolution löste in den Vereinigten Staaten allgemeine Begeisterung aus. Nicht nur das, sie erleichterte der amerikanischen Regierung ganz erheblich die endgültige Klärung ihres Verhältnisses zum Weltkrieg. Gerade zu dieser Zeit hatten sich die Beziehungen zu Deutschland außerordentlich zugespitzt. Anfang Februar 1917 hatten die Deutschen den unbeschränkten U-Boot-Krieg proklamiert. Von diesem Augenblick an war der Eintritt Amerikas in den Krieg gegen Deutsch-land nur noch eine Frage der Zeit. Die Tatsache aber, daß das zaristische Rußland als Mitglied der Entente an dem Krieg gegen Deutschland teilnahm, hatte den amerikanischen Staatsmännern die Entscheidung zugunsten der Entente erschwert. Viele Amerikaner spürten das Bedürfnis, der Beteiligung Amerikas am Kriege gegen Deutschland eine ideologische Bedeutung beizulegen und sie als eine Art Kreuzzug gegen das vermeintlich von der kaiserlichen Regierung verkörperte Prinzip des Absolutismus darzustellen. Wie aber sollte man das machen, solange das russische Zarentum auf derselben Seite mitkämpfte? Aus dieser Verlegenheit befreite die amerikanische Regierung ganz plötzlich und unerwartet im März 1917 der Sturz des Zarentums und der scheinbare Übergang Rußlands zu einem liberalen und republikanischen Regierungssystem. Man kann sich vorstellen, daß in Washington die Freude und Erleichterung groß waren. Der Eintritt Amerikas in den Krieg erfolgte drei Wochen später — von der ersten russischen Revolution zwar nicht bedingt, aber sehr erleichtert.

Krieg, ein schlechter Berater der politischen Staatskunst

Als erste dieser Unzulänglichkeiten möchte ich den allgemeinen Mangel an Verständnis für die Geschichte der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung erwähnen. Dieser Mangel an Verständnis war für den ganzen damaligen amerikanischen Regierungsdienst bezeichnend. Er bezog sich besonders auf den marxistischen Flügel der revolutionären Opposition in Rußland. Über die bürgerlichen Oppositionsparteien und die Anarchisten hatten die Amerikaner etwas gehört — über die Sozialrevolutionäre auch ziemlich viel —, über die Sozialdemokraten aber fast überhaupt nichts. Weder mit den Persönlichkeiten noch mit der grundsätzlichen Einstellung der Sozialdemokratischen Partei, aus deren Reihen die Bolschewiki hervorgegangen waren, waren die amerikanischen Diplomaten dieser Zeit (von den Staatsmännern will ich ganz absehen) auch nur im geringsten vertraut. Die Bolschewiki wurden zum Beispiel in den amtlichen Depeschen vielfach mit den sogenannten Maximalisten verwechselt — scheinbar durch eine zufällige Ähnlichkeit der zwei Bezeichnungen in der englischen Übersetzung. Dazu wurde öfters der viel ernstere Fehler gemacht, die Bolschewiki für Anarchisten zu halten, was sie erst recht nicht waren. Diese Unkenntnis, an der nicht nur die Amerikaner, sondern auch die Vertreter der anderen Ententemächte krankten, beeinträchtigte natürlich aufs schwerste das Verständnis für die Entwicklung der politischen Verhältnisse in Ruß-land in den Monaten, die auf die Märzrevolution folgten.

Dazu kam noch die Neigung, die Ereignisse in Rußland viel zu sehr nah ihrem Verhältnis zum Weltkrieg zu beurteilen und viel zuwenig als Ausdruck einer tiefgehenden, für die Zukunft enorm wichtigen Änderung im russischen Staatswesen. Infolge dieses Fehlers wurde der deutsche Einfluß auf die Ereignisse erheblich überschätzt, und den Deutschen wurden Dinge zugeschrieben, mit denen sic in Wirklichkeit herzlich wenig zu Wie sich aber herausstellte, war diese freudige Reaktion in Washington verfrüht und unbe-rehtigt. Die Tage der neuen provisorischen Regierung sollten kurz und voll Kummer sein. Auch sah sich die amerikanische Diplomatie nicht in deraLage, die Situation, die in den darauffolgenden Monaten in Rußland herrschte, zu verstehen oder zu beeinflussen. Die Gründe dieser Ratlosigkeit sind in einigen Eigenshaften zu suhen, die der amerikanishen Diplomatie eigentümlih waren und ihr eine tiefere Einsiht in die russishen Verhältnisse äußerst erschwerten. Da diese Unzulänglichkeiten auh später in der Sowjetzeit eine Rolle spielten, lohnt es sich vielleicht, jetzt schon, am Shluß dieser Vorlesung, sie etwas näher zu betrahten. Ih wiederhole: es handelt sih hier um die Gründe, aus denen die amerikanishe Politik in den Monaten März bis November 1917 der provisorischen Regierung gegenüber so wenig erfolgreih war — aus denen die amerikanishen Staatsmänner es niht fertig brahten, die Novemberrevolution irgendwie zu verhindern, ja, shließlih so wenig auf sie vorbereitet waren. tun hatten. Für das damalige deutshe Oberkommando muß es höhst shmeihelhaft gewesen sein, zu erfahren, wessen es niht alles für fähig gehalten wurde. Durh diese verzerrende Linse gesehen waren die Bolshewiki zum Beispiel alle deutshe Agenten; die Demoralisation der russischen Truppe war die Folge deutsher Intrigen;

die Deutshen waren auf dem Wege dazu, ganz Rußland unter ihre direkte Herrshaft zu bringen, um es dann als Vasallen gegen die Entente auszuspielen. Gewiß bemühten sih die Deutshen nah Kräften, ihren Einfluß in allen diesen Rihtungen geltend zu mähen. Sie führten ja Krieg, und die Bedingungen, die sie etwas später in Brest-Litowsk den russishen Unterhändlern stellten, zeigten, daß sie es mit diesem Krieg ernst meinten. Aber die Vorstellungen, die alliierte Kreise damals von dem Ausmaß des deutshen Einflusses sowie von der Großartigkeit der deutshen Pläne hatten, waren stark übertrieben.

Hier zeigte sih shon etwas, was wir auh in der späteren Geshihte der amerikanish-sowjeti-

shen Beziehungen festzustellen Gelegenheit Aber der amerikanishe Einfluß und der Einfluß der Alliierten überhaupt war gerade auf das Gegenteil gerihtet. Die Alliierten, ausschließ-lih mit dem Weltkrieg beshäftigt, drängten darauf, daß Rußland noh weiter Krieg führen sollte, und die provisorische Regierung bemühte sih nah Kräften, wenn auh mit wenig Erfolg, diesem Wunshe nahzukommen. Der Versuh aber, den an der Ostfront abgeflauten Krieg wieder aufleben zu lassen, bildete für die shwache Regierung eine übermäßige politishe Belastung, die zu ihrem endgültigen Mißerfolg und zur bolshewistischen Mahtübernahme wesentlich beitrug.

So sieht man also an diesem Beispiel, daß die Ansprühe, die sih aus der Logik der Kriegs-habenwerden: nämlih daß der Krieg ein shlehter Berater der politishen Staatskunst ist und daß einer realistishen Einshätzung der äußeren Wirklichkeit nihts unzuträgliher ist als eine Kriegspsyhose.

Berücksichtigt man diese Begrenzung des Blickfeldes, so überrasht es niht, daß die amerikanishe Diplomatie der provisorishen russishen Regierung gegenüber shwere Fehler mähte und wenig Erfolg hatte. Vor allen Dingen fand sie es shwierig, den merkwürdigen Zwiespalt der staatlihen Mäht zwishen der Regierung und dem Petersburger Sowjet zu verstehen, der diese ganze Periode kennzeihnete.

Der Petersburger Sowjet war — wie manhe von Ihnen sih erinnern werden — eine lose, mehr oder weniger spontan zusammengestellte Körpershaft, in der die Industriearbeiter und die Soldaten der stark demoralisierten Garnison der russishen Hauptstadt vertreten waren. Im Laufe der Monate nah der Märzrevolution kam diese Körpershaft, an der eine energishe bolschewistishe Fraktion mitbeteiligt war, immer mehr unter bolshewistishen Einfluß. Nun war es eigentlih so, daß von Anfang an die Mäht, die in Petersburg die Straßen beherrshte, in den Händen dieses Sowjets lag und niht bei der provisorishen Regierung. Im Frühling und Sommer 1917 hätte der Sowjet fast zu jeder Zeit ohne besondere Shwierigkeit die staatlihe Mäht in der Hauptstadt selbst an sih reißen können. Die Bolshewiken beeilten sih nur deshalb niht mit der Mahtübernahme, weil sie Zeit brauchten, um ihre Organisation in der Provinz auszubauen und um die weitere moralishe Zerrüttung der Truppe so lange abzuwarten, bis die Armee als politishes Werkzeug ihrer Gegner untauglih geworden war. Die politishe Stellung der provisorishen Regierung war unter solhen Umständen selbstverständlih äußerst shwah. Sie hätte wahrsheinlih nur dann verstärkt werden können, wenn Rußland sofort aus dem Krieg hätte herausgezogen werden können und wenn Kerensky und seine Kollegen in der Regierung imstande gewesen wären, von sih aus die große Bauernarmee aufzulösen und die Karte der Bodenreform, von der die Bolshewiken später mit solhem Erfolg Ge-

brauh mähten, selbst vorher auszuspielen.

Verhängnisvolle Bedeutung der Russischen Revolution

handlungen ergaben, im stärksten Widerspruh zu den Bedürfnissen einer gesunden Entwicklung der Verhältnisse in Rußland und in Europa überhaupt standen. Der russishe Bolshewismus — wie so viele Übel unserer Epohe — war in vieler Hinsiht das Produkt dieses unendlih traurigen, langen und sinnlosen Blutvergießens, das wir immer noh unter dem Namen des ersten Weltkrieges in Erinnerung haben.

Meine deutshen Freunde — es ist niht das letztemal, daß wir Gelegenheit haben werden, an dem Beispiel der amerikanish-russishen Beziehungen festzustellen, in weih starkem und tragishem Gegensatz zu den tieferen Ansprühen der Entwicklung unserer westlihen Zivilisation die beiden Weltkriege dieses Jahrhunderts

Fussnoten

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