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Einheit und Reformation der Kirche | APuZ 21/1955 | bpb.de

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APuZ 21/1955 Einheit und Reformation der Kirche Göttliches und Menschliches in der Kirche

Einheit und Reformation der Kirche

Helmut Gollwitzer

Aus Anlaß des bevorstehenden Pfingstfestes bringen wir im Folgenden zwei Beiträge aus evangelischer und katholischer Sicht zum Thema: „Einheit der Kirche".

INHALT DIESER BEILAGE

Wir sprechen von schweren inneren Kämpfen, von schmerzlichsten Trennungen, von Zerreißung der Familien, der Freundschaften und der Völker, wenn wir das hinter unserem heutigen Thema stehende Problem der Konfessionen berühren. Hier geschieht das Rätselhafte, daß Menschen, die bisher in gemeinsamer Anbetung standen, auf einmal aufhören miteinander zu beten, aus gemeinsamen Bekenntnis wird gegenseitige Verfluchung, die gleichen Worte einen nicht mehr, sondern trennen, aus den Kreuzen werden gegeneinander gezückte Schwerter, Religionskriege, die bösesten aller Kriege, zerreißen die Völker und an die Millionen von blutigen Opfern eines düsteren Fanatismus im Zeitalter der Glaubenskriege schließen sich heute die unauffälligeren Opfer und Schädigungen des konfessionellen Konkurrenzkampfes, landauf landab in unserer Bundesrepublik Mißtrauen, Gezerre um Parität, Konfessionalisierung auch der kleinsten Sach-und Personalfrage. Wer könnte es nicht verstehen, daß die Glaubenskämpfe des 16. und 17. Jahrhunderts ein tiefes Verlangen nach Befreiung der Menschheit von den Absolutheitsansprüchen der Religionen und Konfessionen zur Folge hatten, daß die Idee der Toleranz zur Leitidee einer zivilisierten Menschheit, die Tugend der Toleranz zur höchst-gepriesenen für das menschliche Zusammenleben wurde. Humanität und Toleranz wurden zu auswechselbaren Begriffen, absolute Stellungnahmen in Glaubensfragen schienen das Zeichen für ein Defizit an Humanität zu sein. Es könnte sein, daß der gegenwärtige Konkurrenzkampf der Konfessionen in der Bundesrepublik einmal ähnliche Reaktionen hervorrufen kann und einem neuen Demagogen großen Anhang bei den dieser Konfessionalisierung jeder Stellenbesetzung bis zum Briefträger und Kaminfeger überdrüssigen Volksmassen sichern könnte, wenn er, wie es vor 20 Jahren geschah, wieder die „Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens“ verspricht, da man doch heute schon mit Neid auf Staaten wie die USA und die kommunistischen Staaten sieht, in denen den Behörden jede Frage nach der Konfession eines Staatsbürgers verboten ist. Wo Glaube ist, da scheint auch Glaubenszerspaltung zu sein;

die Zerreißung der menschlichen Gemeinschaften macht jede entschiedene Glaubenshaltung als religiösen Fanatismus verdächtig und empfiehlt religiöse Gleichgültigkeit als einzigen Ausweg.

Dieses Stöhnen — wer ist nicht schon einmal geneigt gewesen hier einzustimmen! — darf freilich nicht lautwerden, ohne daß sofort auf einen damit verbundenen Denk-Fehler aufmerksam gemacht wird: Hier wird über die Religion geklagt als sei sie eine selbständige Größe außerhalb der Menschheit, die über den Menschen kommt und gleichzeitig Segen und Fluch über ihn bringt. In Wirklichkeit gibt es aber nichts Menschlicheres als die Religion. Nirgends spricht sich der Mensch so unmittelbar aus; in ihr verliert er nicht sein Wesen, sondern in ihr offenbart er es. Nicht die Religion kommt von irgendwoher, aus einer Offenbarung oder als Ausgeburt einiger Priestergehirne, über den Menschen und macht ihn fanatisch und unduldsam, sondern der Mensch ist fanatisch und unduldsam und als solcher betätigt er sich auch und gerade im Bereich seiner Religion. Jenes Stöhnen enthält die Illusion, als brauche man dem Menschen nur die Religion zu nehmen und er werde dann nicht mehr Glaubenszwang, Inquisition, Ketzergericht und Scheiterhaufen entwikkeln. Die gleiche Moderne, die im Namen der religiösen und konfessionellen Toleranz diesen Versuch gemacht hat, hat das Gegenteil bewiesen: scheinbar irreligiös geworden, blieb der Mensch eifrig dabei, nun nicht mehr im Namen der alten Dogmen, sondern im Namen neuer Dogmen zu verketzern, zu foltern und zu verfolgen; ihm fehlen die Gelegenheiten nie, sich zum Herrn der Seelen seiner Mitmenschen aufzuspiegeln, sein Machtwille drängt ihn stets, die Köpfe und Herzen seiner Mitmenschen sich gleichschalten zu wollen. Das irreligiöse Dogma der Vernunft kann nicht weniger tyrannisch und absolutistisch sein wie der Absolutheitsanspruch der Religionen. Überall, wo der Mensch fromm oder unfromm, religiös oder rationalistisch, seine Sache selbst in die Hand nimmt, sich selbst sein Heil verschaffen und verdanken und damit seine eigene Gerechtigkeit sein will, überall da wird das Ergebnis das gleiche sein: der Mensch wird zum Tyrannen, aus dem Mitmenschen wird das Bekehrungsobjekt, aus dem Dienst wird Herrschaft, aus der Achtung vor der Andersartigkeit und Besonderheit jedes Mitmenschen, die in der eigenen und besonderen Geschichte Gottes mit jedem Menschen gründet, wird die tyrannische Gleichschaltung, mit der der Mensch diese Geschichte Gottes mit dem Mitmenschen in eigene Regie nehmen, regulieren, kontrollieren und selbst besorgen will. das Christentum Religion? Ist eine Ist das Christentum eine Religion? In der deutschen evangelischen Theologie der letzten Jahrzehnte ist mit Nachdruck auf den Gegensatz zwischen dem Evangelium und den menschlichen Religionen hingewiesen worden. Spricht in der Religion sich der Mensch selbst aus, so spricht im Evangelium Gott sich selbst aus zum Menschen hin. Es ist göttliche Botschaft an den Menschen, die gerade seine Selbstgerechtigkeit zerstört, in der gerade dem Menschen seine Sache aus der Hand genommen wird, durch die der Mensch gerade nur noch Empfänger und Diener sein kann, in keiner Weise aber mehr selbst Vollstrecker des göttlichen Gerichtes und Veranstalter des Göttlichen Heils. Das Evangelium ist nicht Religion, sondern das Ende aller Religion. Sofern aber der Mensch durch das Evangelium nicht ausgeschaltet, sondern gerade eingeschaltet wird, sofern er in Dienst genommen wird, antworten, gehorchen, beten, wirken, predigen, Gutes tun soll, insofern tritt mit ihm auch wieder die Religion auf den Plan, insofern ist das Christentum als eine Erscheinung der menschlichen Geschichte, als eine Darstellung menschlicher Gedanken, Gefühle und Bemühungen auch Religion, ohne darin aufzugehen, ohne damit erschöpfend definiert zu sein. Lind insofern kehrt nun — es wäre merkwürdig, wenn es anders wäre und es ist ein Wunder der bewahrenden Macht des Heiligen Geistes, soweit es anders ist, — auch alles Menschliche in der Geschichte des Christentums wieder. Da Gott sich soweit herabläßt, daß er den Menschen in die Geschichte seiner Botschaft einschaltet und in seinen Dienst stellt, bekommt der Mensch Gelegenheit an das Evangelium Hand anzulegen, so wie er an den Sohn Gottes Hand anlegte, nach dem Evangelium zu greifen wie er nach allem greift um es in seine Regie zu nehmen, es zu einem Mittel seiner Selbst-erhöhung und zu einer Gelegenheit seiner Herrschaftsgelüste zu machen.

Es ist dafür gesorgt, daß ihm das nie ganz gelingen kann. Das Evangelium wird sich in eigener Kraft ihm immer wieder entziehen und ihn heruntersetzen von dem Thron der Selbsterhöhung, auf den steigend er das Evangelium als Leiter verwenden wollte.

Aber sofern er das auch mit dem Evangelium versucht, wird auch die Geschichte des Christentums eine Geschichte der menschlichen Selbst-gerechtigkeit und der menschlichen Absolutheitsansprüche sein, — ja, es ist, als ob hier noch mehr als anderwärts diese Anmaßung des Menschen zum Vorschein käme, als wäre sie hier in besonderer Stärke provoziert. So wird es uns nicht verwundern dürfen, daß ebenso wie die Einheit so auch die Heiligkeit der christlichen Kirche etwas tief Verborgenes, nur dem Glauben sichtbares ist — Latet ecclesia, latent sancti, sagt Luther —, und daß man, wenn man die Geschichte der christlichen Kirche von außen und noch dazu mit etwas einseitiger Kritik sieht, sie wohl mit Goethe einen „Mischmasch von Irrtum und Gewalt“ nennen kann. Mögen andere es anders erwartet haben, — gerade einem Christen dürfte das nicht unerwartet sein, wenn anders er gehört hat, wie das Evangelium die Wirklichkeit des Menschen sieht. Nicht ohne Grund versäumt Luther nie darauf hinzuweisen, daß die 5. Bitte nicht das Gebet der Heiden, sondern gerade der christlichen Kirche sei, und wagt in diesem Zusammenhang einmal in einer Predigt den Satz: Non est tarn magna peccatrix ut christiana ecclesia (WA 34, I, 276, 7). Weil sie aus dem Evangelium geboren ist, lebt sie, mit Karl Barth (KD IV, 1, § 62) zu reden, immer auch noch in einer „anderen Dimension“; weil sie aber Kirche der Sünder ist, wird auch die menschliche Sünde in ihrer Geschichte ihr Wesen treiben.

Das Problem der konfessionellen Spaltung Wer das Problem der konfessionellen Spaltung berührt, darf dies keinen Augenblick vergessen. Wer etwas zu ihm sagen will, muß um jene bewahrende Macht des Heiligen Geistes bitten, ohne die er sicher unter die Gewalt der in der Geschichte dieser Spaltung sich verbergenden und austobenden Mächte geraten wird, so daß sein Wort nur ein weiterer Beitrag zu dieser Geschichte menschlicher Rechthaberei, menschlichen Machtwillens und menschlicher Vergewaltigung sein wird. Wir werden uns vor Augen müssen, halten daß wir hier einen besonderen Tummelplatz menschlicher Selbstbehauptung und Selbstgerechtigkeit betreten. Das wird uns davor behüten diese Gefahren nur bei den anderen zu sehen. So wenig die Sünde irgendwo lokalisiert ist, so wenig ist das Streben nach konfessioneller Selbstbehauptung nur eine Eigenart der päpstlichen Hierarchie und so wenig ist die Konfession, die sich zur Rechtfertigung allein aus Gnaden bekennt, frei von der Versuchung ihre eigene Selbstgerechtigkeit zu proklamieren. Schon das wird uns vor der Meinung behüten, die Konfessionen verhielten sich zueinander wie schwarz und weiß und es stünden sich im Gegenüber der Konfessionen die wahre und die falsche Kirche gegenüber; die Grenze zwischen w hrer und falscher Kirche ist nicht identisch mit der Grenze zwischen Katholizismus und Protestantismus, sie wird vielmehr immer aufs neue dort gezogen, wo Gottes Wort Glauben schafft, die menschliche Gerechtigkeit zerbricht und Gottes Gerechtigkeit groß werden läßt. Was die Grenze zwischen Protestantismus und Katholizismus noch bedeuten kann, wenn sie nicht mit jener verborgenen, aber wahrhaft entscheidenden Grenze zusammenfällt, das wird nachher noch zu fragen und zu erwägen sein.

Zum zweiten wird dabei aber sehr zu bedenken sein, daß mit dem Problem der Kofessionen sowohl dogmatische Fragen schwerster Art angeschnitten wie auch persönliche Lebensvorgänge angerührt sind, die von außen nicht zu durchschauen und nur mangelhaft zu beurteilen sind, weil sie eben in jene eigenste Geschichte gehören, die jeder Mensch mit Gott hat. Wer Gelegenheit hatte Konversionen vom und zum Katholizismus aus der Nähe zu beobachten, der hat nicht nur einen Begriff von den schweren inneren Kämpfen, die hier ausgefochten werden, sondern auch von der oft so schmerzlich rasch erreichten Grenze gegenseitigen Argumentierens und Verstehens. Jedesmal erleben wir es dabei, daß Argumente, die uns durchschlagend erscheinen, dem Partner nicht den geringsten Eindruck machen, daß er selbst jetzt verbrennt, was er früher angebetet hat, daß er aus gemeinsam vertretenen Sätzen ganz andere Konsequenzen zieht, als sie uns einzig möglich erscheinen, daß genau das anzieht, was andere abschreckt, und abschreckt, was anderen rühmenswert erscheint. Rationelle Argumentation, also Argumentation mit Gründen und logischen Folgerungen verfängt nur begrenzt, die Entscheidungen scheinen in einer anderen Schicht zu fallen, nicht-theologische Faktoren, psychische Sehnsüchte, noch vor aller gedanklichen Liberlegung liegende Entscheidungen haben oft schon die Weichen gestellt. Wenn Luther hier schlicht und massiv den Teufel zu nennen pflegte, der den Menschen bezaubern und vom hellen Worte Gottes weg verführen kann, dann mag uns Heutigen das etwas grob vorkommen, aber er hat damit jedenfalls erinnert, daß hier noch andere Mächte mitspielen als nur die gedanklichen Überlegungen, in denen sich diese Entscheidungen dann aussprechen und mit denen sie nachträglich gerechtfertigt werden. Wollte jemand das freilich Luther einfach nachsprechen, so wird noch einmal an das Geheimnis zu erinnern sein, in dem die Geschichte Gottes mit jedem Menschen steht. Wir haben allerdings menschliches LIrteil zu sprechen über dieses und jenes Bekenntnis, wir haben nach dem Maße unserer Erkenntnis der christlichen Wahrheit Vorhaltungen zu machen, zu mahnen und zu warnen, wir haben uns Gott als Zeugen zur Verfügung zu stellen, weil es ja sein könnte, daß Er uns als Werkzeuge verwenden will, um unsere Mitmenschen zu besserer Erkenntnis zu führen, wir haben also zu argumentieren und menschlich zu urteilen. Aber mehr als ein menschliches LIrteil steht uns nicht zu. „Der Herr kennt die Seinen", — und was hier wirklich geschehen ist, ob Abfall oder Gehorsam, teuflische Bezauberung oder Hören eines göttlichen Rufes, daß weiß der Herzenskündiger allein und das wird erst der jüngste Tag offenbar machen. 2)

Weil hier solche Selbstkontrolle gegenüber der Gefahr des Rechthabenwollens geboten ist, weil es sich um Entscheidungen in solcher letzten menschlichen Undurchsichtigkeit handelt, weil wir einander mit so schmerzlichem Kopfschütteln gegenüberstehen, weil hier nicht nur einzelne Fragen, sondern immer gleich das ganze Verständnis der christ-liehen Botschaft auf dem Spiel steht, darum wird jede Äußerung dazu nur den Charakter von Hinweisen haben können. Sie wird immer unter dem Vielen leiden, was noch zu sagen wäre und nicht gesagt werden konnte, und wird immer für viele unbefriedigend und für viele sehr mißverständlich sein. Es wird nicht mehr geschehen können, als bestenfalls das Schlagen einer schmalen Schneise in das Dickicht von Fragen, die mit dem Problem der Zerspaltung der Christenheit in Konfessionen sofort zu wuchern beginnen. Es soll so geschehen, daß wir fragen, wie das Werk der Reformation des 16. Jahrhunderts, das die für uns bedrängteste Spaltung zur Folge hatte und dessen wir trotzdem froh sind, sich zu der Einheit der Kirche verhält, die wir im Glaubensartikel bekennen.

Die Frage nach-der Einheit der Kirche Was macht uns eigentlich die Frage nach der Einheit der Kirche bedrängend, und zuvor noch die Frage nach der Kirche überhaupt? Warum kann die Vielheit der Konfessionen, die Enttäuschung an der Konfessionskirche, in der man sich befindet, das Anziehende an einer anderen, zu der hin die Konversion lockt, so bedrängend sein, daß es in schlaflose Nächte und schwere innere Kämpfe führt? Was macht die Frage nach der Kirche und mit ihr das Konfessionsproblem so ernst? Man kann nicht sagen, daß es allen unseren Zeitgenossen so geht; das Wort „Kirche“ allein ruft schon die verschiedensten Reaktionen hervor und wird von dem einen mit feierlichem Ton als der Name des großen Mysteriums, von den anderen mit deutlicher Abwehr und Abwertung als ein Gegenbegriff zum wahren Christentum, als ein Titel für die Verfälschung des Evangeliums in die Erstarrung der Institutionen und des Dogmas hinein ausgesprochen, in der Hoffnung, es könnte doch auch ohne Kirche gehen und man könnte auch abseits von der „organisierten Kirche“ zu Christus gehören in einer unsichtbaren, rein geistigen Gemeinschaft.

Die Frage nach der Kirche ist deshalb so ernst, weil zu Christus die Kirche untrennbar hinzu ge hört. Indem wir nach der Kirche fragen, fragen wir nach Christus, geht es uns um die Zugehörigkeit zu Christus, und indem es uns um die Zugehörigkeit zu Christus geht, geht es uns um die Zugehörigkeit zu Gott. Daß wir, was diese Zugehörigkeit anlangt, nicht draußen stehen wollen, sondern dabei sein wollen, das macht die Frage nach der Zugehörigkeit zur Kirche so ernst und das läßt immer wieder einen Menschen erschrokken auffahren und fragen, ob er denn, indem er zu dieser oder jener Konfession gehört, wirklich zu Gott gehöre und nicht draußen stehe. Ein anderes Motiv angesichts der Vielheit der Konfessionen die Frage nach der wahren Kirche zu stellen und von einer Konfession zur anderen zu wechseln, kann dann notwendig nur ein unechtes und ein unernstes und also verurteilenswertes Motiv sein. Wer also protestantisch wird, weil hier die größere Freiheit herrscht, oder wer katholisch wird, weil die römisch-katholische Kirche eine so große Ordnungskraft in einer zerfallenden Welt zu sein scheint oder seine künstlerischen oder sonstigen religiösen Bedürfnisse besser befriedigt, der treibt mit ernsten Dingen Spott und darauf kann kein Segen liegen. Die Frage aber, ob wir zu Gott gehören und wo die Gemeinde Gottes sei, könnten wir nicht stellen, wenn es entweder selbstverständlich wäre, daß wir zu ihr gehören, etwa deswegen weil wir Menschenantlitz tragen und geist-begabte Wesen sind, wenn es also gar nicht die Gefahr eines Draußen gäbe. Und wir könnten sie nicht wirklich stellen, wenn uns nicht zuvor etwas von Gott her gesagt und geschehen wäre. Es handelt sich nämlich nicht um die Frage, wie wir wohl mit dem Göttlichen verbunden sein, mehr ins Göttliche hineinwachsen könnten. In der Bibel kommt der Begriff des Göttlichen nie vor, wohl aber spricht die Bibel in einer sehr bestimmten Weise von Gott. Es handelt sich — und erst da wird es ernst und erst da geht es nicht um etwas Selbstverständliches — um die Frage, wie wir zur Gemeinde dessen gehören, der in seiner Offenbarung aus seiner Verborgenheit herausgetreten ist, mit diesem Heraustreten die Trennung zwischen ihm und uns gleichzeitig offenbar gemacht und überwunden hat und sich uns als der Herr alles Lebens, der Schöpfer alles Seins, der ewige Richter und ewige Heiland bekannt gemacht und zugesagt hat. Die Frage, ob wir zu seiner Gemeinde gehören, können wir in rechter Weise nur daraufhin stellen, daß wir ihn vernommen haben, daß wir durch ihn selbst vernommen haben, daß Er ist, wer .. Er ist und wie Er es mit uns meint. Wir wissen das nicht ohnehin und nicht von uns aus, keine noch so tiefe Selbstbesinnung und kein Gottesbeweis kann es uns zeigen; der einzige Gottesbeweis, den es gibt, ist dieses Heraustreten und Reden Gottes selbst, ist — wie es dann die Reformatoren mit besonderem Ton nannten, — das „Wort Gottes“. Er selbst hat sich vernehmen lassen mitten in der Menschengeschichte, nicht überall, nicht in den Tiefen der Menschenbrust, sondern in konkreten, deutlichen, äußerlichen Reden, „vorzeiten manchmal und mancherlei-weise zu den Vätern durch die Propheten“ und dann in Fülle und Ganzheit als sein volles und letztes Wort „durch den Sohn“ (Hebr. 1, 1), durch den er uns schlechthin alles gesagt hat, was er uns zu sagen hatte, unüberbietbar und nicht ergänzungbedürftig. Indem wir sagen: „er hat sich vernehmen lassen“, sagen wir nicht nur: Er hat gesprochen, sondern auch: Er hat sich vernehmbar gemacht, er hat dafür gesorgt, daß sein Reden auch Gehör findet, er hat nicht nur den Abstand von ihm zu uns, sondern auch die Taubheit unserer Ohren überwunden; sein Wort kommt nicht leer zurück, sondern tut, was ihm gefällt (Jes. 5 5, 11) oder, wie Luther sagt: „Gottes Wort kann nicht ohne Gottes Volk sein“. Ist aber Christus das fleischgewordene Wort Gottes (Joh. 1), so heißt das: Christus kann nicht sein ohne Gemeinde, d. h. ohne daß er Menschen gewinnt, ihnen vernehmbar und erkennbar wird, von ihnen gehört und angebetet und nachgefolgt wird, und dies nicht nur dann und wann, sondern beständig, unaufhörlich, so wie er selbst die beständige, unaufhörliche Kundgebung Gottes an die Menschen, Verbindung Gottes mit den Menschen ist. Darum sagt die CA mit Recht, daß una sancta ecclesia perpetuo mensura sit, weil nämlich Er alle Tage bis an der Welt Ende bei den Seinen ist, also auch solche, die „die Seinen“ sind, um sich sammelt. Wir haben nicht vom ganzen und wirklichen Christus gesprochen, wenn wir nicht auch von dieser seiner Macht und seinem Willen, sich Menschen erkennbar zu machen und sie um sich zu sammeln, gesprochen haben, wenn wir ihn ansehen würden als ein Ereignis, das w i r erst deuten und deutlich machen müßten. Wo Christus ist als das Wort Gottes, da ist auch seine Kirche, die ihn hört (und insofern kann man wohl einen freilich auch gefährliche Konse-quenzen ermöglichenden Satz Augustins aufnehmen: „Illi carni adiungitur Ecclesia et fit Christus totus, caput et corpus“, 3) was freilich nicht, wie es in der katholischen Kirche aufgefaßt wird, heißen darf, als würde Christus erst ganz durch das Hinzukommen der Kirche, wohl aber, daß der ganze Christus sein Werk nicht nur halb tut, sondern ganz, also bis dorthin, wo er sich das Echo des Glaubens und Dankens seiner Gemeinde erweckt).

Die Gemeinde Gottes Die Frage nach der Gemeinde Gottes und wie wir zu ihr gehören ist also nur sinnvoll als Frage des Glaubens, d. h. als Frage, die aus dem Hören kommt, als Frage dessen, der die Botschaft von Gottes Heraustreten gehört hat und bei dem nun als Wirkung dieser Botschaft, also schon im Glauben, daß sie wahr ist, das Verlangen entsteht, dazugehören zu dürfen, nicht sich zur falschen Schar, sondern zur rechten Schar zu halten. Sie setzt ganz das eine Wunder voraus: daß hier auf Erden in konkreter Weise Gott wirklich auf den Plan tritt und gehört werden kann, ja, wie der 1. Johannesbrief sagt, gehört, gesehen und betastet werden kann, — und sie setzt nicht zwei Wunder voraus, nicht eines, das Christus heißt, und ein zweites, das die Kirche heißt, sondern sie ist an der Kirche für sich selbst gar nicht und allein an Christus als der Epiphanie Gottes selbst interessiert und nur insofern auch an der Kirche als einer Gemeinde, zu der wir gehören möchten, weil wir zu ihm gehören möchten. E r ist das Leben und das Licht und die Wahrheit. Die Gemeinde ist dies alles nicht von sich aus und in sich, sondern sie empfängt dies alles, indem sie von ihm gesammelt und erweckt wird und muß dies alles immer neu empfangen. So besagen die neutestamentlichen Ausdrücke für Kirche zugleich diese Angewiesenheit der Kirche auf Christus, diese Überlegenheit Christi über die Kirche und zugleich die engste Verbindung zwischen beiden, z. B. „die Seinen“ (Joh.) oder die „Herde Christi" (1. Petr.) oder der „Leib Christi" (Paulus). Diese Herde, dieser Leib kommen aber nach dem Neuen Testament durch nichts anderes zustande und zu ihm wird der einzelne durch nichts anderes hinzugewonnen als durch das gleiche Mittel, mit dem Jesus selbst die Menschen gewann: als durch die Verkündigung in Kraft des Heiligen Geistes. In der-Verkündigung von Jesus setzt sich die Verkündigung Jesu fort, in ihr verkündigt er selbst als der Christus präsens. Eine Verkündigung aber muß man hören und glauben, — das ist die einzige Antwort auf sie, die ein positives Verhältnis zu dem, der hier verkündigt und verkündigt wird, begründet. Christi Herde ist die Schar derjenigen, die er durch die Verkündigung erweckt hat, ihm zu glauben und an ihn zu glauben, und sie ist als solche sofort die Schar seiner dienstbaren Knechte, die seine Zeugen an die übrige Welt sein sollen, deren Zeugnis als Verkündigung wieder neue Zeugen gewinnt und der Welt ihren Herrn und Heiland bekannt macht. Darum ist diese Kirche keinen Augenblick lang nur für sich da oder nur die Schar von Privilegierten, die ihre eigene Seligkeit genießen können, sondern sie ist Stoßtrupp Gottes in der Welt mit einer Botschaft an die ganze Welt und sie tut in ihrem Bekenntnis, in ihrer Anbetung und in ihrer Liebes-tätigkeit vorlaufend das, wozu die ganze Welt aufgerufen ist; als solche ist sie, wie Karl Barth sagt, „die vorläufige Darstellung der ganzen in Christus gerechtfertigten und versöhnten Menschenwelt“.

Mit diesen Sätzen, mit denen wir nichts als grundlegende Züge des neutestamentlichen Denkens wiedergeben zu haben glauben, sind schon alle Entscheidungen gefallen. Wir heben nur einige Konsequenzen hervor, die für unser Problem wichtig sind: 1. Gottes Heraustreten vollzieht sich auf höchst persönliche Weise. Er offenbart sich nicht als unpersönliches Schicksal, nicht als Kraft, nicht als Fluidum, nicht als Idee, — soweit solche Begriffe überhaupt brauchbar sind, können sie höchstens dazu dienen, Züge an seiner Offenbarung und seinem Wirken zu kennzeichnen, aber nicht ihn selbst, — sondern er offenbart sich als Herr, indem er unser Bruder wird. Sein Wort und seine Gnade sind also nicht etwas neben ihm, sondern Er selbst in seinem Handeln und Begegnen. Nahm mancher unter dem Einfluß philosophischer Gottesbegriffe Anstoß an dieser „Personifizierung Gottes", an dieser „Vermenschlichung“, diesem Anthropomorphismus, so dürfen wir uns davon ja nicht imponieren lassen, sondern müssen stracks dagegenstellen, daß dies gerade im Kern der Selbstoffenbarung Gottes steht; gar nicht menschlich, gar nicht personal genug kann hier geredet werden. Gottesgemeinschaft ist Gottesbegegnen, personale Beziehung von Du und Du. Gottes Umgang mit uns und unser LImgang mit ihm geschieht in den personalen Formen, in der Anrede des Wortes, des Glaubens, des Gebetes. Für die Kirche bedeutet das aber: Wir dürfen von ihr nie als von einer Anstalt denken, in die Gott eingegangen sei wie in ein Gefäß, die Gnade und Wort Gottes verwalten könnte wie Kräfte und Lehren, über die sie disponieren kann. Sie verwaltet und verfügt nicht, sondern sie dient und bezeugt. 2. Weil Gott allein in seinem persönlichen Kommen das Heil ist, gibt es nicht eine Heilswirklichkeit abgesehen von ihm und seinem Wort, seinem Reden mit uns und seiner Liebe zu uns. Auch die Kirche stellt nicht eine solche Heilswirklichkeit dar; es gibt neben Gottes Kommen, das Jesus Christus heißt, nicht ein zweites Mysterium, nicht eine Seinsschicht des Sakramentalen, sondern immer nur Ihn selbst. Die Kirche stellt also für sich selbst betrachtet gar nichts dar, hat kein eigenes Sein, das Heil enthielte, i s t immer nur etwas in Bezug auf Jesus Christus, steht aber in diesem Bezug, in dem sie etwas ist, nur, indem sie glaubt, dient und gehorcht. Sie ist also, was sie sein soll, nur in der personalen Abhängigkeit von ihrem Herrn, hat ihn nie unter sich, sondern immer über sich, immer ist sie angewiesen auf ihn, nie er angewiesen auf sie, nie hat sie ihn in der Hand, nie ist es selbstverständlich, daß sie ist, was sie ist, immer ist es Sache der Gnade und des Gebets. Wir hätten Gottes Personalität vergessen, wenn wir es anders sagen würden. 3. Infolgedessen gibt es zwar engste Verbundenheit, aber keine Identität zwischen Christus und der Kirche oder nur eine indirekte Identität. Zwischen Jesus Christus und dem ewigen Gott besteht — das will die Trinitätslehre sagen — eine direkte Identität — „wer mich hört, der hört den, der mich gesandt hat“, — aber zwischen Christus und der Kirche besteht die indirekte Identität des Herrn und seines Zeugen, — eine andere Ebene, eine andere Indentifikation ist vollzogen, wenn Jesus sagt: „wer euch hört, der hört mich“; diese Identifikation besteht im Befehl, Auftrag und Verheißung; sie ist nicht in des Menschen Macht gegeben; sie kann auch nicht statisch behauptet, nicht juristisch beansprucht, nicht sakramental vollzogen, sondern nur im Glauben und Gehorsam ergriffen werden. Das ist von höchster kritischer Bedeutung gegenüber den direkten Identifikationen, die, wie wir im 20. Jahrhundert gelernt haben könnten, immer Menschliches zu menschenfresserischen Molochen erhoben. „Wie soll ich doch die Kirche hören ..

Die totalitären Systeme leben ja von solchen direkten Identifikationen: Adolf Hitler i s t Deutschland, die KP ist die Vorhut der Arbeiterklasse, die Sowjetunion i s t das Bollwerk des Friedens. Gut, mögen sie es sein und sich als solche bewähren. Aber indem dies nicht als Auftrag, der sich kritisch gegen die Institution und die Führung wenden kann, verstanden wird, sondern als statischer Anspruch, als eine ontologische Identität, ist alles, was gegen die Sowjetunion gesagt und getan wird, gegen den Frieden, alles, was gegen die KP geschieht, gegen die Arbeiterschaft usw. und recht ist infolgedessen, was diesen menschlichen Institutionen, die mit dem, was sie vertreten, identisch sind, nützt.

Das Folgende ist schmerzlich, aber unvermeidlich: Die römisch-katholische Kirche gerät deshalb immer wieder in den Verdacht, ebenfalls ein totalitäres System zu sein, weil sie die gleiche direkte Identifikation zwischen dem römischen Bischof und der Kirche und damit zwischen der Kirche und Christus vollzieht. Damit wird Gott zu einem Gefangenen der Kirche, er hat kein selbständiges Wort mehr jenseits und über ihr, sie steht nicht mehr unter und vor seinem Gericht, es ist keine Möglichkeit mehr vom Papst weg an die Kirche (etwa in der Form eines Konzils) und von der Kirche weg an Gott (in der Form der Berufung auf das Wort der Bibel) zu appellieren; Jesus Christus ist eben nicht nur Voraussetzung, Hintergrund, Ursprung der Kirche, sondern ihr gegenwärtiger Herr. Wird er nicht so bekannt, dann ist die Kirche nicht mehr die Dienerin und Zeugin Gottes, sondern Gott ist zu definieren als der, den die Kirche als Gott uns vorstellt, genauer noch: als die Kirche selbst. Die Kirche dient nicht mehr nur dem Wort Gottes, das Jesus Christus heißt, sondern sie ist das Wort Gottes, sie verlangt deshalb LInterwerfung unter ihr Wort, wie man sich nur Gottes Wort unterwerfen kann. Charakteristisch dafür sind in der Reformationszeit die Verhandlungen mit den Protestanten über deren Teilnahme am geplanten Konzil, das dann in Trient stattfand. Immer wurde ihnen zur Bedingung der Zulassung gestellt, sie müßten von vornherein erklären, daß sie sich dem Spruch der Kurie bedingungslos unterwerfen würden, wogegen sie verlangten, es solle zunächst festgestellt werden, wer über die streitenden Parteien, von denen Rom ja selbst eine war, Richter sein solle, und verlangten, daß der Heiligen Schrift das oberste Richteramt zugestanden werde. Diese direkte Identifikation von Gott — Kirche — Papst konnten die Reformatoren nur als eine Absetzung Gottes und als eine Vergewaltigung der Kirche verstehen. Luther schrieb 1520 an H. Duugersheiw: At ubi ecclesiam petimus, ostenditis nobis unum hominem, papam, cui omnia tribuitis. . . . Nos Scripturam iudicem volumus, vos contra Scripturam iudicesesse vultis. Und also hat er später auf die Forderung, er solle sich der Kirche unterwerfen, immer die Frage gestellt, wer denn „die Kirche , also das bevollmächtigte Organ der Kirche sei und woran seine Vollmacht zu erkennen und zu prüfen sei. 1541 schreibt er „wider Hans Worst“: „Nu haben wir bis daher noch nie können von den Papisten erlangen, daß sie beweisen wollten, warum sie doch die rechte Kirche seien, sondern stehen zu dein Spruch Matth. 18: Man soll die Kirche hören oder müsse verloren sein. Wo die Kirche ist, da soll man sie hören, das bekennen und sagen wir auch. Aber wir fragen, wo und wer die Kirche Christi sei, non de nomine, nicht vom namen, sondern vom Wesen fragen wir. Gleich als wenn ich einen Trunkenen, Halbschlafenden oder einen Narren fragte: Lieber, sage mir, wer und wo ist die Kirche, und er mir zu zehen malen nichts anders darauf antwortet denn also: Man soll die Kirche hören! Wie soll ich doch die Kirche hören, so ich nicht weiß, wer und wo sie ist?“ Hier ist sie, die ernste Frage, von der wir vorhin ausgingen. Es ist — das ist wichtig — nicht so sehr die Frage, wo die Kirche ist, als wo sie zu hören ist, wo ihre rechte Stimme ist, wo sie recht spricht. Lind der tiefe Gegensatz wird daran deutlich, daß diese Frage von der römisch-katholischen Voraussetzung nie gestellt zu werden braucht oder nie ernst wird, weil ihre Antwort zu selbstverständlich ist, nämlich in einer Tautologie, eben der Tautologie jener direkten Identifikation besteht: die rechte Stimme der Kirche ist da, wo die offizielle Stimme der Kirche ist und die offizielle, d. h. die durch Kirchenrecht legitimierte Stimme der Kirche ist immer auch die rechte Stimme der Kirche, — wogegen für die Reformation das, was hier n i e zur Frage wird, immer die Frage ist: o b nämlich wirklich die faktische und die offizielle Stimme der Kirche auch die rechte Stimme der Kirche ist. Die Kirche darf sich also nicht auf ihre formale Legitimität beschränken, sondern muß ihre sachliche Legitimität ausweisen und zwar an der Übereinstimmung ihrer Stimme mit dem prophetisch-apostolischen Zeugnis von Gottes Offenbarung, wie es in der Heiligen Schrift vorliegt.

Ernst und Unvermeidlichkeit dieser Forderung als einer christlichen sind auf römisch-katholischer Seite eigentlich nie verstanden worden und wo sie verstanden wurden, da war der Betreffende, ob er es wußte oder nicht, schon auf dem Wege zur Reformation. Von Johannes Eck über Bossuet bis zu J. Lortz haben alle römischen Kontroverstheologen jene Frage Luthers als Ausdruck eines die ontologische Wirklichkeit der Kirche verkennenden neuzeitlichen Individualismus verstanden: Protestantismus sei Geltendmachen des propre sens, sagte Bossuet.

Ein großes Mißverständnis Das Mißverständnis ist groß. Denn jene Frage nach dem Ausweis der faktischen Stimme der Kirche auf ihre sachliche Legitimität war nicht der Versuch, die Kirche vor das Forum des Individuums zu ziehen und an die Stelle der Tugend des Gehorsams die Untugend des Eigensinns zu setzen. Hier wird vielmehr die vorhin genannte Voraussetzung wichtig, unter der allein diese Frage sinnvoll, dann aber auch unvermeidlich wird: das Wunder nämlich, daß Gott in Jesus Christus geredet hat, in einer besonderen, konkreten Weise an bestimmter Stelle, vom bestimmten Ort aus geredet hat, nämlich in Jesus Christus, und daß er sich damit vernehmbar gemacht hat, daß also dieses Reden Gottes und das unter Leitung seines Geistes geschehene Zeugnis von Jesus Christus, wie es in der Bibel vorliegt, weder verklungen noch unaktuell noch unverständlich noch ergänzungsbedürftig sei, sondern daß es ein für allemal geschehenes, an alle sich richtendes, erschöpfendes und helles Sich-Selbst-Bezeugen Gottes sei: Gott ist in Jesus Christus, der uns von den Aposteln und Propheten bezeugt wird, selbst wirklich, klar und deutlich auf dem Plan. Glaube an dieses Wunder, Gehorsam gegen dieses Wunder, nicht aber Unglaube und individualistischer Ungehorsam war es, der die Reformatoren veranlaßte zu fordern, daß die faktische Stimme der Kirche ihre Libereinstimmung mit dem Zeugnis der Bibel aufweisen müsse, daß hier gar nichts selbstverständlich sei, daß vielmehr die wahre, eigentliche apostolische Sukzession der Kirche immer in Frage stehe und immer neu sich an jener Übereinstimmung entscheide. Propre sens, Llngehorsam und Unglauben sehen sie vielmehr dort, wo man nicht mehr wagte, die Kirche auf die Voraussetzung dieses Wunders, dieses sich vernehmlich machenden göttlichen Redens zu stellen und statt dessen Gottes Reden faktisch durch die Stimme der Kirche ersetzte, wegen der angeblichen Dunkelheit der göttlichen Offenbarung ihre Interpretation — und wie das neue Mariendogma zeigt, nicht nur ihre Interpretation, sondern auch die Angabe ihres Inhalts in die Hand bestimmter kirchlicher Amtsträger legte. Dabei wußten sich die Reformatoren in Übereinstimmung mit der echten Tradition der Kirche, sofern ja die Kirche selbst sich in der Sammlung und Kanonisierung bestimmter urchristlicher Schriften einem Kanon-Maßstab unterstellt hatte, an dem sie alle weitere Tradition prüfen zu lassen sich bereit erklärte. Wenn man die Frage nach dem höchsten Richter in der Kirche unter Absetzung von jener Voraussetzung des realen Auf-dem-Plan-Seins des Wortes Gottes stellt, wenn man sie rein nach dem Gesichtspunkt des praktischen Funktionierens einer weltlichen Organisation stellt, dann kann man freilich fragen, ob man bei der Wahl zwischen Bibel. Konzil oder Papst als oberster Richter sich nicht für die Einmannführung entscheidet. Aber dieses Absehen wäre ja nichts anderes als der Pragmatismus des Unglaubens. Die Reformatoren haben nicht einfach an die Stelle des Papsttums des römischen Bischofs das Papsttum der Bibel gesetzt (das hat die spätere Orthodoxie getan), sondern sie haben von der in der Kirche unbestrittenen Voraussetzung her, daß wir Menschen nicht mit uns allein sind, daß Gottes Wort real auf dem Plan ist und in der Bibel authentisch bezeugt ist, dem gegenwärtigen Herrn der Kirche zugetraut, daß er durch das Zeugnis seiner Apostel und Propheten auch heute noch deutlich zur Kirche spricht, sie immer neu aus Unordnung zur Ordnung ruft, und daß es darum in der Kirche nicht verboten sein darf, sondern geboten ist, von allem Tun und Reden der einzelnen Glieder und Organe der Kirche hinweg an die Heilige Schrift zu appellieren, die Kirche immer wieder vor das Forum der Heiligen Schrift und damit vor das Forum ihres Herrn selbst zu rufen. Darum: Ecclesia semper reformanda.

Jene Frage Luthers, wo denn die Kirche ist und wer sie ist, sollte also weder in Frage stellen, daß die Kirche immer sein wird, noch wollte er fragen, welche unter den verschiedenen Konfessionen die richtige, die wahre Kirche sei. Er hatte ja nicht unsere heutige Vielheit von Konfessionen vor sich und dachte nicht im Traum daran, eine neue, etwa eine lutherische Kirche zu gründen. Er lebte fest in der uns heute so nötigen Überzeugung, daß es nur die eine Kirche des Glaubensbekenntnisses gibt. Er hat auch nie daran gedacht, den Christen und Gemeinden in denjenigen Teilen der Christenheit, die sich der Reformation verschlossen haben, die Zugehörigkeit zur einen christlichen Kirche zu bestreiten; er war viel zu sehr davon überzeugt, daß die Taufe als das einmalige und grundlegende Bekenntnis Christi zu einem Menschen jeden Getauften zu einem Glied der einen Kirche macht, und daß Gottes Wort überall auf dem Plan ist, wo die Bibel gelesen und das Apostolikum bekannt wird. Noch in seiner schärfsten Altersschrift gegen das Papsttum 1545 hat er diese Zugehörigkeit bestätigt, wenn er sagt: „Der armen römischen Kirche und allen Kirchen unter dem Papstthum kann weder geraten noch geholfen werden, das Papstthum sampt seinen Drecketen werden denn weggethan, und ein rechter Bischof wieder zu Rom eingesetzt, der das Evangelium rein und lauter predige, oder verschaffe zu predigen, und laß die Kronen und Königreiche mit Frieden, welche ihm nicht befohlen sind zu regieren, . . . und sei ein Bischof, andern Bischöfen gleich, nicht ihr Herr, noch ihre Kirchen zerreiße und ihre Güter raube“ (WA 54, 292). Er hat sich weder als der Gründer einer neuen noch gar als Gründer der einen rechten Kirche gefühlt, sondern er wollte als Glied der einen heiligen Kirche und als von ihr beauftragter Doktor der Heiligen Schrift das allezeit immer neu Nötige tun und hat es nach unserer Meinung auch getan: der Kirche ihre Grundlagen und ihren Auftrag und ihren Maßstab neu in Erinnerung rufen; er hat die Kirche eingeladen gerade darin freie Kirche zu sein, daß sie nicht im Gefängnis ihrer Vergangenheit, in den Fesseln ihrer immer wieder sich ereignenden Fehlentscheidungen verharrt, sondern bereit ist zu neuem Aufbruch, zu neuem Hören des einen alten und immer wieder neuen Wortes.

Von dem, was für uns heute daraus folgt, sei zum Schluß nur folgendes genannt: 1. Dadurch, daß ein Teil der Kirche dem Ruf zur Reformation folgte, ein anderer Teil samt der Hauptmasse der kirchlichen Hierarchie sich ihm verschloß und den reformatorischen Teil ausschloß, entstand die abendländische Spaltung der Kirche. Reformation ist aber nicht etwas Aufbewahrbares und Vererbbares. Wir stehen uns nicht gegenüber als ein verbesserter und ein unverbesserter Teil der Kirche, nicht wie weiß und schwarz, sondern die erste von Luthers 95 Thesen („Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: Tut Buße, so will er, daß das ganze Leben der Gläubigen Buße sei“) gilt nicht nur für die einzelnen, sondern für die Gemeinden und die ganze Kirche. Wir werden uns also davor hüten müssen, gegen den Traditionalismus und Konfessionalismus Roms einen protestantischen Konfessionalismus zu setzen. In jedem Teil der Christenheit muß der Aufbruch immer neu erfolgen, jeder Teil ist ecclesia semper reformanda. 2. Der Beitrag der evangelischen Gemeinden im Leben der einen, alle Getauften umfassenden Kirche ist die Bezeugung der Freiheit und Herrschaft Christi über die Kirche, womit auch die Freiheit des Menschen von Menschengewalt und Menschendogma allein wirklich gesichert wird. Besonders alle, die aus irgendwelchen Gründen zum Katholizismus neigen, seien gefragt, ob sie nicht verantwortlich sich an diesem Beitrag beteiligen sollten und was aus der christlichen Kirche wohl würde, wenn dieser Ruf nicht mehr geschähe. Es kann heute oft eine schwere Last sein, evangelischer Christ zu sein. Aber diesen Auftrag nimmt uns niemand ab und wenn wir ihn erkennen, wird er Quelle von Trost und Freude sein. Adolf Sdilotter sagt einmal: „Ohne die Bibel würde der evangelische Pfarrer zum Schwätzer und der katholische Priester zum Zauberer“. Ohne die Predigt des freien Evangeliums, wie die Reformation sie uns zuruft, würde die abendländische Christenheit nach menschlichem Ermessen auseinanderfallen in eine protestantisch-liberale Hälfte von unverbindlichen religiösen Schwätzern und in einen dem Zauber und dem Synkretismus verfallenden Katholizismus. Durch unseren evangelischen Beitrag und seine weit über das Erkennbare hinausgehenden Wirkungen dürfen wir mithelfen, daß evangelische Erkenntnis auch in den von uns getrennten Teilen der christlichen Kirche wach und wirksam bleibt. Dafür sind wir verantwortlich. 3. Wir sollen nur noch in Anführungszeichen von einer evangelischen, römisch-katholischen usw. „Kirche“ sprechen, also von den Konfessionen als Kirchen, und stattdessen mehr daran denken, daß das Neue Testament nur eine Kirche kennt, den Leib Christi und einen Plural „Kirchen“ nur kennt für die Ortsgemeinden. „Einen Ölbaum (Röm. 11, 14 ff.) hat Gott gepflanzt, nicht eine ganze Allee von Kirchen“, sagt Schlatter. So sollten wir uns klar machen, daß es nur eine christliche Gemeinde gibt, zu der alle Getauften gehören, und daß die evangelische und die katholische Gemeinde Teile dieser einen Gemeinde sind. Daß wir nicht miteinander zur Kirche und zum Abendmahl gehen können, ist Skandal und muß uns immer wieder neu beunruhigen. Getrenntsein heißt ja: den eigenen Glauben an Christus im Christusbekenntnis des anderen nicht wieder erkennen können. Aber damit ist die Art, wie wir uns gegenüberstehen, nicht vollständig beschrieben. Es gibt über die Konfessionsgrenzen hinweg, — wer wollte es leugnen und wer hätte es nicht schon erfahren? — auch ein Wiedererkennen im Bekenntnis zu Christus. Linser Nicht-Wiedererkennen ist deshalb so beunruhigend, weil neben ihm dieses Wiedererkennen steht, und umgekehrt. Eben deshalb aber muß sich unser Eifer auf die Einheit richten; was Gemeinsames zwischen uns ist, muß uns beglücken und uns Hoffnung künftiger größerer Gemeinsamkeit geben. Was wir gegeneinander sagen müssen, soll als ein Dienst der Liebe deutlich werden, nach der guten Regel, die Zinzendorf einmal für den LImgang seiner Brüdergemeindeprediger mit den Sektierern gegeben hat: „Geduld, Herzlichkeit, Demut, Nachgeben, soweit es möglich, feste stehen und nicht wanken und weichen, sobald nicht mehr nachzugeben ist und das alles in der Liebe, und daß alle Worte mit dem Blute Jesu besprengt werden." Das Blut Jesu ist der Tod aller Rechthaberei und der Grund der Liebe auch zu denen, die wir im Irrtum sehen und deren Lehrsätze wir mit unserem gemeinsamen Bekenntnis zum Namen Jesu Christi nicht zu vereinbaren wissen. Wir müssen also aufhören konfessionell zu denken und in dem, was wir gemeinsam bekennen dürfen, wie in dem, was wir gegeneinander bekennen müssen, anfangen ökumenisch zu denken. 4. Dazu gehört auch: nicht nur den anderen etwas sagen, nicht nur einer den anderen belehren wollen, sondern sich von den anderen etwas sagen lassen, ohne Angst, des „Katholisierens" verdächtigt zu werden. Das ist ein neues Thema, das jetzt nur mit diesem Satz angedeutet werden kann. Zusammensein in der einen Kirche heißt Verantwortung für den eigenen Beitrag und Austausch haben mit dem, was den anderen anvertraut sein könnte. Leitsätze für das evangelisch-katholische Gespräch hat H. E. Weber einmal mit einem Satz von Martin Kähler geschlossen, der auch hier am Schlüsse stehen soll: „Die räumlich und zeitlich getrennten, ja selbst die hadernden Teile der Christenheit stehen in Wechselwirkung und Austausch und lassen dergestalt den gliedlichen Zusammenhang des Ganzen spüren; und an solchen Erfahrungen gewinnt die heilige Liebe Anlaß und Mittel, das Bewußtsein allumfassender Einheit wach zu halten, den Glauben an ihr verborgenes wirksames Vorhandensein und die Hoffnung auf ihre allseitige Geltung und Darstellung.“ 5. Der Grund ist zugleich das Ziel und die Verheißung. Die grundlegende, bestehende Einheit der Kirche ist Christus — er ist zugleich die Hoffnung, daß wir wieder zur sichtbaren Einheit kommen. Von unseren verschiedenen Ausgangspunkten aus uns entschlossen auf Ihn zu richten, ist der einzige Weg zur sichtbaren Einheit der Kirche.

Fussnoten

Fußnoten

  1. „Verborgen ist die Kirche, verborgen die Heiligen.“

  2. »Es gibt keine so große Sünderin mehr wie die christliche Kirche."

  3. „Diesem Fleische (Christi) wird hinzugefügt die Kirche und wird Christus ganz, Haupt und Leib.“

  4. „Aber wenn wir nach der Kirche fragen, zeigt ihr uns einen Menschen, den Papst, dem ihr alles zueignet ... Wir wollen die Schrift zum Stifter, ihr wollt selbst Richter sein gegen die Schrift.''

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