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Ursachen und Motive der Abwanderung aus der Sowjetzone Deutschlands | APuZ 24/1955 | bpb.de

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APuZ 24/1955 Ursachen und Motive der Abwanderung aus der Sowjetzone Deutschlands

Ursachen und Motive der Abwanderung aus der Sowjetzone Deutschlands

Johannes Kurt Klein

Das sowjetische Herrschaftssystem billigt seinen Untertanen kein unveräußerliches Recht auf ihre Heimat zu. Es verschiebt in seinem ursprünglichen Machtbereich ganze Familien, Siedlungsgemeinschaften und sogar Völkerschaften nach politischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten.

Bei den Umsiedlungen z. B.der Letten, Wolgadeutschen oder Kosaken wurde von den Sowjets vielerorts die Familientrennung radikal durchgeführt, so daß die männlichen Familienmitglieder grundsätzlich in andere Breiten deportiert wurden als die weiblichen. Ein System, das derartige Methoden bedenkenlos anwendet, legt an die Probleme dieser Welt einen anderen Maßstab an, als wir Europäer es von unserem weltanschaulichen Mutterboden aus gewöhnt sind. Die Vertreibung von über 10 Millionen deutschen Menschen aus den ostdeutschen, sudetendeutschen und südosteuropäischen Siedlungsgebieten, die angstvolle Flucht von 2, 5 Millionen Menschen aus ihrer mitteldeutschen Heimat und die Inhaftierung und Verschleppung hunderttausender Unschuldiger ist für die Sowjetmacht nichts weiter als eine „politische Notwendigkeit". Menschliche oder menschenrechtliche Bedenken sind dem System fremd.

Seit Bestehen der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vollzieht sich in Europa eine Bevölkerungsbewegung, die in ihrem Verlaufe zur Völkerwanderung, Völkerflucht und Massenemigration wurde. Die Machtergreifung Lenins und der Kommunistischen Partei trieb die Überlebenden des russischen Adels, weite Teile des Bürgertums und die aktiven Teilnehmer am Bürgerkrieg gegen den Bolschewismus in die Emigration. Nach Jahren folgte die Aus-und Umsiedlung der Krim-griechen, sie gab den Auftakt zur systematischen Entwurzelungspolitik des Kreml. Vor und nach dem Zweiten Weltkrieg erreichte dann die Bevölkerungsbewegung ihren Höhepunkt durch die innerrussischen UmSiedlungen (Mongolen an die Ostsee, Ostpreußen in die Mongolei, Letten und Litauer nach Innerrußland, Wolgadeutsche nach Sibirien usw.), die Deportationsbewegungen aus den unterworfenen Völkern Ost-und Südosteuropas und durch die Vertreibung der Deutschen aus ihren angestammten Siedlungsgebieten des Ostens. und des Balkans.

Die Massenabwanderung aus der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands seit 1945 ist ein historisches Novum. Sie unterscheidet sich von den bisher durch das Sowjetsystem ausgelösten Bevölkerungsbewegungen durch die relative Entschlußfreiheit, die dem einzelnen Abwandernden bleibt. Sie unterscheidet sich aber auch durch die relative Gefahrlosigkeit, mit der den Menschen der Weg in die freie Welt offen-steht. An keiner Stelle des Eisernen Vorhangs ist ein Verlassen des sowjetischen Machtbereiches so erleichtert wie an der deutschen Zonengrenze. Neben diesen rein äußerlichen Merkmalen der Abwanderung aus Mitteldeutschland steht eine höchst interessante Tatsache, die erst dem Historiker der Zukunft in seiner ganzen Tragweite begreifbar werden wird: Die Abwanderung aus der Sowjetzone Deutschlands ist das getreue Abbild der programmgemäßen Sowjetisierungsphasen und -methoden, die der Kreml auf deutschem Boden anwendet. Er hat das gleiche Programm in anderen unterworfenen Ländern schon mehrfach durchgeführt. Diese Länder jedoch waren in ihrer Gesamtheit unter sowjetischer Kontrolle und dadurch im verstärkten Maße von der Außenwelt abgeschnitten, da der „Eiserne Vorhang" mit ihrer Staats-grenze identisch wurde. Bei der Sowjetzone Deutschlands liegen die Dinge wesentlich anders. Sie ist nur ein Teil des organisch gewachsenen deutschen Siedlungsgebietes. Die Sowjetisierungsmaßnahmen wirken sich darum in starker Form auch auf den anderen Teil aus. Gleich einem Körper, dessen Glieder einer schweren Tortur ausgesetzt sind, ist das ganze deutsche Volk von den Auswirkungen der schrittweisen Sowjetisierung Mitteldeutschlands zutiefst betroffen.

Eine klar erkennbare Folge der sowjetischen Herrschaftsmethode ist die Abwanderung. Um sie als zeitgeschichtliche Erscheinung bewerten zu können, ist es notwendig, sie im Zusammenhang mit der großen sowjetischen Politik im allgemeinen und der Politik des Sowjetsystems in Deutschland im besonderen zu sehen. Da es sich bei den westwärts wandernden Mitteldeutschen trotz aller zeitweisen Massierung letztlich um Einzelwanderungen aus individuellen Motiven heraus handelt, ist ein Verständnis der Haltung des Einzelmenschen gegenüber dem Sowjet-system nötig. Erst dann kann man zu den Gründen und Anlässen vordringen und die große, teilweise unübersichtliche Bewegung zu gliedern versuchen.

Mitteldeutschland unter dem Sowjetsystem

Abbildung 1

Die durch den Zusammenbruch 1945 erfolgte Zerreißung Deutschlands teilte das Staatsgebiet von 1938 in 7 einzelne Territorien auf:

1. sowjetisch annektiertes Gebiet von Nord-Ostpreußen 2. polnisch annektiertes Gebiet östlich der Oder/Neisse 3. sowjetisch besetztes Gebiet Mitteldeutschlands 4. britisch besetztes Gebiet Nordwestdeutschlands 5. amerikanisch besetztes Gebiet Süddeutschlands und Bremens 6.französisch besetztes Gebiet Südwestdeutschlands 7.französisch verwaltetes Gebiet des Saarlandes Dabei sollten die unter 3. bis 6. aufgeführten Gebiete als eine höhere Einheit behandelt und später wiedervereinigt werden. Über die Besatzungsziele waren sich die 4 Siegermächte auf der Konferenz zu Potsdam lichkeit die geradezu gegensätzliche Begriffswertung zwischen dein Sowjetblock und den Westmächten heraus. Das Besatzungsziel der Westmächte bestand in der Sicherung einer echten demokratischen Entwicklung in Deutschland, die eine neue totalitäre Gefahr für Europa verhindern sollte. Die sowjetische Besatzungsmacht dagegen trat von vornherein als Vertreter des bolschewistischen Systems auf und vollzog ihre Aufgaben weniger im Sinne einer Besatzung als vielmehr einer Zwangs-sowjetisierung.

Der sowjetische Begriff von Demokratie unterscheidet sich grundlegend von dem des Westens, wie die Entwicklung der sogenannten „Volksdemokratien“ seit 1945 deutlich beweist. In diesem Sinne ging es der sowjetischen Besatzungsmacht nicht um das Entstehen einer deutschen Demokratie, sondern um die innere und äußere Angliederung Mitteldeutschlands an den sowjetisch beherrschten Ostblock. Der Außenminister der UdSSR, W. M. Molotow, umriß die Aufgaben der sowjetischen Besatzungsmacht am 9. 7. 1946 folgendermaßen:

„Man darf nicht vergessen, daß die Anwesenheit der . . . sowjetischen Truppen in Deutschland zwei Ziele verfolgt: erstens, die militärische und wirtschaftlidte Entwaffnung Deutschlands sicherzustellen und zu Ende zu führen; zweitens, die Demokratisierung des Regimes in Deutschland zu sichern; und drittens, die Reparationslieferungen zu gewährleisten“

Dieser Erklärung Molotows muß programmatische Bedeutung zuerkannt werden. Heute, 9 Jahre nach ihrer Abgabe, haben die Besatzungsziele „wirtschaftliche Entwaffnung", „Demokratisierung“ und „Gewährleistung der Reparationslieferungen“ konkrete Gestalt angenommen. „W irtschaftliche Entwaffnung“ hieß Demontage und weitgehende Verstaatlichung der Sowjetzonenwirtschaft, scharfe Produktionskontrolle und fortschreitender Einbau in die sowjetische Wirtschafts-, bzw. Rüstungsplanung. — Unter Demokratisierung war jener Sowjetisierungsprozeß gemeint, der über die Gleichschaltung aller Parteien zur Abschaffung der parlamentarisch-demokratischen Gepflogenheiten führte und die Grundlage für die Errichtung des kommunistischen Terrorsystems bildete. In der Praxis hielt sich die sowjetische Besatzungspolitik eng an die Theorien Lenins und Stalins über die Demokratie:

„Die , reine Demokratie ist die verlogene Phrase eines Liberalen, der die Arbeiter zum Narren hält“

„Wir verstehen unter Demokratie Hebung der Aktivität und der Bewußtheit der Parteimasse, systematisdre Heranziehung der Partei-masse nid-it nur zur Erörterung von Fragen, sondern audi zur Leitung der Arbeit. . . Die Parteimasse versteht unter Demokratie die Schaffung von Bedingungen, die eine aktive Teilnahme der Parteimitglieder an der Führung unseres Landes gewährleisten ..." „Gewährleistung der Reparationslieferungen" schließlich heißt: grenzenlose wirtschaftliche Ausbeutung der Besatzungszone, die unmeßbar weit über den Rahmen der geforderten Reparationssumme hinausgeht

Die Gegensätzlichkeit der Begriffsinhalte und Begriffswerte in Ost und West ist zurückzuführen auf die sogenannte „dialektisch-materialistische“ Denkmethode. Sie soll den Eindruck der Folgerichtigkeit und Wissenschaftlichkeit erwecken und dient letzten Endes nur der Begriffsverwirrung. Dieser „Dialektische Materialismus“ ist die geistige Grundlage des Sowjetsystems. Er wird besonders dort intensiv verkündet, wo die Vergleichsmöglichkeiten zwischen der Begriffsbewertung des Ostens und der der freien Welt noch bestehen. In der noch nicht restlos isolierten Sowjetzone Deutschlands ist dies der Fall. So versucht die Sowjet-propaganda in Mitteldeutschland durch ein Übermaß an „dialektischer" und „materialistischer“ Interpretation der Zeitverhältnisse den starken Eindruck der Nähe westlicher Lebensformen abzudämpfen.

Die in Mitteldeutschland praktizierte Sowjetisierungsmethode ist kein Sonderfall. Sie liegt in der grundsätzlichen Zielrichtung der sowjetischen Außenpolitik, die seit Lenins Tagen unbeirrbar die Weltrevolution anstrebt. Weltherrschaft ist das große strategische Ziel des Bolschewismus und als solches unumstößlich. Auf dem Weg zu diesem Endzustand unterscheidet man operative Zwischenziele und zu deren Erreichung taktische Maßnahmen. Die Sowjetisierung Mittel-deutschlands ist ein wesentliches Zwischenziel der bolschewistischen Strategie. Die LIdSSR versucht es mit allen Mitteln, und wenn es sein muß, mit Hilfe großer Umwege zu erreichen; denn die Bolschewisierung Europas kann nur über ein kommunistisches Deutschland erfolgen. Damit kommt der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands für den Kreml höchste politische Bedeutung zu. — Ein unterworfenes Europa wiederum würde die sowjetische Überlegenheit gegenüber der verbleibenden freien Welt in einer Weise begründen, die die endgültige Weltrevolution in sichtbare Nähe rücken könnte. Durch diese Zusammenhänge erhält die Sowjetisierung Mitteldeutschlands zentrale Bedeutung.

Das Sowjetisierungsziel ist die sogenannte „Diktatur des Proletariats“. Die Wirklichkeit zeigt, daß die Sowjets heute unter dieser Forderung nichts weniger verstehen als die Diktatur einer festgefügten Funktionärsherrschaft der Kommunistischen Partei. Die einzelnen Maßnahmen der Sowjets gegen die Bevölkerung ihrer Besatzungszone sind in ihrer Gewaltsamkeit nur zu verstehen, wenn man ihnen die Stalin-sehe These von der Entstehung der „Diktatur des Proletariats“ zugrundelegt. „Die Diktatur des Proletariats entsteht nidit auf der Grundlage der bürgerlidren Zustände, sondern im Verlauf ihrer Zertrümmerung, nadi dem Sturz der Bourgeoisie, im Verlauf der Expropriierung der Gutsbesitzer und Kapitalisten, im Verlauf der Sozialisierung der wichtigsten Produktionsmittel und -instrumente, im Verlauf der gewaltsamen Revolution des Proletariats . . . Die Diktatur des Proletariats kann nicht entstehen als Resultat der friedlidren Entwicklung der bürgerlichen Gesellsdtaft und der bürgerlidien Demokratie, sie kann nur entstehen im Gefolge der Zertrümmerung der bürgerlidien Staatsmaschine, der bürgerlidien Armee, des bürgerlidien Beamtenapparates, der bürgerlidien Polizei . . . Das Gesetz von der Zertrümmerung der bürgerlidien Staatsmasdiine als Vorbedingung dieser Revolution ist ein unumgänglidies Gesetz der revolutionären Bewegung in den imperialistischen Ländern der Welt“

Aus psychologischen Gründen, um den nahen Westen nicht zu schokkieren, haben die sowjetischen Machthaber in Mitteldeutschland diese Methode zwar durchgeführt, ihre Durchführung aber mit allen Mitteln der Propaganda verschleiert.

Mit dem Tage des Einmarsches der Sowjetarmee begann die gewaltsame Umformung des öffentlichen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens in Mitteldeutschland. Sie vollzog sich in der gleichen Systematik wie in den ost-und südosteuropäischen Satellitenländern. Die wichtigste Voraussetzung der Sowjetisierung war die Entmachtung aller jener Bevölkerungsklassen und -kreise, die sich einer sowjetischen Gesellschaftsordnung entgegenstellten oder in Zukunft entgegenstellen konnten. Die Ausschaltung der oppositionellen Bevölkerungskreise erfolgte nach vorher genau festgelegten Etappen. Sie richtete sich nicht zur gleichen Zeit gegen alle Oppositionskreise, sondern sie isolierte die einzelne Gruppe, sie diffamierte sie durch Propaganda, sie terrorisierte sie durch Verwaltungsmaßnahmen, um sie schließlich durch Polizeimaßnahmen auszuschalten.

Die Folge davon war eine laufende, mehr oder minder starke Abwanderung oder Massenflucht nach den westlichen Besatzungszonen, in das spätere Gebiet der Bundesrepublik und nach Westberlin. Drei große Motivgruppen sind dabei festzustellen: Flucht vor der Vernichtung der persönlichen Freiheit, Flucht oder Abwanderung vor der Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz und schließlich Abwanderung aus der Angst, die das sowjetische System in immer stärkerem Ausmaße verbreitet.

Die berufliche und soziale Struktur des Abwandererstromes richtet sich hauptsächlich nach der in Mitteldeutschland bekämpften Bevölke-rungsgruppe. Es gibt somit zeitlich gefährdete Bevölke-rungskreise,, die im Rahmen des Sowjetisierungsprogrammes ausgeschaltet werden sollen. Daneben gibt es Berufsgruppen, politische und weltanschauliche Gemeinschaften, die zu jeder Zeit gefährdet sind und seit 1945 im Abwanderungsstrom aus der SBZ auftreten. — Die Reihenfolge der Sowjetisierungsmaßnahmen weist einige markante Höhepunkte auf, die Massenabwanderungen zur Folge haben.

Die Sowjetisierung Mitteldeutschlands vollzog sich seit 1945 in sieben großen Phasen, die starke Abwanderungsbewegungen auslösten. Obgleich diese Abschnitte in sich geschlossene politische Aktionen sind, überlappen sie sich zeitlich. 1. Die Ausschaltung der maßgebenden Kreise des „Dritten Reiches“

Die sowjetischen Truppen des Marschalls Schukow überschritten am 14. 4. 1945 die Oderlinie und begannen damit ihre letzte Großoffensive mit der Hauptstoßrichtung auf Berlin. Zur gleichen Zeit stieß weiter südlich der rechte Flügel der Heeresgruppe des Marschalls Konjew über Kottbus nach dem Norden vor. Am 20. 4. 1945 erreichten die Sowjettruppen das Vorgelände von Berlin, am 25. 4. trafen sie sich mit der 1. amerikanischen Armee hei Torgau an der Elbe. Die amerikanischen Truppen blieben, entsprechend den Abmachungen von Jalta, an der Zwickauer Mulde und der Elbe nördlich von Torgau stehen.

Zu der bereits im Gang befindlichen Fluchtbewegung der Deutschen aus den Gebieten östlich der Oder und Neiße kam die Fluchtbewegung der vor den Sowjettruppen fliehenden Menschen Mitteldeutschlands hinzu. Viele von ihnen kehrten nach der Kapitulation in ihre Heimat in der SBZ zurück. Die erste Besatzungsgrenze verlief entlang der Linie Zwickauer Mulde — Elbe — Wittenberge — Parchim — Schweriner See — Wismar. Nach der bedingungslosen Kapitulation vom 7. 5. 1945 riß der Strom jener Flüchtlinge nicht ab, die diese Besatzungslinie westwärts überschritten.

Sofort nach dem sowjetischen Einmarsch begannen die Verhaftungsaktionen der sowjetischen Militär-und Geheimpolizei (MWD). die nach von deutschen Kommunisten vorbereiteten Verhaftungslisten durchgeführt wurden und sich hauptsächlich gegen folgende Bevölkerungskreise richteten:

a) Funktionäre der NSDAP und ihrer Organisationen bis herunter zum Ortsgruppen-, Zellen-und Blockleiter.

b) Offiziere und Mannschaften der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS.

Ihre Verhaftung wurde auch nach dem 8. Mai 1945 als „militärische Gefangennahme“ durchgeführt.

c) Angehörige des „Volkssturmes“ und des sogenannten „Werwolf“, soweit sie denunziert worden waren.

d) Personen, bei denen trotz des Verbots Waffenbesitz festgestellt wurde. e) Personen, die sich angeblich an Ausländern (DPs oder alliierten Kriegsgefangenen) vergangen haben sollten.

f) Personen, die sich in irgendeiner Form sowjetischen Anweisungen widersetzten.

g) Personen aller Bevölkerungsgruppen, die von Kommunisten oder Denunzianten bei der sowjetischen Militärpolizei als „besatzungsgefährdend“

angezeigt wurden.

Die Verhaftungsaktionen fanden gewöhnlich nachts oder in den frühen Morgenstunden statt. Oft gelang es Eingeweihten, gefährdete Personen zu warnen, die sich dann durch Flucht der Verhaftung entziehen konnten. Diese sowjetischen Maßnahmen waren dazu angetan, Angst und Schrecken zu verbreiten, um Widerstand im Keime zu ersticken. Der Kreis der Bedrohten ging in dieser Zeit weit über den der „Belasteten“ hinaus, da über den Weg der Denunziation viele persönliche Feindschaften und Rivalitäten zum Austrag kamen. Da der Verhaftete nach sowjetischem Recht weder Einspruchs-noch Verteidigungsmöglichkeiten besaß, vergingen oft Jahre, bevor er zum Schein verurteilt oder entlassen wurde.

Eine nicht mehr feststellbare Zahl der bei dieser Aktion Verhafteten wurde bereits in den sowjetischen Polizeikellern ermordet. In die Konzentrationslager kamen etwa 18 5 000 Menschen. Davon starben, bzw. wurden ermordet 96 000 Häftlinge, 37 000 wurden nach der UdSSR verschleppt (ein hoher Prozentsatz dieser Unglücklichen lebt heute nicht mehr), 37 500 wurden später z. T. schwerkrank entlassen, während 14 500 Opfer der ersten Verhaftungsaktion auch weiterhin zurückgehalten wurden

Wie weit diese sowjetischen Maßnahmen Panik auslösten, zeigt folgendes Beispiel: Am 5. Juni 1945 unterzeichneten die Besatzungsmächte eine Deklaration über die Aufteilung Deutschlands in die vier Besatzungszonen und die Viermächteverwaltung Berlins. Durch ausländische Rundfunkmeldungen wurde die mitteldeutsche Bevölkerung davon unterrichtet. Die bevorstehende Räumung der amerikanisch und britisch besetzten Gebiete Westsachsens, Thüringens und Sachsen-Anhalts löste eine überstürzte Abwanderungswelle in westlicher Richtung aus. Dabei wurden häufig Industrie-und Betriebsanlagen von den Besitzern abgebaut und vorsorglich nach dem Westen in Sicherheit gebracht. Am 3. Juli 1945 wurde Westberlin von den Westalliierten besetzt und damit zum ersten Mal Asylgebiet für die bedrohten Menschen aus der sowjetischen Besatzungszone. Am 28. August 1945 begann eine neue umfangreiche Verhaftungswelle. Auf Befehl der SMAD mußten sich alle Offiziere der ehemaligen deutschen Wehrmacht und Waffen-SS, sowie Mitglieder der NSDAP, SA, SS und Gestapo bis zum 25. 9. 1945 bei den örtlichen Militärkommandanten melden. Bei dieser Registrierung wurden viele Männer und Frauen verhaftet und als „Kriegsgefangene“ oder „Kriegsverbrecher“ nach Sowjetrußland abtransportiert. Als bereits in den ersten Tagen der Aktion eine Fluchtwelle einsetzte, führten die sowjetischen Polizeibehörden regelrechte Menschenjagden durch.

Mit diesen ersten radikalen Besatzungsmaßnahmen der Sowjets waren die maßgebenden Kreise des Hitlersystems völlig entmachtet. Viele Widerstandszentren wurden damit im Keime zerschlagen. Die zweite Etappe begann. 2. Die Ausschaltung der natürlichen Gegner des Sowjetsystems Großgrund-und Industriebesitz bedeuten natürliche Gegnerschaft zum Sowjetsystem. Ihre Entmachtung (wurde psychologisch vorbereitet durch den absichtlichen Terror. Ermordungen, Vergewaltigungen, Verschleppungen und Plünderungen waren an der Tagesordnung und versetzten das Land in lähmenden Schrecken. Dabei kam jene große Unsicherheit über die Menschen, die noch heute in Mitteldeutschland vorherrscht: das Gefühl, daß jeder zu jeder Zeit zum Opfer des Systems werden kann.

Nun galt es, „die Horte des Faschismus und der Reaktion“ zu zerschlagen. Darunter verstand die „Sowjetische Militäradministration Deutschlands“ (SMAD) an erster Stelle den Großgrundbesitz. So begann im September 1945 die entschädigungslose Enteignung aller Güter über 100 ha Größe, „Bodenreform“ genannt. Damit war der erste Schritt zur Kollektivierung der mitteldeutschen Landwirtschaft getan. Diese sollte, wie 25 Jahre vorher die russische, in unrentable, auf die Dauer nicht lebensfähige Kleinbauernstellen zerschlagen werden, um über die „Produktionsgenossenschaften“ schließlich zum Kolchossystem zu führen. Die Großgrundbesitzer, ihre Angehörigen und oft auch ihre Landarbeiter mußten ihren Heimatort verlassen und durften sich nur in entsprechender Entfernung um eine Neuerteilung des Wohnrechts bemühen. Viele von ihnen kamen in die neuerrichteten KZ-Lager, viele wanderten nach dem Westen ab. Außer den Gütern über 100 ha Betriebsfläche wurden — ebenfalls entschädigungslos — alle Güter von „Kriegsverbrechern“ und „Naziaktivisten“ enteignet. Bis zum 1. 1. 1949 erfolgte damit die Aufteilung von insgesamt 11 390 Gütern aus Privatbesitz. Auch bei dieser Aktion war der Kreis der Betroffenen wesentlich größer als der Kreis der faktisch Belasteten.

In ähnlich gewaltsamer Form vollzog sich die durch den SMAD-Sequesterbefehl Nr. 124 vom 30. 10. 1945 angeordnete Enteignung der „Naziaktivisten und Rüstungsfabrikanten“. Alle Schlüsselindustrien wurden sequestriert und teilweise gleichzeitig demontiert. Die ehemaligen Besitzer oder leitenden Persönlichkeiten dieser Betriebe teilten das Los der Großgrundbesitzer und mußten zum größten Teil die Sowjetzone verlassen, um weiteren Repressalien zu entgehen.

In dieser 2. Sowjetisierungsperiode wurde zum ersten Mal deutlich, daß weite Kreise des deutschen Volkes diese radikalen Besatzungsmaßnahmen als nicht rechtsgültig ansahen und innerlich als terroristische Gewaltakte ablehnten. Die Sprecher dieser latenten Ablehnung befanden sich in den neugegründeten demokratischen Parteien der SPD (15. 6. 1945), CDU (26. 6. 1945) und LDP (5. 7. 1945). Die KPD (11. 6. 1945) dagegen hieß diese Maßnahmen nicht nur gut, sondern unterstützte sie auch mit allen Kräften, was ihr beim Volke entscheidenden Abbruch tat. Damit ergab sich aus den Maßnahmen der 2. Sowjetisierungsperiode, der Ausschaltung sogenannter „natürlicher" Gegner des Sowjetsystems, zwangsläufig die dritte Phase. 3. Gleichschaltung der nichtkommunistischen Parteien Schon am 2 3. Dezember 194 5 nahmen die CDU-Politiker Dr. Hermes, Dr. Schreiber und Prof. Dovifat in scharfer Form gegen die entschädigungslose Enteignung des Großgrundbesitzes Stellung. Auf Anordnung der SMAD mußten sie ihre Parteiämter niederlegen. Die CDU blieb damals in ihrem antikommunistischen Bestand noch unangetastet, da Jakob Kaiser und Ernst Lemmer als Vorsitzende das Vertrauen der Mitgliederschaft besaßen.

Am 20. Dezember 1945 fand in Berlin eine gemeinsame Konferenz der Parteifunktionäre der KPD und SPD statt, „um die Möglichkeit einer Vertiefung der Aktionseinheit der Arbeiterklasse zu prüfen“. An der ablehnenden Haltung der SPD scheiterte die Absicht der Kommunisten, eine Parteienvereinigung auf freiwilliger Basis zu erreichen. Die Folge davon war eine aktive Einheitskampagne der Kommunisten. Die sowjetischen Behörden unterstützten diese, indem sie direkten und indirekten Druck auf führende Sozialdemokraten ausübten. Damit begann die Flucht der bedrohten SPD-Mitglieder nach dem Westen. Sie erreichte ihren ersten Höhepunkt mit der Tagung des Zentralausschusses der SPD vom 10. 2. 1946, auf der Gustav Dahrendorf den „Vereinigungsterror" scharf ablehnte und als Konsequenz die Auflösung der Sozialdemokratischen Partei in der SBZ forderte.

Die Gründe der sowjetisch inspirierten Einheitskampagne der KPD sind verschiedener Art: Die sozialdemokratische Auffassung vom Freiheitsbegriff und das Bekenntnis der SPD zur parlamentarischen Demokratie galt den Kommunisten als „verräterische Abweichung" und wurde ihnen besonders gefährlich durch die Tatsache, daß sich an erster Stelle Arbeiterkreise zur SPD bekannten. In der SBZ hatte sich darum schon in den ersten Monaten nach der Parteigründung ein starker Zulauf zur SPD gezeigt, der den Sowjets die Wahlaussichten der KPD im trüben Licht erscheinen ließ, zumal sich die Kommunisten mit den sowjetischen Maßnahmen der Bodenreform, der Industrieenteignung und der Verhaftungswellen identifizierten.

Die Situation spitzte sich noch erheblich zu, als am 31. 3. 1946 die Berliner SPD in einer Urabstimmung mit einer Mehrheit von 82, 21 °/o sich gegen die Vereinigung mit der KPD aussprach. Die Berliner Landesleitung trennte sich daraufhin von dem kommunistisch beeinflußten SPD-Zentralausschuß der Sowjetzone und stärkte den Widerstand leistenden mitteldeutschen Sozialdemokraten den Rücken.

Die Sowjets waren nach dieser politischen Niederlage der KPD gewillt, die „Vereinigung“ schnellstens zu erzwingen. Am 20. 4. 1946 gelang ihnen dies mit Hilfe Otto Grotewohls und anderer führender Sozialdemokraten. Trotz, genauer Auswahl der Delegierten des „Vereinigungsparteitags“ stimmten von den 1 030 Teilnehmern 21 gegen die Vereinigung. 4 enthielten sich der Stimme.Die Motive der in der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ (SED) aufgegangenen Sozialdemokraten unterschieden sich teilweise sehr stark voneinander. Ein Teil hatte den alten demokratischen Grundsätzen abgeschworen und in opportunistischer Haltung die Sowjetpolitik unterstützt. Ein anderer Teil hegte die Hoffnung, innerhalb einer vereinigten Arbeiterpartei demokratische Prinzipien durchsetzen zu können, andere Sozialdemokraten gingen in den aktiven Widerstand und tarnten sich dabei als linientreue SED-Mitglieder. Kaum ein halbes Jahr nach der Vereinigung der beiden Parteien begann der Kampf gegen die — nach paritätischem Modus — eingesetzten ehemaligen SPD-Funktionäre. Als „Partei neuen Typus" wurde schließlich die SED zur stalinistischen Kaderpartei und der „Sozialdemokratismus“ zum strafwürdigen Verbrechen. Es lag in der Natur dieser Entwicklung, daß die antikommunistischen Sozialdemokraten scharf verfolgt wurden. Kurze Zeit später, bei den einsetzenden Parteisäuberungen, fielen auch die opportunistischen Einheitsbefürworter aus den Reihen der früheren SPD den sowjetischen Maßnahmen zum Opfer. Sie hatten ihren politischen Zweck erfüllt und konnten durch die neuheranwachsende Generation linientreuer Kommunisten ersetzt werden.

Die beiden nichtmarxistischen Parteien CDLI und LDP hatten bei den Wahlen des Jahres 1946 trotz starker Behinderung durch die Sowjets einen hohen Stimmenanteil erhalten, der der Vormachtstellung der SED schaden mußte. Daraus ergab sich für die Sowjets die Notwendigkeit, die beiden Parteien auf die prokommunistische Linie zu bringen. Sowjetoberst Tulpanow, mit dieser Aufgabe betraut, inszenierte die sogenannte „Volkskongreßpolitik“, mit deren Hilfe er eine nichtkommunistische Oppositionsbildung verhindern wollte. Der „Volkskongreß“ sollte als eine Art Vorparlament „gesamtdeutsche Interessen“ vertreten. Lim die Übermacht des kommunistischen Flügels zu gewährleisten, wurden auch die „Massenorganisationen" in dieses Vorparlament hineindelegiert. Bei diesen (FDGB, DFD usw.) lagen die Schlüsselfunktionen in Händen linientreuer SED-Mitglieder. Gegen diese Unterwanderungsmethoden, die auf eine Verhinderung echter legislativer Arbeit hinausliefen, stemmte sich seit September 1947 der Kreis um den CDU-Vorsitzenden Jakob Kaiser. Im Namen der Christlich-Demokratischen Union gab Kaiser zusätzlich am 21. November 1947 die Erklärung ab, daß die Oder/Neisse-Linie von der CDLI niemals anerkannt werden könne. Daraufhin erfolgte am 20. Dezember 1947 die Absetzung Kaisers und Lemmers durch die SMAD und ein Redeverbot für das Gebiet der SBZ am 5. Januar 1948. Damit war die Stunde gekommen, in der Otto Nuschke, der auf sowjetischen Befehl dem neuen Parteivorstand angehörte, die Gleichschaltung der CDU-Leitung vollziehen konnte.

Durch diese Ereignisse griff die kritische Diskussion über die sowjetischen Maßnahmen und die Oder/Neisse-Linie weit über den Kreis der CDLI hinaus und wuchs so an, daß sich die Sowjets veranlaßt glaubten, mit scharfen Polizeimaßnahmen dagegen vorgehen zu müssen. Die Folge war ein neues Anschwellen der Abwanderungsbewegung nach dem Westen. In dieser Zeit verloren die CDU und auch die LDP einen großen Teil ihrer aktiven Führungskräfte.

Die GL'hstellung der Liberaldemokraten verlief nicht ganz so dramatisch, da nach dem Tode des 1. Vorsitzenden Dr. Külz (April 1948) und der Flucht seines Nachfolgers Arthur Lieutenant die Leitung der Partei in die Hände des korrupten Prof. Kastner fiel, der — unterstützt durch die beiden Parteirivalen Dr. Loch und Dr. Hamann der Gleichschaltung der Partei keinen nennenswerten Widerstand entgegensetzte.

Die Gründung zweier angeblich nichtkommunistischer Parteien, der „Nationaldemokratischern Partei" (NDP) und der „Demokratischen Bauernpartei Deutschlands" (DBD) am 16. Juni 1948 war nur eine politische Zweckmaßnahme, die den beiden nichtmarxistischen Parteien Stimmenverluste bringen sollte. Die Abwanderungsbewegung politisch Bedrohter betraf nach wie vor an erster Stelle christliche und liberale Demokraten sowie frühere Sozialdemokraten. 4. Sowjetisierung von Verwaltung und Gesamtwirtschaft Mit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Mitteldeutschland begann die Militärverwaltung. Sie hatte unbegrenzte Weisungsbefugnis. Da die sowjetischen Behörden nicht ohne deutsche Hilfe auskommen konnten, bauten sie die „Deutsche Wirtschaftskommission (DWK) auf. Diese gesamtzonale Verwaltung faßte seit Herbst 1947 die ab 27. Juli 1945 allmählich aufgebauten Deutschen Zentralverwaltungen (Fachverwaltungen) der SBZ zusammen. Die Schlüsselstellungen in der DWK lagen fest in kommunistischen Händen, die nur sowjetische Anweisungen auszuführen hatten.

Die Zustände, besonders in den unteren Verwaltungseinheiten, waren teilweise katastrophal. Protektions-und Korruptionswirtschaft sabo-tierten das ehrliche Bemühen alter Verwaltungsfachleute. — Wo das bessere Argument den Inspirationen der neuen Herrn widersprach, sorgten Denunzianten und Verhaftung für ungehinderten „Fortschritt“. Hinzu kam, daß die durchgeführten und die noch geplanten Sowjetisierungsmaßnahmen eine willfährige Verwaltungsbürokratie verlangten. Darum erstrebten die Sowjets eine Verwaltungsreform, die sie 1952 durchführten und „Demokratisierung der Verwaltung“ nannten. „Das Wesentliche im staatlichen Aufbau der sowjetischen Besatzungszone besteht darin, daß im Unterschied zu den bisher in Deutschland herrschenden Systemen alleinige Inhaber der gesamten ungeteilten Staatsmacht die Arbeiterklasse, die werktätigen Schichten der Bauern, der Intellektuellen und der Mittelständler sind. Als alleiniger Souverän übt das werktätige Volk nicht nur die Legislative aus, sondern kontrolliert in vielgestaltiger Weise, vermittels Parlament, Kontrollausschüssen, Kontrollkommissionen usw., die Durchführung der Gesetze .... Die Verwaltung arbeitet mit den Massenorganisationen und den antifaschistisch-demokratischen Parteien zusammen. Die Schlüsselstellungen in der öffentlichen Verwaltung sind von Vertretern der Arbeiterklasse und der übrigen werktätigen Bevölkerung besetzt. In steigendem Maße nehmen ihre Organisationen auch auf die personelle Zusammensetzung der Verwaltung Einfluß und tragen für ihre Demokratisierung Sorge. Wir können bereits feststellen, daß unsere öffentliche Verwaltung weitgehend Selbstverwaltung geworden ist, wenn man unter Selbstverwaltung das Prinzip des Zusammenwirkens von Kontrolle der werktätigen Schichten über die Verwaltung und von Teilnahme dieser Schichten an ihr versteht.“

Die vorstehenden Ausführungen erhielten 1949 programmatischen Charakter dadurch, daß sie von dem führenden Verwaltungsfachmann der sowjetzonalen Behörden, Dr. Leo Zuckermann, dem späteren Kanzleichef Wilhelm Piecks, gemacht wurden. Sie sind gekennzeichnet durch weite Dehnbarkeit der Auslegung und Verschleierung der angestrebten Gewaltanwendung durch sprachlich-formale Mittel. Wesentlich deutlicher als Dr. Zuckermann wurde die sowjetzonale Staatspartei, als sie den Auftakt zur sogenannten „Verwaltungsreform“ gab: „Unbedingt muß das leninistische Prinzip durchgesetzt werden, daß alle in der öffentlichen Verwaltung tätigen Parteimitglieder der Disziplin der Partei unterstehen und verpflichtet sind, diszipliniert die Beschlüsse der Partei durchzuführen. Unbedingt haben alle in der Verwaltung tätigen Parteimitglieder die Pflicht, in der Parteiorganisation mitzuarbeiten und sich am Parteischulungssystem zu beteilige.“

Die Folge dieser Zielsetzung war ein erneuter Druck auf alle nichtkommunistischen Verwaltungsangestellten, sich der SED anzuschließen, bzw. auf dem Umweg über eine SED-gesteuerte „Massenorganisation“

sich der gewünschten Disziplin zu unterwerfen. Durch diese Maßnahmen entstand eine neue Gesellschaftskaste in dem durch die „Planwirtschaft“ aufgeblähten Verwaltungsapparat. Sie ist für das Sowjetsystem typisch und umschließt die sogenannten „Verwaltungsfunktionäre“. Die bei dieser Entwicklung störenden Elemente wurden auf allen möglichen Wegen ausgeschaltet. Man verdächtigte sie strafbarer Handlungen, klagte sie der Spionage und Sabotage an, diffamierte sie öffentlich oder verhaftete sie stillschweigend bei Nacht und Nebel, je nachdem, wie es der gegebenen Lage am besten entsprach. Damit erreichte die Abwanderung von Verwaltungsangestellten einen Höhepunkt. Gleichzeitig mit der Sowjetisierung der Verwaltung lief die Entmachtung jener Privatunternehmer, die bislang noch nicht enteignet worden waren. Mit der Einführung der HO-Geschäfte Ende 1948, die durch staatlich festgesetzte Schwarzhandelspreise die überschüssige Kaufkraft abschöpfen sollten, ergab sich die erwünschte Gelegenheit, eine große Anzahl von Privatunternehmern und Einzelhändlern zu enteignen. Man beschuldigte sie, „schwarze Geschäfte“ getätigt zu haben, man auf-erlegte ihnen übermäßig hohe Geldstrafen oder Steuernachzahlungen, die sie nicht bezahlen und gegen die sie sich nicht wehren konnten. Man teilte ihnen keine Waren zu, kurzum, es gab Hunderte von Wegen, einen Privatunternehmer so in die Enge zu treiben, daß er offen opponierte oder nach dem Westen abwanderte. In beiden Fällen war das Ziel erreicht: das Geschäft konnte sozialisiert werden.

Die Enteignungen, die Zusammenfassungen der sogenannten „Volkseigenen Betriebe“, die Wirtschaftspläne und Verwaltungsreformen:

kurzum die Sowjetisierung der Gesamtwirtschaft hatte zur Folge, daß der allmächtige SED-Staat zum Monumentalunternehmer wurde und alle „kapitalistischen Zwischenverdiener“ ausschaltete. Dadurch konnte sich die Preispolitik restlos den Bedürfnissen des Staates anpassen, der von seiner Monopolstellung auch rücksichtslosen Gebrauch machte und neben den hohen Reparationssummen, den Wiederaufbaumitteln und dem Sozialetat auch die ungeheuren Mittel für Propaganda, Verwaltung und Aufrüstung aus dem — sowieso schon schmalen — Verbraucheretat der arbeitenden Bevölkerung bestritt. 5. Isolation und Aufrüstung der SBZ Wenn die Liquidierung der politisch maßgeblichen Personenkreise aus der NS-Zeit, die Gleichschaltung der Parteien, die Entmachtung des Großgrund-und Industriebesitzes und die Sowjetisierung von Verwaltung und Gesamtwirtschaft noch Voraussetzungen des Weges zur „Volksdemokratie“ waren, so waren die Isolation der Zone und die Aufrüstung der Volkspolizei-Armee schon entscheidende Schritte zur Eingliederung in das sowjetische Satellitensystem.

Die erste Isolation der Zone sollte eine starke Abwanderung nach dem Westen verhindern. Die Sowjets sperrten sofort nach der Kapitulation die Zonengrenze. Erst die Kontrollratsdirektiven Nr. 43 (29. 10. 1946) und 47 (23. 4. 1947) brachten Erleichterungen durch Einführung des Interzonenpasses und durch Ausdehnung des Grenzverkehrs auch für dringende geschäftliche Reisen und Familienanlässe. Vom April 1948 an verschärfte sich erneut die Absperrung der SBZ nach dem Westen, die mit der Währungsreform und der Berliner Blockade im Juni 1948 ihren damaligen Höhepunkt erreichte. Die Ausgabe von Interzonenpässen und der illegale Grenzübertritt wurden erschwert. Die SBZ-Bevölkerung befürchtete, daß der „Eiserne Vorhang“ völlig niedergehen würde. Die immer stärkere Auseinanderentwicklung zwischen Ost und West nach der Währungsreform und der Aufhebung der Bewirtschaftung im Westen brachte es mit sich, daß in der SBZ die Stimmung gegen das SED-System wuchs. So begann der kommunistische Staat, die gefährliche Nähe des freien Westens und die damit gegebenen Vergleichsmöglichkeiten durch stärkere Isolierung abzuschwächen. Am 26. Mai 1952 erfolgte die restlose Absperrung der westlichen Zonengrenzen und die Evakuierung der politisch unzuverlässigen Grenzbevölkerung. Die Folge davon war eine anwachsende Fluchtbewegung nunmehr nach Westberlin. Es flohen die bedrohten Grenzbewohner und auch jene an sich Unbetroffenen, die der Angstpsychose zum Opfer fielen, auch der letzte Ausweg nach Berlin würde jetzt geschlossen. Mit der Isolation der Zone vollzog sich eine weitere Angleichung an die „Volksdemokratien“. In der gleichen Form wie die äußerliche Abschnürung von der freien Welt vollzog sich die geistige Isolierung. Hochschulen und kulturelle Institutionen wurden sowjetisiert. Der Kampf gegen den „Objektivismus“, unter dem man jede von der Parteilinie abweichende Meinung verstand, begann. Die Abwanderung aus Gewissensgründen und wegen geistiger Unterdrückung erhielt in dieser Zeit besonderen Auftrieb.

Mit der Isolierung der Zone begann ihre Aufrüstung, die sich von vornherein aggressiv gegen den Westen richtete. Etwa mit der Berliner Blockade setzte der Aufbau einer militärischen Volkspolizei ein, die mit Polizeiaufgaben im ursprünglichen Sinne nichts mehr zu tun hatte. Die Kommandostellen dieser „Polizei“ lagen fest in den Händen linientreuer Kommunisten und wurden laufend durch sowjetische Spezial-offiziere kontrolliert. Die innere Ausrichtung der Volkspolizisten erfolgte im Hinblick darauf, daß sie eines Tages im Rahmen der Sowjetarmee als deutsche Söldner kämpfen sollten. Intensive kommunistische Schulungen und laufende Säuberungen sorgten dafür, daß die geringen Fluchtmöglichkeiten nach dem Westen von den oppositionellen Volks-polizisten immer mehr ausgenutzt wurden. Gleichzeitig begann mit der zahlenmäßigen Erweiterung der Volkspolizei in der SBZ eine Werbekampagne, die für die VP geeignete Männer und oft auch Frauen unter starken Druck setzte und sie damit zur Abwanderung nach dem Westen zwang. 6. „Aufbau des Sozialismus“

Die bisher typischste Sowjetisierungsmaßnahme begann am 9. Juli 1952, als Walter Ulbricht auf der II. Parteikonferenz der SED in einer siebenstündigen Rede den Übergang zum „planmäßigen Aufbau des Sozialismus" verkündete. Ihre Maßnahmen führten zum Volksaufstand und wurden durch den sogenannten „Neuen Kurs" (ab 9. Juni 195 3) später teilweise wieder revidiert bzw. abgedämpft.

In keiner anderen Zeit seit 1945 zeigte sich die Rückwirkung politischer Maßnahmen auf die Abwanderungsbewegung deutlicher als in der Periode des „Aufbaus des Sozialismus".

Im Juli 19 52 leitete der Stellvertretende Ministerpräsident der „DDR“, Walter Ulbricht, die Kollektivierung der sowjetzonalen Landwirtschaft eir. Dies wirkte sich stark auf die Fluchtbewegung der Bauern und Landarbeiter aus. Neben dem „Klassenkampf auf dem Lande" richteten sich die Maßnahmen der SED besonders scharf gegen die kleinen Geschäftsbesitzer und Gewerbetreibenden, denen im April 195 3 sogar vorübergehend die Lebensmittelkarten entzogen wurden. Das Ausmaß der Enteignungen erreichte einen neuen Höhepunkt, und viele Bedrohte konnten ihre Freiheit nur noch durch die Flucht nach dem Westen retten.

Parallel dazu liefen Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Evangelische Kirche und ihre „Junge Gemeinde“, die „Zionisten“ und andere „klassenfeindlichen Bevölkerungsgruppen" (u. a. Bibelforscher). Dies alles trug entscheidend zur Auslösung jener Massenflucht bei, die im März 1953 ihren Höhepunkt erreichte und erst kurz vor dem 17. Juni 1953 endete. Die wirtschaftlichen und psychologischen Rückwirkungen auf die SBZ waren verheerend und führten zur Proklamation des „Neuen Kurses“, der eine zeitbegrenzte taktische Maßnahme im Sinne der „Neuen Ökonomischen Politik" (NÖP) der zwanziger Jahre in der UdSSR war. Von einer Liquidation des „Aufbaus des Sozialismus“ durch den „Neuen Kurs“ kann man nicht sprechen, da die wesentlichen Grundzüge der sowjetzonalen Politik nach wie vor auf die völlige Angleichung an die „Volksdemokratien“ hinzielen.

Das radikale Jahr (Mai 1952 bis Juni 1953) der „sozialistischen“ Aufbaupolitik löste eine bisher noch nicht dagewesene Massenflucht nach dem Westen aus (siehe Tabelle).

Die berufsmäßige Aufgliederung des nach Westberlin in dieser Zeit geflossenen Flüchtlingsstromes zeigt ein getreues Abbild der scharfen Sowjetisierungsmaßnahmen. Während 1952 nur 7, 1 % der Flüchtlinge landwirtschaftlichen Berufen angehörten, erhöhte sich im ersten Halbjahr 1953 dieser Anteil um das Doppelte auf 14, 9 %. Das war eine klare Folge der seit dem 19. 12. 1952 begonnenen Zwangskollektivierung der belasteten Einzelbauern. Nach den Erleichterungen des „Neuen Kurses“ ging im Juli 1953 der Anteil der Bauern und Landarbeiter auf 5, 4 °/o zurück.

Die Angehörigen der Industrie und des Handwerks waren 1952 mit 17, 8 % am Flüchtlingsstrom beteiligt. Im ersten Halbjahr 1953 sank dieser Anteil auf 12, 8 %. Dies ist zurückzuführen auf das starke Anwachsen des Gesamtflüchtlingsstromes. Nach dem Juni-Aufstand schnellte jedoch der Prozentsatz der geflohenen Arbeiter und Handwerker auf 23, 7 % hoch.

Der Abwanderungsanteil der Handels-und Verkehrsberufe sank von 14, 6% (1952) auf 11, 4% im ersten Halbjahr 195 3 und noch weiter auf 9, 2% im Juli und 8, 8% im August 1953. Das anteilmäßige Sinken dieser Berufsgruppen ist an erster Stelle auf das starke Anwachsen der absoluten Abwanderungszahl zurückzuführen.

Im Rahmen dieser Massenabwanderungsbewegung erhöhte sich im März 1953 der Anteil der Frauen und Kinder auf etwa 37 %, wobei es sich zum großen Teil um Angehörige in die Bundesrepublik geflohener oder abgewanderter Männer handelte. — Auch das Abklingen der Angstpsychose in der SBZ wirkte sich im April 1953 auf die Abwanderungsbewegung aus. Durch den Entzug der Lebensmittelkarten stieg jedoch in der gleichen Zeit der Anteil der Selbständigen und der Rentenempfänger erheblich an. Der Prozentsatz der Rentner stieg von 1, 7% (1952) auf 3, 2% in der ersten Hälfte des Jahres 1953, um im Juli wieder auf 2, 8 % zu sinken. Besonders bemerkenswert ist für diese Zeit der Anteil der Jugendlichen innerhalb des nach Westberlin fließenden Flüchtlingsstromes. Er betrug im einzelnen: 1952 April 1 817 Mai 2 151 (neues Jugendgerichtsgesetz, Zonengrenzsperrung) luni 3 142 (Evakuierung a. d. Zonengrenze, Forderung nach einer Nationalarmee)

Tuli 2 771 (Aufstellung der 4 Heeresgruppen der VP)

August 3 608 (Auswirkung der Werbung für die VP und den Arbeitsdienst ODD)

September 5 005 (Höhepunkt der Werbekampagne)

Oktober 4 279 (Werbekampagne klingt langsam ab, Versorgungsschwierigkeiten) November 3 221 (s. Oktober)

Dezember 2 373 (s. Oktober, Flucht der Landjugend) 1953 Januar 3 950 (Ansteigen des politischen Druckes und der Kollektivierung) Februar 4 635 (Ansteigen der Fluchtwelle reißt Jugendliche mit) März 8 328 (s. Februar, Maßnahmen gegen Junge Gemeinde und Oberschüler beginnen)

April 6 414 (Angstpsychose klingt ab, scharfe Verfolgung der Jungen Gemeinde, erneute Werbung für die VP)

Mai 5 818 (Angstpsychose klingt weiter ab, Werbung für VP hält Fluchtziffer noch immer hoch)

Juni 7 749 (Beteiligung am Juni-Aufstand)

Juli 3 834 (Auswirkung des „Neuen Kurses“)

Die Zeit des „Aufbaus des Sozialismus“ ist das klassische Beispiel für die Tatsache, daß die Abwanderung aus der Sowjetzone keine willkürliche Bevölkerungsbewegung ist, sondern aus den Einzelmaßnahmen der Sowjetisierungspolitik resultiert und häufig selbst auf periphere Ereignisse seismographenartig reagiert. 7. Der „Neue Kurs“

Am 9. Juni 1953 beschloß das Politbüro der SED Maßnahmen zur „entschiedenen Verbesserung der Lebenshaltung aller Teile der Bevölkerung und der Stärkung der Rechtssicherheit in der DDR“. Dieser „selbstkritische“ Beschluß ist das indirekte Eingeständnis einer gescheiterten Einparteienpolitik. Man geht kaum fehl in der Annahme, daß dieser Beschluß auf Anweisung der sowjetischen Besatzungsmacht erfolgte, um die SBZ vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch zu bewahren und gleichzeitig dem Westen eine Kursänderung der Sowjetpolitik vorzutäuschen. Der „Neue Kurs“ sah vor, „begangene Fehler zu korrigieren“ » Privatbetriebe wieder zu kreditieren und von Steuerrückständen zu befreien, Enteignungen zu widerrufen, die Rückkehr von Flüchtlingen zu ermöglichen, den Interzonenverkehr zu erleichtern und eine Amnestie zu erlassen.

Für die durch den „Aufbau des Sozialismus“ geschaffene Überdrucksituation war es charakteristisch, daß der Juni-Aufstand nach dem Beschluß des „Neuen Kurses“ ausbrach. Das Sowjetsystem in Mitteldeutsch-land hielt eine leichte Entspannung für notwendig. Die Maßnahmen des radikalen Ulbrichtflügels hatten durch das Bemühen um schnellstmögliche Vollendung der Sowjetisierung und Ausschaltung der innerparteilichen Opposition einen Überdruck erzeugt, der sich bislang nur schwach in schwelender Unruhe und im Flüchtlingsstrom entladen konnte. Mit der Proklamation des „Neuen Kurses“ sollte ein Ventil gefunden werden, diesen Überdruck abzulassen. Dabei zeigte sich die falsche Einschätzung der realen Gegenkräfte durch das System: Der Unwille des Volkes ließ sich nicht „planmäßig“ abdämpfen, sondern führte zum Aufstand. Das Sowjetsystem wurde gezwungen, vor den Augen der Welt seine Panzer gegen die Arbeiter auffahren zu lassen.

Auf die Abwanderungsbewegung wirkte sich der „Neue Kurs“ im erheblichen Maße aus. Selbstredend wurden die Teilnehmer am Juni-Aufstand verfolgt und inhaftiert. Eine neue Welle der Denunziationen und Verhaftungen setzte ein. Am 26. Juli 1953 begann die Großsäuberung in der SED, die durch einen Schlag gegen den Staatssicherheitsminister Wilhelm Zaisser und Rudolf Herrnstadt, zwei einflußreichen Gegenspielern Ulbrichts, eingeleitet wurde.

Am 1. 8. 1953 stellte die SBZ den Fahrkartenverkauf nach Westberlin ein, um die Bevölkerung zu hindern, sich Lebensmittel-Spendenpakete in Westberlin abzuholen. Am 5. 8. verschärfte sich diese Maßnahme noch durch die Drohung, Paketabholer als „Provokateure“ dem „Staatssicherheitsdienst“ (SSD) zu übergeben. Viele der Betroffenen verloren dadurch ihre Stellung, einige wurden von sowjetzonalen Gerichten abgeurteilt.

Auf der 16. Tagung des ZK der SED kündigte Walter Ulbricht erneut eine Erhöhung der Arbeitsnormen an. Angesichts der Tatsache, daß der Protest der Arbeiter gegen die geplante Erhöhung der Arbeitsnormen zum 17. Juni geführt hatte und die Proklamierung des „Neuen Kurses“ erzwang, bedeutete dieser Beschluß die Rückkehr zu den alten Methoden. Er zeigt die Beibehaltung sowohl der strategischen Linie der Sowjetisierung als auch des taktischen Charakters der Erleichterungen des „Neuen Kurses“.

Für die Abwanderungsbewegung bedeutungsvoll waren die Erleichterungen im Interzonenverkehr, die von der „DDR" -Regierung am 21. 11. 195 3 eingeführt wurden, nachdem die Bundesregierung am 1 5. 1 1. 195 3 den Interzonenpaßzwang aufgehoben hatte. Damit wurde cs vielen bedrohten Bewohnern der SBZ möglich, mit verringertem Risiko die Zonengrenze zu überschreiten und in der Bundesrepublik um die Notaufnahme nachzusuchen. — Seit dieser Zeit fließt der Abwanderungsstrom ohne Unterbrechung, aber auch ohne besondere Höhepunkte über die Zonengrenzen in den freien Westen, wobei in den Monaten März, April und Mai 195 5 ein sichtbares Ansteigen der Flüchtlingsziffer zu verzeichnen ist. — Für das Jahr 1954 ergibt sich folgende Bilanz:

Neben dem hohen Anteil der Erwerbspersonen an der Abwanderung stehen folgende Anteile anderer Gruppen:

Erwerbspersonen 60, 6 °/o Pensions-und Rentenempfänger 5, 0 % Hausfrauen ohne Berufe 12, 3 % Kinder und Schüler 21, 6 % Studenten 0, 5 °/o 81, 4 % der Abgewanderten wurden durch das Notaufnahmeverfahren als Sowjetzonenflüchtlinge anerkannt.

Die vorwiegenden Fluchtgründe für diese Zeitspanne des „Neuen Kurses“ waren:

a) Unzufriedenheit mit dem politischen System (Gewissensnot)

b) Drangsalierungen und Verfolgungen c) soziale und wirtschaftliche Not d) im geringeren Ausmaß: familiäre Gründe Auffallend hoch ist die Zahl der durch die „Bodenreform“ seßhaft gemachten „Neusiedler“ aus Ostpreußen und der im SBZ-Bergbau eingesetzten Heimatvertriebenen aus Schlesien. Die kommunistische „Jugendweihe“ veranlaßte außerdem viele unter Druck gesetzte Eltern, mit ihren Kindern abzuwandern. Das Hauptargument der jugendlichen Flüchtlinge und Abwanderer aber war die Werbung zur Kasernierten Volkspolizei und die Befürchtung, nach der Ratifizierung der Pariser Verträge zum Wehrdienst eingezogen zu werden.

Ob und wieweit der Moskauer Regierungswechsel von 195 5 und die Rückkehr zum Kurs des Rüstungsprimats (gegenüber dem Konsumgüterprimat) sich auf die Abwanderung aus Mitteldeutschland auswirken wird, ist jetzt noch nicht zu übersehen, wird aber abhängen von den neuen Zwangsmaßnahmen, die man sowjetischerseits zur Durchführung des Chrustschcw-Programms für erforderlich hält.

Wichtig ist, die stets’ planvolle Konsequenz der Sowjetisierungsmaßnahmen in Mitteldeutschland zu erkennen. Es gibt für die Sowjets keinen „deutschen Weg zum Kommunismus“, sondern nur das in aller Welt gültige Unterwerfungsschema. Die Menschen, die dieser Entwicklung ausgesetzt sind, sind völlig wehrlos. Der allmächtige Staat gibt ihnen keine Rechte, sondern nur Pflichten. Sie sind für ihn keine freien Individuen, sondern nur statistische Größen, mit denen man planen und rechnen muß. Ihre Existenzberechtigung richtet sich an erster Stelle nach ihrem Wert für das System. Die seit 194 5 anhaltende Massenabwanderung nach dem freien Westen ist der stumme Protest gegen die Auslieferung Mitteldeutschlands an die Sowjets. Sowjetisierung und Zonenabwanderung sind darum keine parallel laufenden Ereignisse, sondern stehen zueinander im Verhältnis von Ursache und Auswirk u n g.

Der Einzelmensch im Sowjetsystem

Abbildung 2

Eine Untersuchung der Stellung des Einzelmenschen im Sowjetsystem kommt nicht um die Tatsache herum, daß das Ideal der sowjetischen Gesellschaft dem Kollektiv größere Bedeutung als dem Individuum zuerkennt. Der Einzelmensch gilt nicht etwa als organischer, prägender Bestandteil des Kollektivs, sondern nur als ein „Teil“, ein entbehrlicher, an erster Stelle quantitativ wertvoller Teil. Das Kollektiv bestimmt die Arbeits-und Lebensform, es bestimmt die Denkinhalte und soll der einzige Zweck des Menschenlebens sein. Der bewußt lebende Mensch wehrt sich gegen das Kollektiv. Er hat seine eigenen Wünsche, Gedanken und Bedürfnisse, die er nicht mit dem Kollektiv teilen möchte. Daraus entsteht der für den sowjetischen Machtbereich typische Gewissenskonflikt bewußt lebender Menschen.

Die Vielzahl der Kollektive wird zusammengefaßt und gelenkt — nicht von der politischen Willensentscheidung des wählenden Volkes — sondern vom allmächtigen Plan. Der Plan soll die gegenseitigen Wechselwirkungen der Kollektive zum sinnvollen Ganzen vereinigen. Er wird entworfen und durchdacht von der obersten Zentrale des Systems: der Führung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Jeder noch so geringfügige „Plan“ muß sich diesem Zentralplan unterordnen und darf ihm nicht widersprechen. Damit ist das Leben des Einzelmenschen, das nach unserer Auffassung neben den Pflichten auch heilige, unveräußerliche Menschenrechte besitzt, eingezwängt in das seelen-und willenlose Kollektiv, das wiederum nur ein Bruchteil der „Gesellschaft“ ist, die sich dem allmächtigen Plan unterzuordnen hat.

Wer sich dieser Ordnung nicht unterwirft, kommt mit der Polizeigewalt des Systems in Konflikt, deren Aufgabe es ist, die Widerspenstigen zu liquidieren und soviel Angst zu verbreiten, daß die Neigung zum Widerspruch erstirbt. Es gibt also Sünden wider das Kollektiv, wider die Gesellschaft und wider den Plan. Diese Sünden haben einen für uns unverständlichen Charakter. Sie sind harmloser und nebensächlicher Natur, was die Sowjets nicht hindert, sie wie schwere Vergehen zu ahnden und als „gesellschaftsfeindlich“ auszudeuten.

Nach Auffassung des Kommunismus hat der Einzelmensch in der „Gesellschaft“ restlos aufzugehen, obgleich er als Einzelmensch kritisch bewertet wird, wenn es darum geht, seine Nutzbarkeit für das System zu beurteilen. Der Einzelmensch wird beobachtet, beurteilt, und er wird — was wichtig ist — seiner Herkunft und seinem Verhalten nach klassifiziert.

Der Kommunismus erstrebt die sogenannte „Diktatur der Arbeiterklasse“. Die anderen Klassen sollen an der Durchführung der Diktatur nicht beteiligt werden. Durch eine „gesellschaftlich belastende Herkunft“ kann man zum „Klassenfeind“ werden und ist damit mehr oder minder stark, zujederZeit gefährdet. Es entspricht dem Gesetz der Selbsterhaltung, daß Diktatur nicht ohne Widerstand hingenommen wird. Aus religiösen, weltanschaulichen, ökonomischen oder prinzipiellen Gründen wehren sich die „klassenfremden“ Elemente. Ist der „Klassenfeind“ der Diktatur des Proletariats gefährlich, wird er ohne Bedenken liquidiert. Ist er keine große Gefahr, wird er beobachtet und bespitzelt. Das System verfolgt ihn Zeit seines Lebens mit Mißtrauen, seine Kinder werden in ihrer Ausbildung gehemmt, und jedes noch so geringe Vergehen gegen die „Gesellschaft“ wirgt bei einem „Klassenfeind“ doppelt so schwer wie bei einem Arbeiter oder Kollektivbauern.

Aber auch die „Werktätigen“ können, wie der Juni-Aufstand zeigte, schnell zu „Klassenfeinden“ werden. Das liegt letztlich an der Tatsache, daß nicht eine „Diktatur der Arbeiterklasse“, sondern die Gewaltherrschaft einer Funktionärsclique besteht. Diese Funktionäre kommen nur zu einem geringen Teil aus der Arbeiterschaft und gehören erfahrungsgemäß zu ihren wertlosen Gliedern.

Der andere Weg, sich die Verfolgung des Systems aufzuladen, ist ein „Vergehen gegen die Gesellschaft“. Die Skala dieser „Vergehen“ ist nahezu unbegrenzt. Sie beginnt beim aktiven Widerstand gegen das System und endet, man ist geneigt zu sagen, beim zweifelnden Blick. Im Gegensatz zur permanenten Gefährdung „klassenfeindlicher“ Personenkreise, sind die „Verbrecher gegen die Gesellschaft“ nur zeitlich gefährdet.

Was ist ein „Vergehen gegen die Gesellschaft“? Das kommunistische System schreibt seinen Untertanen praktisch alles vor. Für jede Angelegenheit hat es eine offizielle Meinung parat, für jede Handlung eine offizielle Beurteilung. Durchbricht ein Einzelner die absolute Bevormundung, vertritt er seine eigene Auffassung, so stellt er sich, wie es im „dialektischen“ Jargon heißt, „gegen die Gesellschaft“. Er wird dadurch stark belastet und unter Umständen gefährdet.

Jede wahrhaft eigene oder gegenteilige Meinung kann „staatsfeindlich“ sein, da normalerweise der Mensch aus seiner Meinung gewisse Konsequenzen zieht. Er muß nach kommunistischer Auffassung zwangsläufig aus einer gegenteiligen Meinung Folgerungen ableiten, die der „Gesellschaft“ zum Schaden gereichen. Diese „Gefahr“ ist besonders bei jenen Berufs-und Menschengruppen gegeben, die viel denken und sich intensiv um eine Urteilsbildung bemühen. So ist der Intellektuelle für ein „Vergehen gegen die Gesellschaft“ anfälliger als der weniger nachdenkliche Mensch, der sich gern dem Vorgeschriebenen unterordnet.

Jeder Mensch kann zu jeder Zeit dem System gegenüber straffällig werden. Entscheidend ist das Zusammentreffen der belastenden Faktoren, das durch das Kontrollnetz festgestellt wird, in dem sich jeder einzelne Bewohner sowjetisch beherrschten Gebietes befindet.

Das Kontrollnctz Der vielfältige politische Zwang und Terror, dem der mitteldeutsche Mensch unter dem Sowjetsystem ausgesetzt ist, ist kaum sichtbar, kaum hörbar und erweckt dadurch den Eindruck, allgegenwärtig zu sein. Jeder fürchtet sich vor ihm, weil sich jeder zu jeder Zeit in seinem Kontrollnetz fangen kann. Nicht nur im politischen, auch im beruflichen und selbst im privaten Leben steht der Mensch unter der Kontrolle des Staates.

Das politische Leben der Einzelnen dreht sich um die Partei oder die „Massenorganisation“, der er angehört. Die Mitgliedschaft bei einer „fortschrittlichen Organisation" ist für viele unerläßlich, wollen sie sich nicht starken Anfeindungen und Benachteiligungen ausgesetzt sehen. Sie gilt als Beweis der positiven Stellung zum Staat. Die Teilnahme an politischen Veranstaltungen und Versammlungen wird registriert. Dafür sorgen Parteisekretäre und andere Funktionäre. Sie beobachten auch jene Mitglieder, die abweichende politische Meinungen äußern. Nach dem Willen des Systems soll der politische Steckbrief eines jeden Partei-und Organisationsmitglieds bei den entsprechenden Stellen vorliegen und laufend ergänzt werden. Besonders scharf wird diese Überwachung im Rahmen der SED, der FDJ und des FDGB ausgeübt. In den Gliederungen der „Nationalen Front“, der Ost-CDLI und LDP konnte die Überwachung der Mitglieder begreiflicherweise nicht mit dieser Genauigkeit wie bei den sogenannten „Kaderorganisationen“ (SED, FDJ, FDGB) durchgeführt werden, da sich hier nur wenige fanden, die sich für gegenseitige Bespitzelungen mißbrauchen ließen.

Audi im beruflichen Leben steht der Mensch dauernd unter Kontrolle. Die Betriebsgewerkschaftsleitung registriert Teilnahme und Diskussionsbeiträge an Schulungen und Betriebsveranstaltungen. Die Meister und die Angehörigen der „Technischen Intelligenz“ haben den Auftrag, die politische Gesinnung der ihnen unterstellten Arbeiter und Angestellten zu überwachen. In den Berufsverbänden und Zusammenschlüssen, überall sollen — nach dem Willen des Systems — Karteien geführt werden, in denen die politische Haltung des Einzelnen niedergelegt ist. Für die sogenannte „Staatssicherheit“ wichtige Kontrollergebnisse werden von den entsprechenden Stellen an den SSD weitergeleitet. Ein eigenes umfangreiches Netz von Spitzeln sorgt zusätzlich dafür, daß der SSD laufend über die Zuverlässigkeit der Kontrolleure und Kontrollierten unterrichtet wird.

Im privaten Leben erholt sich der Mensch und findet Muße, über die Dinge nachzudenken. Das kommunistische System sieht darum im nachdenkenden Menschen eine Gefahr. Es greift aus diesem Grunde rigoros in die Freizeit des Einzelnen ein, kommandiert ihn zu Sonder-schichten, Filmveranstaltungen, Demonstrationen oder Unterschriften-Sammlungen. In seiner Freizeit wird der Mensch mit Propaganda überschüttet, und die Staatskontrolle greift auch in den privatesten Bereich des menschlichen Lebens hinein. Die Kinder werden in der Schule über die politische Haltung der Eltern befragt. Sie müssen sogar kritische Aufsätze darüber schreiben. Der Hausbeauftragte hat die Aufgabe, die einzelnen Familien zu kontrollieren und ihre politische Einstellung zu ermitteln. Sogenannte Hausversammlungen sollen der Diskussion politischer Fragen gewidmet sein. Zu Demonstrationen oder zur Abstimmungsurne werden die Hausgemeinschaften oft geschlossen geführt, so daß gegenseitige Kontrolle zu jeder Zeit möglich ist. Untermieter werden über ihre Vermieter, Vermieter über ihre Untermieter vernommen. Die Hausbeauftragten sind den Straßenbeauftragten und diese den Bezirksbeauftragten verantwortlich. Letzte sollen eng mit den zuständigen Stellen des SSD zusammenarbeiten. Da auf dem Wege über die Hausbeauftragten auch die Lebensmittelkarten verteilt werden, sind genügend Ansatzpunkte zur Überwachung gegeben.

Auch in den Sportvereinen und Klubhäusern, an den Stammtischen oder in den Wartezimmern ist für gegenseitige Kontrolle gesorgt. Selbstverständlich wehren sich die meisten gegen die Bespitzelung ihrer Mitmenschen, lehnen sie ab oder führen sie nur ungenügend durch. Trotzdem ist das Netz so engmaschig, daß sich jeder LInvorsichtige darin fangen kann.

Wie sieht nun die Kontrolle für den Einzelnen aus? Nehmen wir ein alltägliches Beispiel zur Vergegenwärtigung der koordinierten Bespitzelung:

Herr X arbeitet in einer Metallfabrik. Sein Meister achtet auf ihn, weil er weiß, daß er der „mangelnden Wachsamkeit“ verdächtigt würde, entpuppte sich X plötzlich als Staatsfeind. Neben X arbeitet ein Kollege, der im Auftrag der Betriebsgewerkschaftsleitung in der Fabrikationsabteilung Spitzeldienste leistet. Für die FDJ-Betriebs-gruppe sammelt ein Lehrling die entsprechenden Informationen über die Arbeiter und den Meister. So wird Herr X allein in seiner näheren Umgebung von mindestens drei Seiten kontrolliert.

Lim seine Ruhe zu haben, ist er in den FDGB, die „Nationale Front“, und die „Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft“

(DSF) eingetreten. In allen drei Organsationen kontrolliert man seine Teilnahme am politischen Leben. In jeder ist über X eine Karteikarte angelegt, die seine bemerkenswerten Äußerungen oder Handlungen, sorgfältig registriert, aufbewahrt.

Der Hausbeauftragte des Herrn X ist für die Kontrolle der Mieter verantwortlich. Er hat Angst vor einem SED-Funktionär, der nebenan wohnt und sich für alles interessiert. Die Meinung der Mieter erfährt er durch die absichtlichen Gespräche seiner Frau mit den anderen Hausfrauen, die meistens aus ihrem Herzen keine Mördergrube machen. Flerr X ist noch in einer Sportgemeinschaft tätig. Die Voraussetzung dafür ist die Mitgliedschaft in einer entsprechenden „fortschrittlichen Organisation“. Auch dort achtet man auf X, und ein alter, guter Bekannter wird beauftragt, über X Berichte anzufertigen.

Hinzu kommt, daß besonders linientreue Lehrer die beiden Kinder des Herrn X in der Schule mit verfänglichen Fragen über die politische Meinung der Eltern aushorchen.

Die entsprechenden Berichte finden automatisch den Weg zum SSD. Dieser kann Herrn X noch näher unter die Lupe nehmen; er kann ihn aber auch erpressen, andere Kollegen zu beobachten, um nicht für seine „Vergehen“ zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Dann wird X spüren, daß jeder Kontrollierende gleichzeitig wieder von mehreren Stellen kontrolliert wird.

Gewissensnot und Widerstand Durch die scheinbare Allgegenwart der staatlichen Kontrolle wird der Einzelne gezwungen, eine „fortschrittliche Gesinnung“ an den Tag zu legen. Gleichzeitig aber leidet er unter dem angstvollen Mißtrauen, das die wertvollste Bindung zwischen den Menschen zerstören kann: das«gegenseitige Vertrauen. So kann der Einzelne der Gefahr nur entfliehen, wenn er heuchelt, wenn er sich doppelzüngig dort zum System bekennt, wo es geraten erscheint. Dies belastet sein Gewissen und kann bei jüngeren Menschen, die schon in der Schule zur politischen Notlüge gezwungen wurden, starke seelische Schäden für das ganze Leben zur Folge haben.

Doch mit der Lüge allein ist das System noch nicht zufrieden. Es trachtet danach, den Einzelnen mitzubeteiligen und verlangt „gesellschaftliche Aktivität". Jeder muß irgendetwas vorweisen können, um nicht als „Passivist“ zu gelten: einen Posten, einen besonderen Einsatz oder eine außergewöhnliche Arbeitsleistung.

Audi damit gibt sich das System noch nicht zufrieden. Es verlangt Mit-verantwortung. Es will den Menschen zwingen, freiwillige Spitzeldienste zu leisten. Das sogenannte Friedenschutzgesetz vom 15. 12. 1950 geht in seinen Ausführungsbestimmungen sogar soweit, jede oppositionelle Haltung als „gesellschaftsfeindliches Vergehen" auszudeuten und eine Bestrafung zu ermöglichen. Der Gültigkeitsbereich dieses Gesetzes erstreckt sich auch auf Westberlin und die Bundesrepublik. Schon Vorbereitung oder Nichtanzeige dieser Straftaten gilt als Vergehen gegen die Bestimmungen dieses Gesetzes. Das Unterlassen einer Denunziation kann dadurch zur Mitwisserschaft und Mitverantwortlichkeit . umgedeutet werden. Der psychologische Hintergedanke rechnet damit, daß ein Denunziant, der andere Menschen hinter Gitter brachte, am Bestand des Systems interessiert sein muß, da ein Umschwung Rechenschaft von ihm fordern könnte.

Bei Mitgliedern nach dem Kadersystem aufgebauter Organisationen (SED, FDJ, Volkspolizei usw.) gibt es den sogenannten „Parteiauftrag“, der die Bespitzelung aller anderen Menschen zur obersten Pflicht erhöht. Das nennt man „proletarische Wachsamkeit".

Die ganze Tiefe und Tragik dieser Gewissensnot kann kaum auf so engem Raum dargestellt werden. Es ist aber wesentlich zu wissen, daß die Menschen in Mitteldeutschland sich gegen diese Entwürdigung verzweifelt wehren, daß sie unter ihrer Gewissensnot zutiefst leiden, daß viele unter dieser Last zusammenbrechen, und daß seit Bestehen der sowjetischen Herrschaft in Mitteldeutschland Gewissensnot einer der ernstesten Abwanderungsgründe ist.

Die Abwanderungsmotive

Abbildung 3

Seit Kriegsende sind etwa 2, 5 Millionen Menschen aus der sowjetisch besetzten Zone nach Westdeutschland abgewandert. Die genaue Zahl ist nicht mehr feststellbar, da für die ersten Nachkriegsjahre keine statistischen Unterlagen vorliegen. Hinzu kommt die — ebenfalls nicht mehr feststellbare -Zahl der in der SBZ Beheimateten, die aus bestimmten Gründen in Westdeutschland verblieben sind.

Angesichts dieses gewaltigen Ausmaßes der Westabwanderung aus Mitteldeutschland drängt sich die Frage auf, aus welchen Gründen und Motiven heraus die Menschen ihre Heimat verließen. Zum Verständnis der Problematik ist darum eine gewisse Aufgliederung erforderlich, die nur in großen Zügen erfolgen kann.

Drei Gruppen von Menschen aus Mitteldeutschland halten sich Leute in der Bundesrepublik auf: Flüchtlinge, Zugewanderte und Hiergebliebene.

Flüchtlinge sind Personen, die aus der SBZ flüchten mußten, um sich einer von ihnen nicht verschuldeten, „zu vertretenden“ und durch die politischen Verhältnisse bedingten besonderen Zwangslage zu entziehen. Sie dürfen nicht in der SBZ gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen haben. Eine besondere Zwangslage ist vor allem dann gegeben, wenn eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben oder die persönliche Freiheit vorgelegen hat. Folgende Fluchtmotive treten auf: a) Flucht vor drohender Verhaftung:

Politische, berufliche oder allgemein-menschliche Gründe können in der SBZ auf Grund der vorherrschenden Verhältnisse eine Verhaftung auslösen Der Inhaftnahme folgt oft eine unmenschliche Verhörsprozedur und ein Verschwinden auf lange Jahre, wobei der Zeitpunkt der Rückkehr völlig unbestimmbar ist. Dabei ist es für den sich bedroht Fühlenden schwer, klar zu erkennen, ob die Gefahr der Verhaftung wirklich besteht, oder nur subjektiv begründet und empfunden wird; denn der Einzelne hat in der SBZ erfahrungsgemäß weder die Informationsmöglichkeiten noch den kritischen Abstand, um das objektive Bestehen einer Verhaftungsgefahr feststellen zu können.

b) Flucht wegen materieller Bedrängnis:

Durch politisch bedingte Umstände oder Maßnahmen können Menschen in der SBZ in materielle Bedrängnis geraten, so daß ihnen ein weiterer Verbleib in der SBZ nicht möglich ist. Dies trifft besonder auf jene zu, denen die Grundlage der Existenz entzogen wurde.

Der Aufbau einer neuen Existenz wird dabei meistens stark erschwert oder unmöglich gemacht, zudem gilt der Geschädigte noch als „Klassenfeind“ und wird überall benachteiligt.

(Eine ledigliche Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage wird westlicherseits nicht als ausreichender Fluchtgrund betrachtet, desgleichen eine materielle Bedrängnis, unter der alle Bewohner der SBZ zu leiden haben.) c) Flucht wegen seelischer Bedrängnis:

Die innere Unfreiheit ist für viele Menschen in der SBZ so schwerwiegend, daß ein echter Gewissenskonflikt entsteht, aus dem sich der Betreffende nur durch Verlassen der SBZ lösen kann. Gewissensnot ist für den Einzelnen genau so schwer zu ertragen wie materielle oder körperliche Bedrängnis. Der Gewissensnot sind besonders solche Personen ausgesetzt, die das sowjetzonale System aus politischen, weltanschaulichen oder religiösen Gründen ablehnen, aber unter dem Zwang stehen, gegen ihre Überzeugung nachhaltig für dieses System eintreten zu müssen. Gewissensnot kann auch entstehen durch Miterleben fremder Nöte und der Bedrängnis anderer Menschen, oder durch Kenntnis von Sachverhalten, die das Gewissen unerträglich belasten. d) Flucht vor der Zwangsverpflichtung:

Das in Mitteldeutschland herrschende Sowjetsystem wendet täglich die Zwangsverpflichtung von Menschen an, um seine politischen Ziele zu erreichen und die wirtschaftlichen „Pläne“ zu erfüllen. Da Zwangsverpflichtete in menschenunwürdiger Weise oft auf jedes persönliche Eigenleben verzichten müssen, trachten sie danach, der Unfreiheit vor der drohenden oder nach der vollzogenen Zwangs-verpflichtung zu entfliehen (Zwangsverpflichtungen werden besonders angewandt zum Eintritt in die Volkspolizei, den Uranbergbau und zu besonderen Rüstungsaufgaben.).

Zugewanderte sind Personen, die ihre Heimat ohne dringende innere oder äußere Gefahr freiwillig verlassen haben, und bei denen keines der aufgeführten Fluchtmotive zutrifft: a) ReguläreZuwanderung:

In den ersten 5 Jahren nach dem Zusammenbruch waren reguläre Umzüge aus der SBZ nach dem Westen nichts Seltenes. Besonders viele Ostvertriebene (bis Ende 1951 waren es etwa 700 000) wanderten nach mehr oder minder kurzem Aufenthalt in der SBZ nach dem Westen weiter. Die Gründe dieser „Weiterwanderer“ lagen teilweise im Bestreben nach Familienzusammenführung. Teilweise wollten sie aus dem sowjetischen Machtbereich herauskommen.

Wenn die sowjetzonalen Behörden die legale Abwanderung aus der SBZ verweigerten, erfolgte meistens die Übersiedlung auf dem Wege des „illegalen Grenzübertrittes“. b) Zuwanderung aus materiellen Gründen:

Der Westen bietet wesentlich bessere und sicherere Existenzmöglichkeiten als die SBZ. Dies war für viele Zuwanderer der entscheidende Grund zum Verlassen der Sowjetzone, wobei nicht selten starke Illusionen über die westliche Lebensweise den Ausschlag gaben. c) Zuwanderung aus seelischer Zermürbung:

Das Leben unter dem sowjetischen System gleicht einem fortwährenden Zermürbungsprozeß, dem — mehr oder minder stark — alle Bewohner Mitteldeutschlands ausgesetzt sind, und der viele für Psychosen anfällig macht. Die Abwanderung aus Gründen der seelischen Zermürbung setzt keine bewußte Auflehnung des Gewissens gegen das System voraus. Sie ist der Flucht aus seelischer Bedrängnis darum nicht gleichzustellen. d) Zuwanderungaus asozialen Gründen:

Der gewissenhafte Chronist kommt nicht umhin, eine Zuwanderung lichtscheuer und krimineller Elemente aus der SBZ zu verzeichnen.

Sie stellt glücklicherweise nur einen geringen Anteil am Gesamt-strom, diskreditiert aber im starken Ausmaß das Ansehen der SBZ-Flüchtlinge und Abwanderer. e) Zuwanderung aus Gründen zerrütteter Eheverhältnisse:

Ein erfahrungsgemäß häufiger Zuwanderungsgrund ist die soge-nannte „Eheflucht". Sie ist die Folge zerrütteter Ehen, aus denen ein Partner (meist ist es der Mann) seine Familie im Stich läßt und nach dem Westen abwandert. f) Zuwanderung im Auftrag des SSD:

Vom sowjetzonalen „Staatssicherheitsdienst" (SSD) nach dem Westen gesandte Agenten bedienen sich vornehmlich des illegalen ‘ Grenzübertrittes und meiden die Aufnahmelager, es sei denn, sie haben den Auftrag, die Lagerverhältnisse zu erkunden, oder sich aus Tarnungsgründen einen Notaufnahmeschein zu erwerben.

Hiergebliebene sind Personen, die ihre mitteldeutsche Heimat im Laufe der Kriegs-und Nachkriegszeit verlassen haben, infolge der politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in Mitteldeutschland oder aus persönlichen Gründen jetzt aber nicht wieder zurückkehren können oder wollen. a) Hierbleiben wegen echter Gefährdung in der SBZ:

Personen, die sich zum Zeitpunkt der Besetzung Mitteldeutschlands durch die Sowjettruppen außerhalb ihres in der SBZ gelegenen Wohnsitzes aufgehalten haben und dorthin nicht zurückkehren konnten, ohne sich offensichtlich einer von ihnen nicht verschuldeten („nicht zu vertretenden“) und unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben oder die persönliche Freiheit auszusetzen. Die Gefährdung muß in der Zeit vorliegen, in der Hiergebliebene ihren Rückkehr-willen bestätigen konnten, also z. B. Kriegsflüchtlinge oder Evakuierte nach Einstellung der Kampfhandlungen, oder in der SBZ beheimatete Kriegsgefangene und Internierte nach der Entlassung. b) Hierbleiben wegen vermuteter Gefahr i n d e r S B Z :

Ehemalige Angehörige der NSDAP oder ihrer Verbände sind in vielen Fällen im Westen geblieben, weil sie in der SBZ für ihre persönliche Sicherheit Schwierigkeiten befürchteten. Ihre Motive sind denen der SBZ-Flüchtlinge und der wegen echter Gefährdung Hiergebliebenen nicht gleichzubewerten.

Desgleichen sind viele Personen, die aus der Kenntnis des Sowjetsystems folgern, daß sie auf Grund ihrer politischen, wirtschaftlichen oder weltanschaulichen Stellung nach einer Rückkehr in die SBZ Verfolgungen zu gewärtigen haben, in den Westzonen geblieben, um sich der wahrscheinlich drohenden Gefahr nicht auszusetzen.

Gefährdungscharakter der Berufsgruppen

Abbildung 4

In der Mehrzahl der Abwanderungsfälle herrschen noch heute Gründe vor, die im beruflichen Leben zu suchen sind. Nicht alle Berufsgruppen in der SBZ waren zu gleicher Zeit gleich stark durch die sowjetischen Maßnahmen gefährdet. Die Juristen und Lehrer z. B. kamen viel früher mit dem System in Konflikt als die Apotheker oder die Arbeiter. Wie sieht nun der Hintergrund der Abwanderung in bezug auf die beruflichen Gefahrenmomente aus?

Die Arbeiter:

Die menschliche Arbeitskraft wird in der SBZ nur nach ihrem Nutzwert für die staatliche Wirtschaft und den politischen Bestand bewertet. Keine Institution schützt den Arbeiter vor Übergriffen des staatlichen Arbeitgebers; denn die Gewerkschaften sind zu Organisationen des Unternehmerstaates geworden und vertreten nur die Interessen der „Planwirtschaft“. Der Staat als Verwalter des „Volkseigentums“ verfügt über die Arbeitskräfte nach Belieben. Die gesetzliche Möglichkeit der zwangsweisen Arbeitsverpflichtung besteht noch heute, dabei gibt es keine Rücksicht auf Person, Geschlecht oder Familienstand. Die Kündigungsfristen sind auf 14 Tage verkürzt und sollen — mit Einverständnis des „Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes“ — überhaupt abgeschafft werden.

Der staatliche Arbeitgeber ist zugleich Arbeitsgesetzgeber und legt von oben herab die Lohnsätze, den Urlaub und die Kündigungsfristen fest. Für zu hohe Eingruppierung in die Lohngruppen wurde Zucht-hausstrafe vorgesehen, selbst die Akkordlöhne, Vorgabezeiten und Gedinglöhne werden staatlich geregelt. An Stelle der Tarifverträge werden sogenannte Betriebskollektivverträge abgeschlossen, die staatlichen Anweisungen in Vertragsform gleichkommen und die juristische Grundlage zur Maßregelung von Arbeitern bilden. Im Zuge dieser systematischen Entrechtungspolitik sind die schwererkämpften „klassischen Arbeiter-rechte“ ausgehöhlt und liquidiert worden.

Durch die Privilegierung der „Technischen Intelligenz“ wurde die Arbeiterschaft sozial aufgespaltet. Der Arbeitsschutz wurde vernachlässigt und abgebaut, während das Hauptgewicht auf den Schutz der Maschinen und Betriebsanlagen gelegt wurde.

In dieser Entwicklung liegt für den einzelnen Arbeiter eine Unmenge an Konfliktstoff, der sein Verhältnis zum Sowjetsystem unerträglich belasten und ihn zur Flucht oder Abwanderung zwingen kann.

In der ersten Zeit nach dem sowjetischen Einmarsch stand der Arbeiter nur am Rande der dramatischen Entwicklung, in der Großgrundund Industriebesitz enteignet wurden. Er trug die Hauptlast des Wiederaufbaus der Fabrikationsstätten und arbeitete freiwillig bei der Enttrümmerung der Städte. Gefahr konnte für ihn nur entstehen, wenn er zu Demontagearbeiten herangezogen wurde, bei denen bei geringstem Anlaß „Sabotage" -Verdacht aufkam.

Die deutschen Arbeiter in den Betrieben der „Sowjetischen AktienGesellschaften“ (SAG) unterstanden sowjetischen Kontrollinstanzen und hatten den Arbeitern der „volkseigenen“ oder privaten Industrie gegenüber geringfügige Vorteile in der Betriebsverpflegung und Betreuung. Die „Volkseigene Industrie“ in der Sowjetzone arbeitet heute im Planrhythmus der „Fünfjahrpläne“ des sowjetischen Herrschaftsbereiches. Damit ist die mitteldeutsche Industrieproduktion unter sowjetischer Kontrolle und dem Moskauer Zentralplan untergeordnet. Für den Arbeiter tritt dabei die Gefahr der „Plansabotage“ hervor, deren er bei geringen Versehen schon beschuldigt werden kann. Hinzu kommt die Angst der Betriebshierarchie vor echter Verantwortung, die die Schuld an Mißerfolgen nach unten abzuwälzen bestrebt ist. Die Betriebsstruktur ist geradezu militärisch zu nennen. Sie enthält in der „volkseigenen“ Industrie folgende Schlüsselstellungen:

Werkdirektor: voll verantwortlich für den gesamten Betrieb; Hauptbuchhalter: voll verantwortlich für die Finanzwirtschaft des Betriebes, Träger der staatlichen Finanzkontrolle; Planungsleiter: verantwortlich für die Aufstellung der Wirtschaftspläne; Personalleiter: verantwortlich für Personalpolitik und Nachwuchspläne; Technischer Direktor oder Hauptingenieur: Stellvertreter des Werkdirektors; Produktionsleiter: verantwortlich für die Produktionsvorbereitung und -lenkung;

Chefkonstrukteur: verantwortlich für die technologische Vorbereitung der Produktionsgänge;

Hauptmechaniker: Ausrüstung, Instandhaltung und Energiewirtschaft; Kaufmännischer Direktor: Stellvertreter der Werkdirektion in kaufmännischen Angelegenheiten;

Kulturdirektor: als SED-Funktionär für die „Entfaltung der politischen Massenarbeit“ zuständig, verantwortlich für die Propagierung der Normbewegung und der deutsch-sowjetischen Freundschaft.

Die Inhaber dieser Stellungen im Betrieb (abgesehen vom Werk-und Kulturdirektor) müssen nicht in jedem Falle linientreue SED-Mitglieder sein. Sie tragen aber, wenn sie dies nicht sind, ein wesentlich höheres Maß an Verantwortung als ihre SED-Kollegen, die von der Partei gedeckt werden können. Bei Produktionsrückschlägen, Unfällen oder sonstigen „planfeindlichen“ Erscheinungen sind sie die ersten, die man zur Verantwortung zieht und oft sogar in Schauprozeßverfahren aburteilt. Aus diesem Grunde ist der Anteil dieser Betriebsprivilegierten unter den Abwanderern aus der SBZ besonders hoch. Grundlage für ihre strafrechtliche Verfolgung bei „Sabotage“ -Verdacht ist der SMAD-Befehl Nr. 160 vom 3. 12. 1945; in ihm heißt es: „Personen, die sich Übergriffe zuschulden kommen lassen, die eine Durchkreuzung der wirtschaftlichen Maßnahmen der deutschen Selbstverwaltungsorgane bezwecken, werden zu Freiheitsstrafen bis zu 15 Jahren und in besonders schweren Fällen zum Tode verurteilt ... Zu denselben Strafen werden Personen verurteilt, die Sabotageakte zur Lähmung der Tätigkeit der Betriebe oder zu ihrer Beschädigung oder Zerstörung verüben.“

Die auf diesem SMAD-Befehl aufgebaute „Verordnung über die Bestrafung von Verstößen gegen die Wirtschaftsordnung“ (23. 9. 48) ist so weit gefaßt, daß praktisch jeder Maschinenausfall und jeder Materialengpaß als Sabotage bestraft werden kann. Die Strafen werden nicht nur nach dem — meist konstruierten — Tatbestand festgelegt, sie richten sich an erster Stelle nach der politischen Zweckmäßigkeit in bezug auf die zu bestrafende Person oder die beabsichtigte Wirkung.

Besonders bemerkenswert ist die Stellung des Meisters im Betrieb.

Er ist nicht nur verantwortlich für die Einzeldurchführung der Pläne und die Einhaltung der Normen, sondern auch für die Meinung der Untergebenen. Als willige Werkzeuge stehen dem Meister die „Brigadiere“ zur Seite. Beide ziehen Nutzen aus der Erfüllung und Übererfüllung der Pläne. Ihre Stellung im Betrieb wird geregelt durch die „Verordnung über die Rechte und Pflichten der Meister in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben" (28. 6. 52). Im ganzen bedeutet die Verordnung, daß das Vorgesetztenverhältnis im Betrieb militärischen Verhältnissen gleichkommt. Der Meister ist verantwortlich für die Arbeitsdisziplin, und er hat „die Maschinen und den Produktionsablauf gegen Agenten, Saboteure und Spione zu schützen“. Da im Sprachgebrauch der SED jeder, der nicht die kommunistische Parteilinie vertritt, Agent, Saboteur oder Spion ist, muß der Meister auf jeden seiner Untergebenen ein waches Auge haben; mit anderen Worten: er hat von Amts wegen Spitzeldienste zu leisten. Welche menschlichen Konflikte, ja Tragödien sich daraus entspinnen können, kann sich der Außenstehende kaum vorstellen.

Die im sowjetrussischen Wirtschaftsleben so selbstverständlichen Zwangsmaßnahmen gegen Arbeiter sind inzwischen auch in den „Arbeiterschutzgesetzen“ der „DDR“ verankert. Diese enthalten mehr Straf-als Schutzbestimmungen. Zum Beispiel heißt es in der Verordnung über Einführung einer Arbeitsordnung für volkseigene, SAG-und andere Betriebe vom 13. 10. 1947:

„Personen, die böswillig die Arbeitsdisziplin verletzen und fingierte Krankenbescheinigungen vorlegen, werden nach gemeinschaftlichem Beschluß der Betriebsleitung und des Betriebsrates gerichtlich zur Verantwortung gezogen . . . Böswillige Verletzung der Arbeitsdisziplin liegt vor bei vorsätzlicher wiederholter Verletzung der Arbeitsordnung.“ Ähnlich heißt es in der Lohnverordnung vom 17. 8. 1950:

„Verstöße gegen die Lohnverordnung werden nach § 9 der Wirtschaftsverordnung vom 2 3. 9. 1948 bestraft, soweit nicht nach anderen Bestimmungen eine höhere Strafe verwirkt ist.“

Von der gleichen Härte ist das Gesetz über die Änderung der Kündigungsfristen, das u. a. eine allgemeine Verkürzung der Kündigungsfrist auf 14 Tage und den Fortfall des Kündigungsschutzes für ältere Angestellte und Arbeiter vorsieht.

Diese Bestimmungen und die Entmachtung der von den Arbeitern gewählten Betriebsräte stieß auf starken Widerstand bei den mitteldeutschen Arbeitern. Im Verein mit dem Betriebskollektivvertrag und den fortwährenden Normerhöhungen führten sie geradewegs zum Aufstand des 17. Juni.

Besonders drückend sind die Verhältnisse in den Schlüsselindustrien (Bergbau, Eisen, Stahl usw.), den Rüstungsbetrieben und den Betrieben des Uranbergbaus.

Der Uranbergbau ist für viele Menschen aus der SBZ zum Fluchtgrund geworden. Gestützt auf den SMAD-Befehl Nr. 153 vom 2 5. 11. 1945 und die „dialektische“ Ausdeutung des Befehles Nr. 3 des Alliierten Kontrollrates vom 17. 1. 1946 wurde in der SBZ das Zwangsarbeitersystem eingeführt. Bis zum Anfang des Jahres 1949 erfolgten die Zwangseinweisungen in aller Offenheit, seitdem herrscht die Methode der Zwangswerbung vor, die mit politischem, polizeilichem und wirtschaftlichem Druck arbeitet und praktisch einer Zwangseinweisung gleichkommt. Die sozialen, gesundheitlichen und arbeitsrechtlichen Verhältnisse im Uranbergbau und die „Werbung" für diese Arbeit haben zur Massenflucht der Betroffenen geführt.

Die Angestellten:

Die Angestellten gehören nach kommunistischer Auffassung nicht zum Proletariat. Sie sind keine „Klassenfeinde", gelten aber doch als „klassenfremd“. Da der Planzentralismus eine große, aufgeblähte Bürokratie verlangt, kommt man praktisch ohne Angestellte nicht aus. Das System ist auf sie und ihre Haltung angewiesen; aus diesem Grunde vollzog sich die Gleichschaltung der Angestellten anders als bei entbehrlichen Berufen. Jede Sowjetisierungsphase brachte bisher eine Reihe von Verwaltungsvorgängen mit sich, die nur geeignete Angestellte sachlich einwandfrei erledigen konnten. Auf der anderen Seite war es für das System lebenswichtig, auch die Angestellten in seinem Sinne gleichzuschalten, zumal das Berufsbeamtentum abgeschafft wurde und es nur noch jederzeit kündbare Angestellte gab, die man als „Verwaltungsfunktionäre“ bezeichnete.

Die Verwaltungsangestellten, soweit sie nicht aktive Mitglieder der NSDAP waren, wurden nach dem Zusammenbruch weiterbeschäftigt, die nominellen und unbelasteten Parteigenossen sogar bis 1947. Dann wurden sie durch neu herangebildeten Nachwuchs abgelöst und nur teilweise als Stundenlöhner beibehalten. Im Gegensatz zu den 1945 aus politischen Gründen entlassenen Verwaltungsangestellten, von denen die meisten verhaftet wurden, konnten die 1947 Betroffenen in anderen Berufen unterkommen.

1948, als die „Nationaldemokratische Partei“ (NDP) von linientreuen Kommunisten zur Sammlung ehemaliger Nationalsozialisten gegründet wurde, erleichterte sich die Lage der früheren PGs. 1949 wurde sogar eine offene Anweisung erlassen, wonach die Behinderung ehemaliger Nationalsozialisten bei Neueinstellung unstatthaft sei. Eine gleichzeitig herausgekommene Geheime Verschlußsache widerrief diese offene Verfügung und verbot die Wiedereinstellung auch nomineller PGs.

Zur gleichen Zeit lief eine Entlassungsaktion, die sich erstmalig gegen CDU-und LDP-Mitglieder richtete. Damit wollte man vor allem jene Verwaltungsangestellten entfernen, die passiven oder aktiven Widerstand gegen die Sowjetisierungsmaßnahmen leisteten oder in Zukunft leisten könnten. Die verbleibenden Angestellten wurden unter starken politischen Druck gesetzt, zum Eintritt z. B. in die „Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft“ gezwungen und in endlosen Schulungen strapaziert. Eine besondere Auswirkung auf den Abwanderungsstrom trat nicht ein, da die Lebensgrundlage der entlassenen Angestellten kaum zerstört wurde und sie in neuen Berufen Unterkommen finden konnten.

Schärfere Maßstäbe wurden bei den Justizangestellten angelegt. Aus der NS-Zeit politisch unbelastete Angestellte konnten nur bis 1947 Dienst tun, dann wurden sie durch neue, systemtreue Angestellte ersetzt, es sei denn, sie machten sich dem Kommunismus dienstbar. Die Mitglieder der CDU und LDP wurden im Justizdienst langsam aber sicher ihres Einflusses beraubt, wenn sie sich nicht willenlos der Gleichschaltung ihrer Parteien beugten.

Die heute noch im Justizdienst tätigen Angestellten sind die Übrig-gebliebenen eines permanenten Säuberungsprozesses und können im allgemeinen als linientreue SED-Anhänger gelten.

Besonders belastend ist für Justizangestellte die Zusammenarbeit mit dem Westberliner „Untersuchungsausschuß freiheitlicher Juristen“ oder anderen westlichen Stellen. Sie zieht unweigerlich höchste Strafen nach sich. Nach den vorliegenden Erfahrungen wird diese Zusammenarbeit nicht nur aus Widerstandsgründen, sondern oft als Vorsichtsmaßnahme (Rückversicherung) gesucht.

Bis Mitte 1952 unterschied sich das Los der Finanzangestellten nur wenig von dem der Verwaltungs-oder Justizangestellten. Seitdem wurde jedoch die Arbeit in den Finanzämtern in sogenannten „Komplex-Brigaden“ durchgeführt. Diese Brigaden sollten alle den Steuerzahler betreffenden Vorgänge (Bewertung, Steuerveranlagung, Buchhaltung, Steuervollstreckung, Steuerstrafsachen) im ganzen bearbeiten. Es gab „Komplex-Brigaden“ für Industrie, Großhandel, Einzelhandel, Handwerk, Landwirtschaft usw.

Von der früheren deutschen Steuerverwaltung ist in personeller Hinsicht nichts mehr übriggeblieben. Das Berufsbeamtentum existiert nicht mehr. In der Verwaltung der „DDR“ und insbesondere in der Finanzverwaltung gelten als untragbar und sind nur noch vereinzelt anzutreffen: frühere Beamte, ehemalige Berufssoldaten, ehemalige Offiziere, Kriegsteilnehmer, die mehr als sechs Monate in westlicher Kriegsgefangenschaft zugebracht haben, Angestellte bürgerlicher Herkunft und Lebensführung, Akademiker aller Art, besonders Juristen alter Schule.

Ersetzt wurden diese durch Industrie-Aktivisten, Funktionäre kommunistischer Massenorganisationen und andere „fortschrittliche“ Ar. beitskräfte vorwiegend jugendlichen Alters.

Es wird angestrebt, das Verwaltungspersonal mindestens zu 60% aus weiblichen Angestellten zu rekrutieren.

Zur schärferen Sowjetisierung in der Finanzverwaltung kam es, als die „DDR“ -Regierung das demoralisierende System von Leistungsprämien im Außendienst einführte. Diese Prämien beteiligten die Steuer-fahnder prozentual an der festgestellten Steuersumme. Sie erhielten 5 % der „Mehrsteuern“, wovon ein Fünftel für den Innendienst zur Verteilung kam. Die zermürbenden menschlichen Konflikte, die zu beruflichen und politischen Gefährdungen führten, sind kaum vorstellbar.

Allein der Vorwurf, die Bestimmungen „sozialisierungsfeindlich" zu handhaben, konnte u. LL Verhaftung nach sich ziehen.

Eine derartig spezifische Gefährdung wie bei den Finanzangestellten gab es bei den Bankangestellten nicht, soweit sie sich nicht gegen die verlangten Treuebekundungen für das System wandten. Bei den Reichsbahnangestellten dagegen traten wieder besondere Gefährdungsmomente auf, die häufig zur Abwanderung zwangen.

Grundsätzlich gefährdet waren Bahnangestellte, die sowjetische Reparations-oder Beutetransporte betreuten. Informationsweitergabe darüber wurde als Spionage verfolgt. Mit dem 12. 9. 1952 trat eine neue „Disziplinarordnung der Deutschen Reichsbahn“ in Kraft, die widerspruchslosen militärischen Gehorsam verlangte und die Denunziation von „nicht-fortschrittlichen" Arbeitern und Angestellten zur Pflicht machte. Die sowjetzonale Eisenbahnverwaltung ist beherrscht von einer geradezu hysterischen Spionen-und Agentenangst. Harmlose Dienst-vergehen von Eisenbahnern können schwerstens bestraft werden. In der Disziplinarordnung heißt es in diesem Sinne: „In der Erkenntnis, daß jede Vernachlässigung der Disziplin das Eindringen feindlicher Agenten und Saboteure in die Reichsbahnbetriebe erleichtert, Diversionsakten Vorschub leistet und unsere Wirtschaft aufs empfindlichste schädigt, ist es notwendig, jeden Verstoß gegen diese neugeschaffene Disziplinar-und Dienstordnung unnachsichtlich zu ahnden und den Betreffenden zur Verantwortung zu ziehen. Mangelhafte Disziplin und Vernachlässigung der Wachsamkeit erleichtern Saboteuren und Agenten die Arbeit und schwächen die Verteidigungskraft unseres Landes.“

Die Angestellten der Reichspost sind besonders gefährdet, wenn sie mit den Zensurstellen der Sowjets oder des SSD zu tun haben oder mit der Überwachung und Sicherstellung der Post von politischen SBZ-Flüchtlingen befaßt sind, bzw die Vorschriften für Paketsendungen nach und aus dem Westen verletzen.

Das Handwerk:

Durch die Traditionsgebundenheit seines Berufes ist der Handwerker jeglichem politischen Radikalismus abhold. Er stand darum auch dem Nationalsozialismus ablehnend oder inaktiv gegenüber. Der Handwerker gilt dem Bolschewismus nicht als direkter Klassenfeind, soweit er keinen Betrieb besitzt, der über 10 Personen beschäftigt.

Nach dem Zusammenbruch war das mitteldeutsche Handwerk für die Wiederingangsetzung der Wirtschaft besonders wichtig. So setzten die ersten Maßnahmen gegen das Handwerk erst 1946 mit dem SMAD-Befehl Nr. 160 ein, der die Innungen alter Form und alle sonstigen frei-willigen Zusammenschlüsse des Handwerks auflöste. Dafür wurde die Zwangsmitgliedschaft bei den Handwerkskammern angeordnet, die der SED treu ergeben waren. Sie unterstanden politisch dem „Ausschuß für Handwerksfragen beim Zentralsekretariat der SED". Durch die am 20. 2. 19 51 erlassene „Wahlordnung" der Handwerkskammern wurde deren Abhängigkeit von der SED-Politik endgültig festgelegt. Das Ziel war die Gründung von „Handwerksgenossenschaften" (Kollektivs), die sich in der Praxis wirtschaftlich nicht bewährten. Einbau des Handwerks in die zentralistische Planwirtschaft und Kampf gegen die „kapitalistischen Betriebe" (10 Beschäftigte und mehr) liefen parallel zu den genannten Maßnahmen. Die seit 1950 geltende Handwerksbesteuerung ist nach rein politischen Gesichtspunkten zu Ungunsten der größeren Betriebe gestaffelt und vernichtet die Arbeitsbasis für ein gesundes Handwerk.

Von allen Wirtschaftszweigen hat das Handwerk am längsten den Sowjetisierungsmaßnahmen standgehalten. Das lag einerseits an seiner zutiefst bürgerlichen Grundhaltung, andererseits am peripheren Standort des Handwerks im Gesamtwirtschaftsbild, in dem zuerst die Schlüsselproduktionen und Schlüsselgebiete sowjetisiert werden mußten, die in privater Hand eine Gefahr für das kommunistische System darstellen konnten. Trotzdem hat jede einzelne Sowjetisierungsmaßnahme auf dem beruflichen und politischen Gebiet führende Persönlichkeiten des Handwerks getroffen und ihre Verfolgung ausgelöst.

Die Landwirtschaft:

Sofort nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Mittel-deutschland begann die kommunistische Propaganda für eine Bodenreform des Großgrundbesitzes. Mit ihr wollte das Sowjet-system die „Horte des Faschismus und Militarismus“ zerschlagen. Sie sei darum eine „unaufschiebbare, nationale, wirtschaftliche und soziale Notwendigkeit". Hinter diesen Plänen stand die Absicht, alle jene Kräfte auf dem Lande zu zerschlagen, die einer späteren Kolchosierung entgegenstehen würden. Gemäß dem sowjetischen Weg zur Kolchose in Rußland, sollten auch in Mitteldeutschland zuerst Kleinbauernstellen geschaffen werden, die im Laufe der Zeit und durch die Maßnahmen der Regierung unrentabel werden sollten, so daß der Zusammenschluß zu „Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften" eine unausweichbare Notwendigkeit würde. Damit hoffte man, die widerstandslose Kolchosierung zu garantieren.

In diesem Sinne und gestützt auf die sowjetische Besatzungsmacht, erließen die Länder und Provinzen der SBZ die entsprechenden Gesetze. Die Provinz Sachsen begann am 3. 9. 1945, die Provinz Mark Brandenburg am 6. 9. 194 5 mit der Bodenreform. Es folgten das Land Mecklenburg-Vorpommern (7. 9. 1945), das Land Sachsen (11. 9. 1945)

und das Land Thüringen (12. 9. 1945).

Entschädigungslos enteignet wurden alle landwirtschaftlichen Privat-betriebe über 100 ha Betriebsfläche. Unabhängig von der Betriebsgröße verfielen die Betriebe der „Kriegsverbrecher“ und „Naziaktivisten“ (diesen Begriff spannte man sehr weit) der Beschlagnahme. Dabei war der örtlichen Willkür von Kommunisten keine Grenze gesetzt. Zeitweise häuften sich bei den sowjetischen Kommandanturen die Denunziationen Deutscher so sehr, daß die Russen Einhalt gebieten mußten. Mit der Enteignung erfolgte die Vertreibung der ehemaligen Besitzer, ihrer Angehörigen und leitenden Mitarbeiter aus dem entsprechenden Gemeindebezirk. Viele wurden verhaftet, die anderen überall durch fanatische Kommunisten verfolgt. Die Herrenhäuser der enteigneten Güter riß man häufig als „Wahrzeichen des Feudalismus“ ab. Persönliches Eigentum der Besitzer ging größtenteils verloren, viele von ihnen wurden buchstäblich mit jenem vom Hofe gejagt, was sie gerade auf dem Leibe trugen. Jeder noch heute in der SBZ lebende ehemalige Großgrundbesitzer gilt als „Klassenfeind“ und steht unter scharfer Kontrolle.

Die im Zuge der Bodenreform enteignete Bodenfläche betrug 3, 22 Millionen ha und setzte sich zusammen aus dem Besitz von 7 112 Gütern über 100 ha und 4 278 Gütern unter 100 ha.

Die gewaltsame soziologische Umschichtung auf dem Lande, die durch die Zerschlagung des Großgrundbesitzes und die Ansiedlung landarmer Kleinbauern („Neubauern“) entstand, kam auch nach der Bodenreform nicht zum Stillstand. Das nächste Zwischenziel des Kommunismus in seiner mitteldeutschen Agrarpolitik war die Entfesselung des „Klassenkampfes auf dem Lande“, d. h. die Entmachtung der Großbauern. Unter Großbauern versteht man in der SBZ die Besitzer von Gütern über 20 ha. Der Großbauer ist von vornherein als „Klassenfeind" abgestempelt. Er wird als „Kapitalist“ verfolgt, und man denkt ihm das gleiche Schicksal zu wie dem russischen Kulaken. Er ist nach der Liquidation der Großgrundbesitzer der eigentliche Gegner des „Sozialismus auf dem Lande“. Die ersten Monate nach dem sowjetischen Einmarsch waren auf dem Lande von einem unvorstellbaren Terror erfüllt. Plündernde sowjetische Horden durchzogen die Dörfer und richteten — besonders auf abgelegenen Höfen — regelrechte Blutbäder an. Vergewaltigung, Mord und Verschleppung herrschten allerorts.

Mit der Gründung der sogenannten „Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe“ (VdgB) am 23. 11. 1947 gelang der zweite entscheidende Einbruch auf dem Dorfe. Diese Massenorganisation der SED hatte den Auftrag, die Landbevölkerung politisch zu beeinflussen und die Einführung „Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften“ psychologisch vorzubereiten. Ihr wurden am 10. 11. 1948 die „Maschinen-AusleihStationen“ (MAS) unterstellt, die 1952 nach sowjetischem Vorbild in „Maschinen-und Traktoren-Stationen“ (MTS) umbenannt wurden. Die Stationen sind als zukünftige Kolchoszentren eingerichtet worden und haben an erster Stelle politische Aufgaben, während ihre wirtschaftliche Einsatzfähigkeit auf etwa 60 °/o der Kapazität geschätzt wird. Der Mangel an Ersatzteilen, geeignetem Personal und sinnvoller Planung wirkt sich hierbei katastrophal aus. Sabotageangst herrscht vor, und die Normenpeitsche wirkt sich nachteilig auf die Qualität der landwirtschaftlichen Arbeit aus, die von den MTS geleitet wird. Die Gebührensätze für die Maschinenausleihe sind nach klassenkämpferischen Gesichtspunkten gestaffelt. Für das Pflügen eines ha bezahlt z. B.der Klein-bauer 19. — DM Ost, der Großbauer dagegen 40. — DM Ost. Beim Drillen liegt der Unterschied bei 5. — DM Ost für den Kleinbauern und 14. — DM Ost für den Großbauern. In gleicher Weise sind die Anbau-und Ablieferungsquoten gestaffelt. Eigenbedarf, Witterungseinfluß und Bodenverhältnisse werden durch, den „Plan“ nicht berücksichtigt. Rigorose Eintreibungsmethoden und steverliche Schikanen leisten ein übriges zur wirtschaftlichen Vernichtung des Grcßbauernstandes. Landfremde SED-Funktionäre sind die Stoßtruppführer dieses Klassenkampfes, an dessen Ende die Kolchoswirtschaft sowjetischer Prägung steht. (Dabei spielt es keine Rolle, daß Chrustschow in der UdSSR das Kolchosexperiment als teilweise gescheitert kritisiert.).

Die Mittelbauern sind Besitzer von Gütern zwischen 10 und 20 ha. Sie können u. U. als „Verbündete für die demokratische Entwicklung“ gewonnen werden. Solange sie keine fremden Arbeitskräfte beschäftigen, gelten sie als „werktätige Bauern“. In der Praxis sind sie wie die Großbauern „Klassenfeinde“ und nur wenig besser dran als jene.

Die Klein -und Neubauern dagegen erfreuen sich der „Unterstützung“ des Systems. Sie sind wirtschaftlich von der MTS abhängig und werden auf diesem Wege in die „Produktionsgenossenschaft“ hineingepreßt und verproletarisiert. Die starke „Neubauernflucht“ ist ein deutliches Zeichen für die nichteingehaltenen Versprechungen, mit denen man landfremde Umsiedler, frühere Industriearbeiter und Angestellte zur Übernahme von Neubauernstellen gewann, bzw. sogar zwang.

Seit dem 12. 7. 1952 wird die „Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft“ (LPG) offen propagiert und mit allen Mitteln angestrebt. Das wirkte sich in der ersten Hälfte des Jahres 195 3 besonders stark auf die Bauernflucht aus, die die „DDR" vor katastrophale wirtschaftliche Auswirkungen stellte und zur Einführung des „Neuen Kurses“ auf dem Lande zwang. In seinen charakteristischen Formen blieb jedoch der kommunistische Terror gegen den freien Bauern bestehen. Im Jahre 1954 waren etwa 13% der landwirtschaftlichen Nutzfläche kollektiv bewirtschaftet. Ein starkes Anziehen des Drucks seit dem Frühjahr 195 5 läßt auf neue klassenkämpferische Maßnahmen auf dem Lande schließen. Handel und Gewerbe:

Der Groß-und Einzelhändler, der Gewerbetreibende, kurzum jeder Unternehmer ist für das Sowjetsystem von vornherein ein „Klassenfeind“, dessen Einfluß schrittweise ausgeschaltet werden soll. Heute ist in der Sowjetzone die restlose Sowjetisierung des Handels und des echten Unternehmertums schon längst abgeschlossen. Die einzelnen Phasen und Methoden lehnen sich dabei sehr stark an jene Entwicklung an, mit der nach 1917 auch in der Sowjetunion der Mittelstand liquidiert wurde. Da Mitteldeutschland 194 5/46 vor einem totalen Wirtschaftszusammenbruch stand, war die sowjetische Verwaltung in der ersten Zeit auf die Initiative des privaten Handels und Unternehmertums angewiesen. Sie schloß also ein vorläufiges „Bündnis mit dem Klassenfeind“, das helfen sollte, die Katastrophe zu überwinden und die Voraussetzungen zu schaffen, auf deren Boden die Entmachtung des privaten Händlers und Unternehmers ermöglicht wurde.

Nachdem der private Großhandel in der SBZ 1945/46 entscheidend an der Verhinderung einer Hungerkatastrophe mitgeholfen hatte, wurde er Anfang 1947 durch die staatlichen „Handels-und Industriekontore“ und den Konsumgenossenschaftshandel stark eingeschränkt. Die Großhändler fanden in den folgenden Jahren die Unterstützung der nichtkommunistischen Parteien bei ihrem Kampf gegen die langsame Zurückdrängung. Mit der Gleichschaltung der CDU und LDP verloren sie ihre letzten Fürsprecher in den Parlamenten und Verwaltungen. Zur gleichen Zeit begann der Kampf um das einzelne Geschäft, bei dem sich persönliche Rivalität und politische Denunziation austoben konnten, weil jeder Grund von den Staatsorganen willkommen geheißen wurde, der die Enteignung eines Geschäftes rechtfertigen konnte. Als am 2. 12. 1948 die „Deutsche Handelsgesellschaft“ (DHG) durch Anordnung der sogenannten „Deutschen Wirtschaftskommission“ (DWK) die Großhandelsfunktion für die gesamte SBZ übernahm, war der private Großhandel praktisch ausgeschaltet. Aus dem Handel wurde ein staatliches Verteilen. Und die Zeche dieser planwirtschaftlichen Maßnahme zahlte der Verbraucher mit Hunger und Not. Später wurde die DHG aufgelöst und durch die „Deutsche Handelszentrale“ ersetzt, die dem privaten Großhandel den Todesstoß geben konnte durch die „Verordnung über die Verbesserung der Arbeit der Deutschen Handelszentrale“ vom 6. 12. 19 51. Mit der Begründung, den Warenweg vom Hersteller zum Verbraucher zu verkürzen und die Abstimmung von Industrieproduktion und Handel zu verbessern, wurde eine weitere Zentralisierung des Großhandels angeordnet, die die letzten noch vegetierenden Reste des privaten Handels zum Absterben brachte. In der gleichen Form vollzog sich die Entmachtung des privaten landwirtschaftlichen Großhandels, der durch die einzelnen „Deutschen Handelszentralen" heute wahrgenommen wird.

Der private Einzelhandel sah sich nach seiner krisen-bedingten Schonzeit am Ende des Jahres 1946 einem Angriff von drei Seiten her gegenüber:

1. Das Realeinkommen der Bevölkerung und damit die Kaufkraft schrumpften völlig zusammen, 2. die von den Sowjets angeordnete Preispolitik (Handelsspanne) und der Preisstop auf der Basis von 1944 vernichteten die Rentabilität der Einzelhandelsgeschäfte, 3. die Bevorzugung der Konsumgenossenschaften und (seit 1949) auch der „Handelsorganisationen“ (HO) bei Warenzuteilungen und Preisbestimmungen ließen einen gleichen Wettbewerb nicht zu, sondern benachteiligten den privaten Einzelhandel in stärkstem Maße.

Jedes einzelne Gewerbe hatte unter derartigen Maßnahmen zu leiden. Kein einziges wurde von der Sowjetisierungsmaschine übersehen. Das private Transportgewerbe wurde durch die staatliche Kontingentierung des Treibstoffes und die Gründung der „volkseigenen“ Autotransportgesellschaften (ATG) schrittweise ausgelöscht.

Im privaten Hotel-, Pensions-und Gaststätten-gewerbe begann 1949 die Konkurrenz der staatlichen „Handelsorganisation“ (HO) wirksam zu werden. Um Enteignungsgründe zu haben, wurden die Fahndungen nach Verstößen gegen die Wirtschaftsbestimmungen (Abgabe markenfreier Gerichte usw.) verschärft. Die Steuerpolitik leistete diesen Tendenzen Vorschub. In vielen Gebieten erfolgte die Beschlagnahme der Hotels, Pensionen und Gaststätten auf staatliche Anordnung. Z. B. wurden im Uranbergbaugebiet mit dem Beginn der Schürfungen alle Unterkünfte beschlagnahmt. In Erholungsgebieten (Thüringer Wald, Ostseeküste usw.) fanden besonders viele Beschlagnahmen statt, um für SED-Funktionäre und westdeutsche Kommunisten („Arbeiterdelegationen“) Erholungsstätten zu schaffen.

Das Verlags -und Buchhandelsgewerbe hatte unter dem Primat der politischen Propaganda wenig Aussicht auf eine freie Entfaltung in Mitteldeutschland. Viele Druckereien waren demontiert worden, andere hatten umfangreiche Reparationsaufträge durchzuführen. Die Papierkontingentierung und die Zensur ließen den wenigen lizenzierten Verlagen keinen Lebensraum. Neugegründete Staatsverlage wurden in unvorstellbarem Maße bevorzugt. Verleger und Buchhändler sahen sich schwersten Anfeindungen gegenüber, wenn sie Bücher vertrieben (oder vertrieben hatten), die auf dem politischen Index standen. Mit allen Mitteln persönlicher, steuerlicher und politischer Diffamierung wurde der Kampf gegen das private Buchgewerbe geführt. So sind frühere Hochburgen des Verlagswesens wie Leipzig oder Ostberlin heute nur noch Propagandazentralen kommunistischer Literatur.

Die Sowjetisierungsmaßnahmen wirkten sich auf die Angehörigen dieser Berufsgruppen verheerend aus. Sie entzogen ihnen die Existenzgrundlage und verdächtigten sie der sowjetfeindlichen Haltung. Nicht selten folgte der Enteignung die Verhaftung des Gewerbetreibenden. Den meisten der Gefährdeten blieb keine andere Wahl übrig, als nach dem freien Westen abzuwandern.

Akademische und freie Berufe:

Der Bolschewismus läßt nur das gelten, was der „Partei“ nützt. Er vertritt damit einen extremen subjektiven Standpunkt und bekämpft erbittert alle Objektivität als „Objektivismus“. Er weiß dabei, daß echte Objektivität tödliches Gift für das gesamte Sowjetsystem darstellt. Der Akademiker als besonders geeigneter Repräsentant der Objektivität wird aus diesem Grunde zum Hauptgegner des im Parteisubjektivismus stecken-gebliebenen Sowjetsystems. Dieses strebt aus taktischen Gründen die weitgehende Ausnützung des Akademikers (und seines öffentlichen Ansehens) für das System an, um ihn im Endeffekt als „Klassenfeind“ auszuschalten und durch neuherangebildete Parteiakademiker zu ersetzen.

Die Entwicklung zum Sowjetsystem besteht im schrittweisen Abbau des allgemein anerkannten Menschenrechts. Die Juristen als Hüter des Rechts sind aus diesem Grunde Hindernisse auf dem Wege zur Sowjetisierung. Sie sollen darum beseitigt werden. Ihren ethischen Auftrag gilt es zu verfälschen, so daß der Jurist nicht mehr Hüter des Rechtes, sondern Werkzeug der Sowjetisierung, also der Entrechtung, wird.

Mit den SMAD-Befehlen Nr. 49 und 204 wurden kurz nach Kriegsende alle aus der NS-Zeit belasteten Richter und sonstigen Personen aus der Justizverwaltung entfernt. Dadurch blieben für die Besetzung der Richterstellen nur wenige Volljuristen übrig, die sich aus folgenden Personenkreisen rekrutierten: a) Richter aus der NS-Zeit, die völlig unbelastet waren, b) überalterte, z. T. schon pensionierte Richter, c) unbelastete Anwälte, eingesetzt als „Richter im Ehrendienst“, d) Volljuristen aus der Privatwirtschaft.

Den richterlichen Nachwuchs suchte das kommunistische System bis zur völligen Sowjetisierung der Juristischen Fakultäten durch sogenannte „Volksrichterkurse“ heranzubilden. Der erste Kurs fand bereits 1946 statt. Die Hauptbetonung bei dieser Ausbildung lag auf der „gesellschaftswissenschaftlichen“ (Theorie des Bolschewismus) Schulung. Heute haben die nichtakademischen „Volksrichter“ und „Volksjuristen“ die beherrschende Stellung in der SBZ-Justiz. Die Juristischen Fakultäten sind inzwischen gleichgeschaltet und bilden linientreue Kommunisten aus.

Besonders gefährdet waren die Rechtsanwälte. Nach ihrer anfangs großzügigen Zulassung durch die Sowjets wurden sie in die steuerlich höchste und kartenmäßig niedrigste Berufsgruppe eingestuft. Ihre Kinder konnten als „klassenfremde Elemente" nicht mit der Möglichkeit eines Studiums rechnen. Im Jahre 1948 wurde den sogenannten „Doppelbelasteten“ (Mitglied einer NS-Organisation + PG) die Anwaltslizenz entzogen. Damit begann die letzte Phase der Entmachtung der Rechtsanwälte, die im gleichen Maß dem System gefährlich erschienen, wie sich die Enteignung ihrer Klienten häufte. Strafverteidigung politischer Fälle, Steuerrechtsverfahren, Wirtschaftsstrafverfahren und Vertretung von Sozialisierungsopfern konnten den einzelnen Rechtsanwalt um seine Lizenz und auch seine persönliche Freiheit bringen, wenn er sich den kommunistischen Maßnahmen entgegenstellte.

Seit 26. 4. 1950 konnte sogar Rechtsanwälten die Zulassung entzogen werden, wenn sie sich weigerten, aktiv bei der „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“ (DSF) oder der „Nationalen Front“ (NF) mitzuarbeiten. Zur gleichen Zeit begann die Propagierung der „Anwaltsgenossenschaften“, über die man den Rechtsanwaltsberuf zu kollektivieren versuchte. Wegen völligen Mißerfolges wurde diese Absicht später fallengelassen. Dafür erließ die SBZ-Regierung am 15. 5. 1953 die „Verordnung über die Bildung von Kollegien der Rechtsanwälte“. Danach dürfen als Verteidiger und Anwälte in Zivilprozessen sowie für staatliche Dienststellen nur Mitglieder von Kollegien herangezogen werden.

Am 8. 12. 1949 wurde durch Gesetz das „Oberste Gericht“ und die „Oberste Staatsanwaltschaft der DDR“ ins Leben gerufen. Ihre Aufgabe war es, die Sowjetisierungsmaßnahmen durch Schauprozesse, Ermittlungsverfahren und Kassationen zu unterstützen und voranzutreiben. Die „Rote Guillotine“, Dr. Hilde Benjamin, und Dr. Ernst Melsheimer, beides fanatische Kommunisten, waren die geeigneten Personen für diese neu-geschaffenen Ämter. Mit dem „Gesetz über die Staatsanwaltschaft der DDR“ vom 1. 6. 1952 wurde die Staatsanwaltschaft endgültig zum politischen Instrument. Haft-und Strafvollzugsanstalten wurden ihr unterstellt, sie konnte aber in der Praxis nicht die Kontrolle über den SSD und die „Zentrale Kontrollkommission“ (ZKK) übernehmen. Beide Geheimpolizeiapparate unterstehen auch heute noch nur der SED. — Durch die „Verordnung über die Neugliederung der Gerichte“ vom 2. 9. 1952 erfolgte die letzte Zentralisierungsmaßnahme auf dem Gebiet des Rechtswesens. Anstelle der bisherigen Landes-und Oberlandesgerichte traten die neuen „Bezirksgerichte“, anstelle der Amtsgerichte die „Kreisgerichte“. Zu dieser Zeit waren bereits 70 °/o aller Richter und 94 °/o aller Staatsanwälte Mitglieder der kommunistischen SED.

Es gibt seit Bestehen der SBZ kaum eine Gesetzgebung, die wie die obengenannte direkt und indirekt auf die Abwanderung der Bedrohten nach dem Westen einwirkte. Sie krönte die Entrechtung des Bürgers und führte sich selbst ad absurdum durch die Verhaftung des SED-Justizministers (früher Gemüsehändler) Max Fechner am 16. 7. 1953, der selbst entscheidenden Anteil am Entstehen dieser Terrorgesetzgebung hatte.

Die Mediziner haben in der sowjetischen Gesellschaftsform nur die Aufgabe, die Arbeitskraft (Produktionskraft) des Einzelnen zu erhalten. Die ärztliche Ethik, die jedem Menschen Hilfe und Heilung zugesteht, muß sich damit zwangsweise der wirtschaftspolitischen Planung unterordnen.

Die freipraktizierenden Ärzte lebten im Gegensatz zu den Amtsärzten, Krankenhaus-Chefärzten, Ordinarien der LIniversitäten und anderen leitenden ärztlichen Persönlichkeiten lange Zeit noch relativ unangefochten. Mit der einsetzenden Sozialisierungsphase („Aufbau des Sozialismus“) entstand eine Gefährdung für die Betriebsärzte, die von der SED und dem FDGB die „Krankenquote“ vorgeschrieben bekamen und sehr häufig in schwerste Gewissenskonflikte gestürzt wurden, da die kontingentierten Krankenscheine nicht ausreichten.

Mit dem 1949 beginnenden breiten Ausbau des Poliklinik-Wesens wurde der Lebensraum der freipraktizierenden Ärzte stark eingeengt. Die steuerliche und ernährungsmäßige Benachteiligung der freien Ärzte gegenüber dem Poliklinikpersonal tat ein übriges zu dem erpresserischen Zwang, mit dem die SED die freien Ärzte unter ihre Kontrolle zwingen wollte. Die am 23. 2. 1949 erlassene „Anordnung der Deutschen Wirtschaftskommission über die Niederlassung der Ärzte“ eröffnete zudem die Möglichkeit einer absoluten Kontrolle des ärztlichen Berufes, der damit bis heute einer permanenten Belastung ausgesetzt ist, die aber nur selten zur direkten persönlichen Gefährdung führt. (Was wahrscheinlich auf den akuten Ärztemangel zurückzuführen ist, da die Ärzteschaft nicht ausreicht, epidemisch auftretenden Krankheiten zu begegnen. Lind wenn es etwas gibt, vor dem die Sowjets panische Angst haben, so sind es größere Epidemien.)

Unter ähnlichen Verhältnissen haben die Zahnärzte und Dentisten und das medizinische Personal zu leiden. Die Abwanderung besonders der letztgenannten Personengruppe nach dem Westen ist sehr stark. Politische Bespitzelung, „gesellschaftswissenschaftliche Schulungen“ nach Feierabend, Aufbausonntage, Demonstrationen und Resolutionen verleiden dem medizinischen Hilfspersonal die Lust zur Arbeit. Der christliche Einfluß in der Krankenpflege ist besonders seit 195 3 stark zurückgedrängt worden. In Dresden werden auf der „Schule für leitende Schwestern“ Kurzkurse mit vorwiegend politischem Ausbildungsprogramm durchgeführt, um den Mangel an medizinischem Hilfspersonal auszugleichen.

Heute ist der Krankenstand in der SBZ doppelt so hoch wie in der Bundesrepublik, die Situation auf dem Gebiet der Gesundheitspflege dagegen ist niederdrückend. Das Fangnetz der Verbote (Medikamente aus dem Westen, erhöhten Arzneimittelverbrauch für diagnostische Zwecke usw. betreffend) ist so eng, daß mit einer weiteren Abwanderung der Ärzte gerechnet wird. Die Situation wird sich kaum ändern, solange nicht die Politik vor den Türen der Ärzte-und Krankenzimmer haltmacht.

Die berufliche Gefährdung der Apotheker setzte praktisch erst mit dem 2. Juli 1949 ein, als die „Verordnung der Deutschen Wirtschaftskommission über die Neuregelung des Apothekenwesens“ herauskam. Im Zusammenhang mit der entsprechenden „Durchführungsverordnung" vom 6. 9. 1949 wurden die Privilegien, Real-und Personal-konzessionen annulliert. Die Apotheken wurden damit in „Volkseigentum“ übernommen, durften aber in bestimmten Fällen von den früheren Besitzern noch bis zu ihrem Tode verwaltet werden. Soweit die Apotheken Vermögenswerte darstellten, sollten die Betroffenen aus einer Ausgleichskasse entschädigt werden. (Die dafür notwendigen Durchführungsbestimmungen wurden nicht erlassen, was die ganze Entschädigung fraglich macht.) Am härtesten wurden dabei die Witwen und Waisen der Personalkonzessionäre getroffen, da Personalkonzessionen im Gegensatz zu Privilegien und Realrechten keine „Vermögenswerte“ darstellen. Neben diese existenzvernichtenden Maßnahmen traten noch zusätzliche Gefährdungsmöglichkeiten, wie z. B.der Verkauf von Westmedikamenten, Kritik an der Mißwirtschaft auf dem Arzneimittelsektor usw., so daß auch dieser von der Sowjetisierung so lange verschonte Beruf seinen Anteil an der Abwanderungsbewegung nach Westdeutschland stellen mußte.

Besonders gefährdet sind in der SBZ die Lehrer, da die Gewinnung der Jugend für das Sowjetsystem eine der wichtigsten Aufgaben der kommunistischen Innenpolitik ist. Der erzieherische Einfluß der Kirchen und Privatschulen wurde durch radikale Mittel ausgeschaltet, der des Elternhauses stark zurückgedrängt.

Die Lehrerschaft soll nach dem Wunsch des kommunistischen Systems die „Avantgarde“ kommunistischer Schulungen sein. Sie ist aus diesem Grunde besonderen Säuberungs-und Schulungsmaßnahmen unterworfen.

Der Lehrer gilt als „Funktionär der Volkserziehung“ und wird schärfstens auf seine Haltung überwacht.

Nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Mitteldeutschland erstarb jedes schulische Leben durch die Entlassung sämtlicher Lehrer. Erst im Sommer 1945 begann die schrittweise Wiederaufnahme der Schultätigkeit. Nur 25 bis 30 Prozent der früheren Lehrer durften wieder unterrichten, davon waren ca. 10 bis 16 Prozent PG gewesen. Im Herbst 1946 setzte eine Entlassungswelle von Lehrern ein, die früher PG waren oder dem Nazisystem nahestanden. Teilweise (besonders in Sachsen) nahmen die Maßnahmen terroristischen Charakter an und zwangen viele Lehrer zur Flucht nach dem Westen. Der starke Mangel an Lehrkräften wurde durch sogenannte „Neulehrer" ausgeglichen, die man in vielen Fällen sogar aus den Industriebetrieben holte und unvorbereitet vor die Schulklassen stellte. Nach Eignung wurde nicht gefragt, und die Zugehörigkeit, zur SED galt als besondere Empfehlung. Neue Entlassungen ließen nicht lange auf sich warten. Sie betrafen an erster Stelle CDU-und LDP-Mitglieder (Begründung: pädagogische Unfähigkeit), an zweiter Stelle erfaßte die Entlassungsaktion „Neulehrer“, die wegen unmoralischer Lebensführung für die Schule untragbar waren. Der verbleibende Neulehrerrest (meist ehemalige Oberschüler mit oder ohne Abiturabschluß) bemühte sich in der Folgezeit nicht ohne Erfolg um das pädagogische Rüstzeug. An erster Stelle jedoch wurde ihr Beruf durch die politische Haltung gesichert oder gefährdet. 1948 begann — wieder in Sachsen zuerst — der „Kampf gegen den Objektivismus“ er richtete sich besonders gegen die Religionslehrer und die Geschichtslehrer, die die „materialistische Geschichtsauffassung" ablehnten. Zur Erteilung des Geschichtsunterrichtes wurden Sondergenehmigungen eingeführt, die vom politischen Bekenntnis abhängig waren. „Objektivistische" Lehrkräfte wurden unter gesuchten Vorwänden entlassen. 1950 erreichte dieser „Kampf gegen den Objektivismus" seinen ersten Höhepunkt. Der zweite trat 1952 nach der Verkündung des „Aufbaus des Sozialismus“ ein. Der Kampf der Kommunisten gegen die evangelische „Junge Gemeinde“ und den Religionsunterricht zog viele Lehrer in Mitleidenschaft. Der „Neue Kurs" (1953) brachte nur eine kurze Ruhe-spanne. Schon im Herbst 195 3 verschärfte sich die Lage der Lehrerschaft wieder. Die „Erziehung der Jugend zum Kommunismus“ wurde als Erziehungsmittel offiziell proklamiert. Die daraus resultierende Fluchtwelle der Lehrer hielt bis Anfang 19 54 an. (Ein Unterschied in der Behandlung von Lehrern mit akademischen Examina, alten Volksschullehrern und Neulehrern besteht nicht mehr, zumal in der SBZ die Einheitsschule mit Grundstufe und Oberstufe eingeführt ist, die die frühere Parallelität von Volks-und Oberschule aufhebt.)

Das politische oder persönliche Schicksal der Universität s-dezenten und Studenten hing stark vom Schicksal der freien Universität ab. Universitäten waren zu allen Zeiten Widerstands-zentren gegen Diktatur und reaktionäre Borniertheit. Sie waren damit ein Hort der Freiheit und verstanden diese auch über die Jahrhunderte hin gegen alle Übergriffe zu verteidigen.

Für den Kommunismus ist die Universität eine „Hochburg bürgerlicher Klassenherrschaft". Er muß sie sowjetisieren, um den wissenschaftlichen Nachwuchs unter seine Kontrolle zu bringen.

Die Sowjetisierung des Hochschulwesens in der SBZ vollzog sich in drei großen Phasen. Die erste umschloß die Jahre von 1946 bis 1949. In dieser Zeit dominierten im akademischen Lehrkörper und in den studentischen Selbstverwaltungen die bürgerlichen Kräfte. Das Ziel der SED, die nichtkommunistische Mehrheit mit allen Mitteln (auch denen des offenen Terrors) zu brechen, konnte bis 1949 nicht erreicht werden. Dafür waren allerdings die wesentlichen Grundlagen für die Sowjetisierung geschaffen worden in dem Ausbau der „proletarischen Stoßtrupps“, worunter die SED die rein kommunistisch beherrschten „Arbeiter-und Bauernfakultäten“, „Gesellschaftswissenschaftliche Fakultäten“ und „Pädagogische Fakultäten" verstand.

In dieser Zeitspanne, in der der Abiturient als „Klassenfeind“ galt und vom Studium augeschlossen wurde, forderte der Kampf gegen die Sowjetisierung der Universitäten viele Opfer. Über ein halbes Tausend Studenten und Dozenten wurden von den Sowjets verhaftet oder verschleppt; ungezählte hatten Verhöre über sich ergehen zu lassen und Tausende verließen die Zonenuniversitäten seit 1946, um in Westdeutschland weiterzulehren, bzw. weiterzustudieren.

Die zweite Phase umfaßt die Jahre 1950/51 und diente der Errichtung der SED-Herrschaft an allen Universitäten der Zone. Am längsten erhielt sich Greifswald eine bürgerliche Mehrheit. Doch die kommunistischen „Massenorganisationen“, besonders die fanatische FDJ, bestimmten das politische Leben an den Hochschulen und führten den offenen Kampf gegen alle Nichtkommunisten. Von Mitte 19 50 an wurde es den FDJ-Mitgliedern zur Pflicht gemacht, „objektivistische“ oder „abweichlerische" Äußerungen von Dozenten und Studenten zur Anzeige zu bringen. Unterlassung der Denunziation konnte empfindlich bestraft werden. 23 Dozenten und Assistenten (darunter einige Ordinarien) fielen im Herbst 1950 dieser Auseinandersetzung allein in Leipzig zum Opfer und wurden entlassen.

Mit der am 22. 2. 19 51 erlassenen „Verordnung über die Neuorganisation des Hochschulwesens" begann die dritte und letzte Phase der Sowjetisierung der Universitäten. Das „ 10-Monate-Studienjahr“ unterwarf die Universität endgültig der Planwirtschaft. Personalpolitisch wurde der SED-Einfluß fest verankert und die Nichtkommunisten verdrängt. Die Studenten werden heute durch ein vollkommenes Überwachungssystem zu linientreuen Kommunisten oder charakterfesten Notlügnern erzogen. Sie befinden sich in vollkommener wirtschaftlicher Abhängigkeit vom System. Damit sind die Universitäten planmäßig zu „Kaderschmieden des Kommunismus" geworden.

Die nach dem Zusammenbruch vorherrschende Papierknappheit gab den Sowjets die willkommene Gelegenheit, jedem nichtgenehmen Schriftsteller und Journalisten die Drucklegung seiner Werke zu verweigern. Der SED-gesteuerte „Kulturelle Beirat“ ließ vornehmlich sowjetfreundliche Publikationen zu. 1949 wirkte sich zudem noch die Verfolgung der „Objektivisten" aus. Damals wanderten viele bedeutende Vertreter der mitteldeutschen Publizistik nach dem Westen ab. Das System hatte ihnen die materielle Lebensgrundlage zerstört. Ähnlich ging es den Journalisten, die nach 194 5 trotz Zensur und Papierknappheit noch in dieser oder jener Zeitung nichtkommunistischen Geist zu Worte kommen lassen konnten. 1949 hoben die Sowjets die Vorzensur auf, die Nachzensur war dafür um so stärker. Die seit 1947 arbeitenden „Volkskorrespondenten“ hatten für die SED-Presse weniger publizistische als vielmehr nachrichtendienstliche Aufgaben. Sie bilden heute mit ihrem dichten Netz eine gefürchtete Spitzelorganisation und hatten entscheidenden Anteil an der Liquidierung nichtkommunistischer Publizisten.

Publizistik wird in der SBZ gleichgestellt mit Propaganda. Jeder Publizist unterliegt darum dem Maßstab, den das System an seine Propagandisten anlegt. Die Folge davon sind der schwere Gewissenskonflikt oder der willenlose Gehorsam gegenüber den gegebenen Direktiven. Die Nützlichkeit für das Sowjetsystem ist auch der Gesichtspunkt, nach dem freie Künstler und Spezialwissenschaftler in der SBZ beurteilt, gefördert oder verfolgt werden. Besonders schwierig gestaltete sich oft die Lage der Dolmetscher, die durch die Wirtschaftszentralisierung zumeist Staatsangestellte wurden. Sie gelten durch ihre Sprachkenntnisse für die sowjetische Geheimpolizei als besonders anfällig für Spionageaufträge im westlichen Sinne. Kaum ein Beruf hat darum mit derartigem Mißtrauen zu rechnen wie der des Dolmetschers.

Die Abwanderung der parteipolitisch Gebundenen

Abbildung 5

SED-Mitglieder:

Der SMAD-Befehl Nr. 2 vom 10. 6. 194 5 erlaubte die Gründung antifaschistischer, demokratischer Parteien für das Gebiet der SBZ. So wurden am 11. 6. 1945 die KPD und am 15. 6. 1945 die SPD gegründet. Die KPD erfreute sich des offensichtlichen Wohlwollens der sowjetischen Besatzungsmacht, konnte aber bei der Bevölkerung — im Gegensatz zur SPD — kein Vertrauen erringen. Darum war die sowjetische Militärverwaltung um die Position der Kommunisten besorgt und regte am 14. 7. 1945 die Bildung des „Antifaschistischen Blödes“ an, der eine parlamentarische Opposition unmöglich machen sollte.

Mit der Zwangskonstituierung der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschland“ (SED) begann ein neuer Abschnitt in der sowjetzonalen Parteigeschichte. Die sozialdemokratische Opposition gegen die SED verstärkte sich innerhalb und außerhalb der Partei, dies um so mehr, als die Wahlen 1946 in Berlin eine vernichtende Wahlniederlage der SED und in der Zone — trotz Beeinflussung — nicht die gewünschte Position erbrachten. Verhaftungen und Abwanderungen der sozialdemokratischen Oppositionellen häuften sich.

Innerhalb der SED begann Ende 1947 der Kampf der Kommunisten gegen die Parität. Schritt für Schritt wurden die sozialdemokratischen Funktionäre aus den Schlüsselpositionen von Partei und Verwaltung hinausterrorisiert. Mitte 1948 war von innerparteilicher Parität keine Rede mehr.

Die Vorteile, die das SED-Mitgliedsbuch einbrachte, ließ die Partei schnell zur Massenpartei werden. Dies veranlaßte die Sowjets, im Juli 1948 eine Generalreinigung der SED zu befehlen. Damit begann die Umformung der SED von der Massen-zur Kaderpartei. Als Belastungen traten bei dieser Säuberung auf: Sozialdemokratismus, Versöhnlertum, Schumacheragententum usw. Innerhalb kurzer Zeit wurden 230000 SED-Mitglieder aus der Partei ausgestoßen, aus ihren Stellungen verjagt und zum Teil verhaftet. Eine Fluchtwelle der Verfolgten nach dem Westen setzte ein. Die nunmehr geschaffene „Partei neuen Typus“ führte einen harten Kampf gegen alle „Abweichler“, worunter 1948 besonders der „Titoismus" zu verstehen war. Mit dem tschechischen Slansky-Prozeß erreichte eine innerparteiliche Auseinandersetzung der Moskau-Emigranten mit den früheren West-Emigranten der KPD ihren Höhepunkt. Walter Ulbricht, der Exponent des Moskauer Flügels, brachte die Funktionärgruppe um Paul Merker und Lex Ende (WestEmigranten!) zu Fall. Diese Auseinandersetzung begann seit dem 15.

November 1950 den Parteikörper erheblich zu erschüttern. Eine neue großangelegte Reinigungsaktion von einjähriger Dauer begann. Der Kampf galt allen Parteimitgliedern und innerparteilichen Gruppen, die nicht eindeutig auf der Linie Walter Ulbrichts lagen. Er wirkte sich stark auf die Abwanderungsbewegung nach dem Westen aus.

Am 9. 7. 1952 verkündet Walter Ulbricht den „Aufbau des Sozialismus“. Gleichzeitig setzt erneut der Kampf gegen die Kirchen und „Zionisten“ ein. Ulbrichts großer Gegenspieler, Franz Dahlem, fällt am 15. 5. 195 3. Er zieht eine Reihe hoher und niederer Funktionäre in seinen Sturz hinein. Im Juni-Aufstand 19 5 3 versagt die SED, viele ihrer Mitglieder können sich nur noch durch die Flucht vor der Verfolgung wegen Teilnahme am Aufstand retten. Mit Berijas Sturz in Moskau fallen schließlich seine deutschen Günstlinge Zaisser und Herrenstadt mit ihren Gesinnungsfreunden. Damit ist Ulbricht endlich alleiniger und unbestrittener Herr der Partei, die er nun durch die taktische Phase des „Neuen Kurses“ hindurch und wieder zum alten Kurs zurückführt. Es ist bemerkenswert, daß in der Zeit von 1947 bis 1954 der Mitgliederanteil der Arbeiter in der SED von 47, 9 auf 39, 1 Prozent zurückging.

CDU-Mitglieder:

Es gibt keine geistige Haltung, die dem Bolschewismus entgegengesetzter ist als das Christentum. So mußte eine Politik aus christlicher Verantwortung innerhalb kurzer Zeit in scharfe Opposition zur sowjetischen SED-Politik geraten. Die CDLI trat als erste Partei gegen die Methoden der sowjetischen Besatzungsmacht auf.

Ein schwerer, zermürbender Kampf setzte ein, der jeden Monat CDU-Mitglieder zwang, nach dem Westen zu entfliehen, um der drohenden Verhaftung auszuweichen.

Am 6. 2. 1950 nach der bereits eingangs dargelegten Entwicklung beschloß der Nuschke-Dertinger-Vorstand, die CDU-Mitglieder schriftlich auf die Oder/Neisse-Linie zu verpflichten. Dieses Erpressungsmanöver brachte viele Opponenten in Gefahr. Sie wurden verhaftet oder konnten sich der Gefahr durch Flucht nach dem Westen entziehen. Drei Landesminister (Witte-Mecklenburg, Schwob-Brandenburg und Rohner-Sachsen) und zwei Landesvorsitzende der CDU (Prof. Hickmann-Dresden, Prof. Fascher-Halle) wurden zum Rücktritt gezwungen. Neue Männer, die das volle Vertrauen der Sowjets besaßen, drängten sich vor: Dertinger, Götting, Rambo, Dedek u. a.

Im Oktober 1951 war die Parteiführung schließlich gleichgeschaltet.

Auf dem Parteitag in Meißen bekannte sich die CDU zum „christlichen Realismus“ und zum „Friedenslager der Sowjetunion“. Übrig blieb noch die völlige Unterwerfung unter die SED, die durch die Zustimmung zum „Aufbau des Sozialismus“ erfolgte. — Am 15. 1. 195 3 wurde Georg Dertinger, der „DDR-Außenminister“, verhaftet, was eine General-säuberung der Partei zur Folge hatte, die die letzten antikommunistisehen Funktonäre entfernte. Seit dieser Zeit kann echte freiheitliche Gesinnung christlich-demokratischer Prägung nur noch in der Illegalität existieren.

LDP-Mitglieder:

Der Liberalismus als die Kraft, die die Freiheit im Denken und Handeln als oberstes politisches Ziel verfolgt, mußte mit dem System der Unfreiheit unweigerlich in schärfste Konflikte kommen. Zwischen liberaler und sowjetischer Politik sind unüberbrückbare Gegensätze vorhanden. Die LDP wurde am 16. 6. 1945 gegründet und versuchte in ihrem Parteiprogramm liberales Gedankengut mit den politischen Notwendigkeiten der SBZ auf einen Nenner zu bringen. Wie bei der CDU entstand auch für die Mitglieder der LDP starke Gefahr in dem harten Wahlkampf des Jahres 1946. Die Opposition der LDP erstreckte sich besonders auf das wirtschaftspolitische Gebiet. Verhaftungen und terroristische Maßnahmen gegen LDP-Mitglieder begannen. Im Juni 1947 spaltete sich die Berliner Gruppe unter Schwennicke von der konzessionsbereiten LDP-Führung der SBZ. Damit begann die Verfolgung der „Schwennicke-Agenten“. Am 10. 2. 1948 trat der Landesverband Berlin aus der LDP aus und konstituierte sich neu als Landesverband der FDP. Inmitten der schwersten Auseinandersetzungen starb am 10. April 1948 der LDP-Vorsitzende Dr. Külz. Sein Nachfolger Arthur Lieutenant mußte später die Zone fluchtartig verlassen.

1949 wurden zwei Konzessionäre, Dr. Hamann und Prof. Kastner, zu gleichberechtigten Vorsitzenden gewählt. LInter ihrer Leitung wurde das liberale Parteiprogramm der Sowjetisierungspolitik angepaßt. Diese Maßnahmen wurden von Verfolgungen gegen die oppositionellen Liberalen begleitet, die z. T. nur mit größter Mühe der Verhaftung entgehen konnten, wie fünf Landtagsabgeordnete von Brandenburg, die 1949/50 Gegenstand schärfster Presseangriffe wurden und nach dem Westen fliehen mußten. — Die Folge davon war eine Säuberung im Landesverband Brandenburg der LDP und die schriftliche Verpflichtung aller LDP-Funktionäre auf die Oder/Neiße-Linie. Im Zusammenhang mit der erregten Diskussion um die Wahl-Einheitsliste, die von der Parteileitung am 24. 3. 1950 angenommen wurde, begann am 25. 3.

1950 in Dresden eine Verhaftungswelle von LDP-Funktionären.

Im Juli 1950 wurde unerwarteterweise Prof. Kastner als Vorsitzender abgesetzt und aus der Partei ausgeschlossen. Seine Anhänger wurden z. T. verfolgt, ohne daß er selbst bei den Sowjets in Llngnade fiel.

Kastners Nachfolger wurde Dr. Loch, der sich mit Hamann zusammen zur kommunistischen Wirtschaftspolitik bekannte und am 17. 7. 1952 den „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ offen unterstützte. Etwa 37 Prozent der Mitglieder traten von 1948 bis 1953 aus der LDP aus, wurden verhaftet oder flohen nach dem Westen. Bei der CDLI waren es im gleichen Zeitraum etwa 30 Prozent.

Am 12. 12. 1952 wurde der Versorgungsminister Dr. Hamann vom SSD verhaftet. Wie beim Parallelfall Dertinger (CDLI) schloß sich auch hier eine Generalsäuberung an, die alle exponierten Gegner Dr. Lochs bedrohte. Ende Mai 19 5 3 wurde die Säuberung beendet, um kurz nach dem Juni-Aufstand in bisher nicht dagewesenem Ausmaß neu zu beginnen. Höhepunkte erreichte die Verhaftungswelle in den Bezirken Berlin, Chemnitz, Leipzig und Halle.

NDP-und DBD-Mitglieder:

Die Gründungen der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ (16. 6. 1948) und der „Demokratischen Bauernpartei Deutschlands“ (16. 6. 1948) durch von den Sowjets beauftragte frühere KP-Funktionäre waren taktische Maßnahmen und haben sich auf die Abwanderung aus der SBZ nach dem Westen nicht ausgewirkt; sie sind darum für unsere Darstellung von peripherer Bedeutung.

Mitglieder der „Massenorganisationen“:

Die anfänglich als „überparteiliche Jugendorganisation gegründete „Freie Deutsche Jugend“ wurde am 28. 1. 1948 von den CDLI-und LDP-Vertretern unter Protest gegen die kommunistische Vorherrschaft verlassen. Das löste die erste Verhaftungswelle gegen FDJler aus, die der CDLI oder LDP angehörten. Seit Mai 1949 ist die FDJ endgültig zur Parteijugend der SED geworden. Jede oppositionelle Haltung gilt als politische Belastung und kann Verfolgung und Inhaftierung nach sich ziehen. Die Aufgabe der FDJ ist es, die gesamte Jugend im kommunistischen Sinne zu beeinflussen und den Nachwuchs für die „Volkspolizei“ zu stellen. Die Organisation übt auf ihre Mitglieder starken Druck aus, was die Abwanderung der Jugendlichen aus der SBZ teilweise beeinflußt. Am Juniaufstand waren besonders viele FDJ-Angehörige beteiligt, diese Tatsache hatte eine starke Säuberung nach dem Aufstand zur Folge, die den Betroffenen an Freiheit, Leben und Existenz Schaden brachte. Der Prozentsatz der Jugendlichen unter den SBZ-Abwanderern stieg in dieser Zeit sehr stark. — Trotz aller dieser Maßnahmen befinden sich noch viele oppositionelle Jugendliche in der FDJ, die ein unsichtbares Gegengewicht gegen die fanatischen jung-kommunistischen Kader bilden.

Der „Freie Deutsche Gewerkschaftsbund''ging wie die FDJ den Weg von der „überparteilichen“ zur kommunistischen Massenorganisation. Seine Funktionäre sind zum größten Teil gleichzeitig SED-Funktionäre, so daß sein Einfluß auf die Abwanderung aus der SBZ weitaus identisch ist mit dem Einfluß der SED-Parteipolitik. Am Juni-Aufstand 1953 waren viele FDGB-Mitglieder beteiligt, die danach starken Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt waren. Desgleichen brachte die Diskussion um den „Betriebskollektivvertrag" (8. 6. 1950) viele Gewerkschafter in Gefahr und zwang sie zur Flucht nach dem Westen.

In der gleichen Weise wie FDJ und FDGB haben auch die anderen Massenorganisationen kommunistische Führungen. Sie sind darum besonders eng mit dem Schicksal der SED verbunden. Dies schließt nicht aus, daß örtlich und zeitlich begrenzte Gefährdungsmomente bei dieser oder jener Organisation auftreten, die sich auf die Zonenabwanderung auswirken.

Volkspolizisten:

Der Einfluß der „Volkspolizei“ auf die Fluchtbewegung nach dem Westen ist vielfacher Art. An erster Stelle wirkte sich der Terror der politischen Kriminalpolizei (K 5) und seiner Nachfolgeorganisation, des Staatssicherheitsdienstes, auf die Abwanderung der Bedrohten aus.

Zweitens brachten die „Werbemethoden“ für kasernierte Einheiten der „Volkspolizei“ viele junge Menschen in Gewissenskonflikte und echte Gefahr, soweit sie den Erpressungsversuchen standhalten wollten.

Zum dritten wirkte sich die Flucht der Volkspolizisten selbst stark auf die Zusammensetzung des Abwanderungsstromes aus. Die VP war mehrfach rigorosen Säuberungsmaßnahmen ausgesetzt; die erste begann am 30. 5. 1949 und erstreckte sich besonders auf politisch nicht zuverlässige Elemente. Die im Gefolge dieser Säuberung auftretenden Verhaftungen verleiteten viele Volkspolizisten zur Abwanderung nach Westdeutschland oder Westberlin.

Im Dezember 1950 begann eine neue, einjährige Säuberung, die sich allerdings milder als die vorhergegangene auswirkte und nur einige politische Oppositionelle so gefährdete, daß Verhaftung oder Abwanderung erfolgten.

Nach dem Juni-Aufstand 19 53, an dem die „Volkspolizei" nicht den Erwartungen der Sowjets entsprach und sich teilweise weigerte, auf Demonstranten zu schießen, begann die dritte große Säuberungswelle, die in standrechtlichen Erschießungen und der Inhaftierung von etwa 6000 Volkspolizisten gipfelte. Sie wirkte sich besonders stark auf die Abwanderung aus. Seit dieser Zeit finden täglich Volkspolizisten die Möglichkeit, nach Westberlin oder Westdeutschland zu entkommen. Sie gelten als „Deserteure" und haben bei Ergreifung durch den SSD mit schärfsten Strafen zu rechnen.

Die Religionsgemeinschaften

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Die tödliche Religionsfeindschaft des Kommunismus ist allgemein bekannt. Über sie braucht darum an dieser Stelle nichts gesagt zu werden. Wichtig aber ist, daß sich die unversöhnliche Gegnerschaft auf die Kirchen und auf das Glaubensbekenntnis bezieht. Die Kirchen sind für die Kommunisten „Apparate“ mit diszipliniertem „Organisationsleben“. Obendrein vertreten diese „Apparate nach sowjetischer Auffassung eine „aggressive Ideologie“, damit ist der Missions-und Bekenntnischarakter des Christentums gemeint. Die Sowjets wissen sehr wohl, daß ihnen im Grunde nur eine Bewegung gefährlich werden kann, die sich nicht im „Anti“ erschöpft, sondern positive Werte postuliert und verteidigt, die „ideologisch“ von der Richtigkeit ihres Weges überzeugt ist und dem Kadersystem der Kommunisten eine ebenso disziplinierte Auslese gegenüberstellen kann, hinter diesem Gesichtspunkt wird der Kampf gegen das Christentum für den Weltkommunismus zur schlechthin existenzentscheidenden Auseinandersetzung.

Die evangelische Kirche Der überwiegende Teil der SBZ-Bewohner ist evangelischen Bekenntnisses. Da der evangelische Christ nicht unter einer so straffen Kirchendisziplin wie der katholische steht, hoffte man, ihn gewinnen oder zur Passivität zwingen zu können. Diese Hoffnungen haben sich zerschlagen, die Evangelische Kirche in der SBZ steht heute fester gefügt denn je dem kommunistischen Machtanspruch gegenüber.

Der erste Schlag gegen Religion und Kirche war die Abschaffung der Konfessionsschulen und die Verbannung des Religionsunterrichts aus der „Einheitsschule“. Die Jugend sollte atheistisch erzogen werden. Den Religionslehrern wurde nur außerplanmäßig und mit Genehmigung der Eltern die Erteilung des Religionsunterrichtes gestattet, hinter Bischof Dibelius wehrte sich die Evangelische Kirche gegen die Beschneidung religiöser Rechte. Die Folge davon war ein Vorstoß der Sowjets, der die Kirchenleitungen von den Gemeinden trennen sollte, die man über die gleichgeschaltete Ost-CDU dem System unterordnen wollte. Diese Versuche scheiterten an der festen Haltung der Geistlichen und Gemeinde-mitglieder. Wer sich in dieser Auseinandersetzung mit dem System besonders hervortat, wurde zwar nicht verhaftet, galt aber als belastet und „fortschrittsfeindlich".

Der dritte Schlag gegen die Kirchen sollte ihre Finanzgrundlage erschüttern. Der Staat zog ab 1949 die Kirchensteuern nicht mehr über seine Steuerämter ein, sondern ließ sie von den Kirchen selbst eintreiben, was eine ungewöhnlich hohe (weil staatlich propagierte) Austrittsquote zur Folge hatte.

Nach der Gründung der „DDR“ wurden die Pastoren in den Gottesdiensten schärfer als bisher überwacht. Dadurch entstand teilweise eine beachtliche Gefährdung; denn bereits die Verkündung der reinen Lehre barg für den Aufmerksamen leidenschaftliche Ablehnungen des menschenfeindlichen Regimes. Die Gesetze, daß religiöse Handlungen „nicht für verfassungswidrige oder parteipolitische Zwecke mißbraucht werden“ dürfen, wurden von den kommunistischen Überwachungsorganen willkürlich ausgelegt.

Mit dem „Aufbau des Sozialismus" (Juli 1952) verschärfte sich der Kampf besonders gegen die Evangelische Kirche und ihre „Junge Gemeinde“, den nichtorganisatorischen Zusammenschluß der Kirchenjugend. Am 28. 4. 1953 wurde diese als „illegal“ erklärt und ihre Mitglieder wurden von den Schulen und Universitäten verwiesen und in vielen Fällen inhaftiert. Jugendpfarrer oder Geistliche mit ökumenischen Beziehungen waren in dieser Verfolgungszeit besonders gefährdet. Etwa 50 von ihnen befanden sich in Haft, als am 9. Juni 1953 der „Neue Kurs“ wesentliche Entspannungen brachte. Diese waren jedoch nur vorübergehender Art, weil taktischen Charakters. Nach dem gesamtdeutschen Evangelischen Kirchentag in Leipzig (11. Juli 1954) entstanden für freimütige Diskussionsteilnehmer aus der SBZ neue Gefahren. Sie erhöhten sich mit der Diskussion um die sogenannten „Jugendweihen", die die Konfirmanden auf die atheistische Weltanschauung des Kommunismus verpflichten sollten. Die katholische Kirche Die allgemeine Stellung der Katholischen Kirche im kommunistischen Staatswesen der sogenannten „DDR“ ist weithin dieselbe wie die der evangelischen Glaubensbrüder. Hinzu kommt aber ein innerer Unterschied, der die Haltung des Kommunismus zum Katholizismus entscheidend bestimmt: Die Katholiken stehen in ihrer Gesamtheit treu zur Kirchenleitung in Rom. Dies nicht nur in der SBZ, sondern auch in den anderen sowjetisch besetzten Ländern. Damit wirkt der Machtanspruch der übernationalen Kirche Roms in den Machtbereich des Sowjetsystems hinein. Zwischen Katholizismus und Kommunismus gibt es darum keine Koexistenz; diese Tatsache ist von beiden Teilen erkannt und bestimmt die Auseinandersetzung. Ein Vorteil für das Sowjetsystem ist es dabei, daß in der SBZ nur der thüringische Kreis Eichsfeld ein geschlossenes katholisches Siedlungsgebiet ist. Die übrigen Katholiken leben in der Diaspora unter den Protestanten und sind zum großen Teil Heimatvertriebene. Der Kampf gegen die Kirche vollzog sich in den gleichen Phasen und mit den gleichen Methoden wie die Auseinandersetzung mit der Evangelischen Kirche. Im katholischen Eichsfeld begann er bereits 1946 nach der Kommunalwahl mit aller Härte. Die seitdem eingetretene Verschärfung des Verhältnisses zwischen Vatikan und Weltbolschewismus wirkt sich stark auf die Sicherheit der Katholiken in der SBZ aus. Die Kirchengemeinden halten fest zusammen, sie stehen in der permanenten Abwehr des kommunistischen Machtanspruches.

Die „Zeugen Jehovas“ und andere Sekten Die sogenannten „Bibelforscher“ erfreuten sich von vornherein der besonderen Aufmerksamkeit des Systems, da sie als absolute Pazifisten mit der sowjetischen „Friedens“ -Propaganda nicht in Konflikt gerieten. Ab 1947 jedoch galten sie als belastete Sektierer und „Westagenten“, die den „Aufbauwillen" und später den „Verteidigungswillen" der SBZ-Bewohner untergraben. Seit 1952 erfolgten in stärkerem Maße Verhaftungen von Bibelforschern, die nicht selten dieses-Martyrium bewußt suchten. Ein kommunistischer Unterwanderungsversuch dieser Sekte schlug fehl.

Die Zugehörigkeit zu anderen Sekten gilt grundsätzlich als „gesellschaftsfeindliche“ Betätigung. Dies ist besonders dort der Fall, wo internationaler brüderlicher Sektenverkehr besteht, der der hysterischen Spionagefurcht des Kommunismus untragbar erscheint.

Die Zionisten Kurz nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches wurden die verfolgten Juden von der sowjetischen Militärverwaltung besonders unterstützt. Sie mußten als Hauptverfolgte des NS-Systems ausgiebig für Propagandazwecke herhalten. Über den (Zwangs-) Zusammenschluß in der VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes) versuchte man sie zu Kommunisten umzuerziehen, was in den meisten Fällen mißlang. Seit dem Rayk-Prozeß in Ungarn (1950) ließ die Bevorzugung der nichtkommunistischen Juden stark nach.

Am 9. 5. 1952 verlangte die VVN unerwarteterweise von den Leitern der Jüdischen Gemeinden eine Listenaufstellung der Mitglieder. Kurz darauf begann die Befragung durch den SSD nach Verbindungen zum Staate Israel, zum Palästina-Amt und nach den Empfängern von Joint-Paketen. (Diese Aktion war eine unmittelbare Folge des Slanskyprozesses in der Tschechoslowakei).

Im Herbst 1952 begannen starke Presseangriffe gegen die Joint und den Zionismus, die „verbrecherische Agentenzentralen“ genannt wurden. Am 5. 1. 1953 eröffnete das SED-Organ „Neues Deutschland" die Kampagne gegen die Joint-Paketempfänger und die Hilfsarbeit der jüdischen Gemeinden. Damit war der Antisemitismus wieder zum politischen Kampfmittel geworden.

Am 10. 1. 1953 erreichte diese Auseinandersetzung ihren Höhepunkt, indem der jüdische SED-Volkskammerabgeordnete Julius Mayer alle Gemeindevorsitzenden aufforderte, mit ihren Familien die SBZ zu verlassen, um der Verhaftung zu entgehen. Damit begann die jüdische Abwanderung, die innerhalb weniger Tage über 500 jüdische Familien nach Westberlin fliehen ließ.

Gefährdungsmomente bei sonstigen Bevölkerungsgruppen

Abbildung 7

Über den Rahmen dieser Untersuchung würde es hinausgehen, wollte man die LIrsachen und Motive der Abwanderungen aus der SBZ lückenlos und umfassend darstellen. Hier können nur die großen Linien aufgezeigt werden, die wichtigsten Tatsachen, Tendenzen und Reaktionen. Aus diesem Grunde müssen einige Bevölkerungsgruppen, die zeitweise starken Anteil an der Abwanderungsbewegung hatten, summarisch betrachtet werden, obgleich jede einzelne von ihnen bei ausführlicher Würdigung den Raum der gesamten hier vorliegenden Untersuchung beanspruchen würde.

Die ehemaligen Berufssoldaten und Angehörigen von Spezialeinheiten hatten seit 1945 in der SBZ unter starken Schikanen zu leiden, waren aber nur unter bestimmten Voraussetzungen gefährdet. Ab 1948 wurden sie teilweise sogar zum Eintritt in die „Volkspolizei“ umworben. Angehörige der Abwehr, der geheimen Feldpolizei, Feldgendarmerie, Propagandatruppen, Wehrmachtsgerichtsbarkeit, Polizeibataillone, Kreis-und Feldkommandanturen, Eisenbahnkommandanturen, sämtlicher SS-Divisionen und der Panzerkorps „Feldherrnhalle“ und „Großdeutschland“ mußten mit Verhaftung rechnen. Sie setzten sich darum zum großen Teil bei Bekanntwerden dieser „Belastung“ nach Westdeutschland ab. Desgleichen waren Stabs-, Abwehr-, SS-Offiziere und Wehrmachstrichter gefährdet. Sie stellten einen hohen Anteil bei den ersten Verhaftungswellen.

Spezielle Abwanderungsursachen der Oberschüler entstanden meistens aus unbedachten antikommunistischen Äußerungen im Unterricht, aus Eintrittsverweigerung in die FDJ oder Zugehörigkeit zur evangelischen Jungen Gemeinde. Der Anteil der Oberschüler an sinnvollen oder leichtsinnigen Widerstandshandlungen ist besonders hoch, dementsprechend der Anteil der jugendlichen politischen Häftlinge. Das wirkte sich stark auf die Abwanderungsbewegung aus, da neben den tatsächlich gefährdeten Oberschülern viele andere nach dem Westen umsiedelten, um ihre Schulausbildung in Freiheit abschließen zu können.

Besonders stark sind die aus den ostdeutschen und außerdeutschen Ländern vertriebenen Menschen an der Abwanderung aus der SBZ nach dem Westen beteiligt. Jeder vierte Heimatvertriebene, der anfangs in die SBZ umgesiedelt wurde, wanderte später nach dem Westen weiter. Das hatte mehrere LIrsachen. Die Menschen hatten noch nicht richtig Fuß gefaßt und zu ihrer neuen mitteldeutschen Wohnstätte noch kein Heimatverhältnis bekommen. Zudem versuchten sie verständlicherweise aus dem sowjetischen Machtbereich herauszukommen, da ihnen die Erlebnisse der Vertreibung und Besetzung noch deutlich vor Augen standen.

An zweiter Stelle waren wirtschaftliche Motive (besonders nach dem wirtschaftlichen Aufschwung in Westdeutschland) maßgebend, die eine bessere ökonomische Lebenssicherung versprachen. — Ab 1950 untersagte die „DDR“ -Regierung alle Vertriebenenvereinigungen und erblickte in der Traditionspflege indirekte Propaganda gegen die Oder/Neiße-Linie. In dieser Frage versteht das Sowjetsystem keinen Spaß. Jede Äußerung gegen die willkürliche Grenzziehung gilt als „Boykotthetze und wird erbarmungslos verfolgt.

Auch die Rußlandheimkehrer konnten mit dem System in Konflikt geraten, wenn sie aus den Gefangenenlagern berichteten. Sie waren die einzigen nichtkommunistischen Deutschen, die die Sowjetunion z. T. während des Krieges und auch nach dem Kriege wahrhaft „erlebten", ihr objektives Urteil wird noch mehr gefürchtet als ihre subjektive Ablehnung des Sowjetsystems. Anders ist der Fall bei den Westheimkehrern. Soweit sie nach dem 31. 12. 1948 aus westlicher Kriegsgefangenschaft kamen, galten sie rundweg als spionageverdächtig und standen unter besonderer Überwachung. Verlebten sie ihre Gefangenschaft in nordamerikanischen, kanadischen oder nach 1948 in jugoslawischen Lagern, mußten sie mit schwersten Verdächtigungen rechnen.

Ehemalige Naziverfolgte galten nach dem Zusammenbruch als „Opfer des Faschismus“ (OdF) und genossen gewisse Vorrechte. Sie wurden besonders stark umworben, in der SED aktiv mitzuarbeiten. Zu diesem Zwecke gründete man am 23. 2. 1947 die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes" (VVN), die als anfangs „überparteiliche Massenbewegung" die OdF in ihrer Gesamtheit für den Kommunismus gewinnen sollte. Dies mißglückte bei jenen Antifaschisten, die jeglichen Totalitätsanspruch ablehnten. 1950 verlor darum die VVN einen großen Teil ihrer Mitglieder durch Austritt. Viele fanden sich kurze Zeit darauf in den sowjetzonalen Zuchthäusern wieder, andere konnten sich der Verhaftung und Verfolgung nur durch Westflucht entziehen. Im Februar 1953 wurde dann die VVN aufgelöst und in eine reine SED-Organisation, das „Komitee antifaschistischer Widerstandskämpfer“, umgewandelt.

In der gleichen Zeit, als ehemalige Antifaschisten von der SED als Staatsfeinde behandelt wurden, war bereits die Diskriminierung der NSDAP-Mitglieder weitgehend abgebaut. Nadi 1948 war die Verhaftungsgefahr für belastete ehemalige Nationalsozialisten geringer geworden. Viele Naziaktivisten hatten sich dem neuen System dienstbar erwiesen und wurden von weiteren Benachteiligungen verschont. Der größere Teil jedoch zeigte, daß er aus der Geschichte zu lernen verstand und befleißigte sich einer antitotalitären Haltung. Der Kern der ehemaligen Aktivisten des Hitlersytems, die NS-Funktionäre bis zum Block-und Zellenleiter herab, waren 1945/46 unmittelbar nach dem sowjetischen Einmarsch verhaftet und in die KZ-Lager Torgau, Mühlberg, Buchenwald u. a. verbracht worden.

Besonders schwer ist das Los der ehemaligen politischen Sie H ä f 11 i n g e, die im SED-System eine Strafe abgebüßt haben. gelten als Menschen minderen Rechts, werden streng überwacht und haben mit schwersten Benachteiligungen zu rechnen. Oft müssen sie für den SSD Spitzeldienste leisten. Jede Verlautbarung über die Haftumstände kann sofortige Wiederverhaftung nach sich ziehen. Dies alles hat zur Folge, daß sich viele der ehemaligen Häftlinge sofort nach dem Westen absetzen, sobald sie in Freiheit gekommen sind.

In ähnlicher Form und zu jeder Zeit gefährdet sind ehemalige russische Emigranten und Osteuropadeutsche gewesen. Zu Tausenden wurden sie zwangsweise „repatriiert“, und wer den nächtlichen Verschleppungsaktionen zu entgehen vermochte, suchte seine Rettung in der Flucht nach dem Westen, zumal die beiden großen Repatriierungswellen 1946 und 1949 von starkem Terror der sowjetischen Polizeiorgane begleitet wurden, was der Öffentlichkeit nicht verborgen blieb.

Schlußbetrachtung

Das vielschichtige Problem der Abwanderung aus der Sowjetzone Deutschlands harrt noch seiner exakten wissenschaftlichen und umfassenden Darstellung. Es wird im Rahmen der deutschen Geschichte eine bisher noch nicht absehbare zentrale Stellung einnehmen. LInterscheidet es sich doch von dem Fragenkomplex der Vertreibung aus den Oder/Neißeund Sudetengebieten grundsätzlich durch die Vielfalt der Einzelursachen und Motive. Jede Flucht, jede Abwanderung aus Mitteldeutschland ist letztlich ein Akt freier Willensentscheidung gewesen. So wird die Abwanderungsbewegung — im Gegensatz zum Vertriebenenstrom — zu einer Bewegung der Einzelnen, zu einem Votum der Einzelnen gegen ein System der Unfreiheit. Für den forschenden Historiker ergeben sich aus dieser Tatsache eine Reihe neuer Blickpunkte. Sie weisen auf die seelische Leidensfähigkeit der Menschen hin, die durch politische, wirtschaftliche und psychologische Maßnahmen strapaziert wird. Sie weisen aber besonders auf die verborgene Ursachen-Verknüpfung hin, die durch die von allen Seiten wirksamen totalitären Strömungen entsteht und die Abwanderung aus der SBZ — eben jenes folgenschwere Votum gegen die Unfreiheit — so einmalig differenziert. Diese Verknüpfung sichtbar zu machen und damit einen bescheidenen Beitrag für die Forschung nach dem Kausalzusammenhang dieser zeitgeschichtlichen Erscheinung zu leisten, war Aufgabe der vorliegenden Untersuchung. Anhang

Fussnoten

Fußnoten

  1. Molotow, „Fragen der Außenpolitik“, Moskau 1949, S. 65.

  2. Lenin, Ausgew. Werke, Band 2, Moskau 1947, S. 423.

  3. Stalin, Werke, Bd. 6 Dietz-Verlag, Berlin 1952, S. 35.

  4. Vergl. „Die Reparationen der sowjetischen Besatzungszone in den Jahren 1945 bis Ende 1953“, Bonner Berichte aus Mittel-und Ostdeutschland.

  5. Stalin, „Fragen des Leninismus", Moskau 1947, S. 43, 45 und 46.

  6. Hermann Just, „Die sowjetischen Konzentrationslager auf deutschem Boden 1945— 1950“, Hefte der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, Berlin 1952.

  7. Leo Zuckermann, „Einheit", 1/1949, S. 31/32.

  8. Aus der Entschließung des Zentralkomitee der SED vom 20. 10. 1951; „Einheit", 18/1951, S. 1401.

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