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In der Kominternschule | APuZ 35/1955 | bpb.de

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APuZ 35/1955 In der Kominternschule

In der Kominternschule

Wolfgang Leonhard

Im Herbst 1941 war die Komintern aus Moskau nach Ufa evakuiert worden. Ufa, die Hauptstadt der autonomen Republik Baschkirien, etwa 1200 km von Moskau entfernt, gehörte keineswegs zu den „Spitzenstädten“ der Evakuierung. Die Regierungsinstanzen und diplomatischen Missic nen hatten in Kuibyschew an der Wolga Zuflucht gefunden. Nowosibirsk und Tscheljabinsk hatten einen großen Teil der evakuierten Industriewerke aus dem Westen Rußlands ausgenommen und gehörten während des Krieges zu den bedeutendsten Industriezentren. Die wichtigsten wissenschaftlichen Archive, wertvolle Gemälde und Museumsstücke waren zu Beginn des Krieges nach Tomsk gebracht worden. Alma Ata und Taschkent waren zu Kriegszeiten die Zentren der evakuierten Künstler und Wissenschaftler. Ufa dagegen lag ein wenig am Rande; vielleicht war gerade das der Grund, warum die Komintern dorthin zog.

In den ersten Monaten des Krieges, als die Armeen der deutschen Wehrmacht bis Leningrad und Moskau vorstießen und den größten Teil der Likraine besetzten, hatte die Komintern zweifellos viel von ihrer Bedeutung eingebüßt.

Anfang 1942 änderte sich das jedoch. Die deutsche Wehrmacht, vor Moskau zurückgeschlagen, vor Leningrad steckengeblieben, gab der Sowjetunion eine Atempause, die nicht nur zur Aufstellung neuer Armee-verbände, sondern auch zu einer Offensive auf politischem Gebiet ausgenutzt wurde.

Eine große Rolle spielte dabei die politische Arbeit in den Kriegsgefangenenlagern. Schon seit Ende 1941 fanden Konferenzen mit denjenigen Kriegsgefangenen statt, die — zum großen Teil aus ehrlicher Überzeugung, manchmal allerdings auch aus Opportunismus — sich bereit fanden, Aufrufe und Erklärungen gegen Hitler zu unterzeichnen *).

An der politischen Arbeit in den Kriegsgefangenenlagern hatten Funktionäre der Komintern einen maßgeblichen Anteil. Sie war also keineswegs bereits seit Kriegsbeginn als unnütz abgeschoben, sondern hatte im Gegenteil seit Anfang 1942 neue Aufgabengebiete erhalten.

Viele Emigranten, noch im Herbst 1941 als „unzuverlässige Ausländer" zwangsumgesiedelt, sollten nun wieder zur politischen Arbeit herangezogen werden.

Als ich im Juli 1942 in Ufa eintraf, war mir das noch nicht klar. Die Stadt bot das gleiche Bild wie andere Städte der Sowjetunion während des Krieges: Überfüllte Bahnhöfe, Massen übermüdeter, hungriger und armseliger Flüchtlinge. So wie die kasachischen Städte hatte auch Ufa durch den Zustrom der Flüchtlinge seinen Charakter geändert. In der Hauptstadt Baschkiriens waren die Baschkiren zur Minderheit geworden.

Ufa, die Stadt der Komintern In meiner inneren Rocktasche, durch eine Sicherheitsnadel am Herausfallen gehindert, lag das kleine Papier, von dem jetzt alles abhing. Auf diesem Papierschnitzel stand die Adresse des Zentralkomitees der MOPR, jener Instanz, an die ich mich zunächst zu wenden hatte.

Nach etwa einer halben Stunde hatte ich das Gebäude mit dem Schild „Zentralkomitee der MOPR“ gefunden.

Eine Sekretärin maß mich mit mißtrauischen Blicken. Nach einjährigem Aufenthalt in Kasachstan muß ich nicht sehr vertrauenerweckend ausgesehen haben. „Ich komme aus Karaganda und bin hierher bestellt worden. Ich soll mich beim Genossen Vorsitzenden melden.“

Die Sekretärinnen wurden sofort liebenswürdig. Offensichtlich war ich nicht der erste, der plötzlich aus Karaganda oder Sibirien wieder zurückgeholt wurde.

„Ja, bitte, Genosse, warten Sie einen Augenblick. Ich werde Sie gleich anmelden. Wie war doch Ihr Name?“ „Wolfgang Leonhard, früherer Student der Moskauer Hochschule für Fremdsprachen. Seit Oktober 1941'lebe ich in Karaganda und habe vor vier Tagen den Bescheid erhalten, sofort nach Ufa zu kommen.“ „Und da sind Sie jetzt schon hier? Meistens dauert es viele Wochen, bis die Genossen hier eintreffen.“ Sie sagte es fast mit einer Art Hochachtung. Eine halbe Stunde später wurde ich vom Vorsitzenden des Zentral-komitees der MOPR empfangen.

Vor ihm auf seinem Schreibtisch lagen einige Papiere, vermutlich meine Personalakten und Charakteristiken.

Der ZK-Vorsitzende der MOPR schaute bald auf mich, bald auf die vor ihm liegenden Papiere, — die — das wußte ich — genaue Angaben über meine Person enthielten. Trotzdem mußte ich die üblichen Fragen nach Namen, Geburtsort, Geburtstag, Datum des Eintreffens in der Sowjetunion, Komsomolzugehörigkeit und Studium beantworten. „Wie ist es Ihnen eigentlich in Kasachstan ergangen?", fragte er plötzlich. Ohne Zögern sagte ich: „Sehr gut. Die ersten Wochen war es noch ein wenig schwierig, aber schon von November an habe ich studiert. Überhaupt ist es in Karaganda sehr interessant, ich habe viel Neues dazugelernt."

Ich hatte die Wahrheit gesagt. Ich war erzogen worden, mir das Gute in der Sowjetunion zu merken und das Schlechte zu vergessen. Das war mir in Fleisch und Blut übergegangen. Mein Leben in Karaganda kam mir jetzt in der Erinnerung schon angenehm und interessant vor.

Die Antwort schien ihm zu gefallen. Freundschaftlich sagte er: „Na, Sie sind mir ja einer. Sonst hören wir oft nur Klagen. Es ist wirklich mal schön, wenn einer alles so optimistisch betrachtet.“

Sein Gesicht wurde ernst. Ich fühlte, daß wir jetzt zur Sache kamen. „Genosse Leonhard, Sie sind von der Komintern hierhergerufen worden. Hier ist lediglich die Empfangsstelle.“

Er nahm ein Stück Papier, schrieb einen Namen und eine Adresse darauf und reichte es mir. Ich las: „LI 1 i z a Lenina 7 , Wilko w“.

„Die Komintern befindet sich im früheren , Haus der Pioniere'. Falls Sie es nicht gleich finden, können Sie ja ruhig nach dem Haus der Pioniere fragen. Das wird Ihnen jeder in Ufa zeigen können.“

Er erhob sich. Das Gespräch war beendet, und ich machte mich sofort auf den Weg.

Ich war außerordentlich gespannt. Zwar wußte ich nicht, wer Wilkow war. Aber offensichtlich mußte er sehr einflußreich sein, wenn er über alle Schranken hinweg nach Kasachstan zwangsumgesiedelte deutsche Emigranten sofort zurückholen konnte.

Auf dem Wege von der MOPR zu der „unbekannten Größe“ Wilkow gingen mir verschiedene Gedanken durch den Kopf. Sollte ich zu einer politischen Arbeit eingesetzt werden? Vielleicht am Rundfunk oder im Kriegsgefangenenlager? Aber das hätte man mir auch schriftlich mitteilen können. Wahrscheinlich, so dachte ich, muß es etwas mit einer militärischen Einberufung zu tun haben. Vielleicht wurde eine Art Internationale Brigade aufgestellt?

Unterdessen war ich bei dem angegebenen Haus angekommen. Es war ein für Lisa verhältnismäßig großer Bau, in jenem überladenen Stil, der für die Anfang der dreißiger Jahre in der Sowjetunion entstandenen Pionierpaläste typisch ist.

Vor dem Haus befand sich ein kleiner Garten. Der Eingang wurde durch mächtige Säulen flankiert. Die großen Türen waren mit Metall beschlagen. Es gab jedoch kein einziges Schild. Nichts deutete darauf hin, daß sich in diesem Gebäude die Zentrale der Komintern befand.

Zaghaft trat ich ein. Im Vorraum traf ich einen früheren Freund aus unserem Kinderheim Nr. 6. Es war Ernst Apelt, der Sohn eines deutschen KP-Funktionärs.

Ich stürmte auf ihn zu.

„Servus, Ernst, was machst denn du hier?“ „Na, das gleiche wollte ich dich fragen.“

Ich erzählte ihm kurz von meiner Zwangsevakuierung nach Karaganda und dem plötzlichen Telegramm Willkows, nach Ufa zu kommen.

Ernst Apelt schien sich gut auszukennen. Vielleicht konnte ich von ihm etwas erfahren.

Sag mal, wer ist eigentlich dieser Wilkow?“

Er starrte mich entgeistert an. „Mensch, das weißt du nicht? Wilkow ist doch Kader-Chef der Komintern.“

„Ja, aber was hat denn meine plötzliche Kommandierung nach Ufa zu bedeuten? Sollen wir in besondere Formationen der Armee kommen, oder was kann das sonst sein?“ „Armee? Nein, das glaube ich nicht. Wahrscheinlich wirst du auf eine Schule kommen, hier gibt's ‘ne ganze Reihe. Vielleicht kommst du sogar auf die Komintern-Schule, das wäre das beste.“

Plötzlich ertönte es laut im österreichischen Dialekt: „Ernsti, kumm, die woartn auf dich.“

Der junge Apelt verabschiedete sich. Ich hätte gern noch mehr von ihm gehört.

Als ich mich bei der Sekretärin Wilkows meldete, fragte sie mich zunächst, ob ich essen wolle. Ich staunte. So etwas hatte man mich schon seit einem Jahr nicht mehr gefragt. Ohne meine Antwort abzuwarten, gab sie mir ein kleines Kärtchen. „Gehen Sie erst mal runter zum Essen, inzwischen werde ich Sie bei Wilkow anmelden. Sie kommen am besten nach dem Essen noch einmal herauf. Der Eßsaal ist im Erdgeschoß.“

Im Erdgeschoß blieb ich erstaunt auf der Schwelle eines schönen Speisesaals stehen. Kaum hatte ich mich hingesetzt, als ein Serviermädchen mir das Kärtchen abnahm und Suppe, weißes Brot, ein reichhaltiges Fleisch-gericht und anschließend noch Nachtisch brachte. Es war für mich die erste Mahlzeit mit mehreren Gängen seit Kriegsbeginn.

Als ich fertig war, lehnte ich mich im Sessel zurück und war so optimistisch gestimmt wie lange nicht.

Das Serviermädchen kam noch einmal vorbei: „Wollen Sie noch etwas essen?“

Ich war völlig sprachlos. Mitten im Krieg, nach einer so herrlichen Mahlzeit. . .

.. geht denn das überhaupt?“

„Ja, natürlich, Sie gehen einfach zur Kassiererin und lassen sich noch einen Abschnitt geben. Ich werde Ihnen inzwischen schon das zweite Essen bringen.“

Die Kassiererin gab mir ohne weiteres eine zweite Marke. „Sind wohl auch aus Kasachstan gekommen?“ fragte sie lächelnd.

AIs ich fertig war, ging ich in das Zimmer der Sekretärin und wurde wenige Minuten später von Wilkow, einem großen, ernst aussehenden Mann, empfangen.

Das Gespräch war nur kurz. Zunächst kam das übliche Fragespiel, zu dem ich die Antworten nur so herunterrasselte. Dabei wußte ich genau, daß er alle Angaben über mich hatte, und er wiederum wußte, daß ich wußte, daß er alles wußte. Dann sagte Wilkow langsam und bestimmt:

„Wir haben daran gedacht, Ihnen die Möglichkeit zu geben, in der Komintern-Schule zu lernen. In den nächsten Tagen werden einige Genossen dorthin fahren. Wir halten es für richtig, daß Sie sich täglich bei der Sekretärin melden. Sie wird Ihnen dann schon Bescheid geben. In der Zwischenzeit werden Sie einige Tage in Ufa wohnen. Die Sekretärin wird das Nötige veranlassen.“

In die Kominternschule! Ich konnte es kaum fassen. Erst später fiel mir ein, daß Wilkow mir gar nicht gesagt hatte, wo sie sich eigentlich befand. Daß ich immer jeweils nur das Allernotwendigste erfuhr, hat mich damals im Grunde nur wenig berührt. Mit der Zeit erkannte ich, daß es sich dabei nicht um eine persönliche Eigenart Wilkows handelte, sondern um eine typische Eigenheit der sowjetischen Bürokratie. „Genosse Leonhard, hier ist die Adresse Ihrer vorläufigen Wohnung. Der Genosse Chauffeur wird Sie hinfahren“, sagte die Sekretärin. „Er wird Sie jeden Tag um 10 Uhr morgens abholen und hierher bringen. Ihren Abfahrtstermin werde ich Ihnen sagen, sobald es soweit ist.“

Als ich die Treppe hinunterging, dachte ich an den langen, hartnäckigen Kampf, den ich in Karaganda um die Anmeldung in der Stadt und um das Recht, im Studentenheim leben zu dürfen, geführt hatte. Wie reibungslos ging dagegen hier alles! Ich war begeistert.

Noch ganz benommen ging ich dem Ausgang zu. Der Wagen stand schon bereit. Und was für ein Wagen! Nicht etwa eine gewöhnliche „Emmotschka“ (so wurden in der Sowjetunion die kleineren M-1-Wagen der mittleren Funktionäre genannt), sondern ein schöner, großer SIS — der Wagen der höheren Funktionäre.

Der Chauffeur öffnete die Wagentür, fragte mich nach der Adresse, und dann brausten wir ab. Das war ein bißchen viel für einen jungen Menschen, der eben erst aus der Zwangsumsiedlung zurückgerufen worden war?

Etwa zehn Minuten später hielten wir vor einem schönen Neubau. Im ganzen Haus gab es keine Namensschilder, lediglich Nummern. Im zweiten Stock entdeckte ich „meine Wohnung", klingelte und — wollte meinen Augen nicht trauen. Vor mir stand Grete Löberbauer, ein österreichisches Mädchen aus unserem Kinderheim Nr. 6, das ich seit mehr als zwei Jahren nicht gesehen hatte. „Servus, Grete, ist ja herrlich, dich hier zu treffen!" „Servus“, sagte sie ganz uninteressiert.

Aber das entging mir bei der Wiedersehensfreude. Ich begann sofort von Kasachstan zu erzählen und von dem, was ich alles schon in den wenigen Stunden in Lisa erlebt hatte.

Unterdessen war noch ein österreichischer Schutzbündler hinzugekommen. Er begrüßte mich, ohne seinen Namen zu nennen, und zeigte mir das Zimmer. Alle Zimmer waren nur mit einem Bett und einem Nacht-kästchen möbliert. Die Wohnung schien eigens dazu da zu sein, durchreisenden Genossen für wenige Tage Quartier zu geben.

Wieder begann ich begeistert zu erzählen. Aber Grete Löberbauer, die ich bis dahin als lebenslustiges junges Mädchen gekannt hatte, schwieg und nickte nur manchmal gleichgültig mit dem Kopf. Jetzt begann mir das doch aufzufallen. „Na, wie ist es dir denn die ganze Zeit gegangen? Was machst du hier? Was wirst du weitermachen?"

Sie schwieg. „Ich weiß es noch nicht genau“, sagte sie ausweichend.

Auch der Schutzbündler war inzwischen wiedergekommen. „Du solltest nicht so viel erzählen“, sagte er bedeutsam, wenn auch in einem freundlichen Ton.

Betroffen schwieg ich. Nach der langen Zeit, die ich in Kasachstan verbracht hatte, war ich froh, wieder alte Freunde getroffen zu haben. Aber offensichtlich hatte ich in dieser Hinsicht Pech. Der junge Apelt mußte gleich weg, und die einst so lebenslustige Grete verhielt sich kühl und schweigsam.

Es dauerte nicht lange, bis ich verstand, daß die jetzigen Lebens-gewohnheiten meiner Freunde sich völlig von meinen bisherigen unterschieden. Gewiß, auch als Student und Komsomolze wußte ich, daß es viele Gebiete gab, über die man „nicht sprach“. Aber immerhin hatte ich über alles sprechen können, was außerhalb dieses Themenkreises lag. Allmählich begriff ich, daß hier andere Maßstäbe galten. Offensichtlich war das Gebiet, über das man „nicht sprach“, viel größer.

Lisa konnte man zu jener Zeit mit Recht als „Stadt der Komintern“ bezeichnen. War doch die Komintern die einzige große Organisation, die nach Lisa übergesiedelt war.

Das Hotel „Baschkirija“, das modernste und größte Hotel der Stadt, war für die führenden Kominternfunktionäre requiriert worden. Hier residierten Dolores Ibarruri, die Generalsekretärin der Kommunistischen Partei Spaniens: Wilhelm Pieck und Walter Lllbricht von der Führung der KP Deutschlands; Koplenig, Fürnberg und Fischer von der Führung der KP Österreichs; Andre Marty, der damals noch hoch in Ehren stand, und Anna Pauker, zu jener Zeit noch Führerin der KP Rumäniens, sowie Manuilski und Wilkow von der russischen Partei, die die allgemeine politische und organisatorische Leitung der Komintern in ihren Händen hatten. Dimitroff, der damalige Generalsekretär der Komintern, kam nur selten zu einem kurzen Besuch nach Lisa. Auch die anderen Spitzen-funktionäre der Komintern waren oft unterwegs — das eine Mal nach Kuibyschew, wo sich die Regierungsinstanzen und die Rundfunkstation befanden, das andere Mal zu Parteischulen, die über verschiedene Teile des Landes verstreut waren, und nach Kriegsgefangenenlagern, wo sie Konferenzen vorbereiteten oder abhielten.

Neben dem Hotel „Baschkirija", dem Wohnsitz der führenden Kominterfunktionäre und dem Pionierpalast, der jetzt als Arbeitsgebäude der Komintern diente, waren noch zwei weitere größere Gebäude in Lisa für die Komintern reserviert worden.

Das ehemalige Geologische Technikum auf der Leninstraße diente als Wohnhaus für die mittleren Funktionäre bzw. für die Familienangehörigen der höheren Funktionäre.

Das Gebäude einer ehemaligen Landwirtschaftsschule an der Stalin-straße, das allerdings lange nicht so schön war wie das Geologische Technikum — vom Hotel „Baschkirija“ ganz zu schweigen —, war der Wohnsitz für die unteren Mitarbeiter bzw. für die Familienangehörigen der mittleren Parteifunktionäre. Hier wohnte gewissermaßen das „Kominternproletariat“: kranke Spanienkämpfer, die man nicht mehr für politische Arbeit verwenden konnte, Familienangehörige von solchen Genossen, die inzwischen auf verschiedenen Schulen oder illegal hinter der deutschen Front tätig waren, untere Angestellte und Küchenpersonal des Kominternapparates. Hierhin kamen auch diejenigen, die man zunächst aus Kasachstan oder Sibirien zur politischen Arbeit geholt hatte und die dann aus diesen oder jenen Gründen nicht geeignet schienen. Die meisten der Bewohner dieses Gebäudes hatten weniger mit der Komintern Verbindung, als vielmehr mit der MOPR, von der sie auch LInterstützung bezogen.

So unterschiedlich die Mitarbeiter der Komintern untergebracht waren, so unterschiedlich war auch die Verpflegung, die sie erhielten.

Alle Funktionäre, die direkt in der Komintern beschäftigt waren, erhielten ihr Essen dreimal täglich im Arbeitsgebäude, dem ehemaligen Pionierpalast.

Die allerhöchsten Funktionäre, die Bewohner des schönen Hotels „Baschkirija“, erhielten außerdem noch große Pajokpakete ins Haus gebracht ) *.

Die übrigen Mitglieder der Komintern wurden von einem geschlossenen Geschäft versorgt, das sich im Parterre des Hotels „Baschkirija“ befand und erhielten dort, neben ihrem Essen, die Rationen einer Stoßarbeiterkarte sowie gelegentlich noch Sonderzuteilungen.

So waren die Mitarbeiter der Komintern, je nach ihrem politischen Nutzwert, in allen Fragen der Wohnung und Verpflegung sorgfältig in ein hierarchisch abgestuftes System eingeteilt.

Die eigentümliche Dampferfahrt In Lisa blieb ich etwa eine Woche und lebte erstmalig seit langer Zeit völlig sorgenfrei.

Früh wurde ich mit dem Auto abgeholt, meldete mich um 10 LIhr bei der Sekretärin, wurde auf den nächsten Tag vertröstet, bekam täglich vorzügliche Mahlzeiten, hatte ein nettes Zimmer und im übrigen nicht das geringste zu tun.

Ab und zu traf ich noch andere Freunde aus dem früheren Schutzbundheim oder von der österreichischen Sektion der Komintern. Sie alle benahmen sich ähnlich wie Grete. Was sie hier taten, woher sie gekommen waren, was sie weiter tun würden, erwähnten sie mit keinem Wort. Ich versuchte, es ihnen gleichzutun, aber es gelang mir noch nicht. Ich war zu lange Student und hatte in Karaganda so viel erlebt, war so begeistert, alte Freunde zu treffen, gleichzeitig aber noch so neu im „Apparat , daß ich manchmal, trotz aller guten Vorsätze, zu unbeschwert und redselig war.

Nach etwa einer Woche teilte mir die Sekretärin mit, daß ich am nächsten Morgen mit zwei anderen Genossen zur Schule fahren würde. Ich sollte mich um 10 Uhr bei ihr einfinden.

Pünktlich um 10 Uhr war ich da. Außer mir waren noch zwei andere Genossen im Zimmer, aber sie wandte sich nur an den einen. „Wir denken, es wäre gut, wenn Sie heute mit den beiden Genossen zur Schule fahren würden, hier sind die Karten.“

Sie übergab mir ein geschlossenes Kuvert. Die beiden anderen reichten mir die Hand, nannten aber keinen Namen. Daher tat ich es auch nicht. „Das Auto ist da. Sie können fahren. Ich wünsche Ihnen gute Fahrt , sagte die Sekretärin. Der ältere führte uns zu einem schönen SIS-Wagen und sagte dem Chauffeur etwas, was mir nach „Pristanj" (Hafen) klang.

Nach etwa einer Viertelstunde waren wir tatsächlich an einem Hafen des Bjelaja-Flusses angelangt.

„Wir werden mit diesem Dampfer fahren“, sagte der ältere Genosse.

Wenige Minuten später fuhr der Dampfer ab. Noch vor 10 Tagen war ich in Kasachstan und jetzt saß ich hier auf diesem Dampfer mit zwei Menschen, die ich eben erst kennengelernt hatte und von denen ich nicht einmal wußte, wie sie hießen.

Die Zeit verging. Meine beiden Gefährten sprachen nur wenig. Jetzt war ich auch schon gewitzt genug, nicht dauernd lustig drauflos zu schwadronieren. „Schönes Wetter, nicht?" fragte unser Begleiter. „Ja", sagte ich. Das durfte ich ja schließlich noch sagen, dachte ich bei mir. Die meisten Passagiere schienen einfache Bürger zu sein.

Wir saßen etwas abseits.

„Blagoweschtschensk“ wurde ausgerufen. Wir waren sicher schon zwei oder drei Stunden unterwegs. Viele Passagiere stiegen aus. Fragend schaute ich meinen Begleiter an. Er schüttelte mit dem Kopf.

Wir fuhren weiter.

Nach etwa sechs Stunden hielt das Schiff wieder. „Kuschnarenkowo“

wurde laut und vernehmlich ausgerufen.

Unser älterer Begleiter runzelte die Stirn. Es gefiel ihm offensichtlich nicht, daß der Ort ausgerufen wurde. Aber daran konnte er wohl nichts ändern.

„Ich glaube, wir können uns fertig machen“, meinte er. Schweigend nahmen wir unsere Koffer.

Wir stiegen aus, ermüdet von der langen Dampferfahrt, aber doch gespannt, was nun weiter geschehen würde. Was die andern beiden dachten, konnte ich nicht ergründen. Weder sagten sie etwas, noch war etwas aus ihren Gesichtszügen zu lesen.

Ein Auto war diesmal nicht da — vielleicht aus Gründen der Geheimhaltung. Wir gingen mit unseren Koffern nicht zum Ort, sondern in die entgegengesetzte Richtung.

Die kleine Ortschaft Kuschnarenkowo liegt, wie ich später erfuhr, etwa 60 km nordwestlich von Ufa. Keine Eisenbahn fährt dorthin. Die einzige Verbindung wird im Sommer durch eine Schifffahrtslinie aufrechterhalten, im Winter durch Schlittenverkehr — zweifellos ein idealer Platz für eine politische Schule, die möglichst unbemerkt bleiben und deren Schüler von jeder Verbindung mit der Außenwelt abgeschnitten sein sollen!

Nach etwa einer halben Stunde Fußmarsch standen wir am Fuße einer Anhöhe.

„Ich denke, wir werden den Berg hinaufgehen“, meinte unser Begleiter. Schweigend gingen wir den Berg hinauf.

Vorläufig war noch immer nichts zu erkennen: keine Siedlung, kein Gehöft, kein Haus.

Die Kominternschule in Kuschnarenkowo Nach einer weiteren Viertelstunde sahen wir in ein paar größere, etwas verwahrloste Häuser, offenbar ein früherer Gutshof. Außer dem zentralen Gebäude waren noch zwei oder drei Nebengebäude zu sehen. In der Mitte befand sich ein großer Platz. Das ganze sah ziemlich heruntergekommen aus — irgendwie anders, als ich mir die Kominternschule vorgestellt hatte.

Schon glaubte ich, daß wir noch gar nicht am Ziel wären, als unser Begleiter meinte: „Ich denke, wir werden dorthin gehen.“ Er wies etwas vage in die Richtung des Hauptgebäudes.

Vor dem Eingang hörten wir seine letzte Direktive: „Es wäre nicht schlecht, sich beim Sekretariat anzumelden.“

Schweigend gingen wir zum ersten Stock.

Er ließ uns stehen, ging in das Sekretariat und kam nach einigen Minuten zurück. Dann winkte er dem anderen jungen Genossen. Der ging hinein, und ich wartete draußen.

Nach einigen Minuten kam er heraus und gab mir durch einen Wink zu verstehen, daß ich jetzt an der Reihe sei.

Drinnen wurde ich von einer Sekretärin empfangen. Es wiederholte sich das übliche Frage-und Antwortspiel.

Nach dieser mir schon zum Überdruß bekannten Einleitung schaute sie mir fest in die Augen: „Wir haben in dieser Schule einige besondere Regeln. Zunächst einmal dürfen Sie niemals ohne besondere Erlaubnis das Gebiet der Schule verlassen. Ich möchte gleich darauf aufmerksam machen, daß die Nichtbeachtung dieser Regel schwerste Folgen haben kann.

Zweitens ist es selbstverständlich, daß Sie in keinem Brief auch nur die geringste Andeutung machen dürfen, wo Sie sich befinden. Das Wort „Kominternschule“ darf weder in dem Brief noch auf dem Absender stehen.“

Von solchen Sachen hatte ich unschuldiger Student bis dahin noch nie gehört. „Ja, was soll ich denn als Absender angeben?“ „Sie schreiben darauf: Baschkirische ASSR, Kuschnarenkowo, Landwirtschaftliches Technikum Nr. 101. Das genügt völlig.“ ) * Sie machte eine Pause, schaute mich durchdringend an und fuhr fort:

„Lind nun das Wichtigste. Es ist Ihnen nicht gestattet, irgendjemand Ihren wirklichen Namen zu nennen und auch nur das geringste über Ihr bisheriges Leben zu erzählen. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß die Einhaltung dieser Regel unbedingt notwendig ist. Niemand, auch nicht jenen, die Sie vielleicht von früher her kennen sollten, dürfen Sie Ihren wirklichen Namen nennen."

Wieder eine kleine Pause, dann fragte sie eine Spur freundlicher:

„Nun, für welchen Namen haben Sie sich entschieden?“

„Linden.“

Sie notierte sich den Namen und sagte noch einmal: „Also gut, von heute an sind Sie Linden. Vergessen Sie Ihren richtigen Namen und denken Sie immer daran, daß Sie während der ganzen Schulzeit den Namen Linden tragen. Das wäre für jetzt alles. Sie können jetzt essen gehen, und nach dem Essen werde ich Ihnen zeigen, wo Sie schlafen werden. Morgen früh wird der Direktor Sie empfangen und alles weitere sagen.“

AIs ich in den Speisesaal kam, war niemand mehr dort. Das Essen war sehr gut. Aber ich war schon gar nicht mehr so begeistert.

„Wie schnell man sich an alles Gute gewöhnt", dachte ich gerade, als die Tür aufging und ein alter Freund von mir auf mich zustürzte.

„Herrlich, daß du da bist“, rief er erfreut. Es war Jan Vogeler.

Ich war mit Jan in Moskau in dieselbe Klasse der Karl-Liebknecht-Schule gegangen und hatte ihn immer gut leiden mögen. Er war der Sohn des deutschen Malers Heinrich Vogeler aus Worpswede, der in die Sowjetunion emigriert, im Herbst 1941 nach Kasachstan zwangsumgesiedelt und Anfang 1942 durch die grauenhaften Strapazen und Entbehrungen gestorben war. Das war schon mehr als ein halbes Jahr her, und sicherlich war Jan über den Tod seines Vaters längst informiert. Aber augenscheinlich hatte diese Tatsache seine politische Einstellung nicht im geringsten verändert — so wie es bei vielen Jugendlichen in der Sowjetunion der Fall war. Jan war ein begeisterter Komsomolze und sprach über die Sowjetunion mit großem Enthusiasmus. Er begann gleich zu erzählen.

„Weißt du, wo ich war? Nein, das kannst du dir nicht vorstellen.'

Ich kam nicht dazu, auch nur ein Wort einzuschalten.

„Bis vor kurzem war ich an der Front. Es gab nur ganz wenige Deutsche, die das durften. Irgendwie muß ich ein großes Glück gehabt haben. Ich war Dolmetscher. Einmal sogar bei Marschall Shukow. Weißt du, ganz toll, Shukow ist fabelhaft!“ Dann erzählte er von der Front und immer wieder hörte ich „Shukow“, „Shukow“, „Shukow“.

Für mich war das nicht überraschend, denn auch in Kasachstan hatte ich schon wiederholt begeistert von Shukow erzählen hören. Shukow besaß keine gemachte, sondern eine echte Popularität, besonders bei der Armee und bei der Jugend — vielleicht war das auch einer der Gründe, warum er Ende 1946 von Stalin abgesetzt wurde.

Ich hörte Jan interessiert zu, war aber doch darauf bedacht, ihn von diesem Thema abzubringen und etwas über die Schule zu erfahren.

Dazu kam es eher, als ich dachte, denn plötzlich raufte sich Jan verzweifelt die Haare: „Ach herrje, ich darf ja gar nichts über meine Vergangenheit erzählen. Sag das bloß niemandem weiter, was ich dir . . . Übrigens, wie heißt du denn eigentlich hier, damit ich auch da keinen Fehler mache.“

„Ich heiße Linden, und du?“

„Danilow, Jan Danilow.“

Eigentümlich — kaum hatte er seinen neuen Parteinamen gesagt, da war er schon ganz verwandelt. Vorsichtig und ausweichend antwortete er auf meine Fragen.

„Die Schule? Ja, was soll man da viel erzählen. Wir sind in Gruppen nach den Nationalitäten eingeteilt, es gibt gemeinsame Vorlesungen für alle und dann Lektionen und Seminare getrennt für die einzelnen nationalen Gruppen. Die deutsche Sektion wird von Klassner angeführt.

Er heißt hier Klassner, wer es wirklich ist, weiß ich nicht.“ „Gibt’s denn noch mehr hier von unserem Kinderheim oder von der Karl-Liebknedit-Schule?“

„Hm, wie soll ich das sagen. Na, das wirst du ja sehen.“

In wenigen Sekunden war aus dem begeisterten Komsomolzen Jan ein Parteifunktionär geworden, der sich vollständig in der Gewalt hatte und bedächtig seine Worte wählte.

Kurze Zeit darauf kam die Sekretärin in das Speisezimmer. „Genosse Linden, ich werde Ihnen jetzt das Zimmer zeigen, in dem Sie schlafen werden.“

Ich wurde zunächst ins Erdgeschoß geführt, wo sich die Lehrzimmer der einzelnen Sektionen befanden.

Am Ende eines Korridors in der ersten Etage führte eine alte knarrende Holztreppe hinauf. Ein schmaler Gang. Die Sekretärin zeigte auf eine Tür: „Hier ist die Bibliothek und der Lesesaal der Schule.“ Vor der letzten Tür blieb sie stehen. „Hier ist es.“

Ich sah ein großes Zimmer, in dem etwa 15 Betten standen. Neben jedem Bett befand sich ein kleines graues Nachtkästchen. In der Mitte stand ein größerer Tisch. Es war etwa so wie in dem Studentenraum des Lehrerinstituts in Karaganda, mit dem Unterschied, daß wir dort in einem neuen Gebäude und hier in einem alten Gutshaus untergebracht waren. Ich war etwas enttäuscht. Nach den Erlebnissen in Lisa hatte ich mir die Schule anders vorgestellt.

Die Sekretärin führte mich zu einem primitiven Holzbett: „Hier ist Ihr Platz. Morgen melden Sie sich bitte bei mir, und dann werde ich Sie zum Direktor führen.“

Da saß ich nun. Staunend überdachte ich die Ereignisse der letzten Tage, und mit Spannung erwartete ich, was mir die Kominternschule bringen würde.

Wenige Minuten später kamen meine ersten Zimmerkameraden in den Schlafraum. Es waren Spanier.

Sie nickten mir mit dem Kopf zu. Einer kam sogar auf mich zu und fragte: „Espanol?"

Ich antwortete: „No, Aleman“, aber im selben Augenblick hatte ich schon wieder Angst, vielleicht zuviel gesagt zu haben. Ich freute mich, mit Spaniern zusammenzuwohnen, denn ich hatte in Moskau spanische Freunde gehabt, und die Atmosphäre bei den spanischen Emigranten hatte mir besser gefallen als bei den deutschen.

Die Spanier unterhielten sich laut. Ich hatte gehofft, unter ihnen einen Bekannten zu treffen, der mir von der Schule erzählt hätte. Aber es war keiner dabei, den ich von Moskau her kannte. Nach und nach füllte sich unser Schlafraum.

Plötzlich entdeckte ich meinen guten Freund Mischa Wolf aus Moskau, den ich noch vor wenigen Wochen in Alma Ata getroffen hatte. Idi wollte gerade auf ihn zustürzen und „Mischa!“ rufen, als ich mich darauf besann, daß er hier natürlich einen anderen Namen hatte und man auch früheren Freunden nichts erzählen sollte. Er hatte mich inzwischen auch gesehen und ging langsam auf mein Bett zu. „Förster“, sagte er, indem er mir betont gleichgültig die Hand gab.

„Linden“, antwortete ich.

„Schön, daß du da bist. Du wirst dich bestimmt bald hier einleben“, meinte er.

„Ja, ich bin sehr froh, auf der Schule zu sein.“

Mehr sagten wir nicht. Wir hielten uns streng an die Regel, obwohl es natürlich lächerlich war, da wir uns seit 193 5, also immerhin acht Jahre, gut kannten.

Schweigend zogen wir uns aus.

Zwischen uns war noch ein Bett frei. Ich war neugierig, wer neben mir liegen würde. „Ein Deutscher?“. Mischa nickte mit dem Kopf. Ich packte meine Sachen in das Nachtkästchen und hatte gar nicht gemerkt, daß mein Bettnachbar ganz nahe an mich herangetreten war.

Plötzlich schaute ich auf. Es war Helmut Gennys, den wir im Kinderheim „Helmerl“ genannt hatten. Er war mein bester Freund gewesen.

Hclmerl stammte aus Ostpreußen, wo seine Eltern KP-Funktionäre gewesen waren. Jahrelang hatten wir im Heim unsere Schulaufgaben gemeinsam am selben Tisch gemacht. Wir hatten etwa die gleichen Bücher gelesen und auf langen ausgedehnten Spaziergängen durch Moskau stundenlang diskutiert. Er kannte meine Liebesgeschichten und ich seine — so wie es bei unzertrennlichen Freunden zwischen 14 und 17 eben ist. Auch für den Eintritt in den Komsomol hatten wir uns gemeinsam vorbereitet und waren ungefähr gleichzeitig ausgenommen worden. In den letzten Jahren hatten wir uns etwas seltener gesehen. Er hatte gerade bei Kriegsbeginn die sowjetische 10-Klassenschule beendet. „Zahl, Peter Zahl“, sagte er bedeutsam.

„Linden, Wolfgang Linden“, war meine Antwort.

Wir schwiegen. Etwas zaghaft begann ich:

„Seit wann bist du denn da?“

„So . . .seit einiger Zeit.“

Das Wiedersehen mit meinem Freund „Helmerl“, dem jetzigen „Peter Zahl“, hatte ich mir anders vorgestellt. Aber so war es nun. Helmerl hielt sich streng an das Schulritual — er war überhaupt in den letzten Jahren sehr linientreu geworden —, und da blieb mir nichts anderes übrig, als das Ritual ebenfalls einzuhalten.

Ich hätte so gerne schon vorher gewußt, wie es in der Schule sein würde, aber wenn selbst „Helmerl“ mir nichts sagte, würde ich es wohl kaum von jemand anderem erfahren.

Am Morgen wurden wir durch ein schrilles Klingeln geweckt. Alle standen schnell auf. „Frühsport“, rief mir „Helmerl“ zu.

Auf dem großen Hof vor dem Gebäude versammelten sich alle Teilnehmer der Kurse einschließlich der Lehrer, getrennt nach Nationalitäten. Die Gruppenvorsitzenden gaben kurze, fast militärische Anwesenheitsrapporte. Inzwischen standen wir in militärischer Habacht-Stellung. Das war für mich neu. Als Student hatten wir das nur in den wenigen Militär-stunden tun müssen. Auf einer Parteischule hatte ich so etwas eigentlich nicht erwartet. Dann ging es im Laufschritt zu einem Sportplatz, der unweit des Hauptgebäudes lag.

Jeder Tag begann nun mit Frühsport, Gymnastik, Reckturnen, Dauerlauf und Springen. Die Ergebnisse wurden genau notiert — offensichtlich wurde auf die sportlichen Leistungen in der Schule viel Wert gelegt.

Nadi dem reichhaltigen Frühstück — der Kontrast zwischen dem guten Essen und den primitiven Wohnungsverhältnissen war auffallend — ging • ich ins Sekretariat und wurde wenige Minuten später zum Direktor gerufen. Ich wußte nur, daß er Michailow hieß — besser gesagt: daß man ihn in der Kominternschule so nennen sollte. Erst einige Zeit später erfuhr ich, daß Michailow ein Bulgare war, der mehrere Sprachen beherrschte, während des Krieges in Spanien wichtige Funktionen in der Parteischulung, vor allem in der Schulung der politischen Kommissare, innegehabt und die spanische Zeitung „El Comissario" redigiert hatte.

Michailow glich in vielem meinen Freunden aus der Agitprop-Abteilung in Karaganda und machte nicht den Eindruck einer Amtsperson oder eines Schuldirektors. Es gab nicht das gewohnte Frage-und Antwortspiel. Das Gespräch glich mehr einer zwanglosen Unterhaltung. Beiläufig befragte er mich über meine Tätigkeit im Komsomol und über meine Studien, ja, er erkundigte sich sogar, ob ich die Fahrt gut überstanden hätte. Erst dann ging er auf das Thema „Kominternschule“ ein, wobei er sich vor allem für meine politischen Kenntnisse zu interessieren schien.

„Haben Sie sich schon mit den wichtigsten Werken der Klassiker des Marxismus-Leninismus beschäftigt?“

„Ja, natürlich.“

„Welche Bücher Lenins haben Sie bisher durchgearbeitet?“

„In der Hochschule und aus eigenem Interesse habe ich schon eine Reihe seiner Schriften gelesen: , Was tun?', , Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück', , Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution'. . .“

Er unterbrach mich. In freundlichem Ton wurden mir schnell hintereinander eine Reihe von Fragen über die eben genannten Bücher gestellt. Mir fiel auf, daß es nicht die „üblichen“ Fragen waren, die in den Seminaren der Hochschule gestellt wurden. Sie waren vielmehr so formuliert, daß meine Antworten sofort zeigen mußten, ob ich das Buch lediglich gelesen oder auch verstanden hatte.

Nacheinander beantwortete ich kurz seine Fragen. Er schien zufrieden zu sein. Nur bei der Beantwortung einer einzigen Frage stockte ich. „Gegen welche ideologische Richtung hat sich Lenin in seiner Schrift , Was tun? ’ gewandt?"

Es war eine für sowjetische Verhältnisse lächerlich einfache Frage. Aber gerade die Antwort auf diese Frage wollte mir plötzlich nicht einfallen. Er lächelte: „Na, das wissen Sie doch selbst, gegen die Ökonomisten.“

Ich wußte es wirklich und erzählte gleich, worum es ging. Aber er winkte ab.

„Das genügt schon. Sie werden sich hier noch ausführlicher mit diesen Dingen beschäftigen.“

Dann ging er auf ein anderes Thema über.

„Wie Sie wissen werden, ist dies eine Schule der Komintern. Wir bereiten Kader vor für die verschiedenen Länder. Sind Sie bereit, in Deutschland tätig zu sein?“

In Deutschland? Es war alles ein bißchen neu für mich, und ich wußte gar nicht, was er damit meinte. Illegale Arbeit? Arbeit unter den deutschen Kriegsgefangenen? Politische Arbeit nach der Niederlage Hitler-Deutschlands? „Selbstverständlich“, antwortete ich.

Er schaute mich ernst an:

„Genosse Linden, es ist die Aufgabe eines jeden Schülers, sich hier für die Arbeit in seiner eigenen Heimat vorzubereiten und sich seinem eigenen Volk verpflichtet zu fühlen.

Sie müssen wissen, daß Ihre Aufgabe in Deutschland zu lösen sein wird, und daß Sie sich in erster Linie mit deutschen Fragen zu beschäftigen haben.“

Das Gespräch war beendet. Er gab mir noch einmal freundschaftlich die Hand und wünschte mir guten Erfolg.

Schon in den nächsten Tagen erfuhr ich, daß die Kominternschule in einzelne Ländersektionen aufgeteilt war. Interessanterweise befanden sich im Jahre 1942 dort nur Funktionäre aus solchen Ländern, mit denen sich die Sowjetunion im Krieg befand, oder die damals von Hitler okkupiert worden waren: Deutsche, Österreicher, Sudetendeutsche, Spanier, Tschechen, Slowaken, Polen, LIngarn, Rumänen, Bulgaren, Franzosen und Italiener.

Jede Gruppe hatte ihre eigenen Lehrer und einen Gruppenvorsitzenden aus den Reihen der Schüler. Die größte Gruppe war die spanische, der etwa 30— 40 Studenten angehörten. Die mittleren Gruppen — Deutsche, Österreicher, Sudetendeutsche und Bulgaren — bestanden aus 15 bis 20 Personen und die anderen Gruppen waren noch kleiner. Engländer und Amerikaner waren auf der Kominternschule nicht vertreten. Außerdem gab es noch einen Jugoslawen, den man der bulgarischen Gruppe angeschlossen hatte, und eine sympathische Argentinierin, die Frau eines argentinischen ZK-Funktionärs, die während des Bürgerkrieges in Spanien gekämpft hatte und auch jetzt gemeinsam mit der spanischen Gruppe studierte.

Der Unterricht fand meist getrennt nach den einzelnen nationalen Gruppen statt. Nur bei besonders wichtigen Themen wurden gemeinsame Vorlesungen für die ganze Schule angesetzt. Auch die drei deutschsprachigen Gruppen — Deutsche, Österreicher und Sudetendeutsche — studierten getrennt. Das getrennte Studium der Österreicher war nicht erstaunlich, denn es war ja schon damals klar, daß Österreich wieder ein unabhängiger Staat werden sollte. Offensichtlich war aber damals über das Schicksal der Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei noch nicht entschieden, denn sonst hätte es kaum in der Kominternschule eine besondere sudetendeutsche Gruppe gegeben.

Erst viele Wochen später erfuhr ich, daß es neben den erwähnten 12 Gruppen noch eine weitere auf der Schule gab. Etwas abseits von den übrigen Gebäuden der Schule stand ein kleines Gebäude, das besonders abgezäunt war und zu dem niemand von uns hingehen durfte. Infolge der völligen Absperrung wußte von den Schülern zunächst niemand, was in diesem Gebäude vor sich ging, wer dort unterrichtet wurde. Nur eine Information sickerte allmählich durch: In diesem Gebäude wurden koreanische Kommunisten geschult. Sie lebten ganz für sich abgeschlossen und nahmen nicht einmal an unseren gemeinsamen Veranstaltungen teil.

Die Ursache für jene besonderen Sicherungsmaßnahmen ist nicht schwer zu erklären. In der Kominternschule wurden nur Funktionäre aus jenen Ländern ausgebildet, mit denen sich die Sowjetunion im Kriegszustand befand oder die von den faschistischen Achsenmächten okkupiert worden waren. Mit Japan befand sich die Sowjetunion bekanntlich bis 1945 nicht im Kriegszustand, sondern hatte einen Nichtangriffspakt abgeschlossen und unterhielt normale diplomatische Beziehungen. Folglich mußte die Schulung der Koreaner — die ja schließlich für den Kampf gegen die japanische Besetzung herangebildet wurden — ganz besonders geheimgehalten werden.

Nicht nur die Studenten, die in der Schule „Kursanten“ genannt wurden, sondern auch die Dozenten trugen Decknamen, so daß ich während des ganzen Studiums an der Kominternschule und noch viele Jahre später nicht wußte, wer die Dozenten waren.

Nur zwei Dozenten (außerhalb der deutschen Gruppe) erkannte ich nach 1945 auf Fotos wieder, sie hatten inzwischen hohe Staats-und Parteifunktionen erhalten. So stellte sich heraus, daß der Leiter unserer polnischen Gruppe Jakob Bermann war — heute Mitglied des Politbüros der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei und Stellvertretender Ministerpräsident der polnischen Volksrepublik. Jakob Bermann hatte in seiner Jugend an der Warschauer Universität Jura studiert und war schon früh in der polnischen revolutionären Studentenbewegung hervorgetreten. Bald darauf gehörte er der polnischen Parteiführung an. Nach der Auflösung der Komintern im Frühjahr 1943 war er maßgebend an der Gründung der Vereinigung der polnischen Patrioten in der UdSSR und an der in der Sowjetunion gebildeten polnischen Division Kostjuschko beteiligt. Im Jahre 1944 wurde er Stellvertretender Außenminister in der provisorischen Regierung in Lublin.

Auch den österreichischen Sektionsleiter unserer Schule sah ich später auf Fotografien in der Presse wieder. Es war Franz Honner. Er hatte vor 1918 bereits der Sozialistischen Partei Österreichs angehört und war 1920 zur Kommunistischen Partei übergetreten. Nach dem Februaraufstand von 1934 wurde er im Konzentrationslager Wollersdorf interniert. Es gelang ihm jedoch, in die Sowjetunion zu fliehen. Während des spanischen Krieges war er im österreichischen Bataillon der Internationalen Brigade und kam nach der Niederlage der spanischen Republik im Jahre 1939 wieder in die Sowjetunion. Als im Mai 1943 die Komintern und damit auch unsere Schule aufgelöst wurden, ging er nach Moskau und gehörte später zur Führung des österreichischen Freiheitsbataillons innerhalb der jugoslawischen Partisanenarmee. Nach 1945 war Franz Honner für kurze Zeit Innenminister der provisorischen österreichischen Regierung. Von den anderen Dozenten — natürlich mit Ausnahme der Dozenten der deutschen Gruppe — habe ich seit dem Verlassen der Schule nie mehr etwas gehört. Sicher ist allerdings eines: Die Dozenten waren hochqualifizierte Spitzenfunktionäre der Kommunistischen Parteien der verschiedenen Länder, und sie werden wohl heute alle hohe Funktionen innehaben — sofern sie nicht inzwischen einer der vielen Säuberungen zum Opfer gefallen sind.

Die deutsche Gruppe Unser Gruppenleiter und Hauptdozent war ein hochgewachsener, etwa vierzigjähriger Mann mit leicht ergrauten Schläfen und dunklen Augen, der mit süddeutschem Akzent sprach und sich „Klassner" nannte.

Klassner war der vollendete Typ des intelligenten Stalinisten. Er besaß ein außerordentlich großes Wissen, nicht nur auf dem Gebiet des Marxismus-Leninismus, der Geschichte der Komintern und der KPD, sondern auch der deutschen Geschichte und Philosophie. Darüber hinaus hatte er sich lange Jahre speziell mit dem Balkan beschäftigt. Nichts vermochte seine kalte Überlegenheit zu erschüttern. Er konnte rücksichtslos seine besten Freunde und Mitarbeiter opfern, wenn die Führung es von ihm verlangte. Er hatte sich ständig unter Kontrolle und unüberlegte oder ungenaue Formulierungen wären bei ihm unmöglich gewesen. Er wählte seine Worte präzis und man konnte sicher sein, daß sie mit der offiziellen Linie haargenau übereinstimmten.

Infolge seiner überdurchschnittlichen Intelligenz war er imstande, rechtzeitig die leisesten Andeutungen einer ideologischen Schwenkung zu erkennen und dementsprechend zu handeln. Bei einer Veränderung der Linie war er bereit, von einem Tag auf den anderen seine Meinung zu ändern und mit kristallklarer Logik genau das Gegenteil von dem zu vertreten, was er am Tage vorher gesagt hatte. Er war ein ausgezeichneter Dozent und stellte sein großes theoretisches Wissen rückhaltslos zur Verfügung, um die Direktiven, die ihm von oben gegeben wurden, zu begründen, zu erläutern und zu propagieren.

Ich wußte damals nicht, wie sein richtiger Name lautete; erst einige Zeit später erfuhr ich ihn: Paul Wandel. Er stammte aus Stuttgart, hatte die Leninschule in Moskau besucht und anschließend im Apparat der Komintern als Mitarbeiter Wilhelm Piecks gearbeitet, vor allem in der Balkan-Abteilung. Nach 194 5 wurde er zunächst Präsident der Zentralverwaltung für Volksbildung und später Volksbildungsminister in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. 1952 anvancierte er zum Leiter der Koordinierungs-und Kontrollstelle für Unterricht, Wissenschaft und Kunst. Seit Juli 1953 ist erSekretär des SED-Zentralkomitees.

Der stellvertretende Leiter der deutschen Sektion in der Komintern-schule war Bernhard Koenen, ein älterer Arbeiterfunktionär, der sich sein Wissen sicherlich unter schwierigen Bedingungen angeeignet hatte. Er war seit 1907 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei und 1917 zur Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USP) übergetreten. Bei Ausbruch der Novemberrevolution 1918 war er Vorsitzender des Betriebsrates der Leuna-Werke.

Bernhard Koenen blieb nach 1918 zunächst noch in der LISPD, trat aber im Jahre 1920 zur KPD über. An den revolutionären Kämpfen der Zeit von 1919— 1923, darunter am mitteldeutschen Aufstand 1921 und an der kurzfristigen sächsischen und thüringischen Arbeiterregierung 1923 hatte er maßgeblichen Anteil.

Im Unterschied zu Klassner spürte man bei ihm den wirklichen Arbeiterrevolutionär, der selbst jetzt noch weit vom Typ des kalten, berechnenden stalinistischen Apparatschiks entfernt war. Es gelang ihm nicht immer, sich bei jeder beliebigen Wendung der Politik ohne eine Regung zu zeigen, der neuen Linie anzupassen, wie Klassner das so trefflich vermochte.

Unvergeßlich ist mir eine Szene geblieben. Ich war von Klassner beauftragt worden, Bernhard Koenen und seiner Frau Frieda (die ebenfalls auf der Kominternschule war) sowie auch einigen anderen älteren Genossen, die wenig Russisch konnten, die wichtigsten Artikel der „Prawda" ins Deutsche zu übersetzen.

Eines Tages hatte ich einen „Prawda" -Artikel zu übersetzen, der von dem gemeinsamen ewigen Kampf der Russen, Polen und anderer slawischer Völker gegen die Deutschen handelte.

Unbeirrt übersetzte ich: „Es handelt sich um eine ewige Waffenbrüderschaft im Kampfe gegen die Deutschen, die ruchlosen Erbfeinde der slawischen Völker!"

Bernhard Koenen schaute mich erschreckt an: „Halt, halt, da hast du was falsch übersetzt! Das kann doch nicht stimmen! Übersetz'das noch mal!“

Wieder las ich denselben Satz.

Bernhard Koenen war unruhig. „Steht da nichts vom deutschen Imperialismus oder von den herrschenden Klassen Deutschlands?“ „Nein, Bernhard, hier ist einfach von , den Deutschen'die Rede.“

„Das ist doch unmöglich.“

Wortlos zeigte ich ihm die betreffende Stelle der „Prawda und gleichzeitig noch einige andere Sätze, in denen genau so von „den Deutschen“ als ewigen Erbfeinden der Slawen die Rede war.

Bernhard Koenen war bleich geworden. Er sagte nichts mehr. Es war gewiß nicht leicht für ihn, den alten Arbeiterrevolutionär, ein stalinistischer Funktionär zu werden, der bedingungslos die sowjetischen Direktiven zu verteidigen hatte.

Während der großen Säuberung 1936— 1938 war Bernhard Koenen von der NKWD verhaftet worden. Im Gefängnis hatte er ein Auge eingebüßt. Durch eine Intervention kam er jedoch wieder frei. Danach diente er dem Stalinismus weiter.

Nach 1945 wurde Koenen erster Sekretär der SED-Landesleitung in Sachsen-Anhalt; 195 3 ging er als Botschafter der Sowjetzone nach Prag, was zweifellos für ihn eine Degradierung bedeutete.

Neben unseren beiden Hauptdozenten Paul Wandel (Klassner) und Bernhard Koenen hatten wir noch eine Assistentin, die auf der Schule Lene Ring hieß. Nach 1945 traf ich sie in der Sowjetzone unter dem Namen Lene Berg wieder. Sie war zunächst Lehrerin an der SED-Partei-hochschule „Karl Marx“ und danach die rechte Hand von Bernhard Koenen in der SED-Landesleitung in Halle.

Unsere deutsche Gruppe bestand aus 18 20 Kursanten. Nur einige davon waren ältere Funktionäre, die schon vor 19 3 3 der KPD angehört hatten, darunter „Otto“ aus Hamburg und „Willi“ aus Berlin (ihre richtigen Namen habe ich nie erfahren), die früher beide im „Roten Frontkämpferbund“ (RFB) gewesen waren und gemeinsam in der Internationalen Brigade in Spanien gekämpft hatten; „Artur — sein richtiger Name ist Heinz Hoffmann — war in Spanien Politkommissar der 11. Internationalen Brigade. Nach 194 5 wurde er Generalleutnant, Chef der Kasernierten Volkspolizei und Stellvertretender Innenminister in 'der „DDR“; Lene Berner war vor 193 3 im illegalen Apparat der KPD und der Komintern tätig gewesen und hatte auch Sonderaufträge — selbst in Japan — auszuführen. Nach 1945 war sie Lehrerin in der SMA-

Schule, später in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft in Ostberlin und danach im Außenministerium der DDR.

Die meisten Angehörigen der deutschen Gruppe in der Komintern-schule waren wie ich junge Genossen und Komsomolzen, die in der Sowjetunion erzogen worden waren. Hier traf ich viele meiner alten Freunde aus der Karl-Liebknecht-Schule und dem Kinderheim Nr. 6 wieder. Neben Mischa Wolf, Helmut Gennys und Jan Vogeler -bei denen ich mich stets von neuem daran erinnern mußte, daß sie jetzt „Förster“, „Zahl“ und „Danilow“ hießen -traf ich überraschend auch Marianne Weinert wieder, die Tochter des bekannten kommunistischen Dichters Erich Weinert, die ich schon als Kind 1932 in Berlin in der Künstlerkolonie am Breitenbachplatz kennengelernt hatte, sowie Emmi und Else Stenzer („Stern"), die beiden Töchter eines von den Nazis ermordeten Reichstagsabgeordneten der KPD.

Auch unter den Kursanten der österreichischen Sektion waren viele Freunde aus unserem früheren Kinderheim Nr. 6: Rudi Spirik, der Sohn eines sozialdemokratischen Schutzbundkommandanten, der bei den Februarkämpfen 1934 gefallen war, Toni Schlögl aus St. Pölten, Alice Kloc, die in der Kominternschule nicht ganz mitzukommen schien und später noch eine Parteischule besuchen mußte, und schließlich Hans Scheichenberger, den wir in unserem Kinderheim wegen seines Aussehens scherzend „Neger“ genannt hatten. Auch jetzt, auf der Kominternschule, hatte er noch immer etwas von seinem alten Charme.

Außerhalb der deutschen und österreichischen Gruppe kannte ich niemand. Erst am dritten Tag sah ich ein außerordentlich hübsches spanisches Mädchen, das mir bekannt vorkam. Auch sie schien mich zu erkennen. Es war Amaya Ibarruri, die Tochter von Dolores Ibarruri, der Generalsekretärin der KP Spaniens, die in wenigen Jahren von einer kleinen KP-Funktionärin zur bekanntesten Frau des republikanischen Spaniens, zur „La Passionaria" geworden war. Nadi der Niederlage der spanischen Republikaner war sie mit Sohn und Tochter in die Sowjetunion gekommen. Ihr Sohn war bei der Roten Armee und fiel im November 1942 bei Stalingrad. Die Tochter studierte bei uns in der Kominternschule. Hier hieß sie Maya Ruis.

Die Tochter der Passionaria war übrigens nicht die einzige prominente Kursantin. In unserem Zimmer fiel mir ein jüngerer Genosse auf, der einen Arm verloren hatte. Er konnte gut Russisch und erzählte einmal — ungeachtet der Disziplinarvorschriften — im Schlafsaal, daß er 1941 bereits an der Front gekämpft und dort seinen Arm verloren habe. Er schien auch sonst der einzige, der sich nicht so leicht unterkriegen ließ und alles nicht so ernst nahm. Irgendwie ließ man ihn jedoch gewähren. Das wunderte mich. Schon wenn er hereinkam, war alles fröhlicher und aufgelockerter. Kaum war er im Zimmer, rief alles: „Sharko, was gibt’s Neues?“ Auch ich machte mich mit ihm bekannt, und es dauerte nicht lange, bis er mir offen sagte, wer er war: der Sohn Titos.

Was wir in der Kominternschule lernten Ebensowenig wie mir vorher gesagt worden war, wohin ich fahren würde, erfuhr ich nun, was wir eigentlich in der Schule lernen sollten. Es war allgemein so, daß uns lediglich die bevorstehende Vortragsreihe angesagt wurde. Erst am Schluß einer solchen Vortragsserie, die meist zwei bis drei Wochen — manchmal allerdings auch wesentlich länger — dauerte, wurde uns dann das nächste Thema bekanntgegeben. Im Verlaufe der 10 Monate, die ich auf der Schule verbrachte, nahmen wir folgende Themen durch: Geschichte der KPD, Geschichte der KPdSU, die Weimarer Republik, der Faschismus, Charakter und Verlauf des zweiten Weltkrieges, Politische Ökonomie, Dialektischer und historischer Materialismus, Geschichte der Kommunistischen Internationale, Übersicht über die Geschichte Deutschlands.

Jedes Thema bestand aus einer Reihe von Vorlesungen, die meist von Paul Wandel, manchmal auch von Bernhard Koenen oder Lene Berg vorgetragen wurden, einige geschichtliche Themen außerdem noch von einer ungarischen Genossin.

Am Ende jeder Vorlesung wurde uns die Literatur angesagt, die wir-zur Vorbereitung des Seminars zu lesen hatten. Ähnlich wie in sowjetischen Hochschulen, wurde der Lesestoff geteilt in die sogenannte „obligatorische Literatur“, deren Kenntnis für jeden verpflichtend war, und zusätzliche Literatur für die in der Theorie besonders beschlagenen Genossen.

Zur Durcharbeitung der angegebenen Literatur wurde eine bestimmte Stundenzahl angesetzt. Wir waren verpflichtet, Notizen zu machen, die gelegentlich kontrolliert wurden. Nach dem Selbststudium wurden dann die Seminare, die manchmal drei Stunden, manchmal auch länger dauerten, abgehalten.

Die gemeinsamen Vorlesungen für alle Gruppen fanden meist in der Bibliothek oder im Eßsaal statt, da ein großer Vorlesungssaal nicht vorhanden war. So wurde die Geschichte der Kommunistischen Internationale für alle gemeinsam behandelt. Lektor dieser Vortragsserie war unser Direktor, Genosse Michailow. Die Vorlesungen waren ausgezeichnet. Ich habe weder vorher noch nachher Kollegs von auch nur annähernd so hohem Niveau gehört. Michailow trug russisch vor und alle diejenigen, die russisch genau so gut wie ihre Muttersprache beherrschten — das waren in der Regel die Jüngeren — setzten sich dann in die vorderen Reihen, während für die älteren Genossen an den anderen Tischen der Vortrag auf spanisch, deutsch, französisch, italienisch, rumänisch, tschechisch, slowakisch, polnisch und ungarisch übersetzt wurde. Da die Teilnehmer jeder nationalen Gruppe an einem Tisch für sich saßen, war das kaum störend, und sehr bald hatte sich das Übersetzungssystem glänzend eingespielt. Die Seminare über dieses Thema hielt dann der Lehrer jeder nationalen Gruppe mit seinen Kursanten gesondert ab.

Von allen Fächern war die Geschichte der Kommunistischen Internationale das Interessanteste.

Die Entwicklung der kommunistischen Parteien in den einzelnen Ländern, die Kämpfe und revolutionären Ereignisse von 1919 an wurden uns so eindrucksvoll geschildert, daß wir fast glaubten, wir hätten sie selbst miterlebt. Der Spartakus-Aufstand, die Kämpfe im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland, die revolutionären Ereignisse in Polen, die riesige Streikwelle des Jahres 1920 in Italien, der Machtantritt Mussolinis, die Kämpfe in Bulgarien 1923, die Periode der sogenannten „relativen Stabilisierung“ von 1924— 1929, die Weltwirtschaftskrise, der Machtantritt Hitlers — diese historischen Geschehnisse wurden uns in Vorlesungen ausführlich geschildert, allerdings — wie ich später feststellen mußte — in stalinistisch verfälschter Darstellung.

Ausführlich wurden auch die revolutionären Bewegungen in Kolonial-ländern und in Asien behandelt: die kemalistische Revolution in der Türkei, die antikolonialen Bewegungen in Nordafrika, die Gandhi-Bewegung in Indien, die Entwicklung der kommunistischen Parteien in Japan und Indonesien und vor allem natürlich, besonders eingehend, die Entwicklung der chinesischen Revolution.

Nicht alle Vorträge über die Komintern wurden von Michailow selbst gehalten, manchmal sprachen auch Jakob Bermann, Honner oder Paul Wandel. Ähnlich wie Michailow hatten auch sie, vor allem Bermann, eine außerordentlich ansprechende Art der Darstellung, die sich deutlich abhob von jenen trockenen, eintönigen Referaten, die wir aus den Veranstaltungen „für gewöhnliche Sowjetmenschen“ nur allzu gut kannten.

Von den Themen, die wir in der deutschen Gruppe behandelten, interessierte mich am meisten die politische und ideologische Auseinandersetzung mit dem Nazismus. Die anderen Themen — dialektischer und historischer Materialismus, politische Ökonomie usw. — hatte ich bereits in der sowjetischen Hochschule in den Kollegs über „Grundfragen des Marxismus-Leninismus“ durchgenommen; die Vorbereitung für die politische Auseinandersetzung mit der Nazi-Ideologie war dagegen völlig neu für mich. In einer längeren Vorlesungsreihe wurde uns nun in der Kominternschule die Geschichte der NSDAP, der Hitlerjugend und der übrigen Nazi-Organisationen, sowie die Biographien der Naziführer vorgetragen. Das Schwergewicht lag hier auf der Analyse des Wesens des Nazismus und der Ursachen der Machtergreifung Hitlers. Bis ins einzelne studierten wir die Ideologie des Nazismus — die Rassenlehre, die Lebensraumtheorie, die nazistische Geschichtsbetrachtung usw. — an Hand der nazistischen Literatur selbst. . Wir haben uns mit diesen Dingen so genau beschäftigt, daß ich nach 1945, als ich einmal richtige Nazis traf, mit Erstaunen feststellen mußte, daß ich viel besser über ihre Theorie Bescheid wußte als sie selbst.

Immer wieder war ich verwundert über die relative Großzügigkeit und Sachlichkeit, mit der wir in der Kominternschule — während eines Krieges, der auf Leben und Tod ging — den Nazismus und die Nazi-ideologie behandelten. Häufig wurde einer von uns beauftragt, vor der Gruppe bestimmte Thesen der Naziideologie vorzutragen, während die anderen die Aufgabe hatten, dagegen zu polemisieren und die Nazi-argumente zu entkräften. Der betreffende Kursant, der die Naziargumente vorzutragen hatte, wurde angewiesen, sie gut, klar und über-zeugend darzustellen, ja sein Auftreten wurde um so positiver bewertet, je besser er die Naziideologie vertrat.

Gelegentlich übernahm Klassner selbst die Rolle des Nazireferenten, und da er die Thesen sehr geschickt vortrug — wahrscheinlich geschickter als es die meisten Nazis selbst tun konnten — war es manchmal gar nicht leicht, die Gegenargumente zu finden.

Die Großzügigkeit (wir haben übrigens nicht nur die Naziliteratur zu lesen bekommen, sondern auch Manifeste und Erklärungen bürgerlicher und sozialdemokratischer Parteien verschiedener Länder sowie die Enzykliken des Papstes) hatte jedoch eine Grenze. So gern man uns mit anderen politischen Ideologien vertraut machte (offensichtlich in der Erkenntnis, daß dies für uns mit keinerlei Gefahr verbunden war, weil niemand auch nur eine Sekunde durch diese Auffassungen beeinflußt werden konnte), so streng wurden wir davor bewahrt, irgend etwas von kommunistischen Oppositionsgruppen zu lesen. An diesem Punkte hörte jede Toleranz auf. Wir hörten zwar die Namen von Brandler, Thalheimer, Ruth Fischer, Maslow, Korsch, Katz und anderen Oppositionellen, die in den 20er Jahren gemeinsam mit ihren Anhängern aus der KPD ausgetreten oder ausgeschlossen worden waren und oppositionelle Organisationen gebildet hatten, aber was diese Gruppen und Richtungen eigentlich gewollt hatten — davon hörten wir kein Wort. Das galt auch für die Oppositionsgruppen innerhalb der Bolschewistischen Partei. Weder über die Arbeiteropposition unter Schlapnikow und die Gruppe „demokratischer Zentralismus“ unter Ossinski, noch über die Trotzkisten und Bucharinisten bekamen wir auch nur eine Zeile der Originalschriften zu lesen. Das fiel mir besonders bei den Lektionen und Seminaren über den Trotzkismus auf.

Linser Dozent Klassner war bei diesem Thema nicht wiederzuerkennen. Seine Stimme war von unbändigem Haß erfüllt. Statt sachliche Argumente vorzutragen, war sein Vortrag eine wüste Beschimpfung (die sonst in den Vorlesungen der Kominternschule völlig fehlte). Dann erhielten wir die Literatur zum Thema Trotzkismus. Es war ein hektographiertes, sorgfältig zusammen gestelltes Material, das Äußerungen von Lenin gegen Trotzki (seine viel häufigeren positiven Erklärungen über Trotzki waren natürlich ausgelassen) sowie Auszüge aus den Schriften Stalins enthielt. Keine einzige Zeile von Trotzki oder von seinen Anhängern war dabei! Niemand von uns wußte damals, was Trotzki eigentlich geschrieben hatte, und während die anderen Seminare meist ein beachtliches Niveau aufwiesen, beschränkte sich das Seminar über Trotzkismus auf wütende und agitatorische Verdammung.

Damals konnte ich mir das nicht erklären — obwohl die LIrsache eigentlich auf der Hand lag. Die Erklärungen und Meinungen der oppositionellen Organisationen durften wir deshalb nicht erfahren, weil sie Auffassungen enthalten, die dem Stalinismus wirklich gefährlich sind. Die stalinistische Führung war sich wohl bewußt, daß es völlig risikolos war, uns Reden von Hitler oder Goebbels, Manifeste bürgerlicher Parteien oder Enzykliken der Päpste in die Hand zu geben, weil von vornherein feststand, daß sie uns nicht im geringsten beeinflussen konnten. Bücher von Trotzki, Manifeste antistalinistischer Organisationen, die vom marxistischen Standpunkt aus das stalinistische System in der Sowjetunion kritisieren und angreifen, hätten uns dagegen zumindest beeindruckt. „Politische Gegenwartsfragen“

Neben dem politisch-theoretischen Unterricht wurde der Aktualisierung außerordentlich viel Zeit gewidmet. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, daß die „Theorie mit der Praxis verbunden werden“ müsse. So wurden denn häufig „Politische Gegenwartsfragen“ in den Gruppen behandelt, wobei sich jede Gruppe mit der gegenwärtigen Situation und den Aufgaben der Kommunisten in dem betreffenden Land zu beschäftigen hatte.

Die Grundlage für dieses Thema war in unserer deutschen Gruppe das Material über eine sogenannte „Beratung der nationalen Friedenskonferenz“ in Deutschland, die angeblich im November 1942 in einer Stadt im Ruhrgebiet stattgefunden hatte. Lins wurde erklärt, auf dieser illegalen Konferenz, an der etwa 30 Personen, darunter Gewerkschaftsvertreter, Angehörige der KPD und der SPD, ein Geistlicher und einige bürgerliche Intellektuelle teilgenommen hätten, sei ein Programm für die Beendigung des Krieges und für den Sturz Hitlers angenommen worden.

Ih selbst hatte bereits damals ernste Zweifel, ob wirklich eine solche Konferenz stattgefunden haben konnte, und ich war wohl nicht der einzige, der diese Zweifel hegte. Die Skepsis war um so berechtigter, als die Erklärung haargenau der „richtigen Linie“ entsprach. (Übrigens habe ich nach 1945 erfahren, daß eine solche Konferenz tatsächlich nicht stattgefunden hat. Sie wird auch jetzt in der Sowjetzone nicht mehr erwähnt.)

Damals jedoch wagte niemand von uns, an der „westdeutschen Beratung“ Zweifel zu äußern, und das „angenommene Programm“ diente als Grundlage für unsere gesamte Schulung. Wochenlang zogen sich die Seminare hin, in denen wir uns mit dieser „Beratung“ und der von ihr angeblich gefaßten Resolution zu beschäftigen hatten.

Die „westdeutsche Beratung“ hatte zur Bildung von illegalen „Volksausschüssen“ aufgerufen, und so mußten wir jetzt in den Seminaren auch „Volksausschüsse“ gründen.

Von allen Fächern der Kominternschule war „Politische Gegenwartsfragen" das schwächste. Fast alle Mitglieder der deutschen Gruppe hatten schon als Kinder Deutschland verlassen müssen. Wir hatten von Deutschland, erst recht aber von der illegalen Arbeit in Deutschland nicht die geringste Ahnung. Lene Berg hatte zwar noch 11/2 Jahre nach Hitlers Machtergreifung in Deutschland gearbeitet, aber auch ihre Berichte konnten uns keine Vorstellung von den Verhältnissen in Deutschland im Jahre 1942 vermitteln. Munter bildeten wir in den verschiedenen deutschen Städten und Landgemeinden also illegale „Volksausschüsse". Daran sollten unsere organisatorischen Fähigkeiten praktisch erprobt werden. Die ganze Sache war reichlich naiv. Meist wurden uns zunächst über eine bestimmte Stadt in Deutschland die wichtigsten Angaben gemacht, z. B. über die soziale Zusammensetzung und den prozentualen Anteil der Arbeiter, Bauern und Intellektuellen, über die Wahlergebnisse der Stadt von 1932, die religiöse Zusammensetzung, über die Wirtschaft ihrer Umgebung und die Zahl der Bomben-angriffe, die die betreffende Stadt bereits durchgemacht hatte.

Nach einer solchen Übersicht sollten wir dann einen Volksausschuß „richtig zusammensetzen". Das Ganze wirkte etwa wie ein Puzzlespiel. Man mußte genau angeben, wie groß ein solcher „Volksauschuß“ sein sollte, wieviel Arbeiter, Angestellte und Geistliche, und welche Vertreter früherer politischer Parteien ihm anzugehören hätten.

Die Sache war nicht leicht. Wer einen Volksausschuß vorschlug und einen Geistlichen oder einen Rechtsanwalt vergaß, wurde wegen „Sektierertum“ und „Unterschätzung der Verbündeten im Kampf gegen Hitler“ gerügt. Wenn man aber zu viel Rechtsanwälte und Geistliche in den Volksauschuß hineinnahm, wurde man wegen „Opportunismus“ und „Unterschätzung der Rolle der Arbeiterklasse“ ebenfalls getadelt.

Eigentümlicherweise brachten es gerade diejenigen, die sich bei ernsten politischen Seminaren nur schwach beteiligen konnten, wie z. B. die junge Emmi Stenzer und der ehemalige RFB-Mann Otto aus Hamburg, in der Bildung von „Volksausschüssen“ zu einer wahren Meisterschaft. Andere, die die Dinge ernster nahmen, verspürten dagegen gewisse Hemmungen, in einer baufälligen Villa im fernen Baschkirien auf dem Papier illegale Volksausschüsse für Städte des Ruhrgebietes oder Bayerns zusammenzustellen.

Ernster als dieses Puzzlespiel war dagegen unsere Ausbildung im Abfassen von Flugblättern. Wir mußten lernen, innerhalb einer Stunde ein „politisch richtiges“ Flugblatt zu jedem gestellten Thema zu verfassen. Dabei wurden keineswegs leichte Themen ausgesucht. Anfang Oktober 1942 las man uns z. B. die Erklärung Görings über eine Erhöhung der Lebensmittelrationen in Deutschland vor. Wir hatten nun die Aufgabe, über diese Frage ein Flugblatt zu verfassen und darin die eventuell unter der Bevölkerung aufkommenden Illusionen zu zerschlagen. LInsere Flugblätter wurden jeweils in einem besonderen Seminar einzeln vorgelesen und gründlich durchgesprochen. Abschließend folgte dann das kritische Urteil des Lehrers. Da wir solche Übungen häufig machten und sehr genau durchsprachen, waren wir tatsächlich bald in der Lage, schnell aktuelle, flüssig geschriebene Flugblätter zu jedem Thema zu verfassen.

Wir besprachen jedoch nicht nur unsere eigenen Flugblätter, sondern erhielten auch alle von der politischen Abteilung der Roten Armee herausgegebenen und über den Fronten abgeworfenen Flugblätter. Unsere Aufgabe war, diese Flugblätter der Roten Armee genau zu analysieren und mit Kritik nicht zu sparen. Das war für mich völlig neu. Ich war bis jetzt in der Sowjetunion noch nie aufgefordert worden, meine Meinung über Dinge zu sagen, die von „oben angeordnet wurden.

Regelmäßig lasen wir nun die sowjetischen Flugblätter durch und diskutierten darüber. Wir sprachen aus, daß sie nach unserer Meinung sehr schwach seien, eine Auffassung, die später, als die Zahl der Kriegs-gefangenen zunahm, immer wieder bestätigt wurde und dann auch zu einer völligen Umstellung der sowjetischen Propaganda und zur Gründung des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ führte.

Begierig lasen wir dagegen die Flugblätter, die von gefangenen oder übergelaufenen deutschen Soldaten oder Offizieren selbst geschrieben worden waren. Das war eine völlig andere Sprache! Besonders fiel uns das bei einer Broschüre auf, die von Hauptmann Dr. Ernst Hadermann unter dem Titel „Das Wort eines deutschen Hauptmanns“ erschienen war. Das galt auch für ein Flugblatt, das von Heinrich Graf von Einsiedel, dem Urenkel von Bismarck, verfaßt worden war. Daß unser erster Eindruck richtig war, wurde uns später bestätigt. Beide, Hauptmann Dr. Ernst Hadermann und Heinrich Graf von Einsiedel, gehörten zu den Begründern des Nationalkomitees „Freies Deutschland“.

Wir lernten jedoch nicht nur Flugblätter schreiben, sondern wurden auch genau unterrichtet, wie man in strengster Illegalität Flugblätter herstellen könne. Innerhalb der sowieso schon geheimen Komintern-schule befand sich ein noch geheimeres kleines chemisches Laboratorium. Dieses Kabinett durften wir nur betreten, wenn das Thema „Herstellung illegaler Flugblätter“ angesagt war. Der Unterricht fand in russischer Sprache zweimal wöchentlich statt. Wir wurden in alle Herstellungsverfahren illegaler Flugblätter eingeführt, von den primitivsten Methoden (Herstellung einer Lehmmasse, mit der man kaum 100 Exemplare von kurzen Texten in großen Buchstaben anfertigen konnte) bis zu den kompliziertesten fotomechanischen Methoden, die es gestatteten, eine beliebige Anzahl von Flugblättern und Zeitungen, einschließlich Zeichnungen und Karrikaturen, in einer ganz kleinen, aber noch deutlich lesbaren Schrift herzustellen.

Jedes Verfahren wurde uns ausführlich erklärt, einschließlich der Möglichkeiten, wie die dazu benötigten Gegenstände zu beschaffen seien, und dann mußte jeder von uns Flugblätter praktisch herstellen. Der LInterricht war sehr gründlich, aber es war uns nicht erlaubt, Notizen zu machen. Wir sollten alles im Gedächtnis behalten. Da meines Wissens niemand von uns nach der Auflösung der Komintern schnell zur illegalen Arbeit entsandt wurde, haben wohl die Absolventen unseres Lehrganges heute nur noch eine blasse Erinnerung an die interessanten Unterrichtsstunden, in denen wir Dinge lernten, die wir niemals in der Praxis anzuwenden hatten.

Neben dem LInterricht „Politische Gegenwartsfragen“, der uns befähigen sollte, die Situation in Deutschland zu verstehen und uns für zukünftige Aufgaben in Deutschland vorzubereiten, wurden noch je nach Bedarf Unterrichtsstunden in „tekuschtschaja politika“ (Aktuelle Politik) eingeschaltet, in denen wir uns mit der Sowjetunion zu beschäftigen hatten. „Tekuschtschaja Politika“ war nicht etwa, wie man annehmen könnte, eine Art Presseschau oder eine allgemeine Übersicht über die Tagesereignisse in der UdSSR, sondern eine genaue Behandlung wichtiger Maßnahmen der Sowjetregierung, die wir zu studieren hatten und zu denen wir anschließend „Stellung nehmen“ sollten.

Im Verlaufe der 10 Monate — von August 1942 bis Ende Mai 1943 —, die ich in der Kominternschule verbrachte, wurden unter anderem folgende Themen in „tekuschtschaja politika“ behandelt:

Die Bildung der sogenannten „Außerordentlichen Staatskommission zur Untersuchung der Greueltaten der deutsch-faschistischen Okkupanten“ (4. November 1942).

Der Beginn der Gegenoffensive der Roten Armee bei Stalingrad (23. November 1942).

Die „Ferapont-Golowatyj-Bewegung", die am 18. Dezember 1942 entstand, als ein Kolchosbauer namens Ferapont Golowatyj aus dem Kolchos „Stachanowez" des Bezirks Nowopokrowsk im Gebiet Saratow seine gesamten Ersparnisse — insgesamt 100 000 Rubel — der Roten Armee zur Verfügung stellte, damit man für seinen Sohn, einen Flieger, ein Flugzeug bauen könne. (Diesen selbstverständlich vorher sorgfältig vorbereiteten Entschluß hatte Golowatyj in einem Brief an Stalin kundgetan, worauf er von Stalin ein Dankschreiben erhalten hatte. Danach begann eine Bewegung der Kolchosbauern, die ihre persönlichen Ersparnisse zum Bau von Panzern und Flugzeugen stifteten.)

Die Einführung neuer Uniformen in der Roten Armee (7. Januar 1943) und in der Kriegsflotte (16. Februar 1943) mit Schulterstücken, die nach der Revolution von 1917 abgeschafft worden waren, sowie die Einführung des Marschall-Sterns (28. Februar).

Der Sieg in der Schlacht um Stalingrad (3. Februar 1943). In der deutschen Gruppe hatten wir auch noch das berühmte TASS-Dementi vom 13. Februar besonders zu behandeln. (In diesem Dementi wurden ausländische Meldungen zurückgewiesen, daß die bei Stalingrad gefangenen Generale wegen Verbrechen in der Ukraine zur Verantwortung gezogen werden sollten. Solche Meldungen würden, wie die TASS erklärte, „offensichtlich von profaschistischen Elementen verbreitet und seien von Anfang bis Ende erlogen“.)

Die Mitteilung über die Erfolge der Roten Armee in der Winter-offensive 1942— 1943 (3. April 1943), daß zwischen dem 10. November 1942 und dem 31. März 1943 insgesamt 480 000 qkm sowjetisches Territorium zurückgewonnen wurden, darunter die Städte Wjasma, Gshatsk, Kursk, Woroschilowgrad, Kamensk, Schachty, Rostow sowie die nordkaukasischen Städte Krasnodar, Maikop, Jessentuki, Kislowodsk, Naltschik und Pjatigorsk.

Die sowjetische Note vom 28. April über den Abbruch der Beziehungen der LIdSSR zur Emigranten-Regierung Polens (dieses Thema wurde für so wichtig erachtet, daß neben einer ausführlichen Behandlung in den einzelnen Gruppen auch eine Sondervorlesung von Jakob Bermann für die gesamte Schule abgehalten wurde).

Diese und noch viele andere Ereignisse wurden ausführlich in den Stunden der „Aktuellen Politik" behandelt. Es war Pflicht für jeden Kursanten unserer Gruppe, zu jeder Frage „Stellung zu nehmen“ — selbst wenn schon von anderen Rednern alles Notwendige zu diesem Thema gesagt worden war.

Durch diese Maßnahme sollte jeder so geschult werden, daß er auf alle Fragen der sowjetischen Politik sofort „politisch richtig“ reagieren konnte und — beim Ausbleiben von Direktiven — in der Lage wäre, selbständig die „richtige“ Stellungnahme zu vertreten und zu propagieren.

So wurde die „Verbindung zwischen Theorie und Praxis“ in doppelter Weise hergestellt. Auf der einen Seite wurden wir dazu angehalten, unsere theoretischen Kenntnisse auf das Land anzuwenden, in dem wir später wirken sollten — auf der anderen Seite sollten wir sowohl durch das Studium der Geschichte der KPdSLI als auch durch die Behandlung der wichtigsten Maßnahmen in der Sowjetunion dazu gebracht werden, in Zukunft stets nicht nur die Ereignisse der Sowjetunion genau zu verfolgen, sondern auch in der Lage sein, an jedem Punkt der Welt Maßnahmen der Sowjetunion zu erläutern, zu popularisieren und gegen Angriffe zu verteidigen.

Trotz mancher Schwächen — etwa bei der Behandlung der „Politischen Gegenwartsfragen“ über Deutschland — war die politische Ausbildung in der Kominterschule, allgemein betrachtet, ausgezeichnet durchdacht und für den Stalinismus sehr wirkungsvoll. Mir scheint, viele Kreise im Westen sind — vor allem in letzter Zeit — soweit im militärischen Denken verhaftet, so erfüllt von Spekulationen über sowjetische Atom-und Wasserstoffbomben, daß der hervorragend organisierten politischen Schulung und ideologischen Ausbildung der Funktionäre im Stalinismus nicht die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet wird.

Die geheimen Informationsbulletins Etwa ein Drittel unserer Studienzeit war mit Selbststudium ausgefüllt. Die Unterlagen dafür erhielten wir regelmäßig in der Bibliothek, in der die meisten Schriften von Marx, Engels, Lenin und Stalin und die sonstigen Lehrmittel in genügender Zahl vorhanden waren. Die wichtigsten Schriften gab es in allen für unsere Schule notwendigen Über-setzungen. In wenigen Fällen mußten wir uns allerdings mit den russischen Ausgaben begnügen. Einer von den jüngeren Kursanten wurde dann beauftragt, den älteren das Lesematerial zu übersetzen.

In der Bibliothek waren jedoch keineswegs nur die Schriften von Marx, Engels, Lenin und Stalin und die sonstige Parteiliteratur zu finden, sondern auch hektographierte Informationsbulletins, die nicht für die allgemeine Verbreitung bestimmt und mit der Aufschrift „Geheim!“ oder „Streng geheim!“ versehen waren.

In diesen täglich erscheinenden Informationsbulletins waren, nach Ländern geordnet, die wichtigsten Rundfunkkommentare und Artikel der ausländischen Presse enthalten. Die Informationsbulletins wurden wahrscheinlich in der Komintern in Lisa hergestellt. Jedes Exemplar war mit einer Nummer versehen. Es durfte bei uns nur im Lesesaal eingesehen werden, und jeder Kursant hatte den Erhalt des Bulletins zu bescheinigen.

Als ich das erstemal ein solches Bulletin las, war ich wie vom Schlag gerührt. Gewiß, ich hatte schon bei den Sonntagsvorlesungen im Gebietskomitee von Karaganda festgestellt, daß die Referenten mehr wußten, als aus der sowjetischen Presse zu erfahren war, aber ich hatte mir nie erklären können, woher ihr Wissen stammte.

Nun wußte ich es.

Allerdings ahnte ich zu dieser Zeit noch nicht, daß dieses Informationsbulletin nur eines von vielen war. Es gab noch eine Reihe anderer, die unter ähnlichen Vorsichtsmaßregeln höheren Partei-und Staats-funktionären der Sowjetunion zugänglich gemacht wurden. Offensichtlich bestand (und besteht) auch hierin eine genaue Klassifizierung je nach dem Aufgabengebiet des betreffenden Funktionärs und der Höhe seiner Position, so daß man von einer hierarchisch gestuften Informiertheit sprechen kann.

Ich erinnere mich noch genau, was ich empfand, als ich zum ersten-mal ein geheimes Informationsbulletin in den Händen hielt: mich über-kam ein Gefühl des Dankes für das Vertrauen und das Gefühl des Stolzes, zu jenen Funktionären zu gehören, die politisch so reif waren, daß man sie getrost mit anderen Auffassungen bekannt machen konnte.

Andere junge Funktionäre werden ähnlich gedacht oder gefühlt haben, und vielleicht ist sogar das gestaffelte Privileg der Information für manche Funktionäre ein nicht geringerer Anreiz als Titel, Orden oder materielle Begünstigung.

Das in der Kominternschule ausgegebene Informationsbulletin befaßte sich nur mit dem Ausland, genauer gesagt: mit den alliierten und neutralen Staaten. Es enthielt die Reden führender Staatsmänner dieser Länder, die in der Sowjetpresse nur gekürzt oder gar nicht wiedergegeben wurden, wichtige Artikel der amerikanischen, skandinavischen, englischen und Schweizer Presse, Berichte von Parteitagen der verschiedensten Parteien in den alliierten und neutralen Ländern, sowie die wichtigsten Rundfunkkommentare. Besonders gerne las ich die des Schweizer Professors von Salis.

Interessant war, daß in diesen Bulletins auch Erklärungen kommunistischer Parteien veröffentlicht wurden, die aus außenpolitischen Gründen in der Sowjetpresse nicht erscheinen konnten, z. B. Resolutionen und Artikel der Kommunistischen Partei der LISA, die offiziell aus der Komintern ausgetreten war, Reden und theoretische Aufsätze Mao Tse-Tungs in der Partisanenhauptstadt Jenan (die auf Grund der damaligen Beziehungen zu Japan in der Sowjetpresse nicht veröffentlicht werden durften), und schließlich konnte man in den Bulletins auch die Kommuniques der Partisanen-Armee Titos lesen, die ebenfalls in der Sowjetpresse nicht veröffentlicht wurden, weil die Sowjetunion damals an der Erhaltung guter Beziehungen zur jugoslawischen königlichen Exilregierung in London interessiert war.

Häufig erschienen Sonderausgaben der Bulletins zu bestimmten Ereignissen, in denen das ganze Material über eine Frage außerordentlich klar und übersichtlich angeordnet war. Diese Bulletins enthielten somit alles, was ein verantwortlicher Funktionär wissen mußte, der sich mit internationalen Problemen zu beschäftigen hatte. Da die Bulletins gut zusammengestellt und sehr interessant waren, machte ich es mir zur Gewohnheit, sie regelmäßig zu lesen — selbst dann, wenn mir von der übrigen Pflichtliteratur schon der Kopf rauchte.

Während diese Informationsbulletins allen Kursanten dienten, erhielt unsere deutsche Gruppe, ebenfalls hektographiert und natürlich mit der Aufschrift „Geheim!“, zusätzlich regelmäßig Bulletins mit Auszügen aus Briefen deutscher Soldaten und Offiziere an ihre Angehörigen in der Heimat. Diese Materialien wurden höchstwahrscheinlich von der GlawPLIRKKA (Glawnoje polititscheskoje uprawlenije rabotschekrestjanskoj krasnoj armii), der Zentralen Politischen Verwaltung der Roten Armee, zusammengestellt.

Die Bulletins erschienen in zwei Ausgaben:

1. Auszüge aus Briefen deutscher Soldaten und Offiziere an ihre Angehörigen in der Heimat.

2. Auszüge aus Briefen der deutschen Bevölkerung an ihre Angehörigen an der Front.

Sämtliche Briefe, die der Roten Armee beim Vormarsch in die Hände fielen, wurden offensichtlich sorgfältig ausgewertet.

In diesen hektographierten Bulletins waren alle Äußerungen zusammengestellt, die politische Themen betrafen. Hier konnten wir meist folgende Rubriken finden: Äußerungen über den Krieg im allgemeinen, Ernährung, Bombardierungen, ausländische Arbeiter in Deutschland, Verhältnis zu den Kriegsgefangenen, Beziehungen zu den Verbündeten (Italien, Ungarn, Japan usw.), Lage in den besetzten Ländern.

Die Äußerungen waren dabei keineswegs propagandistisch frisiert, und pronazistische Äußerungen wurden genau so sorgfältig verzeichnet wie antinazistische. Im allgemeinen waren jedoch klare eindeutige politische Bekenntnisse in den Briefen zu finden. Nur einmal gab es in dieser Hinsicht eine kleine Sensation. Ein Soldat hatte an seine Frau in die Heimat geschrieben: „Von diesem Krieg habe ich die Schnauze voll.“ Ein Zensor hatte an den Rand des Briefes geschrieben: „ich *auch.

Bei jedem Auszug wurde der Name des Absenders und des Empfängers, sowie Ort und Datum mitgeteilt, so daß wir die Möglichkeit hatten, gewisse, wenn auch vorsichtige Analysen über die Stimmung in den verschiedenen Teilen Deutschlands vorzunehmen.

Neben den erwähnten allgemeinen Informationsbulletins und den Auszügen aus Briefen erhielten wir noch regelmäßig — ebenfalls in Bulletinform — das gesamte offizielle Material über Hitler-Deutschland, sämtliche Verordnungen der Hitler-Regierung, alle Reden von Hitler, Goebbels, Himmler, Speer, Baldur von Schirach usw., die Goebbels-Artikel im „Reich“, die Rundfunkkommentare von Fritsche und andere wichtige Kommentare aus der Nazi-Presse sowie alle wesentlichen Artikel der neutralen und der alliierten Presse über die Situation in Hitler-Deutschland.

Offenbar waren wir nicht die einzigen Empfänger dieses Materials, denn als ich später, im Mai 1945 in Berlin, mit einigen höheren sowjetischen Offizieren der politischen Verwaltung zusammenkam, war ich erstaunt, wie gut sie über Deutschland informiert waren -wahrscheinlich hatten sie während des Krieges die gleichen Materialien studiert.

Unser militärischer Unterricht Kurze Zeit nach meinem Eintreffen auf der Schule wurde bekannt-gegeben, daß in Zukunft militärischer Unterricht erteilt würde.

Die Kursanten und Lehrer aller nationalen Gruppen wurden für den militärischen Unterricht in drei Einheiten zusammengefaßt: die eine bestand aus Spaniern, Franzosen und Italienern, die zweite aus Deutschen, Österreichern und Sudetendeutschen und die dritte aus Bulgaren, Rumänen, Ungarn, Tschechen und Slowaken. Für den militärischen Unterricht wurden besondere Gruppenführer bestimmt, während die Lehrer und Gruppenvorsitzenden für diese Stunden zu einfachen „Soldaten“ degradiert waren. Fast alle militärischen Gruppenführer und Kommandeure von Einheiten waren Funktionäre mit Erfahrungen aus dem spanischen Bürgerkrieg.

Unsere Schule erhielt sogar einen „Chef des Generalstabes“, einen jungen österreichischen Funktionär mit Namen Martin Grünberg, der für uns Felix Falk hieß. Seine Ernennung war recht eigentümlich, denn Martin Grünberg, damals kaum älter als 20 Jahre, verfügte über keinerlei militärische Erfahrung und war auch nicht in Spanien gewesen. Er hatte aber eine, wenn auch kurze sowjetische militärische Ausbildung hinter sich. Viele andere Kursanten, die in Spanien Soldaten, Offiziere und sogar Generäle gewesen waren, mußten sich nun diesem jungen Funktionär unterordnen.

Die militärische Ausbildung bestand damals aus Exerzierübungen, Waffenkunde und „Strategie und Taktik“.

In Strategie und Taktik wurden wir von einem Sowjetoffizier am Sandkasten unterrichtet.

Alle taktischen Aufgaben wurden ausschließlich vom Standpunkt des Partisanenkrieges gestellt — zumindest so, wie sich der Sowjetoffizier, der uns unterrichtete, den Partisanenkampf vorstellte. Schon nach wenigen Unterrichtsstunden hatte ich den Eindruck, daß unser Sandkastenunterricht genau so weit von der Wirklichkeit entfernt war, wie die Bildung der imaginären Volksausschüsse. Ernster als die Sandkasten-spielerei war dagegen der Unterricht in Waffenkunde. Hier waren die Anforderungen für viele, die sich mit solchen Dingen noch nie so genau befaßt hatten, außerordentlich hoch. In kürzester Frist mußten wir nicht nur lernen, Handgranaten und Minenwerfer zu bedienen, Revolver, Gewehre, leichte und schwere Maschinengewehre blitzschnell auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen, wir mußten auch die russische Bezeichnung ebenso beherrschen wie die in der Heimat gebräuchliche Bezeichnung.

Während vieler Wochen mußten wir nun noch neben dem politischen Unterricht abends militärische „Nachhilfestunden“ bei den älteren Genossen nehmen. In der deutschen Gruppe erteilte „Otto“, ein Hamburger, diesen Nachhilfeunterricht. „Otto“ hatte drei Jahre lang in Spanien gekämpft. In den politischen und theoretischen Fächern war er einer der Schlechtesten, besaß dafür aber ein phänomenales Gedächtnis für die Bezeichnungen der Bestandteile aller nur denkbaren Waffen. Wie alle geistig wenig Entwickelten nutzte er seine Überlegenheit auf diesem Gebiet weidlich aus, und seine Nachhilfestunden waren für uns alle ein Greuel. Aber wir hatten keine Wahl, denn das Pensum mußte geschafft werden.

Endlich waren wir soweit, daß mit dem Schießunterricht begonnen werden konnte, und bald nahte der Prüfungstag. Wir erhielten scharfe Munition und hatten in allen genannten Waffen die Schießprüfung abzulegen.

Im allgemeinen wurde sie überraschend gut bestanden.

Nun begannen militärische Geländeübungen, die viele Stunden, ja manchmal ganze Nachmittage unserer sonst so streng rationierten Studienzeit raubten.

Manchmal ertönte sogar nachts um zwei oder drei Uhr die Sirene.

Innerhalb von zwei Minuten mußten wir dann zu Geländeübungen bereit sein.

Daß die Sandkastenübungen nicht viel mit der Wirklichkeit zu tun hatten, war mir schon nach kurzer Zeit aufgegangen. Die Geländeübungen nahm ich anfangs noch ernst.

Mein Eifer wurde aber bald gedämpft. Eines Tages erhielt ich den Befehl, mit einem alten versierten Spanienkämpfer als Kundschafter zu wirken.

Wir schlichen uns an irgendwelche Gebüsche heran.

„Ist das so richtig, oder worauf kommt es noch an?“ fragte ich ihn flüsternd. „Vor allem kommt es darauf an, daß du recht bald deine militärische Ausbildung, die man dir hier beibringt, vergißt“, flüsterte er zurück.

Ich schaute ihn entgeistert an.

„Du kannst deinen Mund ruhig wieder zumachen. Was wir hier tun, ist völliger Blödsinn. Ich kann dir nur den einen Rat geben: Vergiß den ganzen Mist, denn im Kriege ist das alles ganz anders.“

Die Geländeübungen hatten übrigens bald ein politisches Nachspiel. Beim An-und Abmarsch mußten wir nämlich stets marschieren und singen. Gesungen wurden meist sowjetische oder spanische Kampflieder, aber bei unserer deutschsprachigen Abteilung konnte man auch „Schwarzbraun ist die Haselnuß“ und „Lore, Lore, schön sind die Mädchen von 17, 18 Jahr“ hören.

Eines Tages wurde uns von unserem deutschen Kommandeur erklärt: „Das Lied , Lore, Lore, schön sind die Mädchen von 17, 18 Jahr'darf nicht mehr gesungen werden, denn es ist ein faschistisches Lied.“

Als disziplinierte Kursanten beschlossen wir, die faschistische Lore nicht mehr zu singen.

Statt dessen wurde nun um so häufiger das Lied „Schwarz-braun ist die Haselnuß“ geschmettert. Aber einige von uns, darunter auch ich, waren vorsichtig und sangen nur sehr zaghaft mit, in der Befürchtung, daß es vielleicht auch faschistisch sein könnte. Glücklicherweise stellte sich jedoch heraus, daß die „Schwarz-braune Haselnuß“ nicht faschistisch war.

Natürliche Entspannung und „organisierte Geselligkeit“

Bis zu meinem Eintritt in die Kominternschule hatte ich geglaubt, ein guter und pflichteifriger Student zu sein. Schon bald aber erkannte ich, daß selbst das emsigste Studium an einer sowjetischen Hochschule dem Studium in der Kominternschule nicht gleichkam. Vom frühen Morgen bis zum späten Mittag hörten wir Vorlesungen. Nach dem Mittagessen blieb uns eine knappe Stunde Freizeit. Die Zeit bis zum Abendessen war ausgefüllt mit Seminaren oder mit Selbststudium, das meist vom Gruppen-vorsitzenden oder vom Klassenleiter kontrolliert wurde.

Nach dem Abendessen war offiziell „freie Zeit". Aber trotzdem konnte man nicht selten die meisten Kursanten bis halb zwölf Uhr nachts in der Lesehalle arbeiten sehen. Eine halbe Stunde vor Mitternacht war „Abendappell“ (der allerdings später auf elf oder halb elf vorverlegt wurde). Nach dem Abendappell war der offizielle Arbeitstag zu Ende. Die Studenten hatten jedoch das Recht, bei Bedarf auch noch nach dieser Zeit in der Lese-halle weiter zu arbeiten.

Zu Anfang des Lehrganges hatten wir einen Vortrag über Moral zu hören bekommen. Zunächst wurde uns bekanntgegeben, daß während des Lehrgangs kein einziger Kursant und Lehrer das Recht habe, auch nur einen einzigen Tropfen Alkohol zu sich zu nehmen. Selbst die Feiertage 1. Mai, 7. November und Neujahr waren nicht davon ausgenommen. Unmißverständlich wurde uns dann erklärt, daß jeder, der versuchen sollte, sich auch nur ein Gläschen Alkohol zu verschaffen, streng bestraft würde. Man beschränkte sich jedoch keineswegs darauf, dieses Verbot einfach bekanntzugeben. Es wurde auch politisch und ideologisch begründet sowohl durch allgemeine Grundsätze als auch durch Erzählungen abschrekkender Beispiele, wie selbst durch geringe Quanten Alkohol illegale Gruppen aufgeflogen und Genossen an das Schafott geliefert worden waren, ja ganze revolutionäre Bewegungen eine Niederlage erlitten hätten. Es wurde uns alles so drastisch geschildert, daß man hätte annehmen können, die Niederlagen der Revolution von 1918 1923 in den verschiedenen Ländern Europas seien ausschließlich dadurch zu erklären, daß irgendein Funktionär zu Neujahr einmal ein Glas Wein getrunken hatte.

Fast alle hielten sich während des ganzen Lehrganges an das Verbot. Lind in den zwei Fällen, in denen es geringfügig überschritten wurde, verhing man tatsächlich strenge Strafen.

Aber nicht nur Alkohol wurde uns verboten, sondern zugleich auch jede engere Beziehung zu Vertretern des anderen Geschlechts. Auch das wurde ideologisch begründet. In einem Vortrag wurde uns dargelegt, wie einmal in Italien eine große illegale Gruppe aufflog, weil ihr Leiter sich verliebt hatte. Er sollte um 4 Uhr mit einem Zug und falschem Paß nach Paris fahren und hatte strenge Anweisung, keinen Menschen vorher zu besuchen. Trotzdem ging er noch zu seiner Freundin und wurde dabei von der Polizei überrascht. Er selbst erhielt 15 Jahre Zuchthaus. Auch die anderen Mitglieder seiner Gruppe wurden später entdeckt und verhaftet.

Tatsächlich wurden selbst die unschuldigsten Annäherungen, etwa kleine Spaziergänge auf dem Hof vor der Schule, wenn sie sich wiederholten, gemeldet und ausführlich in Kritik und Selbstkritik behandelt.

Es war nicht leicht, diese Vorschriften einzuhalten, vor allem für die jüngeren Genossen und Genossinnen im Alter von 18 bis 25 Jahren — und das war mehr als die Hälfte der Kursanten. Überdies gab es in der italienischen und besonders in der spanischen Gruppe geradezu bezaubernd hübsche Mädchen. Zu allem Überfluß war das zentrale Gebäude unserer Schule von Dutzenden Fliedersträuchen umgeben, deren Duft im Frühjahr durch die geöffneten Fenster drang, so daß es einem schwerfiel, die hübschen Spanierinnen nicht anzusehen.

Ein sympathischer polnischer Kursant verliebte sich in die Argentinierin Raquel, wurde in einer Kritik und Selbstkritik vorgeknöpft und erklärte, sich „bessern“ zu wollen. Sharko, der Sohn Titos, der sich in eine bezaubernde Spanierin verliebt hatte, blieb aber standhaft und wurde von der Schule gewiesen.

Wir waren so ausgefüllt vom Studium, daß uns als Freizeit nur noch der Sonnabendnachmittag und der Sonntag blieb.

Am Wochenende durften wir alles tun, was wir wollten — außer trinken, uns verlieben, den Schulbereich verlassen, unsere wirklichen Namen nennen, irgend etwas von unserem früheren Leben erzählen oder irgend etwas über unser jetziges Leben in Briefen schreiben. Abgesehen von diesen „geringfügigen“ Einschränkungen war alles erlaubt: Wir konnten schlafen, Spazierengehen oder Fußball spielen, uns unterhalten oder gemeinsam singen.

An einem Sonnabendnachmittag waren alle in besonders guter Stimmung. Die Jüngeren aus der französischen, spanischen und italienischen und den drei deutschsprachigen Gruppen hatten sich in einem Zimmer zusammengefunden und sangen. Die ausgelassene Stimmung brachte es mit sich, daß wir nicht nur, wie sonst meist üblich, revolutionäre Kampflieder sangen, sondern allmählich zu Volksliedern und sogar Schlagern übergingen. „Ole, wer kennt denn noch einen Schlager?“ rief eine junge Spanierin impulsiv, ohne zu ahnen, daß sie mit diesem Ausruf ein Orchester gegründet hatte. „Ich kenne viele“, sagte ein Franzose. Von uns allen wurde er gebeten, etwas zu singen. Er ließ sich nicht lange bitten. Schon stand er auf einem Stuhl und sang französische Chansons und Schlager. Sogleich hatten sich einige Spanier dazugesellt, die den Refrain mitsangen und den Takt klopften. Einer zog eine Mundharmonika hervor, um den französischen Sänger zu begleiten, andere hatten ihre Kämme genommen, um die Begleitung zu verstärken, und wenige Minuten später fanden sich andere Instrumente. Ehe wir uns recht bewußt wurden, war aus romanischer Spontaneität ein ganzes Orchester entstanden. Dann begannen einige zu tanzen.

Plötzlich trat Michailow ins Zimmer: Sofort war er von Spaniern umringt, die ihm rasend schnell irgend etwas auf Spanisch erzählten. Er nickte mit dem Kopf. Ein Hurra-Gebrüll ertönte, und nun erst erfuhren wir anderen, was los war.

Es war uns gestattet worden, jeden Sonnabendabend nach der von uns selbst improvisierten Kapelle zu tanzen.

Die Kapelle entwickelte sich. Die Leitung hatte natürlich der Franzose. Sein Vorrat an Schlagern schien unerschöpflich zu sein — später erfuhren wir, daß er früher Chanson-Sänger in einem Pariser Cafe gewesen war.

Jeden Sonnabend wurden wir mit immer neuen Schlagern aus vielen Ländern überrascht — fast alle wurden auf Französisch, Spanisch oder Katalanisch gesungen, weil wir ja keine Engländer und Amerikaner auf der Schule hatten und unter den Deutschen oder Österreichern offensichtlich nur wenige Schlagertalente vorhanden waren. Um so größer waren die Talente aus den anderen Ländern. Nicht selten geschah es, daß plötzlich nach einem Tanz eine Spanierin, Ungarin, Rumänin, Tschechin oder Polin zum Orchester trat und uns mit einem neuen Schlager beglückte.

Außer dem französischen Cafesänger schien es noch einige „Spezialisten“ zu geben, wie Juanita aus Barcelona, die den Tango „Yo te quiero mucho" ganz vorzüglich brachte.

Alle waren zufrieden, wenn sie sang, nur ich nicht, da ich mit ihr gern und oft tanzte — gerade noch so oft, wie es mir gestattet war, ohne zur Kritik und Selbstkritik vorgeladen zu werden. „Wo hast du denn so ausgezeichnet singen und tanzen gelernt?“ fragte ich sie. „Oh, Linden, weißt du nicht, wo wir uns befinden?“ lächelte sie und blieb mir natürlich die Antwort schuldig.

Die Tanzabende an Wochenenden waren für uns eine schöne Entspannung. Es war die einzige Zeit in der Woche, in der wir mit unseren Gedanken nicht bei politischen oder militärischen Themen waren.

Bald wurden die Tanzabende durch „bunte Abende“ ergänzt. Dann traten einzelne Kursanten oder Gruppen mit Gedichten, Liedern, Tänzen oder kleinen Theaterstücken auf. Auch hier waren die Spanier die aktivsten. Nach und nach lernten alle anderen die spanischen Lieder, während die nichtspanischen sich nur vereinzelt durchsetzten.

Unsere improvisierte Kapelle und die Initiative der Spanier bei den Tanzveranstaltungen sollten bedeutsame Folgen haben.

Offensichtlich hatte die Schulleitung erkannt, daß ein wenig Fröhlichkeit und Ausgelassenheit notwendig sei und in dieser Hinsicht einen „Beschluß“ gefaßt. Kurz darauf fand für uns bereits eine Gruppenversammlung zum Thema „Entspannung“ statt. Klassner hielt eine Ansprache: „.. . Gefahr der Überlastung durch das Studium ... Unmöglich, daß Genossen bis 2 Uhr nachts im Lesesaal sitzen ... Mit Überanstrengung ist niemandem gedient, auch Freizeit ist notwendig .. . Gemeinsame Lieder singen ... Gemütlichkeit organisieren .. .“

So wurde denn auch die „Gemütlichkeit organisiert“, und zwar in der Form „von geselligen Abenden“ und „gemütlichen Zusammenkünften“ der Gruppe.

Es wurde genau festgelegt, wo und wann wir uns zu einem gemütlichen Abend zu treffen und was auf jedem gemütlichen Abend zu geschehen habe: „Es ist bedeutsam und wichtig, daß wir auch außerhalb des Studiums zusammenkommen. Der Kampf in Deutschland erfordert von uns nicht nur politische und organisatorische Kenntnisse, sondern auch Verbundenheit mit den deutschen Menschen, mit ihren Gewohnheiten und Ilmgangsformen. Zu diesem Zweck werden wir auf unseren gemütlichen Abenden deutsche Volkslieder lernen und gemeinsam singen“, erklärte Klassner.

Die Verwirklichung von Theorie zur Praxis gelang diesmal vorbildlich. Wir trafen uns nun regelmäßig entweder im Seminarraum oder bei schönem Wetter draußen, setzten uns hin und warteten auf die weiteren Instruktionen für den gemütlichen Abend. Wir brauchten nicht lange zu warten, denn unmittelbar nachdem wir uns hingesetzt hatten — schließlich mußte die Zeit für die Gemütlichkeit möglichst rationell ausgenützt werden — erhielten wir Texte deutscher Volkslieder, die von den älteren Genossen zaghaft vorgesungen wurden und die wir Jüngeren, die wir bisher deutsche Volkslieder noch nie gehört hatten, treu und brav nach-singen mußten.

So saßen wir, wenige Minuten, nachdem wir Maschinengewehre auseinandergenommen oder Vorträge über die chinesische Revolution gehört hatten, und sangen: „Wohl auf dem Dachgesims, wohl auf dem Dachgesims, da hat der Sperling seine Jungen.

Lind wenn es Abend wird, und wenn es Abend wird, da fängt die ganze Horde an zu summen.

Summ, summ, summ, summ, Julia mach'auf, Julia mach'auf.

Denn ich wart'schon so lang d*rauf. Wir sangen diszipliniert und mit jenem Ernst, der von uns ständig verlangt wurde. Aber diesmal schien es nicht richtig zu sein. „Genossen, das Lied muß heiterer und fröhlicher gesungen werden“, hörten wir die Direktive Wandels. Wie bei allen Direktiven waren wir auch diesmal bestrebt, sie möglichst schnell in die Tat umzusetzen. So fröhlich und heiter wir nur konnten, ertönte nun wieder unser „Summ, summ, summ, summ ..."

Schließlich wurde uns noch aufgegeben, die Texte auswendig zu lernen. Die „gemütlichen Abende“ der deutschen Gruppe waren ein Greuel; jedesmal wartete ich ungeduldig auf den Schluß und sehnte mich nach Seminaren oder in die Bibliothek zurück.

Nach und nach lernten wir vielleicht ein Dutzend deutscher Volkslieder. Wiederholt wurde uns versichert, daß „unsere Verbundenheit zum deutschen Volk damit gestärkt“ würde. Pflichteifrig stürzten wir uns in die neue Aufgabe. Leider mußte ich später feststellen, daß die in Baschkirien so schwer erlernten deutschen Volkslieder mir wenig bei der Verbindung zum deutschen Volk halfen, denn als ich im Mai 1945 in das zerstörte und zerbombte Berlin zurückkehrte, interessierte sich kein Deutscher, mit dem ich zusammenkam, für Volkslieder.

Glücklicherweise wurde bald in der Frage der gemütlichen Abende eine neue taktische Linie proklamiert. Sie sollten nicht nur ausschließlich für das Erlernen deutscher Volkslieder verwandt werden, sondern auch dazu, daß die älteren Genossen uns aus ihren Erfahrungen erzählten.

Da bei diesen Erzählungen, von einigen Ausnahmen abgesehen, persönliche Schilderungen nur einen geringen Teil ausmachten, war das Ganze eigentlich nichts anderes als eine verschleierte Art von Vorlesungen. Obwohl wir ohnehin schon sehr viele Vorlesungen hörten, nahm ich das gerne in Kauf, denn es war immerhin besser als organisiertes Singen von Volksliedern.

Diese Abende wurden bald ein fester Bestandteil des Lebens in Kuschnarenkowo. Meist erzählte Bernhard Koenen aus seinem interessanten Leben. Er berichtete uns von der Revolution von 1918, über den mitteldeutschen Aufstand 1921, über das Jahr 1923, über Maifeiern, die er in verschiedenen Ländern erlebt hatte. Es muß ihm manchmal nicht leicht gefallen sein, denn er hatte selbstverständlich seine Erlebnisschilderungen der neuen politischen Linie anzupassen und dabei die Dinge so zu retouchieren, wie die Ereignisse sich angeblich zugetragen haben sollen — was ich allerdings damals noch nicht wußte. Pflichteifrig streute er in seine persönlichen Schilderungen abfällige Bemerkungen über Brandler und die Trotzkisten ein, genau wie das in den Lektionen vorgeschrieben war.

Manchmal wurden neben unseren Dozenten auch die älteren Kursanten beauftragt, von ihren Erlebnissen zu berichten. Unvergeßlich blieb mir die Erzählung eines älteren Genossen, der erst Ende 1940, kurz vor Ausbruch des Krieges, in die Sowjetunion gekommen war. Er hatte der Partei offiziell nicht angehört, sondern offenbar Sonderaufträge auszuführen gehabt. Drei Stunden lang berichtete er uns, wie er während der deutschen Besetzung sich 1940 allein, ohne Unterstützung der illegalen Parteiorganisation, mit der er ja nicht in Berührung kommen durfte, durchgeschlagen hatte.

Er war übrigens der einzige unserer Gruppe, der manchmal kritische Äußerungen über gewisse Dinge in der Kominternschule wagte, z. B. über den militärischen Unterricht und über Martin Grünberg, „der sich hier als Stabschef aufspielt, ohne von den Dingen überhaupt eine Ahnung zu haben“. Er schien sich sicher zu fühlen, vielleicht weil er glaubte, mächtige Beschützer zu haben.

Aber er irrte sich.

Wenige Tage später wurde er von der Schule entfernt. Hatte er sich in seinen Erzählungen nicht an die Direktiven gehalten und uns vielleicht Sachen erzählt, die er nicht erwähnen durfte? Waren seine kritischen Äußerungen daran schuld? War mit seinen Beschützern irgend etwas geschehen?

Wir wußten es nicht.

Kurz und knapp wurde uns von Klassner mitgeteilt, er sei aus der Schule entlassen worden. Er sei im übrigen niemals richtig mit der Partei verbunden und schon immer ein zweifelhaftes Element gewesen. Ein halbes Jahr später traf ich ihn in Ufa wieder und erkannte mit Grauen, was es bedeutet, in der Sowjetunion von der Partei „abgehängt“ worden zu sein.

Meine erste Selbstkritik Schon im Sommer 1942 in Ufa hatte ich den Unterschied zwischen dem Leben eines privilegierten Funktionärs und dem eines gewöhnlichen Menschen deutlich gespürt. Mir war klar geworden, daß vieles, was ich als sowjetischer Student und Komsomolze tun und sagen konnte, in meiner jetzigen Umgebung nicht zulässig war. Bei der Ankunft in Kuschnarenkowo hatte ich mir vorgenommen, mich an die neue Lebensweise zu gewöhnen. Es ging keineswegs nur darum, nichts aus meiner Vergangenheit und niemals meinen richtigen Namen zu sagen. Das zu erfüllen, erwies sich nicht einmal als schwer.

Viel schwerer war etwas anderes, was man mir nicht gesagt hatte, was ich aber jetzt erkennen sollte:

Jedes Wort wird politisch gewertet.

Dieser Satz ist nicht einfach hingeschrieben, sondern hat seine tiefe Bedeutung:

Jedes Wort wird politisch gewertet.

Das war mir bis dahin völlig neu.

Als Student und Komsomolze in der Sowjetunion genügte es während „normaler Zeiten“ — die Jahre der Säuberungen von 1936 — 193 8 natürlich ausgenommen —, wenn man auf politischem Gebiet immer die „richtige Linie“ hatte, sich über nichts äußerte, was in der „Prawda“ noch nicht behandelt worden war, und politische Auffassungen so darlegte, daß selbst der dümmste oder übelwollendste Zuhörer sie nicht in eine antisowjetische Äußerung verdrehen konnte. Daneben gab es völlig unpolitische Gebiete, über die man mehr oder weniger sagen konnte, was man wollte.

Den Unterschied zwischen meinem bisherigen Leben und dem, was mir jetzt bevorstand, hatte ich in den ersten Wochen auf der Schule noch nicht voll begriffen; ich erzählte über „freie Gebiete“ ruhig und munter alles, was mir in den Kopf kam. Das taten übrigens auch die anderen jüngeren Genossen unserer Gruppe.

Wir alle waren im wesentlichen mit dem System einverstanden, aber das hinderte uns jüngere Schüler nicht, hie und da gewisse Erscheinungen zu kritisieren und uns sogar über einzelne Dinge lustig zu machen; vor allem hinderte es uns nicht, auf unpolitischen Gebieten völlig frei und ungezwungen zu sein, so, wie das 20jährige Menschen überall in der Welt sind. Gerade das war aber verpönt, und gerade hier setzte die Kritik und Selbstkritik ein, deren erstes Opfer ich wurde.

Öfters wurden wir zu körperlichen Arbeiten herangezogen. Meist handelte es sich dabei um Arbeiten, die im Bereich der Schule zu verrichten waren; gelegentlich wurden wir auch zu landwirtschaftlichen oder anderen Arbeiten außerhalb des Schulgebietes eingesetzt.

So wurden wir eines Mittags wieder zusammengerufen:

„Der heutige Nachmittagsunterricht wird verschoben, da unsere Gruppe zum Abladen eines Frachtdampfers eingesetzt wird.“

Eine halbe Stunde später waren wir am Schiff, wo wir große Mehlsäcke auszuladen hatten. Der bärenstarke Otto aus Hamburg ließ es sich nicht nehmen, uns Jüngere zu hänseln, weil wir nur einen Sack, er aber spielend leicht zwei Säcke tragen konnte. Unter seinem Spott hatte ein kleiner, schwächlicher und kurzsichtiger junger Genosse unserer Gruppe, namens Stefan, besonders zu leiden. Stefan war aber immerhin mutig genug, sich gegen Otto aufzulehnen. Es kam zu einem Streit, wobei der bärenstarke Otto dem kleinen schwächlichen Stefan mit Fäusten ins Gesicht schlug. Ich stand daneben. Wutentbrannt machte ich meiner Empörung Luft.

Am Nachmittag des nächsten Tages wurde uns dreien bekanntgegeben, daß wir uns abends um 7 Uhr beim Direktor einzufinden hätten.

Sorglos erschien ich beim Direktor in der Annahme, daß man Otto ordentlich den Kopf waschen und ich lediglich als Zeuge gehört würde. Es kam jedoch ganz anders. Als ich in das Direktorzimmer trat, stutzte ich: es waren zwei große Quertische aufgebaut worden. Neben dem Direktor Michailow saß der Kaderchef, den wir selten gesehen und noch seltener sprechen gehört hatten, außerdem eine Funktionärin, von der es hieß, sie gehöre zum Sekretariat Dimitroffs, Paul Wandel und — was mich am meisten erstaunte — Emmi Stenzer, das 19jährige Mädchen mit den blauen Augen, das von Fragen der politischen Theorie keine Ahnung hatte, aber dafür ausgezeichnet Volksausschüsse zusammensetzen konnte.

Es herrschte eine ernste und feierliche Stille — wie bei einer Untersuchung der Inquisition.

An der Wand standen eine Couch und drei Stühle. „Ihr könnt euch auf diese Stühle setzen“, wurde uns mit kalter, fast flüsternder Stimme gesagt.

Dann war es still — mehrere Minuten lang. Es geschah überhaupt nichts. Ein beklemmendes Gefühl erfaßte mich, obwohl ich annahm, daß die Besprechung mich nicht betreffen würde.

Erst nach einiger Zeit sagte Michailow mit einer Stimme, die ich noch nicht an ihm kannte: „Ich glaube, wir können jetzt beginnen.“

Als erster sprach Paul Wandel. Er rekonstruierte noch einmal den ganzen „Fall", und mit Überraschung mußte ich feststellen, daß es sich bei der Mehlsack-Episode um ein schwerwiegendes politisches Ereignis handelte. Meine Überraschung wurde jedoch noch größer, als sich in dem Bericht von Klassner die Schuld immer mehr vom Angreifer Otto auf den angegriffenen Stefan verschob. Ihm wurde vorgeworfen, daß er „provoziert" hätte. „Es scheint notwendig, daß man überhaupt die Angewohnheiten unserer jüngeren Genossen einmal gründlich bespricht“, hörte ich Paul Wandel (Klassner) sagen. Immer häufiger wurde dabei mein Name genannt.

Der Ton wurde immer schärfer — aber es war kein Aufbrausen, kein Schreien; es war ein kaltes, sachliches Sprechen mit klaren, scharfen Formulierungen.

Nacheinander sprachen auch die anderen. Aber ich hatte Mühe, den Worten zu folgen. Immer wieder hörte ich die Worte „unbolschewistisches Verhalten“, „mangelnder Ernst“, „Überheblichkeit“. Ich saß wie gelähmt. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Das Schlimmste war die völlige Ruhe, in der sich alles abwickelte, die Pausen, in denen nichts gesprochen wurde, ohne daß der in diesem Zimmer herrschende Alpdruck auch nur eine Sekunde lang schwand.

Ich konnte keinen Gedanken fassen. Was sollte das alles? Wohin sollte das führen? Warum hatte man mir vorher noch niemals etwas gesagt? Was würde jetzt noch kommen?

Seit dem Beginn mochte vielleicht schon eine Stunde vergangen sein, aber noch immer war nichts Konkretes darüber gesagt, was ich nun eigentlich getan hätte. Trotzdem fühlte ich mich bereits schuldig. Ich fühlte, daß ich irgend etwas verbrochen haben mußte; aber gerade die Tatsache, daß ich nicht wußte, was es war, machte mich besonders hilflos.

Damals wußte ich noch nicht, daß das erst die Einleitung war.

Nach einer kleinen Pause, einer jener grauenvollen Minuten des Schweigens, hörte ich die Worte: „Ich glaube, Genossin Emmi Stern möchte noch etwas sagen.“

Das Mädchen stand auf, aber sie war nicht mehr so hilflos wie in den Seminaren, wenn sie politische Fragen nicht beantworten konnte, sondern sie erhob sich sicher, ruhig, im Vollgefühl ihrer Macht. Unwillkürlich ahmte sie den streng sachlichen und kalten Ton nach, den die anderen vor ihr gebraucht hatten.

Sie hatte einen Zettel mit Notizen vor sich. Ab und zu nahm sie den Zettel, um dann weiterzusprechen. Es waren die Anklagepunkte gegen mich.

Ich war so erregt, daß ich gar nicht alles mitbekommen konnte. Nur eins blieb mir bis auf den heutigen Tag unvergeßlich — die Genauigkeit, mit der die Anklagen vorgebracht wurden. Alles, was ich seit dem ersten Tag meiner Ankunft auf der Schule irgendwann oder irgendwo einmal geäußert hatte, war sorgfältig ausgezeichnet worden. Das wurde nun präsentiert. „Am 23. September, vormittags um 1/211 Uhr, als wir aus dem Seminar-zimmer kamen, sagte Linden ..

„Am 27. September, nachmittags um 6 Uhr, als wir zum gemeinsamen Volkslieder-Singen weggingen, erklärte Linden ...“

All das war so belanglos, daß es bei jedem, der nicht die Atmosphäre in einer solchen Schule kennt, nur ein Lachen hervorrufen würde. Mit Politik hatten die Sachen nicht das geringste zu tun. Plötzlich hob Emmi ihre Stimme. „Als das Referat über Alexander Newsky angekündigt wurde, sagte uns Linden, daß ihn diese Frage sehr interessiere und er im Geschichtsinstitut in Karaganda sich eingehend damit beschäftigt hatte. Er sei gespannt, ob der Referent irgend etwas Neues bringen würde.“

Die Ankläger hatten ein ernstes Gesicht und machten sich eifrig Notizen. Die am Tisch sitzende Frau schüttelte bedenklich den Kopf. Offensichtlich war diese Äußerung besonders schwerwiegend.

Es folgten weitere Erklärungen von mir und ich versuchte krampfhaft, die Anklagepunkte zu behalten, aber die ganze Atmosphäre hatte schon so auf mich gewirkt, daß es mir nicht gelang.

Die Anklagen schienen kein Ende zu nehmen.

„Als wir am 6. Oktober, um 1/27 Uhr abends, vom Holzfällen zurück-kamen, gingen einige Genossen der spanischen Gruppe an uns vorbei. Linden sagte dabei zu Förster, daß es hier sehr hübsche Spanierinnen gäbe.“

Wieder wurde an den Tischen geschrieben, und der Eifer, mit dem sich die am Tisch sitzenden Ankläger Notizen machten, zeigte mir, daß auch diese Äußerung besonders schwer wog.

Wieder wurde an den Tischen geschrieben, und der Eifer, mit dem sich die am Tisch sitzenden Ankläger Notizen machten, zeigte mir, daß auch diese Äußerung besonders schwer wog .

Die Anklagen waren beendet. Otto machte es sich auf dem Stuhl bereits bequem. Für ihn schien alles überstanden zu sein. Stefan, der neben mir saß, schaute ab und zu mit ängstlichen Augen zu mir herüber, obwohl er jetzt nur noch selten erwähnt wurde.

Nacheinander sprachen nun die Frau aus dem Sekretariat der Komintern, der Kaderchef und Michailow. Die von Emmi Stenzer vorgebrachten Anklagepunkte wurden in den Reden nur beiläufig erwähnt; sie dienten nur als Ausgangspunkte für die Anklagen.

Heute, auf diesen ersten Kritik-und Selbstkritik-Abend zurückschauend, fällt es mir nicht schwer, das System zu erkennen. Harmlose, nebensächliche, völlig unpolitische Aussprüche wurden ins Riesenhafte vergrößert und verzerrt, so daß charakterliche Eigenschaften und politische Konzeptionen erkennbar schienen. Danach wurden diese (nie formulierten) politischen Konzeptionen mit (ebenfalls nie ausgeführten) politischen Handlungen gleichgesetzt und schließlich die grauenhaften Konsequenzen vor Augen geführt.

Das vollzog sich etwa folgendermaßen:

„Genosse Linden sagt, er hätte die Frage Alexander Newsky in Karaganda schon studiert. Er sagt, er wäre gespannt, was der Redner Neues bringen werde.

Was bedeutet das? Es bedeutet, daß er glaubt, schon alles zu wissen, daß er es nicht nötig hat, etwas zu lernen. Darin kommt jene Überheblichkeit zum Ausdruck, die in der Partei schon viele Funktionäre zu Fall gebracht hat.“

Dann folgten Beispiele, tragische und grauenhafte Beispiele aus dem illegalen Kampf, wie Funktionäre aus Überheblichkeit Sicherungsmaßnahmen unterlassen hatten und bewährte Genossen in die Hände des Feindes fielen; wie durch Überheblichkeit Schwierigkeiten unterschätzt wurden und große Aufgaben nicht erfüllt werden konnten, ja sogar daß, „wenn man konsequent die Dinge zu Ende denkt, solche Funktionäre, objektiv gesprochen, an der Ermordung bewährter Genossen mitschuldig sind und dadurch dem Feinde dienen“.

Ähnlich war es mit dem Satz über die hübschen spanischen Mädchen in der Schule. „Man stelle sich nur vor: mitten im Krieg, da der Kampf gegen den verbrecherischen Faschismus um Leben und Tod geht, das ganze Sowjetvolk das Letzte hergibt, um den Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit des Landes siegreich bestehen zu können, gibt die Partei dem Genossen Linden die Möglichkeit, unter vorbildlichen Bedingungen zu studieren und sich für den bevorstehenden Kampf vorzubereiten. Mit Recht mußte die Partei erwarten, daß das ganze Streben Lindens darauf gerichtet ist, alle seine Kräfte auf dieses Ziel zu lenken, jede Minute für das Studium auszunützen, alle seine Gedanken auf den zukünftigen Kampf zu konzentrieren. Aber woran denkt Linden? Er denkt an hübsche spanische Mädchen und setzt damit das Interesse seines eigenen Ichs über die Interessen der Partei. Auch das hat es schon in der Vergangenheit gegeben." Wieder folgten Beispiele, eins grauenhafter, tragischer und aufrüttelnder als das andere, wie illegale Funktionäre durch ein Liebesabenteuer ihre Aufgaben vergaßen und damit nicht nur sich selbst, sondern auch die ganze illegale Gruppe dem Feind in die Hände gespielt hatten. Beispiele aus Italien, aus Hitler-Deutschland, aus Franco-Spanien und aus Horty-Ungarn lösten einander ab.

Stets wurde am Ende resümiert, daß dies die Konsequenz von überheblichen und individualistischen Äußerungen sei. Es schien alles so logisch, daß ich mich bereits schuldig fühlte, ähnliche Dinge begangen zu haben.

Der Eindruck war um so stärker, als ich bisher noch nie Ähnliches erlebt hatte. In der Sowjetschule war ich stets ein vorbildlicher Schüler gewesen und hatte zweimal die „Pochwalnaja gramota", die Ehren-urkunde für ausgezeichnete Schüler, erhalten. AIs Student konnte ich stets Examensnoten nachweisen, die mir ein Stipendium eintrugen.

Da ich bisher noch nie eine Kritik und Selbstkritik erlebt hatte und selbst hier auf der Schule noch keine einzige kritische Bemerkung über mein Verhalten gefallen war, traf mich diese massive Anklage geradezu niederschmetternd.

Endlich hatte Michailow, der als letzter Redner sprach, geendet.

„Das Wort hat Genosse Linden", hörte ich plötzlich sagen.

Ich erinnere mich, wie ich etwas zusammenhanglos äußerte, daß ich die Kritik für berechtigt halte und versuchen würde, mich zu bessern. Es war mehr ein Stammeln als ein zusammenhängendes Reden.

Dann wurde das Schlußwort — wieder von mehreren — gesprochen.

Der Grundtenor war der gleiche: die Erklärung von Linden ist ein Ausweichen gewesen. Linden hat den Kern des Problems gar nicht erfaßt. Die Erklärung zeigt seine Oberflächlichkeit. Wenn Linden bereits jetzt, am selben Abend, eine solche Erklärung abgibt, dürfte es verfrüht sein, das zu glauben. Dann folgten wieder Beispiele, Beispiele von Funktionären, die wegen irgendwelchen Fehlern angeklagt, ihr Vergehen schnell und leicht eingestanden, sich aber nicht wirklich gewandelt und ihren verderblichen Weg weiter fortgesetzt hätten.

Plötzlich, für mich völlig unerwartet, hörte ich die Stimme Michailows: „Ich glaube, wir können jetzt schließen.“

Es wurde kein Beschluß gefaßt, keine Resolution, keine Maßnahme. Ich erhielt auch gar keinen Hinweis, was ich nun zu tun hätte. Die grauenhafte, stundenlange Sitzung hatte ebenso unerwartet aufgehört, wie sie begonnen hatte.

Es war Nacht geworden. Im Haus herrschte völlige Ruhe. Alle waren schon schlafen gegangen. Langsam stieg ich die knarrenden Stufen zum Schlafzimmer hinauf. Stundenlang konnte ich nicht einschlafen. Ich wußte nicht, was das ganze zu bedeuten hatte. Sollte ich aus der Schule entfernt werden? Aus dem Komsomol ausgeschlossen werden? Würde man midi wieder nach Karaganda zurückschicken?

Viel mehr als mein unmittelbares persönliches Schicksal erregte mich das tiefe Schuldbewußtsein und die scheinbare Ausweglosigkeit, in der ich mich jetzt befand. Ich war ehrlich bereit, meine Fehler einzugestehen, aber nun hatte ich es getan — und das war auch falsch. LInruhig wälzte ich mich im Bett hin und her. Was sollte ich bloß tun? Noch nie, selbst nicht in den Wüsten Kasachstans, hatte ich mich so hilflos gefühlt wie in dieser Nacht in der Kominternschule.

Am nächsten Tag war wieder gewöhnlicher Unterricht. Nichts schien sich in der Schule verändert zu haben. Niemand schien etwas von dem gestrigen Abend der Kritik und Selbstkritik im Zimmer des Direktors zu wissen. Es war schwer, dem Unterricht zu folgen. Aber ich wußte, daß mein Verhalten nach dem Abend der Kritik und Selbstkritik sicher noch genauer beobachtet würde als vorher. So schrieb ich die Lektionen mit, aber es war ein rein mechanisches Mitschreiben. Meine Gedanken waren bei dem vorherigen Abend und bei dem, was mir noch bevorstehen würde. Ich war mir klar darüber, daß die Angelegenheit damit noch nicht beendet war.

Links vor mir saß Emmi, die von allem völlig unberührt schien. Ich ertappte mich plötzlich bei dem Gedanken, daß ihre Handlungsweise, alles genau mitzunotieren, etwas Verabscheuungswürdiges hatte. Ohne daß ich wollte, gingen meine Gedanken weiter. War das überhaupt der richtige Weg? Mußte man wirklich mit solchen Methoden Genossen zu Funktionären heranziehen? Gewiß, so dachte ich, habe ich viele Fehler, und natürlich hat die Partei auf der Schule nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, mir bei der Überwindung meiner Fehler und Schwächen zu helfen. Aber mußte das auf solche Art vor sich gehen? In einer Atmosphäre, die grausamer war als bei einer Urteilsverkündung? Wäre es nicht möglich gewesen, das auf andere Weise zu tun und mir hie und da freundschaftliche Ratschläge zu geben?

Ich erschrak vor meinen eigenen Gedanken, aber sie waren nun nicht mehr zu unterdrücken. Ist das ganze Verhältnis auf der Schule überhaupt so, wie es unter Genossen sein sollte? Dann kamen Erinnerungen an andere kritische Gedanken, die ich früher in der Periode der Säuberungen gehabt hatte. Kritische Gespräche tauchten wieder in der Erinnerung auf. Ich erschrak vor mir selbst. Wenn ich erst diese kritischen Gedanken geäußert hätte, was würde dann wohl sein?

Ich nahm mir vor, in Zukunft viel vorsichtiger in meinen Äußerungen zu sein und nur das Allernotwendigste zu sagen. Ich würde jeden Satz, jedes Wort vorher überlegen. Aber wieder kamen Zweifel: Mußte das so sein? War das eigentlich ehrlich? Aber was sollte man denn tun? Wie konnte man ehrlich sein, wenn jedes unschuldige Wort, „objektiv gesehen", als eine feindliche Äußerung gewertet wurde?

Wieder erschrak ich vor meinen ketzerischen Gedanken. Noch am Abend zuvor war mein Schuldbekenntnis vollkommen ehrlich gewesen.

Ich war an dem Abend davon überzeugt, daß die scharfe Kritik an mir völlig berechtigt war. Ich war wirklich willens gewesen, mich zu bessern, aber meine ehrlich gestammelte Erklärung war abgelehnt worden.

Wäre der Selbstkritik-Abend ein wenig anders verlaufen, wäre mit meiner Erklärung alles bereinigt gewesen, vielleicht wären mir nie oder erst viel später so „ketzerische" Gedanken gekommen. Vielleicht hätte dieser Abend, wie bei so vielen russischen und nichtrussischen Funktionären, dazu beigetragen, mich zu einem willenlosen und gefügigen Werkzeug der stalinistischen Parteiführung zu machen. So aber hatte der Abend das Gegenteil erreicht.

Gewiß, ich war immer noch völlig mit dem System verwachsen; nichts wünschte ich sehnlicher als den Sieg der sowjetischen Waffen. Ich glaubte noch fest daran, daß in der Sowjetunion der Sozialismus verwirklicht worden sei und alle Erscheinungen, die mir unangenehm aufgefallen waren, nicht das Ergebnis des Systems wären, sondern damit zu erklären seien, daß die sozialistische Ordnung in einem so rückständigen Lande wie Ruß-land errichtet worden war. Ich sah diese Fehler und Mängel damals bereits ziemlich deutlich, aber noch wußte ich nicht, daß sie in einem logischen Zusammenhang standen. Noch waren sie für mich Entgleisungen örtlicher Funktionäre, Kinderkrankheiten einer neuen Gesellschaft, Maßnahmen, die auf Grund der Rückständigkeit getroffen werden mußten, Erscheinungen vorübergehenden Charakters.

Wenn der Selbstkritik-Abend mir damals meinen Glauben an die Sowjetunion auch noch nicht genommen hatte, so hat er doch dazu beigetragen, meine kritische Einstellung zu stärken.

Vor allem aber führte dieser Abend dazu, daß ich in Zukunft jeden Satz und jedes Wort tatsächlich vorher überlegte, also ganz bewußt meine Gedanken über manche Fragen verschwieg, meine wahren Gefühle und Auffassungen verbarg. Damals aber wog meine Bejahung des Stalinismus viel schwerer als meine Kritik. Was würde jedoch sein, wenn sich mir weitere kritische Auffassungen aufdrängten, die ich bei mir behielt und wohlweislich verschwieg? Heute glaube ich, daß damals ein Weg begann, der sieben Jahre später, nach schweren inneren Kämpfen, dazu geführt hat, daß ich mit dem Stalinismus brach und aus der sowjetischen Zone Deutschlands flüchtete.

Die Überlegungen des Vormittags hatten mich irgendwie ruhiger und sicherer gemacht. Nachmittags wurde angekündigt, -daß am Abend eine Kritik und Selbstkritik in unserer deutschen Gruppe stattfinden würde. Es wurde jedoch nicht gesagt, worum es sich handelte. Es herrschte eine ähnlich feierliche Stimmung wie am Tag vorher im Zimmer des Direktors. Wieder gelang es, die Spannung und Nervosität aller Anwesenden bis zum äußersten zu steigern.

Dann begann Wandel zu sprechen.

Es wiederholte sich alles: die Schilderung des Vorfalls auf dem Dampfer, die Verlegung des Schwergewichts der Schuld auf Stefan und mich; schließlich wurde das Hauptfeuer der Kritik wieder gegen mich gerichtet.

Obwohl ich alles schon zum zweitenmal hörte, wurde ich wieder gefesselt. Die kritischen Gedanken des Vormittags wurden mit jeder Minute mehr und mehr zurückgedrängt, und bald fühlte ich mich wieder so hilflos und schuldbewußt wie am Abend vorher. Aber ganz dasselbe war es doch nicht. Schon gab es Minuten, in denen mich die Dinge nicht mehr so gefangen nahmen, da ich nicht mehr den Kopf verlor, ja sogar die ketzerischen Gedanken wieder auftauchten.

Wandel sprach vielleicht eine Stunde. Er erklärte, der Fragenkomplex sei so bedeutsam, daß man ihn im Rahmen der Gruppe noch einmal ernst besprechen müsse. Wieder folgte die Gleichsetzung nebensächlicher und unbedeutender Äußerungen mit politischen Konzeptionen und Handlungen. Am Ende seiner Rede erwähnte er, Linden habe gestern abend eine völlig unbefriedigende Erklärung abgegeben, und nun sei es die Pflicht aller anwesenden Genossen, „Stellung zu nehmen“.

Nacheinander sprachen alle Mitglieder unserer Gruppe. Alles verlief ganz planmäßig. Selbst meine besten Freunde mußten mich nun verdammen — und sie taten es. Der Inhalt war durch die Rede Wandels genau vorgezeichnet worden, und alle Angehörigen der Gruppe hielten sich daran. Nur der Tenor war etwas unterschiedlich. Einige wollten sich dadurch reinwaschen, daß sie mich noch schärfer verdammten, als Wandel selbst es getan hatte; andere dadurch, daß sie die Anklagen gegen mich mit einer Selbstkritik verbanden, wobei sie, ohne dazu aufgefordert zu sein, sich selbst bezichtigten, ähnliche Fehler zu haben. Einer der Studenten, der mich aus Freundschaft schonen wollte, erwähnte mich nicht, sondern versuchte die Angelegenheit „theoretisch“ zu behandeln und begann mit einer allgemeinen Betrachtung über die Gefährlichkeit schlechter Charaktereigenschaften. Aber es half ihm nichts. Er wurde von Wandel scharf unterbrochen und beschuldigt, den heute zur Debatte stehenden ernsten Fragen auszuweichen. So blieb auch diese Möglichkeit verschlossen.

Viele Stunden vergingen.

Endlich kam der Zeitpunkt, da ich mich zu äußern hatte.

Diesmal sprach ich ruhiger und sachlicher, gab wiederum meine Fehler zu, erklärte jedoch gleichzeitig, daß ich mir alles noch genauer und ernst überlegen werde. Das erste war ehrlich, das zweite dagegen ein taktischer Zug, zu dem ich mich gezwungen fühlte. Schließlich wußte ich ja durch den vorherigen Abend, daß ein sofortiges Eingeständnis der Fehler nicht gern gesehen war. Mit einer Erklärung und einigen abschließenden Worten von Paul Wandel wurde der Abend beendet.

Auch diesmal wurde kein Beschluß gefaßt. Immer noch wußte ich nicht, ob damit alles beendet sei oder weitere Maßnahmen folgen würden.

Bald zeigte sich jedoch, daß wirklich alles beendet war. Es war die erste Kritik und Selbstkritik in unserer Gruppe. In den nächsten Wochen und Monaten haben wir dieses Schauspiel in unserer Gruppe noch häufig erlebt, bis schließlich fast alle Schüler durch die Mühle der „Kritik und Selbstkritik“ gegangen waren.

Diese erste Selbstkritik hatte nicht nur mich, sondern auch die anderen Schüler unserer Gruppe verändert. Wir waren ernster und vor allem vorsichtiger in unseren Äußerungen geworden. Die stürmischen Begrüßungen, freien Erzählungen, jubelnden Ausrufe unterblieben. Wir Jüngeren, die wir damals zwischen 19 und 22 Jahre alt waren, benahmen uns wie gesetzte, alte Parteifunktionäre, die ihre Worte ruhig und überlegt wählten. Wahrscheinlich benahm ich midi jetzt ähnlich wie jene Funktionäre, die ich in Ufa kennengelernt hatte und deren Verhalten mir noch vor wenigen Wochen unerklärlich vorgekommen war. ’

Der Kampf gegen das „Sektierertum“

Ende Oktober 1942 wurde in allen Gruppen angekündigt, daß wir in den nächsten Tagen hohen Besuch erhalten würden — ein Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU würde einen Vortrag über die internationale Lage halten.

Der Lesesaal, in dem gemeinsame Vorlesungen meist stattfanden, war bis auf den letzten Platz besetzt. Wie üblich saßen an den hinteren Tischen die Übersetzer und in den vorderen Reihen alle diejenigen, die Russisch so gut beherrschten wie ihre Heimatsprache. Die Atmosphäre ließ uns spüren, daß etwas sehr Wichtiges geschehen würde. Wir sollten nicht enttäuscht werden.

Uns allen fiel bei diesem Referat auf, wie immer wieder das gemeinsame feste, unverbrüchliche Bündnis Englands, der LISA und der Sowjetunion hervorgehoben und das „Sektierertum“ verurteilt wurde. Wir waren politisch genug geschult, zu erkennen, daß es sich hier um eine neue politische Linie, um einen richtungweisenden Vortrag für den gesamten weiteren Unterricht auf der Schule handelte.

Wir sollten uns nicht geirrt haben. Von diesem Tage an wurde in allen Vorlesungen und allen Seminaren immer wieder auf die schlimmste Gefahr hingewiesen: das Sektierertum.

Für den Leser, der mit der stalinistischen Ideologie nur wenig vertraut ist, möchte ich vorausschicken, daß dies selbstverständlich nichts mit religiösen oder anderen Sekten zu tun hat. Für den Begriff Sektierertum wurde vielmehr in der Kominternschule folgende Definition gegeben: „Sektierertum ist eine politisch-ideologisch schädliche Auffassung in der Arbeiterbewegung, die die Notwendigkeit der Bündnispolitik der Arbeiterklasse mit den anderen Schichten leugnet und die Partei von den Massen zu isolieren versucht.“

Anfang November 1942 waren die Alliierten in Nordafrika gelandet; Mitte November begann die Offensive der Roten Armee bei Stalingrad, die die Wende des Krieges einleiten sollte. Seit diesen Ereignissen, insbesondere aber seit Anfang des Jahres 1943, gab es auf der Schule keinen Tag, an dem nicht gegen das „Sektierertum“ gewettert wurde.

Das Bündnis zwischen der Sowjetunion und den westlichen Alliierten wurde auf der Schule nicht nur immer wieder hervorgehoben und als Grundlage der Politik hingestellt, sondern es wurde auch stets die Notwendigkeit unterstrichen, in jedem Land ein Bündnis aller politischen Kräfte gegen Hitler zu schaffen. Es käme in der gegenwärtigen Etappe nicht darauf an, so wurde uns gelehrt, die eigenen politischen Ziele zu vertreten, sondern zunächst alle nur denkbaren politischen und militärischen Kräfte im Kampf gegen den Hitler-Faschismus zu mobilisieren. Gerade dadurch, daß die Partei ihre eigenen Ziele hintan stelle, sich aber als aktivste Kraft im Kampf gegen Hitler zeige, werde sie auch später einen entscheidenden Einfluß erringen. Nichts, so wurde uns immer und immer wieder eingetrichtert, sei gefährlicher als die Aufstellung zu weit gehender Forderungen, als die Abkapselung von möglichen Verbündeten.

Selbst die schwierigsten Situationen, selbst Vorgänge,, die sich bereits vor langer Zeit zugetragen hatten, wurden herangezogen, um uns zum Kampf gegen das „Sektierertum" zu befähigen.

Unvergeßlich blieb mir unser Seminar über das Thema „Geschichte der chinesischen Revolution 1925— 27". Wir hatten einen sehr interessanten Vortrag gehört und waren nun dabei, dieses Thema seminaristisch zu bearbeiten. Es hagelte Fragen: über die Kuomintang und ihre Zusammensetzung; ihre politische Zielsetzung; die sozialen Kräfte, die hinter ihr standen; die Widersprüche innerhalb dieser Kräfte; die Beziehungen zwischen der Kommunistischen Partei und der Kuomintang und die Rolle Tschiangkaischeks.

Während des Seminars kam Michailow ins Zimmer, setzte sich neben Wandel und hospitierte. Jeder andere Zuhörer hätte wohl gefunden, daß wir das Thema beherrschten, denn die schwierigen Fragen Wandels wurden meist gut und ausführlich beantwortet; Michailow schien jedoch unzufrieden zu sein.

Nervös wandte er sich an Wandel: „Entschuldigen Sie, dürfte ich hier auch einmal eingreifen und eine Frage stellen?“ „Aber selbstverständlich“, sagte Wandel. „Genossen, es kommt nicht nur darauf an, daß ihr über alle diese Dinge Bescheid wißt; natürlich ist das auch wichtig. Noch viel wichtiger ist aber etwas anderes. Die Ereignisse in China von 1925 bis 1927 geben uns sehr viele Lehren. Die Lehren wird man jedoch nur dann richtig verstehen, wenn man sich in die damalige Situation hineinversetzt, damit man selbst lernt, in ähnlichen Situationen richtige Entscheidungen zu treffen.“

Wir nickten mit dem Kopf, wußten aber noch nicht, worauf er hinaus wollte. „Ihr alle kennt die damalige allgemeine Situation. Formell ist die KP Chinas noch mit der Kuomintang verbündet, aber es ist offensichtlich, daß die Tage dieses Bündnisses gezählt sind. Jeder Tag kann den Bruch bringen.

Ich möchte euch eine Teilfrage der damaligen Situation schildern. Damals hatte die Kommunistische Partei in Shanghai einen sehr großen Einfluß auf die Arbeiter, Noch mehr, die Arbeiter hatten Waffen. Die Partei stellte also in gewissem Sinne eine bewaffnete Macht dar. Unterdessen nähern sich die Armeen Tschiangkaischeks der Stadt. Jeden Tag können sie eintreffen.

Was hätte der Vorsitzende der KP von Shanghai tun sollen? Sollte er die Armeen Tschiangkaischeks als Verbündete begrüßen? Begrüßungsreden halten und Begrüßungsflugblätter herausgeben lassen? Oder sollte er die Arbeiter der Stadt aufrufen, sich den Armeen Tschiangkaischeks zu widersetzen und damit von sich aus das Bündnis sprengen, das ohnedies schon kurz vor dem Bruch steht? Das, was ich erzähle, ist keine Phantasie. Es hat sich wirklich abgespielt. Die ganze Nacht haben damals die Genossen in Shanghai diskutiert.“

Michailow war unterdessen aufgestanden. Er machte eine kurze Pause, um uns plötzlich mit der Frage zu überfallen:

„Und ihr, was hättet ihr getan?“

Fast eine Minute herrschte völlige Stille.

Er hatte die Situation so anschaulich dargestellt, daß man fast annehmen konnte, er sei dabei gewesen (was übrigens durchaus möglich ist).

Jeder von uns überlegte fieberhaft. Es war wirklich eine sehr komplizierte Frage. Schließlich meldete sich einer: „Ich glaube, es wäre richtig, das Bündnis, solange man sicher war, daß es sich um ein echtes Bündnis handele, korrekt einzuhalten. In diesen Tagen aber, als man genau wußte, daß Tschiangkaischek jeden Moment die gemeinsame Sache verraten kann und schon zum Schlage ausholt, mußte man die Partei und die mit der Partei sympathisierenden Arbeiter schützen. Man durfte auf keinen Fall die Shanghaier Arbeiter und Kommunisten an Tschiangkaischek ausliefern, um so weniger, als sie ja Waffen hatten und sich wehren konnten.“

Fragend schaute der Kursant auf Michailow. Michailow sagte kein Wort; er verzog nicht einmal eine Miene. Dann fragte er: „Sind alle dieser Meinung?“

Schon hatte sich ein anderer gemeldet: „Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, daß trotz allem der Vorsitzende der KP Shanghais die Truppen Tschiangkaischeks freundlich und brüderlich hätte empfangen sollen — selbst auf die Gefahr hin, daß das Bündnis von Tschiangkaischek gebrochen wird und man dabei Tschiangkaischek sogar geholfen hatte, eine Riesenstadt zu erobern.

Man mußte das Bündnis halten, damit es für jeden Menschen in China eindeutig wurde, daß nicht die Kommunisten, sondern Tschiangkaischek das Bündnis gebrochen und Verrat an der Revolution geübt hat. Das hätte zwar momentan für die Partei große Schwierigkeiten gebracht und sogar viele Opfer kosten können, aber auf lange Sicht wäre vielleicht eine solche Politik trotz allem die richtige gewesen.“

Den meisten von uns erschien das doch zu weitgehend. Gespannt schauten wir auf Michailow — aber auch diesmal sagte er nichts. Er wartete. Schließlich meldete sich Emmi, das Mädchen, das so gut Volks-ausschüsse zusammensetzen konnte. Sie lächelte verschmitzt: „Ich glaube, man braucht sich weder für die eine noch für die andere Lösung zu entscheiden. Man hätte ja folgendes machen können: auf der einen Seite eine offizielle Regierungsproklamation herausgeben und die einrückenden Kuomintang-Truppen freundlich begrüßen, gleichzeitig aber Flugblätter an die Arbeiter herausgeben, in denen man sie vor einem bevorstehenden Verrat Tschiangkaischeks warnt, ihnen rät, auf der Hut zu sein, die Waffen keinesfalls aus der Hand zu geben, weil man sie für eine bevorstehende Abrechnung vielleicht brauchen würde.“

Michailow schaute ernst drein. Dann sagte er langsam abwägend, aber für seinen sonstigen Tonfall verhältnismäßig scharf: „Der letzte Vorschlag ist unannehmbar. Es handelt sich bei diesem geschilderten Vorfall nicht um eine Frage der Taktik, sondern um eine Frage der strategischen Orientierung, und Genossin Stern müßte den Unterschied ja kennen.“ *)

Die Diskussion war damit noch nicht beendet. Nacheinander traten fast alle Studenten unserer Gruppe auf. Aber sie brachten nichts wesentlich Neues mehr vor. Lediglich Varianten der ersten beiden unterschiedlichen Auffassungen wurden zum besten gegeben.

Kurze Zeit später stand Michailow auf: „Ich habe euch das Beispiel nicht so sehr um seiner selbst willen gegeben, als vielmehr, um euch zu zeigen, wie schwer es manchmal sein kann, politische Entscheidungen zu treffen. Vielleicht wird der eine oder andere von euch später einmal selbständige politische Entscheidungen zu treffen haben. Geschichte ist nicht nur Geschichte. Wenn ihr Geschichte lernt, versucht euch in die Situation hineinzudenken, entwickelt eure Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen.“

Dann kam er endlich auf das zu sprechen, was wir mit Spannung erwarteten — welche Auffassung die richtige sei. Zur Überraschung der meisten von uns erklärte er: „Genossen, der zweite Sprecher hatte im wesentlichen recht. Das gemeinsame politische Bündnis steht über dem Schicksal einzelner Entscheidungen. Selbst dann, wenn ein Bündnis in Gefahr ist, darf man es niemals und unter keinen LImständen zuerst brechen. Selbst auf die Gefahr von Teilniederlagen und Opfern darf das strategische Ziel der Einheit niemals außer acht gelassen werden, denn auf die Dauer wird es sich auch für die Partei stets politisch positiv auswirken, wenn nicht wir, sondern die anderen von einer bestehenden Einheitsfront abfallen.“

So lautete die Antwort Michailows Ende 1942 — entsprechend der damals proklamierten strategischen Linie. Ich bin allerdings nicht ganz sicher, ob sie wenige Jahre später noch genau so ausgefallen wäre.

Der Kampf gegen das „Sektierertum“ vollzog sich jedoch nicht nur in Seminarstunden über das ferne China und das Jahr 1927, sondern sollte bereits wenige Wochen später in einer akuten Gegenwartsfrage neu auftauchen.

Unerwartet wurde eine Sondervorlesung für die gesamte Schule angesetzt, was stets auf bedeutsame Ereignisse schließen ließ. Michailow hielt eine Vorlesung gegen das Sektierertum. Obwohl dieses Thema uns wahrhaftig nicht mehr neu war, spürten wir doch das Besondere.

Wir wurden nicht lange auf die Folter gespannt. Plötzlich hob Michailow die Stimme:

„Ich betone das deshalb, weil wir auch hier in unserer Schule erst vor wenigen Tagen einen Fall gehabt haben, der uns zeigt, daß das Sektierertum noch keineswegs überwunden ist, ein Fall, der so ernst ist, daß wir ihn vor der ganzen Schule behandeln sollten.“

Allgemeine Spannung. Jeder wußte, daß nun entscheidende Sätze kommen würden. Michailow wartete, bis der letzte Übersetzer am letzten Tisch seine Arbeit getan hatte.

Dann fuhr er fort:

„Das Sektierertum ging in der italienischen Gruppe so weit, daß es zu ernsten politischen Fehlern gekommen ist. Bei einem Seminar erklärte ein Mitglied der italienischen Gruppe, es käme schon jetzt darauf an, den italienischen Partisanen Anweisung zu geben, für die Waffen sichere Verstecke zu finden, damit im Falle der Befreiung Italiens durch die anglo-amerikanischen Truppen die Waffen der italienischen Partisanen nicht in die Hände der Engländer und Amerikaner fallen.“

Die meisten von uns waren erstaunt, weil eine solche Diskussion uns damals noch als ferne Zukunftsmusik erschien. Noch standen die Sowjettruppen bei Stalingrad; alliierte Truppen waren gerade erst in einem Teil Nordafrikas gelandet, und der italienische Partisanenkampf hatte kaum begonnen.

Der Vorfall in der italienischen Gruppe wurde jedoch von Michailow sehr ernst genommen: „Die größte Gefahr, die jetzt vor uns steht, ist das Sektierertum, die Abkapselung von den patriotischen Kräften, die Gefahr der Isolierung der Partei.

Aus diesem Grunde müssen solche Auffassungen aufs schärfste verurteilt werden, denn sie treiben einen Keil in eine einheitliche antifaschistische Kampffront. Sie schwächen den antifaschistischen Kampf und bedeuten objektiv eine Hilfeleistung für den Faschismus. Wer die Auffassung vertritt, daß die italienischen Partisanen ihre Waffen vor den Verbündeten der Sowjetunion zu verstecken haben, leistet nichts anderes als Hilfsdienste für Hitler.“

Das Ereignis in der italienischen Gruppe wurde zum Anlaß genommen, eine groß angelegte Kampagne gegen das Sektierertum in allen nationalen Sektionen der Schule zu starten.

Etwa fünf Jahre später wurde jedoch dem damals als „profaschistisch“ angeklagten Genossen von höchster Stelle recht gegeben. Im September 1947, auf der Gründungskonferenz des Kommunistischen Informationsbüros, wurde die italienische Partei gerade deswegen getadelt, weil sie die Waffen nicht versteckt, sondern die Moskauer Befehle ausgeführt hatte.

Die politische Neujahrsfeier Mit Auseinandernehmen und Zusammensetzen von Maschinengewehren, mit organisiertem Studium deutscher Volkslieder, mit Nachwirkungen von „Kritik und Selbstkritik“ und mit Kampf gegen das „Sektierertum“ war das Jahr 1942 für uns zu Ende gegangen.

Nur noch wenige Tage trennten uns von der Jahreswende. Es war bekanntgegeben worden, daß der Sylvesterabend in den einzelnen Gruppen gefeiert werden sollte. Als ich außerdem noch zufällig hörte, wie Paul Wandel einem unserer älteren Genossen etwas von „NeujahrsAbend organisieren“ sagte, war es nicht mehr schwer, sich unsere „Sylvesterfeier“ vorzustellen.

Meine Vorstellungskraft sollte allerdings nicht ausreichen.

Am Sylvesterabend trafen wir uns pünktlich in unserem nüchternen und kalten Seminarzimmer. Es ging genau so zu wie bei einem Seminar. Zur Feier des Tages waren lediglich die Tische etwas anders gestellt und mit Tischtüchern bedeckt worden. Außerdem bekamen wir einen Kürbis, der nun unter den Gruppenangehörigen aufgeteilt wurde. Die Mädchen hatten Tee gekocht; Alkoholgenuß war uns ja strengstens verboten.

Trotz des nüchternen Seminarzimmers und der etwas ungewöhnlichen „Feier“ mit Kürbis und Tee kam bald eine fröhliche Stimmung auf, die allerdings unorganisiert war und daher nicht lange anhalten durfte. „Ich glaube, wir können jetzt mit unserem gemütlichen Abend beginnen. Die Genossen können sich an den Tisch setzen.“

Gehorsam setzten wir uns, wobei wir uns fast wie bei einem Seminar fühlten.

Der organisierte Sylvesterabend verlief planmäßig.

Wandel gab einem älteren Genossen ein Zeichen, worauf dieser aufstand und ein (übrigens nicht einmal sehr gutes) revolutionäres Kampflied vortrug. Dann setzte er sich.

Wandel gab erneut ein Zeichen. Der zweite Genosse begann einen Auszug aus einem Buch vorzulesen.

Nun herrschte bereits nicht mehr die Atmosphäre eines Seminars, sondern die Stille wie bei einer Vorlesung. Man fühlte sich schon versucht, Notizen zu machen, und mußte fast mit Bedauern feststellen, daß weder Papier noch Bleistifte da waren.

Nachdem der Zweite geendet hatte, stand ein Dritter auf — diesmal wieder mit einem Gedicht.

Plötzlich trat etwas völlig Unvorhergesehenes ein: die Tür ging auf. Der Genosse mit dem Gedicht stockte.

Wir trauten unseren Augen nicht. Unser Schuldirektor Michailow tanzte singend in das Zimmer. Verwundert schaute er auf uns Ölgötzen, die ernst um einen Tisch herum saßen. Wir wiederum starrten fassungslos den hüpfenden, singenden Schuldirektor an.

Der erste, der sich faßte, war Michailow. Als er die Bescherung sah, machte er ein ernstes Gesicht (wie es offensichtlich am Sylvesterabend für die deutsche Gruppe notwendig war), setzte sich an den Tisch und harrte schweigend der Dinge, die nun kommen würden.

Inzwischen hatte sich der deklamierende Genosse von seinem Schreck erholt und rezitierte wieder. Obwohl wir alle schon sehr diszipliniert waren, gelang es uns doch nicht ganz, dem Vortrag zu folgen. Glücklicherweise war er bald zu Ende.

Nun wußte erst recht niemand, wie die Sache weitergehen sollte. Wahrscheinlich hatte Wandel noch einige weitere Stehaufmännchen mobilisiert, und alles war geplant worden — bloß das Eintreffen des Direktors nicht.

Fragende Blicke zwischen Wandel und Michailow.

Die Linientreue von Wandel war offensichtlich selbst für Michailow zuviel. AIs er sah, daß in der deutschen Gruppe auch am Sylvesterabend keine freie Stimmung aufkam, paßte er sich an und sprach zu uns, aber so frei, so „anders“ und irgendwie menschlicher, wie ich es weder vorher noch nachher je im Osten gehört habe.

Er sprach von den Gefahren und der Schönheit eines revolutionären Lebens.

Am Ende seiner kurzen Ansprache nahm er eine Streichholzschachtel heraus: „Vielleicht“, sagte er, „kann ich die Gedanken und Gefühle, die ich jetzt habe, leichter durch ein Beispiel erklären.“

Dabei hatte er schon ein Streichholz herausgenommen und es angezündet. In wenigen Sekunden war das Streichholz verbrannt, und nur ein wenig Asche war übriggeblieben.

Michailow schaute uns freundlich, ein wenig nachdenklich an.

Ist das nicht wie das Leben eines gewöhnlichen Menschen? Es brennt erst klein, dann wird es größer, und schließlich verbrennt es. Ein bißchen wertlose Asche bleibt übrig. Ein Mensch lebt, arbeitet, gründet eine Familie, bringt Kinder zur Welt, stirbt, wird betrauert, im besten Fall von seinen Familienangehörigen und einigen wenigen Bekannten. Ein nutzloses, überflüssiges Leben. Wenn wir dagegen unser Leben betrachten — ein Leben voller Erlebnisse, Gefahren, Reisen, Gefängnisse, verantwortlichen Funktionen, inmitten der Riesenfamilie, die wir Partei nennen, mit einem klaren festen Ziel als Baustein für eine neue Welt, im Tod betrauert von der großen Zahl der Genossen — ist das nicht etwas ganz, ganz anderes als das wertlose Streichholz?"

Wir alle waren ergriffen. Noch nie hatte man auf der Schule so zu uns gesprochen.

Michailow sah uns aufmerksam an, jeden einzelnen von uns. „Denkt vielleicht hie und da an meine Worte, vor allem, wenn ihr in Schwierigkeiten sein solltet. Es hilft. Aber jetzt, am Abend vor Neujahr, sollt ihr euch einmal richtig amüsieren. Ihr werdet mich gewiß entschuldigen, wenn ich nun auch die anderen Gruppen mal besuche.“

Mit dem Amüsieren wurde es allerdings nichts mehr. Einige von uns wurden noch beauftragt, zu den anderen Gruppen zu gehen und ihnen unsere Grüße zu übermitteln; ich sollte die bulgarische Gruppe besuchen. Auch dort, mußte ich feststellen, herrschte keine ungezwungene Stimmung. Als ich zur deutschen Gruppe zurückkehrte, war es gerade elf, aber unser „gemütlicher Sylvesterabend“ war schon zu Ende.

Eigentlich war ich nicht einmal traurig darüber. Idi ging noch ein wenig spazieren und suchte nach einer Antwort auf die Frage, warum die „gemütlichen Abende“ in der Schule so steif und unpersönlich waren.

Damals glaubte ich noch, das sei lediglich eine isolierte Erscheinung in unserer Kominternschule, die außerordentlichen Bedingungen unserer Schule ließen Freundschaft und Gemütlichkeit nicht aufkommen.

Erst später stellte ich fest, daß diese Erscheinungen keineswegs auf unsere Schule beschränkt waren. Andere „gemütliche Abende“ bei höheren Funktionären — vor allem, wenn sie viele Jahre in der Sowjetunion gewesen waren — verliefen nicht viel anders.

Erst als ich mit dem Stalinismus gebrochen hatte, erkannte ich, daß dies eine notwendige Folgeerscheinung des Systems selbst ist, eine Folgeerscheinung der Kritik und Selbstkritik, die jeden Funktionär zwingt, jedes Wort abzuwägen und zu überlegen; der bedingungslosen Unterordnung unter die Führung; des Verbotes freier Diskussionen; der völligen Abgeschlossenheit von den gewöhnlichen Menschen und der „Säuberung“, die alles Menschliche im Menschen vernichtet.

Die Neujahrsfeier hatte übrigens für einige von uns ein ernstes Nach-spiel. Schon wenige Tage später wurde die gesamte Schule wieder zusammengerufen.

Es stellte sich heraus, daß vier spanische Jugendliche sich zum Silvesterabend ein wenig Alkohol beschafft hatten und zu viert daran gingen, das kleine Fläschchen auszutrinken. Sie wurden jedoch schon bei Beginn ihres Vorhabens überrascht. Zwei von ihnen hatten bereits ein Gläschen ausgetrunken, einer ein halbes Gläschen und einer überhaupt nichts.

Die ganze Angelegenheit war bereits auf zwei Kritik-und Selbstkritik-abenden der spanischen Gruppe behandelt worden. Dort wurde der Beschluß gefaßt, die vier spanischen Jugendlichen aus dem Komsomol — denn alle vier waren Komsomolzen — auszuschließen.

Nun wurde der Fall vor die ganze Schule gebracht, um als Mahnung und Warnung für die anderen zu dienen. Wieder gab es Anklagen und die Aufzählung von Beispielen, die mir nun schon zur Genüge bekannt waren.

Gleichzeitig wurde den Spaniern immer wieder das „leuchtende Vorbild“ der sowjetischen Komsomolzen vorgehalten — obwohl sicher alle Anwesenden genau wußten, daß Tausende von sowjetischen Komsomolzen jeden Tag mehr Alkohol tranken, als die vier angeklagten Jugendlichen zusammen am Neujahrstag überhaupt trinken wollten.

Der Ausschluß unserer vier spanischen „Alkoholiker“ wurde offiziell bestätigt; sie wurden allerdings nach 31/2 Monaten wieder in den Komsomol ausgenommen, weil sie sich inzwischen vorbildlich verhalten hatten.

Aber nicht immer gingen Maßregelungen so glücklich aus. Schon kurze Zeit später erlebte ich einen Fall, der sich für immer tief in meinem Gedächtnis eingeprägt hat.

Der Ausschluß des Genossen Willy In unserer Gruppe gab es einen etwa 3 5jährigen Genossen, der auf der Schule „Willy“ hieß. Willy stammte aus einer Berliner Arbeiterfamilie — ich glaube sogar aus dem Wedding —, war schon mit jungen Jahren in den Kommunistischen Jugendverband eingetreten, hatte dort eine Reihe von mittleren Funktionen innegehabt und war auch im Roten Frontkämpferbund gewesen. Willy war nach 193 3 in die Sowjetunion emigriert. Nach Ausbruch des spanischen Bürgerkrieges hatte er eine militärische Ausbildungsschule in der Nähe von Rjasan besucht — dies war, soweit mir bekannt ist, die größte Militärschule zur Ausbildung der in der Sov/jetunion lebenden ausländischen Antifaschisten für den Kampf in Spanien — und hatte dann in der Internationalen Brigade in Spanien gekämpft. Willy hatte in unserer Gruppe eine gute Position — auf der einen Seite besaß er schon die Erfahrungen der älteren Genossen, hatte aber gleichzeitig auch die schnelle Aufnahmefähigkeit der jüngeren Menschen. Er war sehr aufgeweckt und interessiert, nahm aktiv an den Seminaren teil und war wahrscheinlich der beliebteste in unserer Gruppe — er stand sowohl mit den Älteren als auch mit den Jüngeren auf gutem Fuß.

Eines Nachmittags hatten wir wieder Unterricht in aktuellen Gegenwartsfragen. Diesmal galt es jedoch nicht, imaginäre illegale „Volksausschüsse“ zu gründen, sondern es wurde ein noch delikateres Thema behandelt: die illegale antifaschistische Arbeit in der deutschen Wehrmacht, Wir Jüngeren schwitzten Blut und Wasser. Wir waren noch niemals in irgendeiner Armee gewesen. Deutschland hatten wir bereits im Kindesalter verlassen. Wir kannten also weder Deutschland noch eine Armee, von der deutschen Hitler-Armee ganz zu schweigen. Aber nichts half uns. Die Fragen prasselten auf uns nieder und wir mußten illegale Organisationen in der Hitler-Armee genau so am laufenden Band produzieren, wie bis dahin illegale Volksausschüsse in Städten und Dörfern.

Die Sache war nicht nur deshalb so schwierig, weil wir von der Situation in der deutschen Wehrmacht — abgesehen von Informationen durch die Bulletins mit den Soldatenbriefen — keine Ahnung hatten, sondern vor allem, weil wir uns bei diesen Themen in einem unheilvollen Zwiespalt befanden: immer wieder war uns eingeschärft worden, daß die Konspiration unbedingt zu wahren sei und die Angehörigen einer illegalen Gruppe sich niemals zu erkennen geben durften, gleichzeitig aber mußten unsere auf dem Papier stehenden illegalen Gruppen wahre Wunder von Aktivität entwickeln.

Dabei wurden ständig Beispiele konstruiert, wobei wir stets den Leiter einer solchen illegalen Gruppe spielen mußten und von Wandel mit einer Flut von „Was machst du, wenn . . .“ -Fragen überschüttet wurden.

Diesmal schien die Serie von “ Was machst du, wenn . . .“ -Fragen überhaupt kein Ende zu nehmen.

Es war irgendeine verzwickt konstruierte Angelegenheit:

In einem Truppenteil, der im besetzten Gebiet der Sowjetunion steht, ist eine illegale antifaschistische Organisation tätig. Eine kleinere Einheit dieses Truppenteils, in der sich ein Angehöriger der illegalen Organisation befindet, bekommt plötzlich den Befehl, Häuser anzustecken und russische Frauen und Kinder zu erschießen.

Es wurde mir heiß und kalt, als nun Wandel die Frage stellte, „Was machst du in einem solchen Fall als Führer dieser illegalen Gruppe?“

Wandel schaute sich um und rief Willy auf.

„Von der Konspiration würde ich auf keinen Fall und unter keinen LImständen abweichen. Wir haben ja gelernt, daß die illegalen Organisationen der Armee das allerwichtigste sind und daß wir die Konspiration, besonders solcher Gruppen, niemals aufgeben dürfen.“

„Auch dann nicht, wenn von Soldaten desselben Truppenteils Schandtaten gegen die sowjetische Bevölkerung verübt werden?“ Willy wurde verwirrt. „Ja, ich weiß nicht, aber ich glaube . . . daß man selbst in dieser schwierigen Lage . . . wahrscheinlich . . . vielleicht doch, daß man selbst bei diesem schweren Fall die illegale Gruppe nicht auffliegen lassen dürfte.“

Viele, darunter auch ich, schwiegen. Hier in Baschkirien sitzend, wußten wir beim besten Willen nicht, was man in einem solchen Fall tun muß. Irgendwie spürten wir, daß wir es schon wissen würden, wenn wir einmal in eine solche Situation gestellt würden, aber die ganze Sache war so theoretisch konstruiert, daß viele beschlossen, zu schweigen.

Wandel selbst hatte sich nicht geäußert, und das Seminar ging weiter. Drei oder vier hatten noch zu anderen Themen gesprochen, als Wandel sich plötzlich erhob. Völlige Stille. Er schaute uns entsetzt und empört an. „Ich habe den Eindruck, daß bisher niemand in der Gruppe gemerkt hat, daß hier etwas Unglaubliches, Unfaßbares geschehen ist!“

Er machte eine bedeutsame Pause. Wir schwiegen. Ich hatte bisher geglaubt, in politischen Fragen schon einiges Fingerspitzengefühl zu besitzen, aber nun merkte ich, wie weit ich noch davon entfernt war. Ich wußte gar nicht, was er meinte. Dann erst fiel mir die Äußerung von Willy ein. War es das, was Wandel meinte? Diesen Gedanken verwarf ich sogleich. Schließlich hatte Willy ja gesagt, daß er es nicht genau wisse, und außerdem war es wirklich eine sehr komplizierte Frage.

Inzwischen fuhr Wandel in seiner Rede fort. Noch war sie ganz allgemein gehalten. Er sprach vom heroischen Kampf des Sowjetvolkes, von den grausamen Bestialitäten der Naziarmee, und plötzlich, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, kam die direkte Anklage: „ . . . und in einer solchen Situation, in der es die heiligste Pflicht der deutschen Antifaschisten ist, den Kampf gegen den Faschismus zu führen, erklärt Willy schamlos, daß er bei den Greueltaten der Nazis gegen die Sowjetbevölkerung passiv beiseite stehen würde.

Das ist kein politischer Fehler. Das ist mehr. Das ist Verrat, Verrat am heiligen Kampfe der Antifaschisten, Verrat an der deutschen Arbeiterbewegung, Verrat an der Partei, Verrat am ersten Land des Sozialismus, der Sowjetunion.

Diesen unerhörten Vorfall werden wir in den nächsten Tagen mit allem Ernst behandeln. Ich erwarte jedoch bereits jetzt von jedem, zu den Ausführungen Willys Stellung zu nehmen.“

Wieder herrschte einige Sekunden lang Totenstille. Wir waren schon vieles gewöhnt und hatten bereits mehrere Abende der Kritik und Selbstkritik hinter uns. Aber so scharf war noch nie gesprochen worden.

Plötzlich fiel mir ein, daß Wandel unseren Mitschüler Willy nicht einmal mehr mit dem Wort „Genosse“ bezeichnet hatte. War das Zufall? Sollte Willy vielleicht irgendwelche Maßnahmen zu erwarten haben?

Aber diesen Gedanken verwarf ich bald. Soweit konnte es doch nicht gehen.

Inzwischen hatten mehrere die Hände erhoben. Ich wartete.

Einer nach dem anderen sprach jetzt sein Verdammungsurteil gegen Willy. Es war schauerlich.

Ganz hinten saß mein Freund Jan, der immer so begeistert von Marschall Shukow gesprochen hatte. Er war der einzige der Jüngeren, der das Leben in der Armee etwas kannte. Er war ja selbst mehrere Monate in der Roten Armee gewesen. Für schwierige Fälle hatte er eine Schwäche, und außerdem war er noch einer der Mutigsten von allen.

Er meldete sich:

„Ich war selbst in der Armee und hatte auch mit Abteilungen zu tun, die solche Dinge organisierten. LInter gewissen, ganz seltenen, besonderen Umständen kann es doch der Fall sein, wenn es zum Beispiel darum geht, daß ..."

Wandel unterbrach ihn scharf: „Wir sind nicht hier, um irgendwelche Spintisierereien zu erzählen, sondern um zu den verräterischen Äußerungen von Willy Stellung zu nehmen.“

Aber der junge, mutige Jan war von seiner Idee ganz begeistert: „Genosse Klassner, ich möchte doch bloß einen Fall . . . einen Fall, den ich selbst in der Armee erlebt habe . . .“

Aber Jan konnte nicht zu Ende sprechen. „Schluß jetzt, ich entziehe dir hiermit das Wort.“

Jan schwieg betroffen. Ich war ihm in diesen Sekunden ganz besonders zugetan. Er hatte Willy nicht offen verteidigt, aber doch versucht, ihm eine Brücke zu bauen.

Nach und nach hatten fast alle unserer Gruppe „Stellung genommen“. Zweimal sah ich den Blick Wandels auf mich ruhen, aber noch schwieg ich. Schließlich, als nur noch ein Genosse vor mir hätte sprechen können, nannte Wandel meinen Namen. „Genossen“, sagte ich, „niemand von uns wird die Tragweite und Konsequenz der gefährlichen Äußerung Willys unterschätzen wollen. Bei allem Ernst, den man diesen Ausführungen beimessen muß, sollte auf der anderen Seite jedoch nicht die Schwierigkeit der Fragestellung unterschätzt werden. Wir alle kennen den Genossen Willy und wir alle wissen, daß Willy stets vorbildlich . . .“ Ich konnte nicht weitersprechen. Wandel hatte mich unterbrochen: „Keine Versuche der Vertuschung hier. Es geht um prinzipielle politische Fragen. Wir brauchen keine opportunistischen Verkleisterungen.“

Ich schwieg. Ich konnte ihn einfach nicht öffentlich verurteilen — obwohl ich genau wußte, daß mich das wieder eine Kritik und Selbstkritik kosten würde.

Wandel wartete, aber ich schwieg. Mehrere aus unserer Gruppe schauten mich erstaunt und mißbilligend an. Dann, als letzter, erhielt Sepp, unser Gruppenvorsitzender, das Wort. Er hatte zusammen mit Willy in Spanien gekämpft und war seit vielen Jahren mit ihm eng befreundet. Jetzt verdammte er ihn.

Nach einem kurzen Schlußwort von Wandel wurde das Seminar über die illegale Arbeit in der Armee beendet.

Am nächsten Abend wurde die ganze Gruppe in das Direktionszimmer gebeten. Wir wußten, daß es sich um den Fall Willy handeln würde.

Mit Schrecken dachte ich daran, daß wir jetzt noch einmal alle sprechen müßten. Aber glücklicherweise kam es nicht dazu. Es waren so viele von der Leitung der Schule erschienen, wie ich es nie zuvor erlebt hatte. Mehrere Lehrer aus anderen nationalen Gruppen waren anwesend. Fast alle von ihnen sprachen. Wir, die Schüler der deutschen Gruppe, waren diesmal nur Gäste.

Wieder erlebte ich das gleiche, wie bei der ersten Kritik und Selbstkritik — aber alles war noch viel schärfer.

Der arme Willy. Sein ganzes Leben hatte er der Partei gewidmet und fast drei Jahre unter den schwierigsten Bedingungen in Spanien gekämpft. Nun wurde er auf Grund seiner wenigen Sätze im Seminar der „Beihilfe zum Faschismus“, der „Propagierung der Passivität im Kampfe gegen Hitler“ und ähnlicher Verbrechen angeklagt. Ein Redner verglich ihn sogar mit Franco.

Hie und da wurden auch Jan und ich erwähnt — Jan wurde seine „Spintisiererei“ vorgeworfen, mir die „opportunistische Verkleisterung“, aber es war klar, daß wir diesmal nur völlig bedeutungslose Neben-figuren waren. Die geballte Wucht der Kritik und Selbstkritik richtete sich gegen Willy.

Unterdessen saß Willy mit starrem Blick abseits auf einem Stuhl und sagte kein Wort.

Stunden waren schon vergangen. Die Anklagen wiederholten sich, aber vielleicht wurde gerade durch die ständige Wiederholung jene unbeschreibliche Atmosphäre geschaffen, die in solchen Kritik-und Selbstkritik-Abenden herrscht.

Plötzlich, als wir schon glaubten, der Abend sei zu Ende, wurde der Ton noch verschärft. Ein Redner sprach von „notwendigen Konsequenzen“, die aus dem Verhalten Willys zu ziehen seien, da dieser Fall alles übertreffe, was es bisher in der Schule gegeben habe. Mit aller Schärfe müsse die Frage des weiteren Verbleibens eines solchen Menschen wie Willy in der Kominternschule gestellt werden. Der Redner beschränkte sich nicht darauf, die „Frage zu stellen“, sondern gab auch gleich eine Antwort.

„Für Personen,“ — das Wort Genosse wurde auch hier nicht mehr gebraucht — „die bei der Ermordung von Sowjetbürgern tatenlos Zusehen wollen, und solche Auffassungen verbreiten, für Personen, die objektiv eine Hilfestellung gegenüber dem Faschismus einnehmen, kann in der Kominternschule kein Platz sein.“

Diese Ansicht wiederholte auch Michailow in seiner Schlußansprache.

Dieser Abend traf mich wie ein schwerer Schlag — fast noch schwerer als die Kritik und Selbstkritik, die gegen mich gerichtet war.

Ich empörte mich nicht nur über die Kälte und Herzlosigkeit, sondern auch über die Verstellung derjenigen, die Willy anklagten und seinen Ausschluß aus der Schule forderten. Jeder von ihnen wußte genau, daß Willy ein treuer, ehrlicher Funktionär war und es auch in Zukunft bleiben würde. Was er auf die Seminarfrage geantwortet hatte -auch das wußte jeder —, war lediglich ein Ausdruck der Ratlosigkeit in der Beantwortung einer abstrakt konstruierten Frage gewesen. Dabei glaubte sich Willy genötigt, jenen Grundsatz anzuwenden, den man uns immer in allen Lektionen über illegale Arbeit als höchste und wichtigste Aufgabe dargelegt hatte — nämlich die Konspiration zu wahren.

Die wenigen Worte in einem Seminar mußte Willy jetzt nicht nur mit dem Ausschluß aus der Kominternschule, sondern fast sicher auch mit dem Ausschluß aus der Partei und dem Verzicht auf weitere politische Arbeit bezahlen. Dies aber bedeutet automatisch den Rückfall in die untersten Schichten der Sowjetbevölkerung, in das Leben eines von der Partei abgehängten, verdächtigen Ausländers in irgendeiner weit entfernten Kollektivwirtschaft oder als Schwerarbeiter in einer entlegenen sowjetischen Fabrik. Meist war selbst das nur ein Übergang zum Gefängnis oder in ein Lager. Das war uns allen klar, obwohl es weder auf der Versammlung noch in der Gruppe ausgesprochen wurde.

Ein offizieller Beschluß wurde nicht gefaßt; aber jeder von uns wußte natürlich, was dieser Abend bedeutete.

Willy selbst sprach kein Wort. Er ging ins Schlafzimmer und packte seine Sachen. Am nächsten Tag war er verschwunden. Es gelang mir, ihn noch einmal kurz zu sprechen, als wir beide allein waren. Ich sagte ihm einige tröstende Worte, aber er antwortete nicht. Kein Wort kam von seinen Lippen.

Seit jenem Tag hörten wir offiziell nichts mehr von Willy. Später flüsterte mir ein Mitschüler zu, man habe ihn nach Karaganda geschickt.

Aber ich konnte natürlich nicht feststellen, ob das stimmte.

Willys Name wurde weder von Wandel noch von irgendeinem anderen Lehrer je wieder erwähnt. Es war so, als habe er niemals gelebt. Aber ich konnte ihn nicht vergessen. Immer wieder gingen meine Gedanken zu jenem Berliner Arbeiterjungen, der den größten Teil seines Lebens, selbst unter schwierigsten Bedingungen, der Partei geopfert hatte, aber wegen einiger Worte in einem Seminar wie ein altes Stück Eisen weggeworfen worden war. „Die Komintern ist aufgelöst!“

Seit meinem Eintritt in die Kominternschule waren nun schon neun Monate vergangen. Mitte August 1942 hatte der Kursus begonnen. Jetzt schrieben wir Mai 1943.

Keiner von uns wußte, wie lange das Studium dauern würde, da nach Beendigung eines Themas immer nur das nächste Thema angesagt wurde. Das geschah vielleicht deshalb, um in dringenden Fällen einzelnen Kursanten oder ganzen Gruppen die Möglichkeit zu geben, das Studium abbrechen zu können.

In unserem Lehrgang geschah das jedoch nur einmal: im Februar 1943 wurde unerwartet die slowakische Gruppe von der Kominternschule entfernt. In diesem Falle war es jedoch keine Folge von Kritik und Selbstkritik. Es handelte sich um ihren politischen Einsatz.

Schon aus Andeutungen in unseren Vorlesungen und aus Gesprächen hatten wir gehört, daß von allen mit der Achse verbundenen Staaten die Slowakei für illegale Arbeit relativ am günstigsten sei. Nicht nur, daß man von der Bevölkerung Unterstützung erwarten könne, es wurde sogar erzählt, daß selbst hie und da Polizeibeamte beide Augen zudrückten, wenn sie auf Menschen trafen, die gegen Hitler tätig waren.

So überraschte es uns nicht, als wir im Februar 1943 unsere slowakischen Genossen vor dem Schulgebäude trafen, wo eine Reihe von Schlitten wartete, mit denen sie nach Ufa gebracht werden sollten.

Selbstverständlich wurde nicht gesagt, wohin sie fuhren. Es war jedoch jedem klar, daß es sich um einen aktiven Einsatz in der Slowakei handelte.

Später, als im Frühjahr 1944 der große antifaschistische Aufstand in der östlichen Slowakei ausbrach, erfuhren wir, daß alle unsere Mitschüler sich aktiv daran beteiligt hatten. Nach 1945 wurden die Teilnehmer des Slowakischen Aufstandes in der neuen Tschechoslowakei hoch geehrt. Aber das sollte nicht lange dauern. Je mehr die „führende Rolle der Sowjetunion“ hervorgehoben werden mußte — insbesondere nach 1948 —, um so mehr wurde die Erinnerung an den Slowakischen Aufstand, an die eigene antifaschistische Bewegung in der Tschechoslowakei zurückgedrängt. Schließlich, beginnend mit dem Jahre 1950, wurden die Führer des Slowakischen Aufstandes, Husak und Novomjeski, und Hunderte von aktiven Teilnehmern verschiedener „Abweichungen“ bezichtigt und verhaftet.

So zeigt sich am Beispiel des Slowakischen Aufstandes erneut, daß der Stalinismus nichts so sehr fürchtet wie eigene, selbständige revolutionäre Bewegungen. Wohl ist der Stalinismus nicht abgeneigt, hie und da revolutionäre Aktionen für die eigene Zielsetzung auszunutzen, aber sobald sich die stalinistische Herrschaft gefestigt hat, werden die Teilnehmer selbständiger revolutionärer Bewegungen verleumdet, in die Gefängnisse geworfen, sogar hingerichtet. Selbst die Erinnerung an die eigenen revolutionären Bewegungen darf im Volk nicht weiterleben; sie wird umgefälscht oder totgeschwiegen, um nachträglich Raum zu schaffen für die „befreiende Rolle der Sowjetarmee“, für die „führende Rolle der Sowjetunion“, der sich alles unterzuordnen hat.

Dies alles konnten wir damals im Februar 1943 noch nicht ahnen. Wir verabschiedeten uns freundschaftlich von den slowakischen Genossen, wünschten ihnen alles Gute und viel Erfolg und vertieften uns dann wieder in unser Studium, allerdings ohne zu wissen, wie lange wir noch auf der Kominternschule bleiben würden.

In dieser Hinsicht hatten wir nur einen einzigen Anhaltspunkt: die Vorlesungsreihe über die Geschichte der Kommunistischen Internationale. Dieses Thema wurde nämlich nicht hintereinander durchgepeitscht, sondern parallel neben dem gewöhnlichen Llnterricht durchgenommen. Es sollte offensichtlich erst mit dem Abschluß des Kurses beendet werden.

Mitte Mai hatten wir die Geschichte der Komintern bis zum Jahre 19 34 durchgenommen. Es war nicht schwer, sich auszurechnen, daß wir also mindestens noch 3-4 Monate in der Schule bleiben würden. Von einigen Kursanten hatten wir gehört, daß der Kursus in der Komintern-schule während des Krieges auf ein Jahre reduziert worden war. So hatten wir uns innerlich auch darauf vorbereitet, bis zum August oder September 1943 in Kuschnarenkowo zu bleiben. Das war sicherlich auch der Plan der Schulleitung, der aber unerwartet durch „höhere Gewalten vollkommen durcheinandergebracht wurde.

Es war am 16. Mai 1943. Ich wollte gerade nach einem Seminar auf den Hof, als ich im Vorraum der Schule Dutzende von Mitschülern versammelt sah. Ich wußte, daß gelegentlich kurze Ankündigungen an das Schwarze Brett angeschlagen wurden. Aber noch nie hatte ich so viele Kursanten davor stehen sehen.

Interessiert trat ich näher.

An der Tafel waren diesmal nicht kurze Notizen zu sehen, sondern ein vier Seiten langer, mit Schreibmaschine geschriebener Text, der von allen aufmerksam und schweigend gelesen wurde.

Ich entdeckte meinen Freund Peter Zahl, der mich erschreckt ansah. „Was ist denn los?“ „Die Komintern ist aufgelöst!“

Ich war sprachlos. Zunächst konnte ich es überhaupt nicht fassen. „Das ist unmöglich."

„Doch, lies mal.“

Inzwischen hatten einige den Text zu Ende gelesen. Sie entiernten sich, ohne ein Wort zu sagen.

Nun ließ man mich und einige der Neuhinzugekommenen vor. Hier, am Schwarzen Brett, im Vorraum des Gebäudes der Kominternschule, las ich den Beschluß über die Auflösung der Komintern. Die entscheidende Stelle des bedeutsamen Beschlusses lautete: „Der gesamte Verlauf der Ereignisse im letzten Vierteljalrrliundert und die gesammelten Erfahrungen der Kommunistischen Internationale haben überzeugend bewiesen, daß die Organisationsform für den Zusammenschluß der Arbeiter, wie sie vom l. Kongreß der Kommunistischen Internationale gewählt wurde und den Bedürfnissen der Anfangsperiode der Wiedergeburt der Arbeiterklasse entsprach, sich mehr und mehr im Verhältnis zum Anwachsen dieser Bewegung und zu der wachsenden Kompliziertheit der Probleme in jedem Land überlebte. Diese Form wurde sogar ein Hindernis für die weitere Stärkung der nationalen Arbeiterparteien.

Der von den Nazis entfesselte Weltkrieg verschärfte die Unterschiede in den Verhältnissen der verschiedenen Länder noch weiter, indem er eine tiefe Trennungslinie zwisdren den Ländern, die Träger der Nazityrannei wurden, und den freiheitliebenden Völkern aufzeigte, die in der starken Anti-Hitler-Koalition zusammengefaßt sind.

Ausgehend von den oben angeführten Betrachtungen und unter Berüd^siduigung des Wadnstums und der politischen Reife der Kommunistischen Parteien und ihrer führenden Kader in den einzelnen Ländern und unter Berücksiditigung der Tatsad'te, daß während des augenbliddidien Krieges eine Anzahl von Sektionen die Frage der Auflösung der Kommunistischen Internationale als führendes Zentrum der internationalen Arbeiterbewegung gestellt hat, gestattet sidi das Präsidium des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale, da es infolge der Bedingungen des Weltkrieges nicht in der Lage ist, für die Billigung durch die Sektionen der Kommunistischen Internationale einen Kongreß der Kommunistischen Internationale einzuberufen, folgenden Vorschlag einzureichen: , Die Kommunistische Internationale wird als führendes Zentrum der internationalen Arbeiterbewegung aufgelöst, die Sektionen der Kommunistisdren Internationale werden von den Verpflichtungen befreit, die sich aus dem Statut und den Beschlüssen der Kongresse der Kommunistischen Internationale ergeben.“

Das Präsidium des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale ruft alle Anhänger der Kommunistischen Internationale auf, ihre Kräfte auf eine allseitige Unterstützung und aktive Mitwirkung im Befreiungskrieg der Völker und Staaten der Anti-Hitler-Koalition zu konzentrieren, um die Zerstörung des Todfeindes des werktätigen Volkes, des deutschen Faschismus und seiner Verbündeten und Vasallen, zu beschleunigen.

Unterzeichnet von den Mitgliedern des Präsidiums des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale:

Gottwald, Dimitroff, Shdanow, Kolarow, Koplenig, Kuusinen, Manuilskij, Marty, Pied?, Thorez, Florin, Ercoli.“

So wie alle andern wußte auch ich nicht, was ich dazu sagen sollte. Die Kommunistische Internationale — das war doch bis vor wenigen Minuten noch unser höchstes Organ!

Der Beschluß über die Auflösung der Komintern wurde in den sowjetischen Tageszeitungen nicht veröffentlicht. Die Unterzeichner vertraten die Kommunistischen Parteien aus acht Ländern: Sowjetunion (Shdanow, Manuilskij); Deutschland (Pieck, Florin); Frankreich (Thorez, Marty); Bulgarien (Dimitroff, Kolarow); Österreich (Koplenig); Tschechoslowakei (Gottwald); Finnland (Kuusinen) und Italien (Ercoli — das war der Parteiname Palmiro Togliattis in der Sowjetunion).

Selbst die in Ufa bzw. in Kuibyschew anwesenden Parteiführer anderer Kommunistischer Parteien, wie etwa der KP Spaniens (Dolores Ibarruri), Rumäniens (Anna Pauker) und Lingams (Rakosi) waren nicht zur Unterzeichnung hinzugezogen worden, weil die 12 Unterzeichner nicht als Vertreter der Kommunistischen Parteien ihrer Länder fungierten, sondern als Mitglieder des auf dem letzten Kominternkongreß gewählten Präsidiums des Exekutivkomitees.

Offenbar mußte der Beschluß so schnell und überraschend gefaßt werden, daß nicht einmal die Führungen der anderen Kommunistischen Parteien informiert und zumindest formal um die Zustimmung gebeten werden konnten.

Das Ereignis hatte sich natürlich schnell in der ganzen Schule herumgesprochen und viele liefen aufgeregt umher.

Erst mittags wurde bekannt, daß Michailow, unser Direktor, nach Ufa gereist sei und in den nächsten Tagen zurückkehren werde. Inzwischen ging der Unterricht noch weiter, aber wir waren nur noch mit halbem Herzen dabei.

Drei Tage später kehrte Michailow aus Ufa zurück. Sofort wurde eine allgemeine Schulversammlung einberufen mit dem Thema „Die Auflösung der Komintern".

Wir hatten schon oft Sondervorlesungen erlebt und wußten, daß sie stets bedeutsame Eröffnungen brachten, aber noch nie war die Spannung so groß gewesen wie an diesem Vormittag.

Michailow begann mit der Bemerkung, daß man „gegen zwei falsche Auffassungen in der Frage der Auflösung der Komintern“ auftreten müsse.

Erstens gegen die von den Nazis vertretene Annahme, die Auflösung der Komintern sei lediglich ein Trick, ein Manöver, und in Wirklichkeit werde die Arbeit der Komintern weitergehen.

„Die Auflösung der Komintern ist kein Trick und kein Manöver, sondern eine grundsätzliche Entscheidung, deren Verwirklichung unmittelbar in Angriff genommen wird. Jeder von euch wird sich davon überzeugen können, da selbstverständlich auch die Kominternschule aufgelöst wird, genau so, wie sämtliche anderen Institutionen des bisherigen Komintern-Apparates", sagte Michailow.

„Die zweite falsche Theorie über die Auflösung der Komintern, die von gewissen westlichen Kreisen verbreitet wird, behauptet, die Auflösung sei ein Zugeständnis der Sowjetunion an ihre westlichen Verbündeten. Auch diese Behauptung hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Solche Fragen, wie die Auflösung der Komintern, hängen nicht von zeitbedingten außenpolitischen Erwägungen ab, sondern sind vielmehr - grundsätzlicher Natur.“

Anschließend ging Michailow dazu über, uns die offizielle Begründung für die Auflösung der Komintern zu erläutern.

Der wahre Grund, führte Michailow aus, liege vielmehr darin, daß sich die Form der bisherigen Kommunistischen Internationale überlebt habe. Sie behindere den Kampf der Kommunistischen Parteien in der allgemeinen antifaschistischen Front und werde den unterschiedlichen Aufgaben, die die Kommunisten in den verschiedenen Ländern hätten, nicht mehr gerecht.

„In den ersten Jahren nach der Gründung der Komintern“, erklärte Michailow, „waren, von einigen nationalen Besonderheiten abgesehen, die Aufgaben der Kommunisten in anderen Ländern im großen und ganzen die gleichen. Wenn wir das mit der heutigen Situation vergleichen, erkennen wir den fundamentalen Unterschied. Die Kommunisten Englands und Amerikas haben heute die Aufgabe, die Kriegsanstrengungen ihrer Länder zu unterstützen. Die Kommunisten Deutschlands und Italiens müssen dagegen alles tun, um die Niederlage des Faschismus herbeizuführen. Die Kommunisten der besetzten Länder haben wiederum die Aufgabe, an der Spitze einer allgemeinen patriotischen, antifaschistischen Front zu stehen und ihre Länder von der faschistischen Unterdrückung zu befreien. Schon allein diese kurze Betrachtung zeigt, wie unterschiedlich die Aufgaben heute geworden sind.“

Michailow erklärte, die Entwicklung, die jetzt zur Auflösung der Komintern geführt habe, sei die folgerichtige Fortführung der Politik, die schon auf dem VII. Kongreß der Komintern im Jahre 1935 beschlossen worden sei. Nach dem VII. Weltkongreß habe es sich an einer Reihe von Beispielen gezeigt, daß eine allumfassende Organisation wie die Komintern mehr und mehr zum Hemmschuh werden müsse, der es den Kommunisten erschwere, neue politische Formen zu finden. „Wie ihr wißt, ist die Kommunistische Partei der LISA im November 1940 aus der Kommunistischen Internationale ausgetreten, weil laut Gesetz in Amerika die Existenz von Organisationen, deren Zentrale sich im Ausland befindet, nicht geduldet wird. Zweifellos hat die Kommunistische Partei der USA richtig gehandelt, als sie austrat. Damit hat sie sich die Möglichkeit einer weiteren politischen Arbeit gesichert.“

Bisher hatte Michailow, mit Ausnahme seiner Erklärung über die zwei falschen Auffassungen, noch wenig gesagt, was über den Text de; Beschlusses selbst hinausging. Auch das Ausscheiden der KP der USA war als Beispiel in dem Beschluß erwähnt worden. Schon glaubten wir, daß sich Michailows Erklärungen auf eine Wiederholung der in dem Beschluß enthaltenen Argumente beschränken werde, als wir plötzlich etwas hörten, was in dem Beschluß nicht erwähnt war. „Genossen, das Beispiel der KP Amerikas ist nur ein Hinweis auf den Widerspruch zwischen neuen Aufgaben und der veralterten Organisationsform der Komintern. Schon viel früher hat es ein ähnliches, ja sogar noch bedeutenderes Beispiel gegeben.

Ihr alle kennt die Entstehungsgeschichte der Sozialistischen Einheitspartei Kataloniens, der Partido Socialista Unificada, die im Jahre 1936 aus der Verschmelzung der Sozialistischen und Kommunistischen Partei und einer Reihe anderer marxistischer Gruppen entstanden ist und die im Verlaufe des spanischen Bürgerkrieges eine so hervorragende Rolle gespielt hat. Naturgemäß tauchte nach der Gründung der PSU bald die Frage auf, ob sich diese neue Partei der zweiten oder der dritten Internationale anschließen solle. Diese Frage konnte jedoch einfach deswegen nicht gelöst werden, weil die Entstehung solcher neuartiger Parteien im Rahmen der beiden Internationalen nicht vorgesehen war. Dies ist ein deutliches Beispiel dafür, daß das Bestehen der Komintern der neuen Entwicklung nicht gerecht wird.“

Dann sprach Michailow von den Wünschen einiger Parteiführungen, die Bindung zur Komintern zu lockern, bzw. die Komintern sogar aufzulösen. Gespannt warteten wir auf einen Hinweis, von welcher Partei dieser Vorschlag wohl ausgegangen wäre. Im Beschluß selbst war keine bestimmte genannt worden.

Zur allgemeinen Überraschung erklärte Michailow: „In der Periode nach dem VII. Kongreß im Jahre 1935 haben einige Parteiführungen die Lockerung der Bindungen und sogar eine Auflösung der Komintern vorgeschlagen. Dies geschah besonders ausführlich in einem Memorandum der Parteiführung der Kommunistischen Partei Schwedens“.

Wir hatten auf die verschiedensten Parteien getippt — auf die schwedische Partei war jedoch niemand gekommen. Interessanterweise wurde das Memorandum der KP Schwedens in den vielen anschließenden Seminaren über das Thema „Auflösung der Konintern“ nie mehr erwähnt. Wir verstanden den Wink und erwähnten es auch nicht mehr — wobei mir bis heute allerdings noch nicht klar ist, warum das schwedische Memorandum im ersten Vortrag genannt, später aber wieder verschwiegen werden sollte.

Das spanische Beispiel und die Erwähnung des Memorandums der KP Schwedens zeigte uns, daß wir uns bei der Behandlung des Themas Auflösung der Komintern keineswegs nur auf die Beispiele und Argumente des Auflösungsbeschlusses beschränken würden.

Das wurde uns schon wenige Minuten später deutlich, als Michailow wieder auf Ereignisse zu sprechen kam, die im Auflösungsbeschluß nicht enthalten waren: „Schließlich möchte ich noch das klarste und einleuchtendste Beispiel erwähnen, das gerade in den letzten Wochen akut geworden ist und deutlich zeigt, wie die Tätigkeit der Kommunistischen Parteien in den einzelnen Ländern durch ihre Bindung an die Komintern gehindert wird.

Ihr habt gewiß alle mit großem Interesse den Aufnahmeantrag der Kommunistischen Partei Englands in die Labour-Party verfolgt. Ihr wißt, daß gerade jetzt diese Frage im politischen Leben der englischen Arbeiterbewegung eine außerordentliche Rolle spielt. Die Aufnahme der KP Englands in die Labour-Party würde zweifellos die Isolierung der englischen Kommunisten beenden und die Verbindung mit den Massen der britischen Werktätigen fördern. Große Teile der Labour-Party haben sich für die Aufnahme ausgesprochen, andere sind jedoch dagegen. Eines der wesentlichsten Argumente gegen die Aufnahme ist die Tatsache, daß die KP Englands an die Kommunistische Internationale gebunden ist.

Wir brauchen nicht daran zu zweifeln, daß die Auflösung der Kommunistischen Internationale für die KP Englands, wie für alle anderen Kommunistischen Parteien, eine Erleichterung mit sich bringen wird.“

Nach diesem Beispiel gab Michailow eine historische Analyse des Schicksals von internationalen Vereinigungen innerhalb der Arbeiterbewegung, wobei er besonders auf die I. Internationale hinwies. Die Geschichte der Arbeiterbewegung habe gezeigt, daß internationale Organisationen auf bestimmten Stufen der Entwicklung eine unbedingte Notwendigkeit seien, sich aber in anderen Perioden als Hemmschuh für die Entwicklung der Arbeiterparteien in den einzelnen Ländern erweisen könnten:

„Die Schaffung der ersten Internationale von 1864 war ein großer Fortschritt. Im Laufe eines Jahrzehnts hatte sich ihre Aufgabe erfüllt. Es galt, die einzelnen Sektionen zu mächtigen Arbeiterparteien in den betreffenden Ländern zu entwickeln. Die organisatorische Zusammenfassung in der ersten Internationale erwies sich als eine Fessel, die gesprengt werden mußte, um diese Aufgabe zu ermöglichen. Auch die Gründung der III. Internationale im Jahre 1919, die internationale Zusammenfassung aller revolutionären, auf dem Boden des Marxismus stehenden Gruppierungen, ist damals eines der bedeutsamsten Ereignisse in der internationalen Arbeiterbewegung gewesen. Heute, 24 Jahre später, da in fast allen Ländern der Welt mächtige Kommunistische Parteien bestehen, und diese für ihren Kampf immer größere Selbständigkeit benötigen, hat die Komintern ihre Aufgabe erfüllt, ihre Beibehaltung wäre lediglich eine Fessel für die weitere Entwicklung der Kommunistischen Parteien.“

Gleichzeitig warnte uns Michailow jedoch davor, die Bedeutung der Kommunistischen Internationale zu unterschätzen oder zu verringern. Die Kommunistische Internationale habe hervorragende Arbeit geleistet. Ihre Auflösung bedeute nicht, daß etwa ihre Gründung oder ihre gesamte Tätigkeit falsch gewesen sei, sondern lediglich, daß in der gegenwärtigen Periode neue Formen der kommunistischen Bewegung in allen Ländern gefunden werden müßten.

Abschließend wies Michailow darauf hin, die Auflösung stelle keinerlei Absage an den Geist des Internationalismus dar, der nach wie vor ein untrennbarer Bestandteil im Kampf der Kommunistischen Parteien sein müsse. „Die Auflösung der Kommunistischen Internationale wird den Kommunistischen Parteien aller Länder neue Möglichkeiten, neue Perspektiven eröffnen, im eigenen Lande die Aufgaben erfolgreicher zu lösen und den großen patriotischen antifaschistischen Kampf zu führen.“

Als der Beifall sich gelegt hatte, gab Michailow bekannt, daß er gerne bereit sei, Fragen zu beantworten und Unklarheiten zu beseitigen.

Ein junger Spanier meldete sich zu Wort:

„Was wird mit der Kommunistischen Jugend-Internationale? Wird die Jugend-Internationale auch aufgelöst oder wird sie vielleicht weiterbestehen?"

Michailow antwortete sofort:

„Ein offizieller Beschluß über die Auflösung der Kommunistischen Jugend-Internationale liegt zwar noch nicht vor, aber man kann mit Sicherheit annehmen, daß auch sie ihre Tätigkeit einstellen wird. Jene Gründe, die für eine Auflösung der Komintern sprachen, sind naturgemäß auch für die kommunistische Jugend-Internationale gültig. Ich brauche gerade den spanischen Genossen nicht daran zu erinnern, daß die erfolgreiche Jugendorganisation, die JSU, „Juventud Socialista Unificada", die Vereinigte Sozialistische Jugend Spaniens, ebenfalls keine kommunistische Jugend im üblichen Sinne des Wortes ist, sondern eine neue Form der Jugendorganisation darstellt.

Es dürfte keinem Zweifel unterliegen, daß im Zuge des Kampfes gegen den Faschismus in den besetzten oder der Achse angeschlossenen Ländern wie in Polen, Frankreich, der Tschechoslowakei, Österreich, Ungarn, Rumänien, Bulgarien usw. und wahrscheinlich auch in Italien und Deutschland, sich neue Jugendorganisationen bilden werden, die etwa dem Typ der Vereinigten Sozialistischen Jugend Spaniens entsprechen, wahrscheinlich aber noch breiter sein und alle fortschrittlichen antifaschistischen Jugendlichen vereinigen werden. Daher würde die Beibehaltung der Kommunistischen Jugend-Internationale ein großes Hemmnis sein. Im übrigen ist ja durch die Gründung des antifaschistischen Jugendkomitees in Moskau bereits ein Schritt in einer neuen Richtung getan."

„Genosse Michailow, was wird aus der Zeitschrift . Kommunistische Internationale'? Wird sie eingestellt? Wird es eine andere internationale Zeitschrift geben?" meldete sich ein älterer Genosse.

Michailow gab zur Antwort, daß die Zeitschrift die „Kommunistische Internationale" selbstverständlich ihr Erscheinen einstellen werde. Ob eine neue internationale Zeitschrift entstehen würde, könne er noch nicht sagen, er halte dies jedoch für wahrscheinlich, obwohl sie sicher einen anderen Charakter tragen werde.

Michailow sollte recht behalten. Schon wenige Wochen später erschien in Moskau auf russisch und englisch die Zeitschrift „Wojna i rabotschij klass" („Der Krieg und die Arbeiterklasse“). Sie wurde später in „Neue Zeit“ umbenannt, und die fremdsprachigen Ausgaben werden ständig erweitert. Heute erscheint sie bereits in neun Sprachen.

„Gibt es schon irgendwelche Richtlinien, wie sich die Auflösung der Komintern organisatorisch vollziehen wird und wann wir mit der Auflösung unserer Schule zu rechnen haben?“ war die letzte Frage. „Mit der Auflösung der Institutionen der Komintern ist bereits unmittelbar nach der Durchgabe der Erklärung begonnen worden. Es ist jedoch damit zu rechnen, daß die technische Abwicklung noch einige Wochen in Anspruch nehmen wird. Gleichzeitig damit werden bereits die vorbereitenden Maßnahmen zur Auflösung der Kominternschule getroffen. Auch das wird wahrscheinlich noch einige Wochen in Anspruch nehmen. Bis dahin wird der Unterricht weitergeführt. Dabei ist das Thema , Die Auflösung der Komintern'in den Mittelpunkt aller Fragen zu stellen. Anschließend werden dann noch die Prüfungen stattfinden. Die zukünftige Arbeit wird unseren Kursanten nicht mehr von der Komintern, sondern bereits von der Führung der Partei des betreffenden Landes zugewiesen werden.“

Die letzten Tage der Kominternschule Die Auflösung der Komintern wurde in unserer Schule unterschiedlich ausgenommen. Selbstverständlich gab es niemanden, der sich auch nur in indirekter Weise etwa gegen die Auflösung der Komintern ausgesprochen hätte. Andererseits jedoch war es in den ersten Tagen nach der Auflösung sogar während des Vortrages von Michailow unverkennbar, wie verschieden die älteren und jüngeren Kursanten auf dieses Ereignis reagierten.

Die älteren Genossen, die seit vielen Jahren, sogar Jahrzehnten, Parteimitglieder oder Funktionäre waren, saßen mit ernsten Gesichtem da. Noch bis vor wenigen Stunden war die Kommunistische Internationale das Höchste gewesen, was es in ihrem Leben gab. Vielleicht erinnerten sie sich in diesem Augenblick an die Worte Dimitroffs im Reichstagsbrand-Prozeß, daß für jeden Kommunisten „das höchste Gesetz das Programm der Kommunistischen Internationale ist und das höchste Gericht die Kontrollkommission der Kommunistischen Internationale“ und an das Schlußwort, in dem Dimitroff erklärte, das Rad der Geschichte, „getrieben durch das Proletariat unter Führung der Kommunistischen Internationale", könne nicht angehalten werden. Sie erinnerten sich aber auch sicherlich an den Schwur Stalins am Grabe Lenins: „Wir schwören dir, Genosse Lenin, daß wir unser Leben nicht schonen werden, um den Bund der Werktätigen der ganzen Welt, die Kommunistische Internationale, zu festigen und zu erweitern!“

Von einem Tag auf den anderen sollte es nun keine Kommunistische Internationale mehr geben.

Uns Jüngere, die mehr als die Hälfte der Lehrgangsteilnehmer stellten, traf das Ereignis jedoch nicht so schwer. Wir waren in einer Zeit ausgewachsen, als die Kommunistische Internationale schon längst nicht mehr das Ansehen, die Bedeutung und den Einfluß hatte wie etwa in den zwanziger Jahren.

Die Auflösung der Kommunistischen Internationale schien uns die logische Weiterführung dessen, was wir in der Kominternschule gelernt hatten. Noch mehr: Unter uns Jungen gab es einige — auch ich gehörte zu ihnen —, die in gewissem Sinne die Auflösung der Komintern als etwas Positives betrachteten. Mit innerer Anteilnahme und sogar Begeisterung las ich immer wieder die im Auflösungsbeschluß enthaltene Bestätigung der These, daß die Partei jedes einzelnen Landes jetzt eigene Wege zu beschreiten habe:

„Der tiefe Unterschied in den historischen Entwicklungswegen eines jeden Landes der Welt, der unterschiedliche Charakter und sogar der Widerspruch in ihren Gesellschaftsordnungen, der Unterschied in Niveau und Grad ihrer gesellschaftlichen und politischen Entwicklung und schließlich der Unterschied im Grad des Bewußtseins und der Organisation der Arbeit bedingen auch eine unterschiedliche Lösung der Probleme, denen die Arbeiterklasse eines jeden einzelnen Landes gegenübersteht.“

Befriedigt lasen wir Jüngeren, daß der Sieg über den Faschismus „am besten und fruchtbarsten von der Vorhut der Arbeiterbewegung eines jeden Landes im Rahmen ihres Staates ermöglicht werden kann“ und daß die Partei jedes einzelnen Landes — wie es bereits der VII. Weltkongreß formuliert habe — „bei der Entscheidung über jede Frage von der konkreten Lage und den spezifischen Verhältnissen auszugehen hat, die in jedem einzelnen Lande herrschen“.

Die Formulierungen erweckten in mir die Hoffnung, daß nach einem Sieg über den Faschismus auch die Kommunistische Partei Deutschlands nicht mehr so an die UdSSR gebunden sein würde und in vielen Fragen einen eigenen Weg einschlagen könnte.

Ich glaube, daß die jüngeren Genossen in manchen anderen Gruppen ähnlich dachten. Auch sie waren zwar, grundsätzlich gesehen mit dem System in der Sowjetunion einverstanden, hegten aber sicher den Wunsch, später einmal in ihrem eigenen Lande manche Dinge anders und besser zu machen. So sehr ich auch von der Richtigkeit des Beschlusses überzeugt war -ich ahnte damals nicht, daß nur wenige Jahre später die Herrschaft Moskaus über die Kommunistischen Parteien viel strenger und unmittelbarer sein würde -, so sehr zweifelte ich doch daran, ob wirklich nur die angegebenen Gründe zum Auflösungsbeschluß geführt hatten.

Die Kominternschule war nur 60 km von Ufa entfernt. Die Schulleitung stand täglich in engstem Kontakt mit der Komintern. Es war nicht schwer zu erkennen, daß dieser Beschluß buchstäblich Üner Nacht gefaßt worden sein mußte. Andernfalls hätte man uns in der Komintern-schule bestimmt, zumindest indirekt, auf diesen Schritt vorbereitet.

Selbst an jenem Tage, als der Auflösungsbeschluß über den Rundfunk bekanntgegeben wurde, war bei uns eine Vorlesung über die Geschichte der Komintern angesetzt worden. Noch wenige Tage vorher hatte man ausführlich über die große Bedeutung der Komintern im Kampf gegen Hitler gesprochen.

Es war also ganz sicher, daß es sich bei der Auflösung der Komintern um einen plötzlichen Beschluß gehandelt hatte, der wahrscheinlich von Stalin selbst ausging und weniger von historischen Erfahrungen, als vielmehr von Erwägungen der sowjetischen Außenpolitik bestimmt war.

Zwei Tage später ging ich mit einem Mitschüler spazieren. Er war einer der wenigen, bei denen ich spürte, daß sie nicht zu den „Hundertfünfzigprozentigen“ gehörten.

„Eigentlich interessant, diese Auflösung der Komintern, nicht?

meinte er und zwinkerte mir ein wenig zu. „Ja, vor allem, wie plötzlich und überraschend dieser Beschluß gekommen ist", antwortete ich, und baute damit eine Brücke zu einem weiteren, nicht ganz linientreuen Gespräch.

„Weißt du, Linden, man kann reden, so viel man will, aber ich bin doch davon überzeugt, daß dies ein Zugeständnis an England und Amerika ist. Vielleicht wurde dieser Beschluß sogar auf Wunsch dieser Länder gefaßt.“

Offenbar befürchtete man, daß ähnliche Auffassungen insgeheim viele Schüler unseres Lehrgangs hegen könnten. Das mag auch der Grund gewesen sein, nun wochenlang das Thema „Die Auflösung der Komintern“ in unzähligen Seminaren durchkauen zu lassen.

Alle im Auflösungsbeschluß und in der Rede Michailows erwähnten Argumente wurden bis ins einzelne durchgenommen — in einer Art, wie man es sich wohl in nicht-sowjetischen Ländern kaum vorstellen kann. Jede Formulierung wurde erklärt und erläutert, die Beispiele der letzten Jahre noch einmal ausführlich behandelt und dargelegt, warum sich auch die I. Internationale vor 70 Jahren trotz der außerordentlichen positiven Bedeutung nach gewisser Zeit als Hemmschuh erwies.

Aber wir behandelten das Thema nicht nur von der aktuell-politischen und historischen Seite, sondern auch vom philosophischen Standpunkt aus.

Da es in der nicht-sowjetischen Welt, soviel ich weiß, nicht üblich ist, aktuelle politische Ereignisse von einem philosophischen Standpunkt aus zu betrachten, soll einmal darauf hingewiesen werden, wie die Auflösung der Komintern, also ein aktuelles politisches Ereignis, auf der Kominternschule mit den philosophischen Grundzügen des dialektischen Materialismus verbunden wurde.

Michailow hatte in seinem Referat zum Ausdruck gebracht, daß die bestehende Form der Kommunistischen Internationale gegenüber dem neuen Inhalt in der Tätigkeit der Kommunistischen Parteien der einzelnen Länder zurückgeblieben sei und sich damit ein Widerspruch zwischen Form und Inhalt herausgebildet hatte. Das wurde nun zum Anlaß genommen, um noch einmal die dialektische Beziehung zwischen Form und Inhalt zu behandeln.

Dem dialektischen Materialismus zufolge besteht zwischen Form und Inhalt eine dialektische Einheit, wobei der Inhalt das Primäre darstellt und diesem als bestimmenden Element der Vorrang zukommt. Die Form ist zwar vom Inhalt abhängig, stellt jedoch nicht Passives dar, sondern kann auch wieder auf den Inhalt zurückwirken.

Inhalt und Form sind somit im Entwicklungsprozeß zu betrachten.

Bis zu einer bestimmten Entwicklungsstufe kann sich der Inhalt im Rahmen der gegebenen Form unbehindert weiterentwickeln. Dann aber wird ein Punkt erreicht, von dem an die alte Form zur Fessel für die Weiterentwicklung des Inhalts wird; der Widerspruch zwischen beiden tritt damit zutage und drängt zur Auflösung, die sich schließlich in der Weise ergibt, daß die alte Form abgeworfen wird und einer neuen Platz macht.

Wir hatten dies natürlich wiederholt ausführlich behandelt und bezeichneten es der Einfachheit halber als den 15. Grundsatz der Dialektik, da Lenin bekanntlich in seinen „Philosophischen Heften“, in denen er 16 Elemente der Dialektik aufzählt, die Beziehung zwischen Inhalt und Form an 15. Stelle definiert hatte: „Kampf des Inhalts mit der Form und umgekehrt; Abwerfen der Form, Umgestaltung des Inhalts.“

Da wir wußten, daß wir, soweit irgend möglich, niemals Lenin allein zitieren sollten, griffen wir im Seminar auch auf das Stalin-Zitat zurück, wonach „die bestehende Form niemals vollständig dem bestehenden Inhalt entspricht: Die erste bleibt hinter der zweiten zurück, der neue Inhalt kleidet sich in einem gewissen Maße stets in die alte Form, so daß zwischen der alten Form und dem neuen Inhalt immer ein Konflikt besteht“.

Wir hatten bisher den dialektischen Zusammenhang zwischen Form und Inhalt vor allem am Beispiel des Widerspruches zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und dem Stand der Produktionsverhältnisse behandelt, wie in bestimmten Phasen der Geschichte die Formen der Produktionsverhältnisse im Widerspruch zum Anwachsen der materiellen Produktivkräfte stehen, sich in Fesseln verwandeln und die Weiterentwicklung der Produktivkräfte hemmen, bis schließlich der Widerspruch durch eine Umgestaltung der Produktionsverhältnisse aufgehoben wird.

Nun wurde dieser dialektische Grundsatz auf den Auflösungsbeschluß der Komintern angewandt. Auch hierbei, so wurde uns gesagt, handele es sich um einen Widerspruch zwischen einer veralterten Form und einem neuen Inhalt, der durch die Sprengung der veralteten Form — in diesem Fall der Organisationsform der Kommunistischen Internationale — gelöst werden muß. Mir allerdings schien es doch ein wenig fragwürdig, ob man die Auflösung der Komintern als Beispiel für eine erfolgreiche Überwindung des Widerspruchs zwischen Form und Inhalt anführen könne.

Damals war es nur ein Zweifel. Erst viel später erkannte ich, daß es ein Wesenszug des Stalinismus ist, den dialektischen Materialismus seines eigentlichen Sinns zu berauben, da die Stalinisten die Gesetze der Dialektik nicht anwenden, um die Prozesse innerhalb der Gesellschaft zu erklären und daraus bestimmte Schlußfolgerungen zu ziehen, sondern dazu degradieren, nachträglich politische Entscheidungen oder Beschlüsse zu rechtfertigen.

Schon glaubten wir, das Problem der Auflösung der Komintern nun tatsächlich Von allen Seiten behandelt zu haben, als am 30. Mai die „Prawda" mit dem Stalin-Interview über die Auflösung der Komintern erschien. Der Moskauer Korrespondent der englischen Reuter-Agentur hatte Stalin über die sowjetische Auffassung zur Auflösung der Komintern befragt und über den Einfluß, den die Auflösung der Komintern auf die zukünftigen internationalen Beziehungen haben würde.

Stalin gab folgende Antwort:

„Die Auflösung der Kommunistischen Internationale ist richtig, und sie erfolgt zeitgemäß, weil sie die Organisierung eines allgemeinen Vorstoßes aller freiheitsliebenden Völker gegen den gemeinsamen Feind, den Hitlerismus, erleidrtert.

Die Auflösung der Kommunistischen Internationale ist riditig, denn a) sie entlarvt die Lüge der Hitler-Leute, wonach angeblich , Moskau bestrebt ist, sidi in das Leben anderer Staaten einzumischen und diese zu , bolschewisieren‘. Dieser Lüge wird jetzt ein Ende bereitet; b) sie entlarvt die Verleumdungen der Gegner des Kommunismus in der Arbeiterbewegung, wonadi angeblidt die Kommunistischen Parteien der versdtiedenen Länder in ihrer Tätigkeit nicht von den Interessen ihres eigenen Volkes ausgehen, sondern auf Grund von Befehlen von außen. Dieser Verleumdung wird jetzt ebenfalls ein Ende bereitet;

c) sie erleiditert die Tätigkeit der Patrioten der freiheitsliebenden Länder in der Vereinigung der fortschrittlichen Kräfte jedes Landes, unabhängig von Parteizugehörigkeit und religiösen Über-zeugungen, in einem einheitlidten Lager der nationalen Befreiung zur Entfaltung des Kampfes gegen den Fasdtismus;

d) sie erleichtert die Tätigkeit der Patrioten aller Länder in der Vereinigung aller freiheitsliebenden Völker in einem einheitlichen Lager zum Kampfe gegen die Gefahr einer Weltherrschaft des Hitlerismus und ebnet dadurdi den Weg zur Organisierung einer zukünftigen Zusammenarbeit der Völker auf der Grundlage ihrer Gleichbereduigung.

Ich denke, daß alle diese Dinge zusammengenommen zu einer weiteren Festigung der einheitlichen Front der Verbündeten und anderer vereinigter Nationen in ihrem Kampf zum Sieg über die Hitler-Tyrannei führen wird.

Idt bin der Meinung, daß die Auflösung der Kommunistischen Internationale völlig zur richtigen Zeit erfolgt, weil gerade jetzt, da das faschistische Raubtier seine letzten Kräfte anspannt, es notwendig ist, den allgemeinen Vorstoß aller freiheitsliebenden Völker zu organisieren, um dieses Raubtier endgültig zu erledigen und die Völker von der faschistischen Unterdrückung zu befreien. 28. Mai 1943 J-Stalin“ Obwohl nun dieses Interview uns nicht viel Neues brachte, wurde es wieder in einer Reihe von Seminaren behandelt. Diesmal handelte es sich ja nicht um einen Beschluß des Präsidiums des Exekutivkomitees, sondern um Äußerungen von Stalin!

Drei Wochen waren bereits seit der Auflösung der Komintern vergangen. Wir hatten dieses einzige Thema immer wieder und wieder von allen Seiten behandelt. Endlich kam der Tag, auf den viele von uns schon sehnsüchtig gewartet hatten.

Auf einer allgemeinen Versammlung der Kominternschule wurde bekanntgegeben: „Der Unterricht ist jetzt beendet. Alle Genossen in allen Gruppen haben nunmehr die Aufgabe, sich für die Prüfungen vorzubereiten, die in der nächsten Zeit stattfinden werden.“ Erstmalig hatten wir in der Kominternschule so etwas wie „freie Zeit“. Zwar erhielten wir für die Prüfungen ganze Themenlisten, nach denen wir uns vorzubereiten hatten. Wie wir das taten, war uns jedoch freigestellt worden. Ich war bereits so an ein Leben gewöhnt, in dem jede Minute ausgefüllt war, daß mir die letzten Wochen der Prüfungsvorbereitung, die gleichzeitig die letzten Wochen der Kominternschule waren, wie ein Gipfelpunkt der Freiheit erschienen. Wir hatten das Recht, in den schönen, warmen Juni-Tagen im Freien zu studieren.

Endlich, Mitte Juni 1943, war es soweit! Täglich fanden in den verschiedenen Gruppen Prüfungen statt. Unsere deutsche Gruppe kam als eine der ersten dran.

Am Tisch in unserem Seminarraum saßen die Dozenten und Seminar-leiter unserer deutschen Gruppe — Paul Wandel („Klassner"), Bernhard Koenen, Lene Berg („Ring“) und außerdem noch Michailow sowie ein oder zwei Dozenten von anderen Gruppen, die Deutsch konnten.

Nacheinander wurden die Kursanten aufgerufen. Jeder mußte zum Tisch vorgehen, einen Zettel mit den Prüfungsfragen ziehen. Auf jedem Zettel befanden sich vier oder fünf Fragen. Eine dieser Fragen gehörte zum Themenbereich, den wir inzwischen auf der Schule behandelt hatten: 1. Philosophie (d. h. dialektischer und historischer Materialismus), Politische Ökonomie oder andere theoretische Fragen des Marxismus-Leninismus; 2. Geschichte der KPdSU bzw. Geschichte der Komintern; 3. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung bzw. aktuelle Fragen des gegenwärtigen antifaschistischen Kampfes; 4. Allgemeine Politik (d. h. in erster Linie Faschismus und Situation in Hitler-Deutschland) bzw. grundsätzliche politische Fragen des Kampfes gegen Hitler (z. B. Widerlegung der Naziideologie, Strategie und Taktik, Einheitsfront, Volksfront usw.).

Die Prüfung war nicht sonderlich streng. Aber vielleicht hatte auch die Auflösung der Komintern einen Einfluß auf unsere Prüfung. Aber es zeigte sich auch, wie viel uns in der verhältnismäßig kurzen Frist von 11 Monaten eingepaukt worden war.

In unserer Gruppe verlief die Prüfung ohne einen größeren Zwischenfall. Nur Otto kam bei der Definition der Unterschiede zwischen Einheitsfront-, Volksfront-, Arbeiterregierung und Arbeiter-und Bauern-Regierung völlig durcheinander, was Michailow aber weniger zu ärgern, als zu belustigen schien.

Nach etwa 8 Stunden war das Examen beendet. Erstmals nach fast einem Jahr hatten wir überhaupt nichts zu tun und genossen nun die auf einmal im Überfluß gewährte Freizeit in vollen Zügen. Nun warteten Dozenten und Kursanten aller Gruppen nur noch auf eins: auf die Direktive der endgültigen Auflösung der Kominternschule und den Einsatz zur weiteren politischen Arbeit.

Sonderauftrag nach Ufa An einem dieser ungewohnten Ferientage geschah etwas, was ich noch wenige Wochen vorher kaum für möglich gehalten hätte: „Morgen findet ein gemeinsamer Ausflug der gesamten Schule statt. Wir werden uns den ganzen Tag über in der Sonne am Bjelaja-Fluß ausruhen und baden“, wurde uns erklärt.

Es war das erstemal — wenn man von drei Arbeitseinsätzen absieht —, daß wir den Bereich der Schule verlassen durften.

Wir lagen also am Strand, badeten, ließen uns von der Sonne bräunen und waren froh, einen so herrlichen Tag zu verbringen.

Der Tag an der Bjelala ist mir jedoch noch aus einem anderen Grunde in Erinnerung geblieben.

Ich lag mit meinem Freund ein klein wenig abseits von der Gruppe. Da sahen wir plötzlich eine Bäuerin auf uns zukommen, und ehe wir uns noch recht überlegt hatten, was wir tun sollten, falls sie uns an-spräche, war sie schon bei uns. „Na, ihr seid wohl von der Schule, was?“ Wir murmelten etwas Unverständliches. „Naja, ihr dürft natürlich nichts sagen, und doch weiß ich, daß ihr von dieser Ausländerschule seid. Die Sowjetmacht ist ja blöd. Euch Ausländern gibt sie alles, und wir müssen hungern. Dabei hilfts denen da oben sowieso nicht. Wenn ihr rauskommt, werd'ihr sowieso nicht dafür sein.“

Wir beide schauten uns an, sagten aber kein Wort. Die Bäuerin war gleichmütig, aber doch recht schnellen Schrittes weitergegangen. Mir brachten ihre kühnen Worte zu Bewußtsein, daß ich 11 Monate in einer völlig anderen Welt gelebt hatte, vollkommen getrennt von dem Leben der „gewöhnlichen“ Menschen. Heute erscheint mir die völlige Isolierung der verantwortlichen Funktionärsschicht ein wichtiges Merkmal des stalinistischen Systems zu sein. Diese Isolierung macht manche Erscheinung der Denk-und Handlungsweise der stalinistischen Funktionäre verständlich.

Wenige Tage später lag ich in der Nähe des Schulgebäudes auf einer Wiese und las, als ich plötzlich meinen Namen rufen hörte. „Linden, Linden.“

„Was ist denn los?“

„Du sollst sofort zum Direktor kommen.“

Etwas beunruhigt machte ich mich auf den Weg. War wieder eine Kritik und Selbstkritik fällig? Hatte mein Mitschüler das kurze Gespräch über die Auflösung der Komintern gemeldet? Aber er hatte sich selbst doch noch weiter vorgewagt als ich?

Als ich bei Michailow eintrat, saßen dort bereits sieben Genossen, alle aus verschiedenen Gruppen.

„Wir müssen noch auf zwei Genossen warten", sagte Michailow. Wenige Minuten später kamen die beiden an. Die Sache sah doch nicht nach Selbstkritik aus.

Neben Michailow saß ein Funktionär, den ich noch nie auf der Schule gesehen hatte.

Michailow begann ohne Umschweife:

„Genossen, wir haben euch hierher gebeten, weil wir euch für eine besondere Arbeit ausersehen haben.

Infolge der Auflösung der Komintern ist es notwendig, das Archiv der Komintern, das sich infolge der Evakuierung in einem ziemlich trostlosen Zustand befindet, in Ordnung zu bringen. Wir haben euch für diese Arbeit ausgesucht, weil wir der Meinung sind, daß ihr sowohl die politischen Fähigkeiten für die Arbeit im Archiv besitzt, als auch jeder von euch die Fremdsprachen beherrscht, die für diese Arbeit notwendig sind. Ich brauche wohl nicht darauf hinzuweisen, daß über diesen Auftrag nicht gesprochen werden soll. Ihr werdet mit diesem Genossen nach Lisa fahren. Ich denke, daß dies bereits morgen geschehen kann.“

Tatsächlich kam am nächsten Morgen ein Lastwagen, der uns zehn Kursanten, den Funktionär und zwei Stenotypistinnen nach Ufa bringen sollte. Alle anderen blieben in der Schule zurück. Ich wußte nicht, ob ich die Schule jemals wiedersehen und was mit uns nach Erfüllung des Auftrages geschehen würde.

Als wir abfuhren, sah ich noch einmal auf jene Schule zurück, in der ich viel Interessantes gelernt, aber auch die fürchterlichen Stunden der Kritik und Selbstkritik durchgemacht hatte. Innerhalb von 11 Monaten hatten sie dort aus mir, einem lebenslustigen, aufgeschlossenen Studenten und Komsomolzen, einen jedes Wort abwägenden Parteifunktionär gemacht. Wenige Stunden später lag die Schule bereits in weiter Ferne. Wir fuhren einer Aufgabe entgegen, die ich mit Spannung erwartete. Es war mein erster Parteiauftrag.

Schon nach etwa einer Stunde konnten wir nicht weiter. Quer über die Straße war eine Schranke errichtet worden. Hinter der Sperre standen etwa 50 Menschen, die unseren Lastwagen hoffnungsvoll anstarrten. „Was ist hier los?“ fragte unser Begleiter streng.

Ein junger Mann kam auf unseren Wagen zu: „Auf Grund einer Verfügung der Baschkirischen Republik wird jeder Wagen hier angehalten, um Reisenden mit Sonderkommandierungen die Möglichkeit zu geben, ihre Kommandierungsstelle zu erreichen. Jeder Platz muß ausgenutzt werden. Wir fordern Sie daher auf, noch einige Reisende in Ihren Lastwagen aufzunehmen".

Linser Begleiter antwortete nicht. Ruhig und gelassen zeigte er ledigIida ein Schriftstück vor.

Unterdessen waren wir schon von Reisenden umringt, die ihre Ausweise schwenkten — genau so, wie ich es ein Jahr vorher auf meiner Reise durch Kasachstan getan hatte.

Der Mann in der Lederjacke hatte das Dokument unseres Begleiters gelesen.

„Ach so, das ist natürlich etwas anderes“, sagte er fast entschuldigend.

Scharf und schneidend ertönte seine Stimme: „Zurück! Freie Fahrt für den Wagen!“

Die Schranke wurde hochgelassen, und wir konnten passieren. Zurückblickend sahen wir die wartenden Menschen mit enttäuschten Gesichtern.

Das wiederholte sich auf dem Weg nach Ufa noch vier-oder fünfmal. Immer genügte das Papier unseres Begleiters, um uns sofort freie Fahrt zu verschaffen. Es war ein eigentümliches Gefühl für midi, wenn ich daran dachte, wie es mir selbst noch vor einem Jahr ergangen war.

In Ufa wurden wir nicht zum Gebäude der Komintern gefahren. Statt dessen hielten wir vor dem Hotel Baschkirija, jenem Hotel, wo die führenden Männer der Komintern gewohnt hatten. Sie alle waren jedoch schon nicht mehr in Ufa.

Das „Baschkirija“ war das schönste Hotel der Stadt — ein neues, für baschkirische Verhältnisse märchenhaft gut eingerichtetes Gebäude.

Unser Begleiter führte uns hinauf. Die Zimmer für uns waren reserviert worden.

Mit ruhiger Selbstverständlichkeit, gerade so, als ob er selbst der Hoteldirektor wäre, schloß unser Begleiter die Tür zum Speisezimmer auf und bat uns hinein.

„Hier werden Sie Ihre Mahlzeiten einnehmen“, sagte er, und schon kam ein sauber gekleidetes Mädchen in das Zimmer und begann zu servieren.

Gewiß, auch in der Kominternschule hatten wir gutes Essen erhalten, aber was uns jetzt geboten wurde, überstieg alle Erwartungen.

Nach dem Essen erhielten wir gute Zigaretten und machten es uns bequem. „So, jetzt könnten wir vielleicht, wenn die Genossen nichts dagegen haben, über die Arbeit sprechen“, meinte unser Begleiter.

Wir hatten nichts dagegen. „Sie werden jeden Morgen nach dem Frühstück mit dem Wagen in das Archiv der Komintern gebracht werden. Das Archiv befindet sich im 4. Stock einer Schule. Es ist selbstverständlich streng bewacht. Sie können es nur gemeinsam betreten und verlassen und auch das nur mit diesem Ausweis.“

Jeder von uns erhielt einen Ausweis, der schon vorbereitet worden war. Unser Begleiter gab sich weiter höflich. „Ich denke, es wäre nicht schlecht, jetzt zum Archiv zu fahren. Dort kann ich Ihnen die Arbeit genau erklären. Morgen früh würden Sie dann mit der Arbeit beginnen. Gibt es noch irgendwelche Fragen?“

Natürlich hätten mich viele Sachen interessiert — aber natürlich gab es keine Fragen.

„Dann wäre ja alles in Ordnung“, sagte er.

Drei Personenwagen standen bereit. Wir fuhren quer durch die Stadt, bis wir vor einem neuen, vierstöckigen Schulgebäude hielten. Als wir das vierte Stockwerk erreicht hatten, trat uns ein Posten entgegen. Wir zeigten unsere Ausweise und wurden in einen riesigen Saal geführt, in dem eine Unmenge von Säcken lagen.

Die Säcke waren etwa 11/2 m lang und mehr als einen halben Meter breit. Es sah aus, als ob sie mit Ordnern oder Mappen gefüllt wären.

Bald stellte sich heraus, daß auch zwei kleinere Zimmer ebenfalls mit Säcken angefüllt waren.

Wir wurden von unserem Begleiter in eine Ecke gebeten. „Bei der Evakuierung von Moskau war nicht genügend Zeit, das Kominternarchiv sorgfältig zu ordnen. Die Ordner und Mappen des Archivs der Kommunistischen Parteien der einzelnen Länder sind einfach in Säcke verpackt worden. Die Säcke wurden provisorisch numeriert, so daß wir zwar wissen, in welchen sich das Archivmaterial der betreffenden Partei befindet. Es ist jedoch nicht bekannt, was in jedem einzelnen Sack enthalten ist. Ihre Aufgabe besteht darin, die Säcke zu öffnen, durchzuschauen, die Mappen anschließend nach ihrem Inhalt zu numerieren und für jeden Sack ein Inhaltsverzeichnis anzufertigen, das Sie dann der Stenotypistin diktieren. Auf diese Weise wird zumindest ein gewisser Überblick über den Inhalt des Archivs ermöglicht. Bei einer zukünftigen Durchsicht der Materialien könnten wir uns dann auf Grund Ihrer Listen zurechtfinden.“

Etwas zweifelnd schaute ich auf die vielen Säcke, die in dem riesigen Saal aufgestapelt waren. Eine gewaltige Arbeit stand uns bevor.

„Wir haben daran gedacht, das gesamte Archiv nach Ländern aufzuteilen. Jeder von Ihnen erhält die Materialien einer Partei, die er zu bearbeiten hat. Die Aufteilung, die ich Ihnen Vorschlägen möchte, lautet folgendermaßen ..."

Der Begleiter nahm einen Zettel aus seiner Tasche und las unsere Parteinamen vor sowie die Länder und Nummern der Säcke, die jeder von uns zu bearbeiten hatte.

„Genosse Linden — KP der USA und die Hälfte der Archivmaterialien der KP Großbritanniens.“

Nun freute ich mich schon auf die Arbeit. Es mußte sehr interessant sein, die Archivmaterialien der Kommunistischen Parteien zu lesen!

Hatte der Begleiter diese Gedanken erraten?

„Ich muß mit Nachdruck darauf hinweisen, daß niemand, der diese Arbeit hier durchführt, irgend etwas darüber verlauten läßt! Ich möchte ferner darauf hinweisen, daß jedes auch noch so unwichtig erscheinende Papier in den Sack hineingetan werden muß, aus dem es entnommen wurde. Selbstverständlich darf auch nicht das kleinste Stückchen Papier aus diesem Saal mitgenommen werden.

Schließlich möchte ich darauf hinweisen, daß Ihre Arbeit nicht darin besteht, Archivmaterialien zu lesen, sondern lediglich zu sortieren. Niemand von Ihnen hat das Recht, irgend etwas von diesen Archiv-materialien zu lesen.“

Selbst die strengste Schulung hatte es nicht zu verhindern vermocht, daß ich mir Gedanken darüber machte, wie man den Inhalt ganzer Säcke voller Dukumente feststellen soll, wenn man diese Dokumente nicht lesen darf. Aber ich hütete mich, etwas zu sagen.

Unsere Arbeit im Kominternarchiv Ausgeruht begannen wir am nächsten Tag unsere Arbeit im Kominternarchiv. Jeder suchte sich zunächst die Säcke „seiner Partei“ zusammen. Schon nach Durchsicht der ersten Säcke mußte ich mit Sorge feststellen, daß die Aufgabe noch schwerer war, als ich gedacht hatte. Es herrschte ein grauenhaftes Durcheinander.

Ob es bei den anderen ebenso war?

Trotz strenger Konspiration zeigten wir uns natürlich gegenseitig, wie es um die einzelnen Materialien bestellt war. Einstimmig wurde festgestellt, daß ich von allen am schlechtesten dran war. Der Unordnung und dem Chaos der KP der USA mußte der erste Platz zugebilligt werden!

In den Säcken meiner amerikanischen Genossen befanden sich nicht nur ganze Stöße von Parteidokumenten, die einfach hineingeschmissen worden waren, ohne auch nur mit einem Aktendeckel bedacht zu sein, sondern auch Fetzen von Kino-Reklamen, alte Nummern der „New York Times“, zerbrochene Bleistifte und sonstiges Gerümpel, das mit einem Archiv nicht das geringste zu tun hatte. „Die amerikanischen Genossen müssen ja verflucht wenig Zeit gehabt haben, wenn sie ihr Archiv so nach Moskau schicken“, sagte ein Genosse lächelnd.

Bei der englischen Partei herrschte nicht diese fürchterliche Unordnung. Hier waren wenigstens alle Materialien in Mappen zusammengelegt worden; wenn auch auf den Mappen nicht draufstand, was sie enthielten, so sahen alle doch verhältnismäßig ordentlich aus. Aber das war nichts im Vergleich mit dem Archivmaterial der Kommunistischen Partei Deutschlands. So etwas hatten wir überhaupt nicht für möglich gehalten! Die Materialien waren nicht nur in Mappen geordnet, sondern jeder Mappe war eine genaue Inhaltsangabe beigeheftet.

Ganz besonders staunten wir, als wir die Mappen der KPD mit Flugblättern von 1932 sahen. Die Flugblätter waren geordnet nach den Bezirksleitungen, die sie herausgegeben hatten. Vor jedem Flugblatt war ein Papier eingelegt, auf dem mitgeteilt wurde, aus welchem Anlaß und wann es herausgegeben worden war. „Na, du Glücklicher hast ja wahrhaftig wenig zu tun“, sagte einer von uns zu dem Auserwählten, der die Materialien der KPD zu sortieren hatte. Aber der stöhnte nur; er hatte zwar schön geordnete Säcke, aber dafür dreimal so viel wie wir von den anderen Parteien. Keine Partei hatte so viel Archivmaterial nach Moskau gesandt wie die Kommunistische Partei Deutschlands!

Betrübt ging ich zu den Säcken meiner amerikanischen Genossen zurück und versuchte krampfhaft, in das Durcheinander von Parteidokumenten, abgebrochenen Scheren, alten Zeitungen, Radiergummis und Tintenstiften ein wenig Ordnung zu bringen. Aber das Chaos hatte auch seine gute Seite, ich hatte doch wenigstens Gelegenheit, ein bißchen selbständige Arbeit zu leisten. Ich mußte alles erst herauslegen, die Materialien zumindest nach dem betreffenden Jahr und den betreffenden Hauptgebieten sortieren und dann erst wieder in Mappen legen.

Unser Begleiter beobachtete uns dabei. Als er bei mir vorbeikam und die traurige Situation sah, in die mich die amerikanischen Genossen gebracht hatten, schüttelte er bedenklich den Kopf: „So werden Sie wohl nie fertig. Ich glaube, wir beschränken uns in diesem Fall nur auf vage Angaben. Die Hauptsache ist, daß die Dinge schnell in Mappen kommen, damit wenigstens ein bißchen Ordnung herrscht. Wenn es nicht sofort klar ist, worum sich die Sache handelt, können Sie ruhig . Verschiedenes'auf die Mappen schreiben, denn wir müssen die ganze Arbeit in einigen Tagen schaffen.“

Ich befolgte seinen Rat und hatte schon nach wenigen Stunden eine ziemliche Fertigkeit erlangt.

Mehrere Stunden hatte ich schon emsig gearbeitet, hatte so schnell wie nur irgend möglich die Parteimaterialien nach ihren Überschriften in Mappen gelegt, die Mappen beschriftet und sie wieder in die Säcke hineingetan, als ich das strenge Verbot, etwas zu lesen, übertrat.

Unter den verschiedenen amerikanischen Zeitungen entdeckte ich plötzlich eine Zeitung, die sich „The Militant“ nannte. Ich hielt sie für eine bürgerliche Zeitung und wollte sie schon achtlos wieder in den Sack stecken, wurde aber plötzlich stutzig: Auf der Titelseite der Zeitung hatte ich das Hammer-und Sichel-Zeichen und die Losung „Proletarier aller Länder vereinigt euch“ gesehen.

Sollte das eine Parteizeitung sein? Aber wir hatten doch in der Geschichte der Komintern bei der Behandlung der amerikanischen Partei eine solche Zeitung nie erwähnt! Obwohl ich wußte, wie kostbar jede Minute war, warf ich doch schnell einen Blick hinein — es kam etwas vor vom Klassenkampf, von internationaler Solidarität, von der Befreiung der Neger.

Schon glaubte ich, daß es sich doch um eine Parteizeitung handeln müsse, als ich auf der 3. Seite eine große Überschrift fand: „Rakowskij surrender“

by Leon Trotzki Ich wollte meinen Augen nicht trauen: Ein Artikel von Trotzki! Das muß also eine trotzkistische Zeitung sein! Ein Paket Dynamit hätte mich kaum mehr aufregen können.

Schnell schaute ich mich um, es war niemand in meiner Nähe. Begierig überflog ich den Artikel Trotzkis. Man kann sich kaum vorstellen, wie aufgeregt ich dabei war.

Rakowskij? Ich hatte den Namen gelegentlich in Lenins Schriften gefunden und wußte, daß er im Frühjahr 1938 verurteilt worden war. Natürlich hatte ich schon seit langem bezweifelt, daß die Opfer der Säuberung von 1936— 3 8 „Konterrevolutionäre" gewesen seien, aber es war eben doch nur eine instinktive Annahme. Genaueres hatte ich nicht erfahren können. Jetzt las ich von dem Schicksal dieses Revolutionärs, von den politischen Kämpfen der Opposition gegen die Stalin-Gruppe (schon diese Bezeichnung allein war für mich völlig neuartig!), aber noch immer verstand ich nicht, wieso Trotzki von einer Kapitulation sprach. Dann las ich, Rakowskij habe seine „Irrtümer“ eingestanden und sich wieder zur KPdSU bekannt.

In meinem bisherigen Wortschatz war so etwas als Selbstkritik und als Anerkennung der Richtigkeit der Politik der Partei bezeichnet worden. Es war geradezu eine Entdeckung, diesen Vorgang als Kapitulation bezeichnet zu finden. Aber hatte Trotzki in diesem Fall nicht recht? War es nicht wirklich eine Kapitulation? Ich hatte inzwischen fast eine Viertelstunde mit dem Lesen der amerikanischen Trotzkistenzeitung verloren und mußte jetzt aufholen. Ich arbeitete noch schneller als vorher, hoffte aber gleichzeitig, daß mir wieder eine „Militant“ in die Hände fallen würde. Noch im gleichen Sack fand ich eine zweite. Wieder las ich schnell die wichtigsten Aufsätze. Dann wurde es bei mir zur Regel, ohne jede Pause zu arbeiten und nur beim Auftauchen eines „Militant“ drei bis vier Minuten zum Lesen einzuschalten. Wahrscheinlich war ich nicht der einzige, der die trotzkistischen Publikationen im Archiv las.

Eine Erklärung für dieses Interesse ist einfach: Die bürgerlichen Zeitungen, die ich während des Sortierens des Kominternarchivs in Händen hielt (genau so wie die Auszüge aus der bürgerlichen Presse in den Bulletins, die wir in der Schule gelesen hatten), konnten uns nicht wesentlich interessieren. Sie befaßten sich mit Dingen, die so fernab von unserem Leben und von unseren Problemen standen, benutzten Begriffe, mit denen wir ga-nichts anzufangen wußten, so daß wir kaum Interesse dafür aufbringen konnten. Die Trotzkisten dagegen schrieben in unserer Sprache, unserer Terminologie, sie griffen genau die Dinge auf, bei denen auch ich immer Zweifel gehabt hatte, so daß meine Aufregung und mein Interesse damals völlig verständlich war.

Mit jedem Tag, mit jeder Stunde bedauerte ich es mehr und mehr, daß alles so rasend schnell zu gehen hatte. So oft gab es Dinge, die ich gerne gelesen hätte -Protokolle über Sitzungen des Zentralkomitees, Fraktionskämpfe, Begründungen für Ausschlüsse führender Parteifunktionäre, — aber leider bestand dazu nicht die geringste Möglichkeit. In einem wahren Stachanow-Tempo mußte ich die Säcke öffnen, die Materialien in Mappen tun und mit Aufschriften wie „Gewerkschaften“, „Verschiedenes“ oder „Partei 1921— 23“ beschriften. Jeden Tag wurden wir mehr und mehr dazu angehalten, nicht so sehr auf Genauigkeit als vielmehr auf Schnelligkeit zu sehen. Aus den Listen sollte lediglich hervorgehen, was sich in jedem Sack befindet, auf eine genaue Darstellung käme es dabei gar nicht an. Am fünften Tag, als ich wieder einen ganzen Packen Dokumente in eine Mappe tun wollte, fiel ein etwa 24seitiges Manuskript heraus, und ich sah plötzlich eine handgeschriebene Unterschrift Stalins. Ich kannte diese Signatur, denn das Faksimile war bereits Dutzende Male veröffentlicht worden — aber ein von Stalin handschriftlich gezeichnetes Dokument hatte ich natürlich noch nie in Händen gehabt.

Interessiert schaute ich mir die Sache genauer an.

Es handelte sich um ein Kapitel aus einem Buch von Anna Louise Strong, in dem die Autorin ihr Gespräch mit Stalin schildert. Das Kapitel war auf englisch geschrieben und mit einem Begleitschreiben des Direktors einer sowjetischen Verlagsanstalt versehen. In dem Schreiben wurde ausgeführt, die amerikanische Schriftstellerin Anna Louise Strong schildere in ihrem Buch ausführlich ein Gespräch mit Stalin; der Verlag möchte jedoch vor der Drucklegung die Anfrage an Stalin richten, ob die Veröffentlichung dieses Kapitels möglich sei, bzw. welche Änderungen und Bemerkungen vorgeschlagen würden. Der Verlag gestatte es sich, dieses Kapitel nicht nur in der englischen Originalfassung zu übersenden, sondern auch eine wortgetreue russische Übersetzung beizufügen. Der Brief des Verlages stammte, wenn ich mich recht entsinne, aus dem Jahre 1931.

Der Antwortbrief Stalins an den Verlag war nur wenige Zeilen lang. Er lautete: „Gegen den Text habe ich nichts einzuwenden. Das Kapitel kann in der vorhandenen Form veröffentlicht werden, oder auch mit den Abänderungen, die der Autor selbst noch vorzunehmen wünscht.

J. Stalin“

Es war für mich damals, im Jahre 1943, als der Stalin-Kult kurz vor seinem Höhepunkt stand, ein fast unheimliches Gefühl, einen Brief Stalins in den Händen zu halten. Selbstverständlich überflog ich das Kapitel, und ich weiß noch, wie eigentümlich es mir erschien, daß es kein schriftlich fixiertes Interview gab und daß eine ausländische kommunistische Publizistin ein Gespräch mit Stalin frei schildern durfte.

Im Jahre 1943 wäre das kaum möglich *) g. ewesen Schon nach etwa 14 Tagen war der größte Teil des Archivs, wenn auch sehr oberflächlich, katalogisiert. Dann wurde uns mitgeteilt, daß wir außer unserem bisherigen Pensum noch weitere Archivmaterialien übernehmen sollten.

Wieder stand unser Begleiter vor uns mit einer Liste.

„Genosse Linden — die Archivmaterialien über Albanien, Burma und Java.“

Schüchtern wagte ich einen Einspruch: „Aber ich kann ja gar nicht Albanisch, Burmesisch und . . . was spricht man eigentlich auf Java?“

Der Begleiter winkte lächelnd ab: „Das weiß ich auch nicht, aber Sie werden sich schon irgendwie zurechtfinden.“

Auch die anderen hatten ähnliche Aufträge erhalten, und wir waren nun in der seltsamen Lage, Archive zu katalogisieren, ohne überhaupt die betreffende Sprache zu kennen. Das einzige, was uns half, waren Jahreszahlen, Namen von Funktionären, die uns aus der Geschichte der Komintern bekannt waren, oder Hinweise auf Städte und Ereignisse, die ebenfalls in der Schule ganannt worden waren. Hier und da tauchten auch noch einige Dokumente auf Englisch oder Russisch auf. Mit diesen Hinweisen mußte man sich also zu helfen suchen. Die Aufgabe glich einem Kreuzworträtsel.

Es waren noch nicht drei Wochen vergangen, da war unsere Arbeit trotz aller Schwierigkeiten beendet.

Unser Begleiter dankte uns. Gespannt warteten wir darauf, was nun mit uns geschehen würde. „Genossen, wir haben gedacht, daß ihr vorläufig noch einige Tage in Ufa bleibt und euch etwas ausruht. Ihr werdet weiter im Hotel Baschkirija wohnen und auch dort verpflegt werden. Sobald noch einige andere Dinge geregelt sind, werde ich dann gemeinsam mit euch nach Moskau fahren, und ihr werdet eurer Partei zur Verfügung stehen.“

Ein Seitenblick ins „gewöhnliche“ Leben Nach Moskau! Ich freute mich unbändig darauf, nach diesen ereignisreichen zwei Jahren wieder in die Hauptstadt zurückkehren zu können. Aber jetzt hatten wir noch einige Tage Zeit.

Ufa hatte sich in diesem Jahre wieder verändert. Die verantwortlichen Funktionäre mit ihren engsten Mitarbeitern waren inzwischen schon in Moskau. Im Juli 1943 hielten sich in Lisa nur noch der „Mittelstand“ und das „Proletariat“ der Komintern auf. Alle warteten sehnsüchtig darauf, wieder nach Moskau zurückfahren zu dürfen.

Mein erster Weg führte mich zu meiner Freundin Erika, die im Gebäude des „Komintern-Proletariats“ in der Stalinstraße 101 wohnte. Sie hatte ein schweres Jahr hinter sich, allerdings nicht wegen „Kritik und Selbstkritik“, sondern der in der Sowjetunion „normalen“ Schwierigkeiten. Meine unerwartete Karriere schien Erika nicht sonderlich zu freuen. „Na jetzt gehörst du wohl auch zu den Klugen“, meinte sie spöttisch. Dabei kam mir wieder deutlich zum Bewußtsein, wie weit ich mich inzwischen schon von dem Denken „gewöhnlicher“ Menschen entfernt hatte.

Noch krasser lernte ich die „andere Seite des Lebens“ am nächsten Nachmittag kennen.

Auf dem Rückweg zum Hotel Baschkirija entdeckte ich etwas, was mir einem Markt ähnlich schien. Neugierig ging ich näher. Ein schauerlicher Anblick bot sich mir. Dutzende von Menschen, oft nur in Fetzen gekleidet, waren gekommen, um einen Teil ihrer kärglichen Ration gegen andere Dinge einzutauschen. Eine alte Frau, die sich vor Hunger kaum auf den Füßen halten konnte, hielt in zittrigen Händen ein Stück Schwarzbrot zum Tausch, ein alter Mann wollte zwei Stück Zucker gegen Brot tauschen. Wieder ein anderer bot zwei Zigaretten — für 6 Rubel das Stück zum Kauf an.

Die grenzenlose Armut, die ich auf dem Markt in Ufa sah, brachte mir blitzartig zum Bewußtsein, wie unglaublich gut es mir die ganze Zeit über ergangen war. In den wenigen Monaten hatte ich fast völlig vergessen, daß es solche Armut gab. Die Erinnerungen an Karaganda, an die Zeit, da ich selbst genau so schlecht gelebt hatte, waren verblaßt. — Tief beeindruckt und nachdenklich, fast schuldbewußt, weil es mir materiell so gut ging, hatte ich mich langsam vom Markt entfernt, als ich eine Studentin traf, die ich von Moskau her kannte.

Sie hatte inzwischen einen medizinischen Kursus absolviert, war nach Ufa evakuiert worden und arbeitete in einem Hospital.

Nach wenigen Begrüßungsworten begann sie mir Dinge zu berichten, die mir den Atem verschlugen. Sie erzählte von den Leiden, die sie täglich im Hospital sah, von jungen Menschen, die der Krieg zu Krüppeln gemacht hatte. Je länger sie sprach, um so heftiger wurde ihre Empörung.

„An allem sind nur die Staatsmänner und Politiker schuld, die einen wie die andern, und die armen Menschen müssen drunter leiden.“

Unbekümmert schimpfte sie auf alle: auf Hitler-Deutschland, auf die eigenen „Hohen“, auf Politiker und Generale, „von welcher Seite sie auch sind“, auch auf den Komsomol, dem sie selbst angehörte.

Immer wieder kam jedoch das Mitgefühl für die Leiden der Sowjetmenschen zum Ausdruck, „die alle an dem Ganzen völlig unschuldig sind“.

Wenige Tage später hatte ich in Ufa abermals eine erschütternde Begegnung. Ich verließ das Hotel nach einem reichhaltigen Mittagessen, als ein ärmlich aussehender, älterer Mann in abgerissenen Kleidern auf mich zutrat.

Ich hatte schon meine Hand in die Tasche gesteckt, um nach Geld zu langen.

Da sprach er mich an: „Guten Tag, Linden.“

Ich bekam einen Schreck. Woher wußte dieser Unbekannte meinen Parteinamen? Dann schaute ich ihn näher an: Es war der Kursant aus unserer Gruppe, der uns eines Nachmittags so ausführlich über seine illegale Tätigkeit während der Besatzungszeit in Frankreich erzählt hatte und der dann plötzlich, ohne irgendeine Erklärung, von der Schule entfernt worden war. Das war nun schon mehr als ein halbes Jahr her — und seinem Aussehen nach mußte es ihm in dieser Zeit schrecklich ergangen sein. „Sag mal, hast du nicht etwas Brot für mich?“

Er schaute midi flehend an. „Nein, augenblicklich nicht, wenn ich vom Abendessen zurückkomme, werde ich dir etwas mitbringen. Ich werde versuchen, dir so viel Brot mitzubringen, wie es geht, ohne daß es auffällt, denn es ist uns nicht erlaubt ... aber du mußt mich schon entschuldigen .. . andere Sachen als Brot werde ich wohl kaum mitnehmen können."

Er winkte ab. „Aber Linden, du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen. Die anderen geben mir ja nicht mal Brot. Sie sprechen nicht einmal mehr mit mir, und die meisten wenden sich ab und grüßen nicht, wenn sie mich auf der Straße sehen. Wenn du mir etwas Brot geben könntest, werde ich dir das nie vergessen und dir ewig dankbar sein."

Nun nahm ich stets Brot mit, um es ihm abends an irgendeiner abgelegenen Stelle zuzustecken. Er dankte mir jedesmal, war aber äußerst wortkarg. Ich erfuhr lediglich, daß er nach seinem Ausschluß aus der Parteischule von keiner Stelle mehr Hilfe erhalten hatte. Dieser Genosse, der so viele Jahre hindurch Sonderaufträge für die Partei ausgeführt hatte, war nun „abgehängt“ und seinem Schicksal überlassen — ein Beispiel für die eiserne Konsequenz und Grausamkeit des Stalinismus jedem Menschen gegenüber, den er nicht mehr brauchen kann.

Aber noch immer, trotz der Erlebnisse in Lisa, war ich weit davon entfernt, das System als Ganzes zu verurteilen. Immer noch glaubte ich, daß es sich um Fehler einzelner Dienststellen und um Überbleibsel aus der russischen Vergangenheit handele. Zu stark war ich noch in der stalinistischen Ideologie verwurzelt, als daß solche Erlebnisse und der unvorstellbare Unterschied zwischen dem Leben der Funktionäre und jenem der gewöhnlichen Menschen, der mir jetzt in Lisa besonders deutlich vor Augen trat, mich hätten schwankend machen können.

Die Juli-Wochen des Jahres 1943, die wir in Ufa verbrachten, brachten aufregende Ereignisse. Mussolini war gestürzt worden. Italien befand sich am Vorabend des Ausscheidens aus dem Krieg. Alles hoffte, daß sich der Krieg nun bald dem Ende näherte.

Am 21. Juli sollten wir durch ein neues Ereignis überrascht werden. Auf der 3. Seite der „Prawda“ war in großer Aufmachung das Manifest des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ an die Wehrmacht und an das deutsche Volk veröffentlicht worden. Staunend erfuhren wir, daß am 12. und 13. Juli in der Nähe von Moskau eine Konferenz kriegsgefangener deutscher Soldaten und Offiziere, gemeinsam mit deutschen Emigranten, stattgefunden hatte. Auf dieser Konferenz war ein Nationalkomitee „Freies Deutschland“ gewählt worden, an dessen Spitze der mir gut bekannte Erich Weinert stand und dessen Vizepräsidenten Major Karl Hetz und Leutnant Heinrich Graf von Einsiedel waren.

Mit brennendem Interesse las ich den Aufruf und stellte sofort fest, daß er noch „breiter“ war, als der Aufruf der sogenannten westdeutschen Friedenskonferenz, den wir in der Schule so ausführlich durchgenommen hatten. Freiherr vom Stein, Ernst Moritz Arndt, Clausewitz und Yorck wurden in diesem Aufruf als Vorbilder hingestellt, sozialistische Forderungen waren nicht einmal andeutungsweise enthalten, und die Existenz von deutschen Kommunisten wurde überhaupt nicht erwähnt. Selbst bei den Seminaren über das Thema „Kampf gegen das Sektierertum“ waren wir auf der Schule nicht so weit gegangen. Es war nicht schwer zu erkennen, daß mit der Auflösung der Komintern und dem Manifest des Nationalkomitees sich nicht nur eine taktische Schwenkung vollzogen hatte, sondern daß es sich um einen Wechsel der strategischen Orientierung handeln mußte.

Das schien mir besonders auch aus den Forderungen des Manifestes hervorzugehen. Sie waren so „breit“ formuliert, wie es mir damals überhaupt möglich schien — offensichtlich mit dem Ziel, alle Anti-Hitler-Kräfte anzusprechen. Die Ziele des Manifestes für das nach Hitlers Sturz zu schaffende Deutschland beschränkten sich auf die Forderung nach einer starken demokratischen Staatsmacht („die nichts gemein hat mit der Ohnmacht des Weimarer Systems“), der restlosen Beseitigung aller auf Völker-und Rassenhaß beruhenden Gesetze, der Wiederherstellung und Erweiterung der politischen Rechte und sozialen Errungenschaften, der Freiheit der Wirtschaft und des Handels (einschließlich der Sicherung des „rechtmäßig erworbenen Eigentums"), der sofortigen Befreiung und Entschädigung der Opfer des Hitler-Regimes und schließlich die Forderung eines gerechten und schonungslosen Gerichts über die Kriegsverbrecher und die für den Krieg Verantwortlichen, die jedoch mit einer Amnestie verbunden werden sollte „für alle Hitler-anhänger, die sich rechtzeitig durch ihre Taten von Hitler lossagen und der Bewegung für ein freies Deutschland anschließen".

Noch konnte ich mir wenig unter diesem Nationalkomitee vorstellen, noch wußte ich nicht, daß man die schwarz-weiß-roten Farben als Symbol gewählt hatte, da dies aus dem Faksimile der „Prawda“ nicht zu ersehen war. Aber es war nur natürlich, daß ich mich brennend für das Nationalkomitee „Freies Deutschland“ interessierte und mir nichts sehnlicher wünschte, als dort mitarbeiten zu können.

Mein Wunsch sollte schneller erfüllt werden, als ich es an diesem 21. Juli für möglich gehalten hätte.

Am gleichen Nachmittag wurden wir zusammengerufen. „Heute abend fahren wir nach Moskau", wurde uns erklärt.

Karaganda, die Kominternschule und die Arbeit im Kominternarchiv lagen hinter mir. Gespannt wartete ich darauf, was mir nun bevorstehen würde.

Am nächsten Tag trafen wir in Moskau ein.

Anmerkung:

'Wolfgang Leonhard kam als dreizehnjähriger Junge mit seiner Mutter in die Sowjetunion. Seine Mutter wurde Ende Oktober 1936 im Verlauf der großen „Säuberung“ von der NKWD verhaftet. Er selbst wuchs in einem sowjetischen Heim für Kinder deutscher und österreichischer Emigranten in Moskau auf, absolvierte die sowjetische Schule und studierte einige Semester an der Moskauer Pädagogischen Hochschule für Fremdsprachen. Politisch äußerst interessiert, trat er im September 1939 dem Komsomol, dem kommunistischen Jugendverband der Sowjetunion, bei. Im September 1941, wenige Monate nach Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges, wurde er zusammen mit vielen in Moskau lebenden Deutschen nach Karaganda zwangsumgesiedelt. Im Herbst 1942 wurde Leonhard ebenso wie eine Reihe anderer jüngerer deutscher Emigranten wieder zurückgeholt und zum politischen Studium in die Kominternscbule entsandt, um für die Nachkriegsaufgaben in Deutschland geschult zu werden. Nach der Auflösung der Komintern war Leonhard im Nationalkomitee „Freies Deutschland" in Moskau tätig und kehrte im April 1945 als Mitglied der „Gruppe Ulbricht" im Sonderflugzeug nach Berlin zurück. Nach der Neugründung der KPD im Juni 1945 wurde er verantwortlicher Redakteur des parteiamtlichen Schulungsmaterials und Referent in der Abteilung „Agitprop" (Agitation und Propaganda) im Zentralkomitee der KPD, eine Funktion, die er auch nach der Gründung der SED beibehielt. Schon in Moskau, aber vor allem während seiner Tätigkeit als Mitglied der „Gruppe Ulbricht", jener ersten Gruppe kommunistischer Funktionäre, die von Moskau kommend in Berlin eintrafen, und durch seine Tätigkeit im Zentralsekretariat der SED lernte er die heutigen Führer der „DDR" — Pieck, Ulbricht, Matern u. a. — aus nächster Nähe kennen. Vom September 1947 bis zum Frühjahr 1949 war Wolfgang Leonhard Dozent an der SED-Parteihochschule „Karl Marx" in Klein-Machnow bei Berlin. Im März 1949 hat er mit dem stalinistischen System gebrochen und floh nach Jugoslawien, das sich wenige Monate vorher von Moskau gelöst hatte, um einen eigenen, von der Kremlbürokratie unabhängigen sozialistischen Weg zu gehen. Seit November 1950 lebt er in der-Bundesrepublik.

Dieser Lebensweg ermöglichte dem Autor, Dinge kennenzulernen und mitzuerleben, über die bisher in der westlichen Welt kaum etwas bekannt sein dürfte: Die Rolle der Komintern nach Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges, die Vorgeschichte und Durchführung ihrer Auflösung, die der Autor in der Kominternschule selbst miterlebte, die Ausbildung der höheren Funktionäre und die bereits mitten im Krieg erfolgte Vorbereitung für die Aufgaben des Nachkriegsdeutschland. Auf Grund seiner eigenen Erlebnisse schildert der Autor, wie die neue im Ostblock erzogene Funktionärsgeneration denkt und fühlt, wie sie urteilt und wo ihr kritisches Denken einsetzt. In der nächsten Zukunft — vielleicht in einem Jahrzehnt, vielleicht noch früher — wird diese Generation junger Funktionäre die Geschicke der Sowjetunion und des Ostblocks entscheiden. Es sind Menschen, die erst nach der Oktoberrevolution geboren, niemals etwas anderes als das Sowjetsystem gekannt haben und Ende der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre in das politische Leben eingetreten sind. Es werden Menschen sein, die das gleiche erlebt, gefühlt und gedacht haben wie der Autor. Bisher ist über die junge stalinistische Funktionärsgeneration des Ostens wenig bekannt. Man weiß in der nicht-sowjetischen Welt kaum etwas über ihre Ausbildung und Schulung, über ihre Auffassung und Denknormen, über ihre Vorstellungswelt und ihr Verhalten. Das Buch von Wolfgang Leonhard „Die Revolution entläßt ihre Kinder", das demnächst im Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, erscheint, kann dazu beitragen, diese Unkenntnis zu überwinden.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages veröffentlichten wir in der letzten Ausgabe das 2. Kapitel: „Mein Leben als Sowjetstudent". In dieser Ausgabe lasen Sie das 5. Kapitel: „In der Kominternschule".

Fussnoten

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