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Die Aufgabe der politischen Bildungsarbeit der Schule und der Geschichtsunterricht | APuZ 37/1955 | bpb.de

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APuZ 37/1955 Die Forderungen der Pädagogik an die politische Bildung Die Aufgabe der politischen Bildungsarbeit der Schule und der Geschichtsunterricht

Die Aufgabe der politischen Bildungsarbeit der Schule und der Geschichtsunterricht

Felix Messerschmid

Vortrag, gehalten auf der Tagung des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands während der Pfingstwoche 1955 in Berlin Das Teilthema, dessen Behandlung mir zugefallen ist, nämlich die Aufgabe der politischen Bildung in der Schule und den Beitrag des Geschichtsunterrichts dazu darzustellen, führt in die zentrale Aufgabe des Geschichtsunterrichts, in jene Aufgabe, aus der es sich begründet, daß dem heranwachsenden Geschlecht die Beschäftigung mit dem Vergangenen zugemutet wird. Es besteht also ein besonders enges Verhältnis zwischen geschichtlicher und politischer Bildung, und daher ist es verständlich, daß Historiker und Geschichtslehrer dazu neigen, dem Geschichtsunterricht den Auftrag der politischen Bildung in erster Linie oder gar ausschließlich zuzuordnen und zu übertragen, also etwa ein besonderes Fach für unnötig zu halten. Es gehört mit zu meinem Thema, mich mit dieser Meinung auseinanderzusetzen, also herauszuarbeiten, worin sich geschichtliche und politische Bildung decken, wo sie vielleicht auseinandertreten und gesonderte Bereiche mit eigenen Akzenten oder gar Gesetzen, mit einer eigenen Struktur fordern. Doch ist das, wie schon angedeutet und wie sich zeigen wird, nur ein Teil der mir gestellten Aufgabe, und nicht einmal der wesentlichste.

Daß die Klärung dieser Fragen dringlich ist und als dringlich empfunden wird, zeigt die bestehende polemische Situation. Sie wirkt in allen Lehrplanbesprechungen und wurde spürbar auch in den Calwer Herbst-besprechungen unseres Verbandes 1954; sie dringt unüberhörbar durch in allen Versuchen, die Bereiche voneinander abzugrenzen und Inhalte und Methode der politischen Bildung zu bestimmen. Die Zeitschrift „Geschichte in Wissenschaft und Unterricht“ hat das Thema schon in ihrem 1. Jahrgang ausgenommen und durch alle 5 Jahrgänge in immer neuen Anläufen zu klären versucht; das eben erschienene Gesamtverzeichnis gibt davon ein Bild. Der Deutsche Ausschuß für das Erziehungs-und Bildungswesen hatte sich bei der Ausarbeitung seines „Gutachtens zur politischen Bildung“ ebenfalls mit dem Problem auseinanderzusetzen und hat sich intensiv damit befaßt. Im Gebiet der Bundesrepublik haben die einzelnen Länder sehr verschiedene Antworten gegeben. Deren Grundeinheit erweist sich allerdings im Vergleich mit der Antwort in den Schulen der SBZ, wo das Problem dogmatisiert und damit eliminiert worden ist. Für die Anhänger einer totalen Politisierung der Bildung ist die Geschichte ein riesiges Arsenal von Argumenten und Waffen, und dem Geschichtsunterricht obliegt es, den Schüler in deren Handhabung im militanten Dienst der herrschenden Macht und ihrer — manchmal auch wechselnden — Parolen zu schulen. Das ist eine vergleichsweise einfache Sache: Klio als NSFO oder Kommissar.

Wir haben es etwas schwerer. Sehen wir zu.

Gehen wir aus von einem Satz im politischen Gutachten des Deutschen Ausschusses. Er heißt: „Politisches Denken setzt geschichtliche Orientierung und einen Vorblick auf die Zukunft v o r a u s“ (I, 4). Geschichtliche Orientierung und Vorblick — sie hängen eng miteinander zusammen; sie sind nicht voneinander isoliert zu haben, was zu zeigen sein wird. „Geschichtliche Orientierung“

Aber beschäftigen wir uns zunächst mit dem, was die Gutachter „g e -

schichtliche Orientierung“ nannten. Es ist Jener Beitrag des Geschichtsunterrichts zur politischen Bildung gemeint, der sich einfachhin aufdrängt; der jedem einsichtig ist, der sich über die elementaren Voraussetzungen politischen Denkens und Handelns Gedanken macht.

An anderer Stelle (IV, 4) umschreibt das Gutachten diesen Beitrag näher.

Es weist dem Geschichtsunterricht die Fähigkeit und die Aufgabe zu, „den geschichtlichen Horizont des eigenen politischen Standortes (aufzuhellen)“, „Schicksal und Aufgabe des deutschen Volkes innerhalb der Gemeinschaft der Völker (zu vergegenwärtigen)“. I. R. Seeley hat 18 8 3 diese Teilaufgabe des Geschichtsunterrichts mit den Sätzen formuliert: „It is a favorite maxim of mine that history, while it should be scientific in its method, should pursue a practical object. That is, it should not merely gratify the reader’s curiosity about the fact, but modify his view of present and his forecast of the future“. Man wird nach den Erfahrungen, die wir haben machen müssen und die wir bei uns und anderswo noch immer machen müssen, gut daran tun, die mannigfachen Gefahren einer solchen Zielsetzung vor allem auch für die Geschichts Wissenschaft nicht aus den Augen zu lassen; ein Geschichts unterricht jedoch, dessen Ertrag nicht wäre, to modify the view of present and the forecast of the future, das heißt also: ein geklärtes, von Wunschbildern, Ideologien, ungeschichtlichen Vorstellungen aller Art gereinigtes Verständnis des politischen Daseins aus seinem Gewordensein, ein Gefühl für die Geschichtsmächtigkeit der wirkenden Kräfte, die Kenntnis der wurzelhaften Gründe der politischen Gesamtsituation, ohne welche es kein wirklichkeitsgerechtes politisches Handeln, keine Freiheit der politischen Entscheidung, keine Verantwortung für das Gewordene, das geschichtliche Erbe, aber auch keine gegründete Voraussicht auf das politisch Mögliche und Wünschbare, auf das von der Zukunft herdrängende Neue gibt — ein solcher Geschichtsunterricht, der doch wohl weniger der Neugier als der Altgier, dem antiquarischen Interesse diente, würde seinen Bildungssinn verfehlen. Damit wird keineswegs die Meinung verfochten, die Pflege der geschichtlichen Erinnerung, die sehr fernliegende, in einem vordergründigen Verstände ganz unaktuelle Zeiten, Gegenstände, Gestalten erweckt, sei ohne Wert; doch darüber wird später zu handeln sein.

Wir haben in einer allzu schrecklichen Weise erfahren, zu welchen Katastrophen geschichtsblindes Denken führt, um jetzt nicht auf der Er-füllung dieser politischen Aufgabe des Geschichtsunterrichts mit allem Nachdruck zu bestehen. Nur wer den gesamten Horizont der jetzt bestehenden geschichtlichen Gegebenheiten in ihrer Breite und Tiefe in etwa überschaut, ist davor bewahrt, den wechselnden Tagessituationen und zufälligen Machtkonstellationen zu verfallen; und nur wer über diese Überschau verfügt, die durch geschichtliche Bildung erworben wird, ist imstande, im tagespolitischen Wechsel die Konstante zu erkennen und zugleich auf seiner politischen Karte die ständig nötigen Korrekturen einzutragen.

Damit der Geschichtsunterricht diese seine Aufgabe erfüllen könne, darf er sich zwei Forderungen nicht versagen. Er muß erstens der spezifisch politischen Geschichte den Raum geben, der ihr zukommt. Sieht man die Lehrpläne, Richtlinien und manche Lehrbücher durch, so hat man nicht durchweg den Eindruck, diese Forderung sei überall gewährleistet. Erich Weniger hat von der „Flucht aus der politischen Geschichte“ gesprochen und davor gewarnt. Mit Recht. Gewiß, die Abkehr von dem einseitigen Verständnis des Politischen, welches die Fülle der geschichtlichen Kräfte, der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen, religiösen, unberücksichtigt ließ, ist berechtigt. Aber diese Abkehr darf nicht dazu führen, aus dem Geschichtsunterricht so etwas wie das gesamtunterrichtliche Fadi schlechthin zu machen, den andern Fächern ihre Aufgabe abzunehmen, als ob der Geschichtsunterricht nicht ohnehin überlastet sei, und auf diesem Wege den eigentlichen Auftrag des Geschichtsunterrichts zu versäumen, nämlich — ich zitiere wieder das Gutachten des Deutschen Ausschusses — „Schicksal und Aufgabe des deutschen Volkes innerhalb der Gemeinschaft der Völker (zu vergegenwärtigen) und (so) die Jugend auf die allen gemeinsamen Verpflichtungen eines tätigen Lebens im Dienste von Staat, Volk und Menschheit (vorzubereiten). Das Gutachten nennt danach eine der Grundkategorien eines Geschichtsunterrichts, der der politischen Bildung dient, indem es fortfährt: „So betrachtet er den geschichtlichen Verlauf im Hinblick auf die Verantwortung des handelnden Mensche n“. Er soll die Schüler „an geschichtlichen Beispielen mit den Möglichkeiten politischen Handelns und den Grundformen staatlichen und gesellschaftlichen Lebens vertraut machen".

Politisches Handeln ohne Vorentwurf nicht möglich Der Geschichtsunterricht muß zweitens auf die Zeitgeschichte besonderes Gewicht legen. Was gegen die Behandlung der von uns selbst erlebten Geschichte in der Schule vorgebracht wird, muß wohl bedacht werden; aber es schlägt nicht wirklich durch. Die Pflicht, die heranwachsende Generation fähig zu machen, sich in der weltpolitischen Situation einigermaßen zurechtzufinden und den Ort der eigenen Nation darin nicht völlig falsch zu sehen, ist unabweislich. Es ist besser, der Historiker übernimmt diese Aufgabe, als irgendein mit dem historischen Handwerk nicht vertrauter Lehrer. Gerade weil dieser Auftrag so schwierig ist, darf der Historiker sich ihm nicht entziehen. Er weiß, wie mit Quellen umzugehen ist; er kennt die Vielschichtigkeit alles Geschichtlichen; er hat gelernt, wie ein besonnenes geschichtliches Urteil gewonnen wird, und wird Wertung nicht mit Propaganda — nach rückwärts oder vorwärts — verwechseln. Insoweit er nicht nur Fachwissenschafter sondern auch Erzieher ist, wird er gegen die unleugbaren sachlichen und vielleicht auch persönlichen Schwierigkeiten den pädagogischen Grundimpuls einsetzen können, die jungen Menschen an den Erfahrungen teilhaben zu lassen, die er selbst — sei es zu seiner Ehre, sei es zu seiner Beschämung; das ist so wichtig nicht — hat machen müssen und die sein Leben bestimmen. Freilich ist es auch die Pflicht der Verantwortlichen, dem Historiker die Gelegenheit, die Zeit und die materiellen Mittel an die Hand zu geben, die zu einer fortlaufenden gründlichen wissenschaftlichen Orientierung nötig sind. Schrifttum, Zeitschriften, Quellenpublikationen stehen jetzt zur Verfügung und werden ständig vermehrt. Sich die Kenntnis von ihrem Vorhandensein zu beschaffen, ist nicht schwer; die Zeitschrift „Geschichte in Wissenschaft und Unterricht“ z. B. berichtet laufend darüber. An sie heranzukommen, ist allerdings schwieriger; wir werden uns die Wege dazu überlegen müssen, sonst wird das Paulsensche Gesetz in Gültigkeit bleiben und der Unterricht der Forschung um Jahrzehnte nach-hinken.

Es ist nicht meine Aufgabe, in diesem Zusammenhang die Problematik dieses politischen Auftrags des Geschichtsunterrichts zu behandeln. Ich verweise dafür auf das Buch von Wilmanns, auf die mannigfachen Arbeiten in der Zeitschrift „Geschichte in Wissenschaft und Unterricht“ und einige in Kürze erscheinende Aufsätze über diesen Gegenstand. Auf eine Frage allerdings muß ich eingehen. Die Orientierung, die über die Geschichte zu gewinnen ist und nur über sie, drängt weiter zur Voraussicht, zur Prognose. Politisches Handeln ist ohne Vorentwurf nicht möglich. Der Geschichtslehrer aber steht hier an einer Grenze, die er, als Historiker, nicht überschreiten kann. Er erfüllt seine Aufgabe, indem er zeigt, wie die Welt geworden ist, die das Feld der gegenwärtigen politischen Kräfte ist; aus welcher geschichtlichen Tiefe diese Kräfte kommen; indem er die Materialien für politische Entscheidungen bereitstellt. Auf diese Weise unterbaut der Geschichtsunterricht einen selbständigen politischen Unterricht; er macht ihn geschichtlich verantwortbar, ist aber davon befreit, seine Zuständigkeit zu überschreiten. Dieser Zwang zur ständigen Überschreitung der Bereiche korrumpiert in den totalitären Regimen sowohl den Geschichtsunterricht wie die politische Bildung.

Es gibt einen Test dafür, ob das Ethos des Historikers, das die erste Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit seines Beitrags zur politischen Erziehung und Bildung ist, gewahrt ist: das ist die Verwendung der geschichtlichen Analogie. In unkritischer, kurzschlüssiger Verwendung enthüllt sich ein Geschichtsbild, in dem das wesentlichste Element im Geflecht der geschichtewirkenden Kräfte ausfällt: der Mensch in der Freiheit der geschichtlichen Entscheidung, vor der er sich bewähren oder versagen kann. Aus eben demselben Grund ist dieses Geschichtsbild im Sinne der politischen Bildung taub, unfruchtbar. Politisch gebildet ist, wer weiß, daß der jeweiligen geschichtlichen Entscheidung zwar nur ein Bereich beschränkter Möglichkeiten offen ist, daß sie an Grenzen, einen „Horizont“ gebunden ist; der aber zugleich weiß, daß dieser Horizont keine absolute Determiniertheit bedeutet, sondern Raum der Entscheidung ist und also der Freiheit, mag dieser auch oft sich nur noch als schmälsten Grat darstellen.

Chesterton bringt in seiner Selbstbiographie, der „Geschichte meines Lebens“ zwei Beispiele für diese fundamentale geschichtliche Wahrheit. Es heißt dort: „Übrigens gibt es etwas, was jede wissenschaftliche Schätzung des Krieges (1914/18) über den Haufen warf, ein Faktor, der moralisch und nicht wissenschaftlich war — ein stehendes Beispiel für den Wechsel aller materiellen Dinge, die auf dem Angelpunkt des menschlichen Willens beruhen. Das war die Revolution in Rußland. Kein Namhafter sagte sie voraus; Belloc aber tat die weiseste allgemeingehaltene Äußerung über derartige Ereignisse. In einem seiner Artikel in „Land und Meer“ muß er, so fürchte ich, viele seiner Leser ziemlich verblüfft haben durch eine fleißige geschichtliche Rekonstruktion einer Prognose im Geist eines griechischen Beamten zu Byzanz beim Beginn des sechsten Jahrhunderts, der alle Kräfte des Römischen Reichs und der katholischen Kirche berechnete und abwog. Er führte aus, wie ein solcher Mann denken mochte, er habe mit allen Möglichkeiten gerechnet — mit der Gefahr einer religiösen Spaltung zwischen Ost und West, mit der Gefahr der Barbareneinfälle in Gallien oder Britannien, mit der Lage in Afrika und in Spanien und so fort —, und wie er dann sagen würde, er habe das gesamte Material für den Geschichtsablauf in seiner Hand. , In diesem Augenblick war Mohammed weit weg in einem kleinen Arabien, achtzehn Jahre alt'“.

Politische Bildung, die mehr ist als „kollektive Abrichtung“ (Pestalozzi), entsteht nur dort, wo dies nicht vergessen ist: daß es immer Menschen sind, die Geschichte machen, im Großen wie im Kleinen, in Arabien, in Asien, in Amerika, in der Bundesrepublik und überall. Eine einfache Wahrheit, gewiß. Aber es sind Wahrheiten solcher Art, aus denen auch der Geschichtsunterricht seine Lebendigkeit und seine Fruchtbarkeit empfängt. Lind grade solche Wahrheiten sind in der bloßen Wissenschaft immer in Gefahr, vergessen zu werden. Es ist schwer, sie im Gestrüpp der historischen „Abläufe“ zu sehen und festzuhaltcn.

Es ist im Vorhergehenden wohl mehrfach deutlich geworden, daß ich die unter Historikern und Geschichtslehrern fast unumstößliche, jeden-falls weithin herrschende Anschauung nicht teile, die im Geschichtsunterricht zu vermittelnde politische Bildung genüge, sie bedürfe keiner Ergänzung sei es in einem besonderen Fach, sei es in besonderen Stunden. Das ist ausführlicher zu begründen. Danach erst wird zu entwickeln sein, worin im größten Zusammenhang, über das bisher Dargelegte hinaus, aber es enthaltend und gültig begründend, die Aufgabe des Geschichtsunterrichts in der politischen Bildungsarbeit der Schule (wie an Erwachsenen) besteht. „Gemeinschaftskunde und Politik“

Daß politische Bildung nicht nur geschichtliches Wissen, sondern geschichtliches Denken, das Bewußtsein von der unentrinnbaren Geschichtlichkeit des Daseins voraussetzt — die Geschichte von Revolutionen unterstützt diese These oft sehr eindrücklich —, ist im Vorhergehenden zu zeigen versucht worden, und wir werden wie gesagt darauf noch einmal zurückkommen. Daß der Zeitgeschichte dafür eine besondere Bedeutung zuerkannt wurde, heißt nicht, andere Epochen seien für die politische Bildung bedeutungslos. Jeder Geschichtslehrer, der z. B. antike Geschichte unterrichtet hat, hat erfahren, welche unvergleichliche, nämlich paradigmatische Funktion die Antike für die Erfassung der Grundformen staatlicher Existenz hat. Die geschichtlichen Epochen wären leicht auf solche Ergiebigkeit hin durchzugehen, und kaum eine Lehrplankommission hat es ja auch unterlassen. Der Geschichtsunterricht hat es nicht nötig, für die Anerkennung seines Beitrags zur politischen Bildung in die Defensive zu gehen.

Aber auch nicht, einen Bereich als wesensmäßig zu ihm gehörig zu erklären, der es nicht ist. Der Historiker darf nicht übersehen, daß sein Beitrag zur politischen Bildung nicht das Ganze dessen umfaßt, was heute etwa „Gemeinschaftskunde und Politik“ heißt und was schwerlich als unerheblich und für junge Deutsche entbehrlich beiseitegeschoben werden kann. Man kann sich manchmal dem Eindruck nicht entziehen, daß auch Historiker vorgefaßten Meinungen und nicht genügend geprüften Abwehrhaltungen verfallen können, wenn es vermeintlicherweise um ihr Fach geht, und daß sie daher gar nicht ernsthaft davon Kenntnis nehmen, was eigentlich Inhalt und Ziel dieses anderen Bereiches ist und wie er sich von seinem eigenen unterscheidet. Erst wenn er das getan hat, wird er, obwohl Historiker, auch die andere Aufgabe in Personalunion übernehmen können. Dann allerdings kann sich eine gute Einheit in der Verschiedenheit ergeben, wie es sich auf der Ebene der Universität — man denke etwa an Arnold Bergstraesser und Theodor Eschenburg —, da und dort aber auch schon in der Schule eindrücklich zeigt.

Ich sagte: „obwohl Historiker“. Mit Bedacht. Gegen eine sehr enge und unkritische Verknüpfung des Geschichtsunterrichts und des Unterrichts in „Gemeinschaftskunde und Politik“ sind vor einiger Zeit folgende Einwände erhoben worden (in wörtlicher Formulierung): „Bedenkt man, welche Haltungen sich neben einigen politisch brauchbaren im modernen Historismus verfestigt haben, die Kontemplation als Vorwand der Unentschiedenheit, der historische Romantizismus als Flucht vor der schäbigen Gegenwart oder als Forderung einer radikalen Änderung, der historische Determinismus, so läßt sich kaum ein Fach denken, in dem die politische Erziehung als Gesamtausgabe mehr gefährdet wäre als im Geschichtsunterricht“ (Brief). Wer mit Überzeugung sagen kann, die genannten Haltungen seien überwunden und keine Gefahr mehr, weder für den Geschichtsunterricht noch für die politische Bildung, mag mit der Polemik beginnen. Er wird es nicht leicht haben, wenn er den Geschichtsunterricht, wie er noch oft erteilt, ja sogar manchmal noch begründet wird, realistisch betrachtet. Aber auch wenn man dem Schreiber der zitierten Sätze nicht zustimmt, so bleibt doch bestehen, daß der geschichtliche Aspekt in „Gemeinschaftskunde und Politik“ nur ein Aspekt ist, und zwar vorbereitender Art. Wiegt er vor, so wird die Aufgabe, zum spezifisch politischen Sehen zu bilden, mit ziemlicher Sicherheit verfehlt. Die soziologische Betrachtungsweise ist dieser Aufgabe näher als die historische.

Für die Abgrenzung ist die einfachste Formel die dienlichste: Amt der Geschichte ist es darzustellen, was und wie etwas geworden ist, warum es so und nicht anders geworden ist; Amt der „Gemeinschaftskunde und Politik“, wie es heute und hier ist. Jene richtet den Blick auf die historische Entwicklung, sie interessieren also die vertikalen Bezüge einer Einrichtung; diese kümmert sich in erster Linie um die Funktionalität der politischen Einrichtungen, sie sieht horizontal. Die geschichtlichen Grundlagen der Parteien etwa zu zeigen, ist Sache der Geschichte; die Funktion von Parteien überhaupt und im Gefüge der Bundesrepublik, Sache der Gemeinschaftskunde. Die Lehre von der Gewaltenteilung muß historisch, also aus bestimmten politischen Verhältnissen verstanden und als Antwort auf diese, als Ertrag der Erfahrungen einer Epoche dargestellt werden; ihre besondere Ausprägung, ihre Institutionen, ihre Gefährdungen, die Maßnahmen, die ihrer Wahrung dienen, hier und heute — aktives Verständnis dafür zu wecken und das heißt: den Willen, ein so wichtiges Instrument der politischen Freiheit zu erhalten, ist eine der bedeutsamsten Aufgaben der politischen Bildung. Diese Beispiele zeigen, wie „Gemeinschaftskunde und Politik“ die Geschichte voraussetzt; eine doppelte Behandlung ist bei der Verschiedenheit der Aspekte dann und wann nur nützlich.

Ziel dieses Unterrichts in „Gemeinschaftskunde und Politik“ ist, wie das Gutachten des Deutschen Ausschusses (IV, 5) ausführt, Deutung und Ergänzung der Erfahrungen, welche die Schüler selbst machen; der Erkenntnisse, die ihnen aus allen Fächern zuwachsen; die bewußte Realisierung der sozialen Umgebung; die Erschließung der politischen Wirklichkeit, die ihnen entgegentritt und in der sie sich zu bewähren haben werden; ist die Vorbereitung der politischen Reife, der politischen Urteilskraft, ohne die keine freiheitliche politische Ordnung auf die Dauer bestehen kann.

Die methodischen Prinzipien dieses Unterrichts sind durchaus unhistorischer Art. Auszugehen ist, wenigstens auf der Mittelstufe, grundsätzlich von den konkreten Verhältnissen; von dort ist zu den Grundbegriffen aufzusteigen. Eschenburg, der Historiker ist, setzt bei der Erklärung bestimmter Einrichtungen historisch völlig unbefangen beim „Bedürfnis nach Gemeinde, Staat usw.“ an und hat diese Methode mit einer gewissen Virtuosität entwickelt. Sie greift also sozusagen hinter den Beginn der historischen Ausformungen zurück und macht so das reine, elementare Phänomen deutlich, das auf diese Weise durchsichtig, greifbar wird.

Der Historiker empfindet diese Methode leicht als primitiv; sie ist in Wirklichkeit das Gegenteil von primitiv, sie setzt die Fähigkeit der Rückführung des Komplizierten zu den Grundverhältnissen voraus, die eine hohe geistige — übrigens auch eine außerordentliche pädagogische — Leistung ist. Lind Eschenburg hat sie nicht nur in der historischen Schule gelernt, sondern auch in der Schule der staatlichen Verwaltung, in der er jahrelang dem Zwang zur phänomenologischen Vereinfachung unterworfen war, ohne die das komplizierte Gefüge einer modernen Staatsverwaltung nicht maniabel wird. Wozu aber der Leiter einer hohen staatlichen Verwaltungsbehörde gezwungen war, das wird — allerdings zu etwas passiverem Behuf — vom Lehrer in „Gemeinschaftskunde und Politik“ in der Schulstube auch verlangt. Diese Methode der Rückführung auf die Grundverhältnisse, des Ausweises der Funktionalität bedarf freilich der Ergänzung, ja der Korrektur durch die historische Sicht. Aber es ist ja wohl klar geworden, daß jede einseitige Betrachtungsweise der Aufgabe der politischen Bildung nicht gewachsen ist, gleich ob nun die Betrachtung unter geographischen, volkswirtschaftlichen, soziologischen, psychologischen, philosophischen, ethischen, historischen Kategorien geschieht. Wenn der junge Mensch zum Verständnis der Vielschichtigkeit der menschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen und des politischen Aufbaus geführt werden soll, so wird das nur in einer der Höheren Schule angemessenen Art Gesamtunterricht, also in Überwindung der Betrachtung unter isolierten Fachkategorien möglich sein, in einem Unterricht, worin alle diese verschiedenen Sichten verflochten sind. Ein solcher Unterricht fällt gerade der Höheren Schule schwer, denn deren methodischer Zuschnitt ist vom Fachdenken bestimmt; selbst die Philosophie ist dort noch Fach neben Fächern. Um so erwünschter ist, vom rein Pädagogischen her gesehen, der Zwang zu einem „gesamtunterrichtlichen“ Vorgehen, wie er für „Gemeinschaftskunde und Politik“ vorliegt.

In einem solchen Gesamtunterricht wird auch leicht das aufzunehmen sein, was sonst durch die Maschen des kategorialen Netzes der Fächer hindurchfiele, was aber für die politische Bildung junger Menschen heute kaum zu entbehren ist. Ich nenne nur den gesamten Bereich des Rechtes. Unter den beschriebenen Voraussetzungen ist die unterrichtliche politische Bildungsarbeit der Schule in die folgenden Gebiete zu gliedern

Mittelstufe:

1. Grundbegriffe und Grundverhältnisse der Gesellschaft, 2. Grundbegriffe und Grundverhältnisse der Ordnungen des öffentlichen Lebens und der Politik, 3. Staatsaufbau der Bundesrepublik und Vergleich zur SBZ a) Aufgaben, Organisationen und Willensbildung der Bundesrepublik, b) der Länder, c) der Gemeinden, d) Rechtswesen, 4. Deutschland in der Weltpolitik der Gegenwart und weltpolitische Institutionen.

In der Oberstufe ergibt sich folgende Ordnung:

1. Typen der Gesellschaftsordnung (Arbeitsordnung und mitmenschliche Beziehungen), 2. Die geistigen Grundlagen der politischen Systeme (z. B. Aristoteles, Thomas, Hobbes, Montesquieu, Rousseau, Marx), 3. Herrschaftsordnungen der Gegenwart (Organisationen der politischen Willensbildung und Schutzinstitutionen des Bürgers), 4. Aufbau von Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik und Vergleiche mit der SBZ, 5. Grundrechte und Grundpflichten (der Bürger im öffentlichen Leben), 6. Deutschland in der Weltpolitik der Gegenwart und die weltpolitischen Institutionen.

Im einzelnen wäre über einen solchen Gesamtplan viel zu sagen. Aber die Aufgabe dieses Referats sind ja grundsätzliche Überlegungen; außerdem darf der Zusammenhang mit dem Geschichtsunterricht oder die Abhebung von ihm nicht aus dem Auge verloren werden. Übermäßige Betonung des Stoffes ist gefährlich Aus der obigen Aufstellung geht doch wohl hervor, daß die Wirklichkeit unseres gesellschaftlichen und politischen Lebens, die sich keineswegs von selbst erschließt, pädagogische Aufgaben stellt und daß diese Aufgaben einen Bildungszusammenhang darstellen, der in der überlieferten Ordnung der Schule nicht zureichend zur Geltung kommt. Ob dieser Zusammenhang ein durch alle oder doch fast alle Stufen durchgehendes Fach erfordert, ob die jeweiligen Abschlußklassen, in der Höheren Schule also Untersekunda und Unter-oder Oberprima, dafür genügen, das sind sekundäre Fragen, die hier nicht behandelt zu werden brauchen. Angesichts des allgemeinen Stoffproblems der Höheren Schule neige ich der zweiten Auffassung zu; überdies besteht Veranlassung, vor der stofflichen Überfüllung auch schon dieses Faches zu warnen. Der angebotene Wissensstoff reichert sich mit bestürzender Geschwindigkeit an; die verschiedensten Bereiche und Organisationen des öffentlichen Lebens verlangen heute Berücksichtigung und versuchen, sie mit politischen Mitteln durchzusetzen. Das ist eine gefährliche Tendenz. Das Wissen von Fakten und die Kenntnis des politischen Apparates dienen der politischen Bildung nur, soweit sie die Grundstruktur unseres politischen Lebens durchschaubar machen, eine lebendige Beziehung des jungen Menschen zur freiheitlichen, politischen, sozialen, rechtlichen Ordnung herstellen und also den Willen erwecken, sich für sie einzusetzen. Jede übermäßige Betonung des Stoffes ist gefährlich, sie erzeugt nicht Anteilnahme am Politischen sondern Überdruß und Ablehnung. Es besteht kaum ein deutlicheres Zeichen dafür, daß Ziel, Grundsätze und Methode dieses Unterrichts noch nicht hinreichend durchdacht sind, als die Notwendigkeit zu solcher Warnung. Hier wie überall ist Stoffüberflutung Hinweis darauf, daß ein Natur-oder Kulturbereich noch nicht jene geistige und danach didaktische Durchstrukturierung erfahren hat, der ihn erst zur Bildungswirklichkeit macht; daß Dämme noch nicht errichtet oder wieder gebrochen sind.

Politik hat eine dienende Funktion Eine weitere Warnung ist notwendig angesichts der expansiven Tendenz dieses Bereiches. „Staatsbürgerliche Bildung als Unterrichtsprinzip" ist eine berechtigte Forderung. Die Schule muß als Vorbild einer freien Ordnung gebaut werden, worin also z. B. die Schülermitverantwortung ihren Platz hat, worin es „genossenschaftliche Formen“ des sportlichen und musischen Tuns gibt usw. Außerdem enthalten fast alle Stoffe des Unterrichts, alle Fächer in verschiedenem Maße politische Gehalte; sie mitauszuschöpfen gehört zur Redlichkeit des Wissenschafters wie zu den Pflichten des Erziehers. Diese politischen Bezüge brauchen also bloß nicht unterschlagen zu werden. In alledem ist politische Bildung „als Prinzip“ wirksam. Schließlich gehören auch die verschiedenen Formen der Aktivität der Schüler im Unterricht selbst hierher (Gruppenunterricht, Arbeitsgemeinschaften usw.); sie wecken und schulen die Mitverantwortung für den Nebenmann, das Teambewußtsein, und für die richtige, verantwortliche Erarbeitung einer Sache. Das alles ist richtig. Wir beobachten aber, z. B. in der SBZ wieder, eine Wucherung dieses „Prinzips“, die schließlich jede Bildung zerstören muß. Hinter solcher Wucherung steht die Meinung — oder die politische Absicht, diese Meinung zu verbreiten —, die ganze menschliche Existenz, alle ihre einzelnen Bereiche seien aus der Politik oder gar aus einer bestimmten politischen Ideologie zu erklären und daher ihrer Herrschaft unterworfen; alle Gehalte der Bildung müßten in den Dienst der politischen Bildung gestellt, richtiger: gezwungen werden. Das ist eine Verkehrung der Ordnung der Dinge und der Menschen, und sowohl um unserer politischen Lebensordnung wie um der Bildung willen müssen wir darauf bestehen, solche Anschauungen, wo immer sie auftauchen, als Perversion zu kennzeichnen. Für uns hat Politik eine instrumentale, also dienende Funktion, und wenn wir es für nötig halten, auch den deutschen Gebildeten auf seine politische Verantwortung vorzubereiten, und sein Verharren im unpolitischen Raum als Versagen bezeichnen, so muß uns doch alles daran gelegen sein, daß damit nicht eine Abwertung oder Umdeutung der großartigsten Gestalten und Gestaltungen der deutschen Bildung verbunden wird, die während ganzer Epochen wesentlich unpolitisch gewesen ist. Der Gebildete muß seine politische Verantwortung wahrnehmen, der junge Mensch also dazu erzogen und vorgebildet werden, damit die Politik in die Ordnung komme, das heißt, daß sie nicht über den Menschen verfügt, sondern ihm dient, ihm ein menschliches Leben ermöglicht, wozu auch politikfreie Räume gehören. Den Primat der politischen Bildung statuieren, ihr die übrigen Bildungsgehalte unterordnen, hieße eine falsche Rangordnung einführen. Die Politik würde nicht zögern, den ihr dort zugesprochenen Rang auch realiter zu usurpieren. „Beheimatung im Geschichtsraum des Volkes“

Wir haben damit einen Sachverhalt berührt, der uns zum Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen werden und zum Geschichtsunterricht zurückführen soll.

Politik um der Politik, das heißt doch wohl: um der reinen Macht willen denaturiert die Politik. Politische Bildung und Erziehung wird also nur dort in der richtigen Weise geschehen können, wo ihre Grenzen gekannt und respektiert werden. Das heißt aber zugleich, positiv ausgedrückt: wo der unpolitische Grund, der das politische Handeln trägt, als tragfähig erfahren wird; wo der weite Raum des Un-und Vorpolitischen nach allen Richtungen kräftig durchlebt und als „Heimat“ in Besitz genommen wird.

Für diese Zusammenhänge hat Georg Picht vor kurzem ein eindrückliches Beispiel gebracht. Das Gespräch ging um die Bedeutung der Vaterlandsliebe für die politische Bildung und Erziehung. Picht vertrat mit Entschiedenheit den Standpunkt, zur Vaterlandsliebe erziehe man nicht dadurch, daß man erklärt, es sei die sittliche Pflicht des Staatsbürgers, von Vaterlandsliebe erfüllt zu sein. Mit der Liebe stehe es wie mit dem Vertrauen: man könne sie vielleicht wecken, aber nicht fordern. Geweckt aber werde die Vaterlandsliebe nicht durch politische Erziehung, sondern durch Wandern, durch ländliche Arbeit, durch Begegnung mit Menschen, mit Musik, mit Dichtung. Ein Volkslied, ein Gedicht von Mörike, ein Landschaftseindruck, eine Kirche bedeuteten mehr als Jahre der politischen Erziehung. Umgekehrt aber könne man mit sehr guten Gründen die These verfechten, daß die Vaterlandsliebe dadurch pervertiert worden ist, daß sie zum Ziel politischer Erziehung gemacht wurde. Wenn Vaterlandsliebe politisiert werde, dann entstehe Nationalismus. Das ist in der Tat eine für die politische Bildung und Erziehung grundlegende Bemerkung. Sie bestimmt nicht nur die politische Bildung als eine durchaus nüchterne Sache („erst mal zu wissen, was ein preußischer Landrat zu tun hat“ — vgl.den obigen Plan), sondern weist auch auf die durch nichts ersetzbaren unpolitischen Voraussetzungen der politischen Bildung hin. Und sie gilt auch, obwohl man den Einwand, hier werde nicht genügend zwischen „Heimat“ und „Vaterland“ unterschieden, nicht unterdrücken kann.

Nun hat aber der Raum des Unpolitischen viele Dimensionen; er ist vor allem ein geschichtlicher, ein durch Geschichte geprägter, von ihr ganz und gar durchtränkter Raum. Hierin mischen sich Politisches und Unpolitisches untrennbar. Politische Vorgänge, politische Entscheidungen und ihre Folgen gehen in den Lebenszusammenhang eines Volkes ein, lagern sich als Sedimente auf dem Grundgebirge ab und bilden neue Schichten. In diesem Vorgang entpolitisieren sie sich sozusagen und werden Teile des „natürlichen“ Bestandes eines Volkes, nicht mehr bezweifelbar, nicht mehr rückgängig zu machen — der Versuch schon ist Katastrophe.

Das geologische Bild bringt aber die Gefahr mit sich, den Sachverhalt zu verfälschen: von den Ergebnissen der geologischen Wissenschaft braucht das Leben nicht notwendig Kenntnis zu nehmen; die Geschichte jedoch schafft, zusammen mit einigen anderen Elementen, die Lebens-lust eines Volkes. Bildung ist daher von Wesen geschichtliche Bildung; ihr eigentliches Thema ist die Überlieferung; der Auftrag der Schule, jedenfalls der Höheren Schule, ist es, eine genügend große Schicht von jungen Menschen so zu bilden, daß sie von dieser Überlieferung durch-formt werden, sie tragen und ihre Kontinuität durch allen Wandel hindurch wahren können. Dieser primär unpolitische Auftrag hätte höchste politische Bedeutung: wird er nicht erfüllt, so ist unsere Lebensordnung von innen stärker bedroht, als irgendeine Bedrohung von außen es vermöchte.

Dieser Auftrag ist dem Geschichtsunterricht nicht allein übergeben, an ihm haben sämtliche Fächer teil; der Geschichtsunterricht aber in vornehmlicher Weise. Es leuchtet ein, daß dieser Auftrag über den der „Orientierung“, von dem wir zum Anfang gesprochen haben, weit hinausgeht. Versuchen wir noch, ihn zu beschreiben. „Geschichtliches Gedächtnis"

Ein Mißverständnis wäre es zu vermuten, hier handle es sich nur um die Freude an der bunten Vielfalt der Vergangenheit, die es in vielen Formen, Graden und Tiefen gibt und die zu erwecken eine schöne Aufgabe des Geschichtsunterrichts ist. Wir stoßen hier vielmehr auf das Phänomen des geschichtlichen Gedächtnisses. Die Aufgabe der geschichtlichen Forschung und des Geschichtsunterrichts ist die Sicherung des nationalen Gedächtnisses Was heißt das?

Gedächtnis ist die Fähigkeit sich Vergangenes, früher Erlebtes, Erfahrenes, Erkanntes in diesem Augenblick wieder ins Bewußtsein zu bringen. Das aber nicht nur in automatischer Reaktivität auf irgendwelche Reize, sondern in artikulierbarem, deutlichem Wissen, in Kritik, Wertung, Zustimmung, ja Reue. Das Erinnerte hebt sich ab von mir selbst, wird Inhalt von Erkenntnis; Ich kann seinen Sinn erfassen, darin wirkende Täuschungen abscheiden, seine Wahrheit sogar gegen meine „Interessen“ herausarbeiten usw. Diesen Vorgang gibt es auch bei überindividuellen Einheiten, also z. B. bei den Völkern. Nur daß hier „Gedächtnis" Ergebnis einer systematischeren, methodischeren Anstrengung ist, als es gemeinhin bei Personen der Fall zu sein pflegt, der Anstrengung nämlich der seltsamen Zunft der Historiker. Sie wählen aus den unzähligen Ereignissen, die ein Volk betroffen haben, und aus seinen Taten und Erkenntnissen diejenigen aus, die ihnen behaltenswert dünken. Sie rechtfertigen ihre Auswahl, Anordnung und Gliederung und liegen darüber verständlicherweise auch oft miteinander im Streit; sonst gäbe es ja keine Zunft. Aber lassen wir die Frage nach der Richtigkeit ihrer Auswahl und ihrer Deutungen auf sich beruhen und nehmen wir an, ihre Prinzipien seien verläßlich. Dann wäre Geschichte zu verstehen als die Form, in der ein Volk das Gewordene und nun Bestehende in sein Gedächtnis aufnimmt, oder auch: in der sich das Gewordene in seinem Gedächtnis als sinnvoller Zusammenhang (als schmerzliche Brüche solchen Sinnes) darstellt und zur Geltung bringt. Solches Sicherinnern kann niemals vollständig abgelöst werden vom jetzigen geschichtlichen Augenblick, denn nur von ihm aus bekomme ich das Gewesene, Getane, Geleistete gegenwärtig. Das nationale Gedächtnis, die Überlieferung kann geradezu definiert werden als die Weise, wie sich ein Volk in seiner Geschichte versteht, als die Form seines Selbstverständnisses und Selbstbewußtseins. Je intensiver, je reicher, je wahrer dieses Gedächtnis ist, je stärker also die innere Erfahrung der Geschichte, je fester und allgemeiner der Besitz der Geschichte, desto mehr ist ein Volk Nation. Je bruchstückhafter das Vergangene, dessen sich ein Volk erinnert, wenigstens in seinen tragenden und führenden Schichten erinnert, desto gefährdeter ist seine Existenz als Nation, desto unsicherer ist sein politisches Handeln.

Politik als vernünftiges, wirklichkeitsgemäßes, ethisches Handeln setzt das geschichtliche Gedächtnis voraus. Es bewirkt, daß die einzelne Handlung sich in einen größeren Zusammenhang fügt, sich aus ihm begründet, also aus der diskontinuierlichen Punktualität herauskommt und damit erst geschichtliche Dignität gewinnt. Wer geschichtlich richtig handeln will, muß sich das nächst Vergangene gegenwärtig machen, so in seinen Zusammenhang treten und der geschichtlich bestimmten Gesamtabsicht inne werden. Nur so entsteht auch Zusammenhang mit dem Künftigen. Vorentwurf ohne Erinnerung ist nicht möglich. Und auch das Unvorhergesehene kann mit einer gewissen Sicherheit, ohne Aufgabe oder Verlust der Kontinuität und also der geschichtlichen Person, die ein Volk darstellt, ohne das uns heute in der Tiefe unserer geschichtlichen Existenz bedrohende Schicksal der Diskontinuität (Piccard) nur aus der Verwurzelung in der Geschichte, also vom geschichtlich Gebildeten bewältigt werden. Der politische Vorentwurf ist Spiegelbild des nationalen Gedächtnisses — erinnern Sie sich an Seeleys These, daß Geschichte „should modify his forecast of the future“. Er wird umso klarer, instinkt-sicherer, risikofreier sein, je sorgfältiger, je genauer in ihm die Erfahrungen der Vergangenheit, der Ertrag der geschichtlichen Besinnung berücksichtigt sind. Geschichtliche Bildung hat also für das politische Handeln die Funktion der Lebenserfahrung für den reif gewordenen Einzelnen. Allerdings kann der politisch Handelnde durch die Last der Geschichte auch beschwert, in seiner Produktivität und Entschlußfähigkeit gehemmt, ja am Tun des hier und heute Notwendigen gehindert werden: Historismus im geschichtlichen Denken, Restauration in der politischen Wirklichkeit. Immerhin scheint die moderne deutsche Geschichte zu zeigen, daß die Gefahr, außer Zusammenhang mit der vergangenen Geschichte zu geraten, wenigstens ebenso groß ist wie die, infolge der Gebundenheit ans Gewesene die Zukunft zu verfehlen. Daraus kommt das Unstete unserer deutschen Geschichte, der Mangel an einer tragenden Geschichtsgestalt. Geschichtliche Gestalt entsteht nur, wenn im Gang eines Volkes durch die Geschichte die sich knüpfenden Zusammenhänge nicht ständig wieder abreißen. Man muß sehen, daß dieses Schicksal geschichtliche Bildung in Deutschland aufs äußerste erschwert. Umso bedeutsamer ist die Aufgabe des Geschichtsunterrichts, umso nötiger die Arbeit auch unseres Verbandes für den Geschichtsunterricht und die geschichtliche Bildung.

Fassen wir zusammen. Geschichtliche Erinnerung und politischer Vorentwurf, sie beide erst schaffen den Zusammenhang, in dem ein Volk sich der Einheit, und das heißt auch: des Sinnes seines Daseins bewußt wird und ständig neu zu vergewissern gezwungen ist. Je stärker sich durch das geschichtliche Gedächtnis die fundamentalen Gehalte und Entscheidungen der Vergangenheit in der jeweiligen politischen Situation zur Geltung bringen, desto sicherer werden die Entscheidungen sein, die in die Zukunft gehen. Das gilt gerade auch dann, wenn Entscheidungen verlangt werden, für welche die Maßstäbe der Vergangenheit nicht mehr ausreichen. Das Wagnis, das mit jedem wesentlichen Entschluß verbunden ist, wird nur verantwortet werden können, wenn ein klares Bewußtsein von dem vorhanden ist, was damit aufgegeben wird — und was unaufgebbar ist, also in die Zukunft eingebracht werden muß.

Der Geschichtsunterricht der Schule ist eines der Organe des geschichtlichen Gedächtnisses eines Volkes, vielleicht nicht das wichtigste — das ist die geschichtliche Forschung —, aber doch wohl das wirksamste. Nur insoweit es ihm gelungen ist, die junge Generation im Geschichtsraum des Volkes zu beheimaten, wird die politische Bildungsarbeit auf einem tragfähigen Grund bauen können. Die Tradition als vorwissenschaftliches Überlieferungswissens eines Volkes genügt gerade in Deutschland dafür nicht.

Daß „Beheimatung im Geschichtsraum des Volkes“, daß „geschichtliches Gedächtnis“ nicht gleichbedeutend ist mit einem Schulsack, prall gefüllt mit historischem Einzelwissen; daß das hier gemeinte „Gedächtnis“ nicht die Aufforderung zur Rückkehr zum Gedächtnisdrill eines früheren Geschichtsunterrichts heißt, mag zur Vermeidung von Mißverständnissen immerhin gesagt sein. Wir werden im Gegenteil noch lange arbeiten müssen, um Klarheit darüber zu gewinnen, welches die Kategorien der Auswahl aus dem geschichtlichen Stoff und die Methoden sind, mit denen ein lebendiges nationales Gedächtnis gewonnen und gesichert werden kann. Daß dieses Werk nicht leicht ist und dafür eine längere Zeit gemeinsamer Arbeit und gründlicher Überlegungen angesetzt werden muß, haben wir in den vergangenen Monaten wieder erfahren. Für die geschichtliche wie die politische Bildung gibt es kaum dringlichere Voraussetzungen.

Anmerkung:

Dr. Felix Messerschmid, geb. 1904, philologisches und historisches Studium, 1928/29 Dr. phil. und Staatsexamen, Lehrer an Höheren Schulen. Seit 1948 Direktor der Akademie für Erziehung und Unterricht Calw. Mitglied des „Deutschen Ausschusses für das Erziehungs-und Bildungswesen", Vorsitzender des „Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands".

Professor Dr. Erich Weniger, Direktor des Pädagogischen Seminars in Göttingen. Lehrgebiet: Pädagogik, Didaktik der Geisteswissenschaften, Sozialpädagogik. Vorsitzender des „Deutschen Ausschusses für das Erziehungsund Bildungswesen." Geb. 11. 9. 1894 in Steinhorst, Kreis Gifhorn.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Mann mit dem goldenen Schlüssel. Deutsche Übersetzung Freiburg 1952. S. 279 f.

  2. Die Aufstellung ist ein Ergebnis der Arbeit des Ausschusses für staatsbürgerliche Erziehung Baden-Württemberg.

  3. Idi bleibe um der Einfachheit und Klarheit des Gedankenganges willen bei der Nation. Selbstverständlich ist damit die Frage der über die Nation hinauszuführenden Aufgaben des Geschichtsunterrichts überhaupt nicht berührt.

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