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Die Kulturpolitik der Sowjetzone | APuZ 47/1955 | bpb.de

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APuZ 47/1955 Die Kulturpolitik der Sowjetzone

Die Kulturpolitik der Sowjetzone

Jürgen Rühle

Die Rolle der Kultur im bolschewistischen System

Inhaltsverzeichnis

Derjenige, der sich unter kommunistischer Kulturpolitik das vorstellt, was man früher als „Kulturbolschewismus“ bezeichnete, geht ganz fehl. Mit avantgardistischer Kunst, überzüchtetem Intellektualismus, Kosmopolitentum, freier Liebe und was man sonst alles den Kommunisten in die Schuhe schob, hat die Realität eines kommunistisch gelenkten Kulturbetriebes nichts zu tun. Im Gegenteil: viel eher ist die heutige kommunistische Kulturpolitik mit derjenigen der ärgsten Bekämpfer des „Kulturbolschewismus“, mit der der Nationalsozialisten zu vergleichen.'In den Grundsätzen wie in den Erscheinungen finden sich zwischen beiden erstaunliche Übereinstimmungen und Parallelen.

Kommunisten wie Nationalsozialisten haben ein totalitäres gesellschaftliches System entwickelt, in dem alles der Aufrechterhaltung der Macht dient. Sowjetzonen-Ministerpräsident Grotewohl erklärte am 31. August 1951: „Literatur und bildende Künste sind der Politik untergeordnet. Die Idee der Kunst ntuß der Marschridttung des politisdten Kampfes folgen.“

Diese Forderung ergibt sich zwangsläufig aus dem Charakter eines totalitären Staates, dessen Macht eben darin besteht, daß er jede Lebens-regung seiner Bürger kontrolliert und ausrichtet. Über die Nationalsozialisten spottete der Volksmund, daß sie selbst die Kaninchenzüchter in einem „Reichsbund“ organisierten. Die kommunistische Wirklichkeit hat dies längst übertroffen: Man lese nur die Sportberichte in den Zeitungen oder das Organ der Briefmarkensammler „Sammlerexpreß“, besuche eine Versammlung der Sektion „Natur-und Heimatfreunde“ des Kulturbundes oder lasse sich erzählen, wie die Freizeitgestaltung in den Ferienheimen aussieht — es gibt keinen Winkel des Lebens mehr in der Sowjetzone, der nicht durch und durch politisiert worden ist. Jede Klassikerausgabe ist mit einem kommunistischen Nachwort versehen, jedes Bild, das nicht direkt oder indirekt für den Kommunismus Stellung bezieht, wird der „Flucht aus der Wirklichkeit“ beschuldigt, jede wissenschaftliche Arbeit bedarf der politischen Begründung und Legitimation, um finanziert zu werden, und vom zartesten Alter an sind die Kinder einer lückenlosen kommunistischen Agitation ausgesetzt. Wenn der Staat große finanzielle Mittel für kulturelle Zwecke auswirft, so hat er niemals die Absicht, Kunst und Wissenschaft um ihrer selbst willen zu fördern und den breiten Massen Bildungsgüter zu vermitteln, sondern einzig und allein, Propaganda zu treiben.

Dieses Prinzip, das Kommunismus wie Nationalsozialismus gemeinsam ist, führt demgemäß auch zu den gleichen, übereinstimmenden Konsequenzen: der Staat fördert, was ihm nützlich, und merzt aus, was ihm überflüssig oder störend erscheint, er . zwingt Künstler und Wissenschaftler zu bedingungsloser Ergebenheit oder zum Verstummen, moderne Kunst und Musik diffamiert er als „entartet“ bzw. -„formalistisch“, die Erkenntnisse der Relativitätstheorie und der Psychoanalyse werden verfemt, hier als „jüdisch“, dort als „imperialistisch“ (trotzdem aber in der Praxis ausgenutzt), die Architektur muß einem konventionellen klassizistischen Kanon folgen usw. Es ist unter diesen Umständen nicht verwunderlich, wenn 1951 in der Ostberliner Ausstellung „Künstler schaffen für den Frieden“ ein Bild den besonderen Beifall der Parteizeitungen finden konnte, das sein Maler Rudolf Werner schon unter Hitler im Haus der Kunst in München ausgestellt hatte, wenn Grotewohl sich 195 3 bei der Eröffnung der „ 3. Deutschen Kunstausstellung“ in Dresden für ein Gemälde begeisterte, das nach einem Foto nationalsozialistischer Pimpfe gemalt war, wenn ein hoher HJ-Führer aus der ehemaligen Reichsjugendführung, Zander, der heute den kulturpolitischen Teil der Ostberliner „Nationalzeitung“ leitet, 1954 zu antisemitischen Exzessen gegen den Theaterregisseur Kortner auffordern durfte usw. usf.

Es kann unter dem kommunistischen Regime genau so wenig eine echte Kunst und eine objektive Wissenschaft geben wie unter dem Nationalsozialismus. Nichts fürchtet das Terrorregime so wie die Wahrheit, von der aber alle Kultur untrennbar ist. Nach der Oktoberrevolution 1917 hat es in Rußland eine bedeutende revolutionäre Kultur gegeben: auf dem Gebiet der Dichtung (Gorki, Majakowski,. Scholochow), des Films („Panzerkreuzer Potemkin", „Sturm über Asien“), des Theaters (die Regisseure Meyerhold, Tairow, Wachtangow, Stanislawski), der Pädagogik (Makarenko) und in verschiedenen Zweigen der Wissenschaft. Nach Beendigung der revolutionären Phase, die bei allen Schrecknissen doch auch mächtige kulturelle Energien freisetzte, und nach der Konsolidierung des stalinistischen Machtstaates in den dreißiger Jahren verschwanden die kulturellen Leistungen ganz; die Kunst entartete zu Pro-pagandakitsch primitivsten Niveaus, Philosophie und Wissenschaft wurden genormt und gedrosselt. Auch die bekannten Schriftsteller und Künstler kommunistischer Tradition, die in der Sowjetzone wirken, wie Brecht, Becher, Seghers, Hermlin, auch Arnold Zweig, haben in den letzten Jahren, in denen sich die kommunistische Kunstdiktatur voll entfaltete, keine oder nur unbedeutende Werke hervorgebracht.

Von seiner strengen Doktrin kann der totalitäre Staat nicht einen Zentimeter abweichen, will er nicht sein ganzes System aufweichen und gefährden — jede von ihm nicht dirigierte künstlerische oder wissenschaftliche Leistung muß seinen Bürgern die Augen öffnen über die Unrecht-mäßigkeit und Abscheulichkeit seiner Existenz und die Fragwürdigkeit seines historischen Anspruchs. Andererseits entlarvt ihn aber das vernichtende Niveau seiner Kultur nicht weniger. In diesem Widerspruch zwischen der Möglichkeit einer wahrhaftigen, aber das System gerade dadurch schädigenden, und einer parteitreuen, doch banalen und abstoßenden Kultur windet sich das kommunistische Regime hin und her und findet keinen Ausweg: In Konfliktfällen hat es sich stets für Machtpolitik statt für Toleranz entschieden.

Die Steuerung aller kulturellen Regungen durch die Partei

Auf den ersten Blick hin mach das Kulturleben in der Sowjetzone einen Eindruck wie in jedem anderen Land. Es gibt ein Kultusministerium, Akademien, Fachverbände, Kongresse, Diskussionen; die Intellektuellen gehen ihrer Arbeit nach, ohne sich parteipolitisch binden zu müssen und werden nur selten von einer direkten Zensur behelligt. Das Erstaunliche ist aber, daß dennoch das Kulturleben völlig genormt in Erscheinung tritt und an eine unabhängige, freie kulturelle Tätigkeit gar nicht zu denken ist. Der Kommunismus bedient sich zur Ausrichtung seines Kulturlebens eines komplizierten, aber wirksam arbeitenden Mechanismus’.

Die oberste Instanz für die Sowjetzonenkultur sind die Sowjets. Daran hat auch die formale Auflösung der Besatzungsbehörden in Karlshorst nichts geändert. Nicht nur, daß sich die SED peinlich genau nach dem sowjetischen Vorbild richtet, die Russen haben auch administrativ die Lenkung der sowjetzonalen Kultur fest in der Hand. Der MWD-Apparat, der unterirdisch die ganze Zone durchzieht, besitzt eine besondere Sektion, die sich mit kulturellen Dingen beschäftigt. Die mit dieser Aufgabe betrauten sowjetischen Offiziere und Beamten treten allerdings nie öffentlich hervor, sondern üben ihre Anleitung vermittels deutscher Funktionäre und Agenten aus. Die wesentliche Vermittlerrolle spielt dabei das Zentralkomitee der SED, und zwar weniger die aus etwa sechzig prominenten Parteigenossen bestehende Körperschaft dieses Namens, die lediglich repräsentative Funktionen ausübt, als vielmehr der um diese Institution gruppierte bürokratische Apparat. Stellt man diesen hintergründigen Aufbau in Rechnung, dann begreift man einige charakteristische Widersprüche im Mechanismus kommunistischer Kulturpolitik, die dem unbefangenen Betrachter ganz unerklärlich sind: In den Abteilungen des ZK, die praktisch alle Direktiven für die Kulturpolitik der Sowjetzone ausgeben, sitzen in der Regel ganz unscheinbare, nichtige, unselbständige Funktionäre, die den Gegenstand, über den sie zu bestimmen haben, kaum selbst übersehen — sie sind nichts als das Sprachrohr sowjetischer Hintermänner, die ihnen ihre Anweisungen unter vier oder sechs Augen übergeben. Der höchstangesehene Mann derSowjetzonenkulturpolitik; Johannes R. Becher, Minister für Kultur, Präsident des Kulturbundes und der Akademie der Künste, zweifacher Nationalpreisträger und Stalinfriedenspreisträger, besitzt gegenüber diesen subalternen Funktionären im Apparat des ZK, denen er als berufenes Mitglied des ZK auch im Parteirang weit überlegen ist, nicht die geringste Autorität. Beispielsweise versprach er im Winter 1954 zusammen mit Brecht bei einem seiner Westberliner Gespräche einen Artikelaustausch zwischen der östlichen „Neuen Deutschen Literatur“ und dem westlichen „Monat“, mußte dies aber sofort nach Berichterstattung bei der Partei widerrufen. Als er 1954 das von den Erfurter Parteiinstanzen erlassene Verbot einer Aufführung des „Prinzen von Homburg“ von Kleist aufheben wollte, weil er den peinlichen Eindruck dieser Maßnahme im Westen fürchtete, scheiterte er am Einspruch der ZK-„Apparatschiks".

Im Sinne der sowjetischen Richtlinien pflegt das Zentralkomitee Beschlüsse zu fassen, die durch Reden der obersten Parteiführer und Kampagnen aller Parteizeitungen erläutert werden. Die Diskussion, die in diesem Zusammenhang ins Leben gerufen wird, ist genauestens präpariert; abweichende Meinungen werden sehr spärlich veröffentlicht, und auch nur, um sofort widerlegt zu werden. Besonderer Autorität erfreuen sich dabei die Stimmen sogenannter „Werktätiger“, d. h. solche von Parteifunktionären und „Volkskorrespondenten“ aus den Betrieben, die die von der Parteiführung gewünschte Auffassung „spontan als Meinung des Volkes ausgeben. Im Zuge solcher Kampagnen werden mißliebige oder mit der Entwicklung in Widerspruch geratene Persönlichkeiten diffamiert und andere, die opportun sind, besonders gefeiert. Die Folge der Aktion ist, daß der aus Tausenden von Funktionären bestehende, bis in die abgelegensten Winkel des Landes verästelte Staats-und Parteiapparat die Direktiven umgehend und buchstäblich verwirklicht, ja, im allgemeinen noch bis ins Sinnlose übersteigert. Über die Intellektuellen, die von der Welle erfaßt werden, bricht eine Flut von Schikanen, Demütigungen, Repressalien herein, so daß ihr Schaffen bald gestoppt ist und sie sich bitterster Not und Vereinsamung ausgesetzt sehen. In hartnäckigen Fällen wird der Staatssicherheitsdienst herangezogen, da künstlerische, wissenschaftliche oder philosophische Abweichungen in den Augen der Kommunisten stets auch politische und staatsbürgerliche Vergehen sind.

Ein klassisches Beispiel für diese Praxis war das Vorgehen gegen die zeitgenössische bildende Kunst in der Sowjetzone, die als „Formalismus“ verfemt und an die sowjetische Propagandakunst angeglichen werden sollte. Den Auftakt bildeten 1951 mehrere besonders aggressive Artikel unter dem Leitartikel-Pseudonym N. Orlow in der sowjetamtlichen „Täglichen Rundschau“, in denen die angesehensten deutschen Künstler, so Käthe Kollwitz, Barlach, Hofer u. a. als „Wegbereiter des Imperialismus“ verleumdet wurden. Zu diesen Aufsätzen, die insgeheim von Moskau initiert wurden, trugen Agenten der sowjetischen Besatzungsmacht wie Dipl. -Ing. Magritz u. a. das Material zusammen. Die SED ließ diese Ansichten sofort durch ihren Kunstkritiker Girnus im Zentralorgan „Neues. Deutschland“ weiterverbreiten und zum Teil noch verschärfen. Das Zentralkomitee faßte einen entsprechenden Beschluß, der einen Rattenschwanz aller möglichen administrativen Maßnahmen nach sich zog: Umorientierung der staatlichen Aufträge und Ankäufe, beispielsweise wurde der schon akzeptierte Entwurf zum Buchenwald-Denkmal von Bildhauer Cremer auf Grund eines Artikels im „Neuen Deutschland“ verworfen, dafür aber Unsummen für ein Thälmann-Denkmal ausgeschüttet, das niemals fertig geworden ist; die Kulturredaktionen „Sonntag“ und „Berliner Zeitung“ wurden gemaßregelt, die Zeitschrift „Bildende Kunst“ unter direkte staatliche Kontrolle genommen; bei der Dresdner Kunst-ausstellung wurden von Vertretern des ZK unliebsame Bilder in der Nacht vor der Eröffnung hinausgeräumt; in den mitteldeutschen Museen die Expressionisten wie zur Nazizeit in die Keller verstaut; Wandbilder wie das von Prof. Strempel im Bahnhof Friedrichstraße übertüncht; ein Dozent der Kunsthochschule Giebichenstein gemaßregelt, weil seine Schüler verfaulte Fische gemalt hatten usw. Die bekannten Künstler Strempel, Theo Otto, Mart Stamm, Knipsei u. a. flüchteten aus der Sowjetzone, die anderen von Rang zogen sich in die innere Emigration zurück. — Ähnliche Kampagnen wurden gegen neue Musik (Orffs „Antigone", Brecht/Dessaus „Lukullus“), die Bauhaus-Architektur, die Genetik, die Psychoanalyse und viele andere unbequeme Richtungen auf allen nur denkbaren Gebieten unternommen. Auch im Jahre 195 5 fanden solche Aktionen gegen die Frühjahrsausstellung der Akademie der Künste, zur Ausrichtung der Kulturzeitschriften und Kulturredaktionen und gegen allzu großzügigen gesamtdeutschen Kulturaustausch statt, vom Sekretär des ZK, Paul Wandel, selbst geleitet.

Diese für die prinzipiellen Fragen der kulturellen Entwicklung festgelegte Parteidiktatur führt praktisch zur Einmischung der SED in die nichtigsten Angelegenheiten und zu fortgesetzten Überspitzungen. So beschäftigte sich die Regierung 195 2 sogar mit der Frage, ob auf einem vom Staate in Auftrag gegebenen Wandbild von Prof. Lingner der in den Mittelpunkt gestellte „fortschrittliche Intellektuelle" einen glatten oder einen gestreiften Schlips tragen sollte. Das Parteipräsidium der SED beschloß 1955, daß die restaurierte Staatsoper mit den „Meistersingern" statt mit dem „Fidelio" eröffnet wird, weil in Beethovens Werk ein provozierender Gefangenenchor vorkommt, und ließ auch selbst die Inschrift „Fridericus Rex Apollini et Musis“ abreißen. Wenn schon bei den höchsten und qualifiziertesten Staatsfunktionären solche haarsträubenden Beckmessereien vorkommen, kann man sich vorstellen, wie das dann bei den örtlichen Funktionären aussieht.

In allen kulturellen Instituten und Verbänden sitzen Genossen, die den Beschlüssen ihrer Partei unterworfen sind und zur Rechenschaft gezogen werden können. Deshalb gibt es für einen Intellektuellen keine Arbeitsmöglichkeit unabhängig von der Partei; die Aufsplitterung der kulturpolitischen Instanzen in die verschiedensten Ämter, Kommissionen, Akademien und die scheinbare Selbständigkeit der Verlage, Theater, Orchester darf darüber nicht hinwegtäuschen. Außerdem gibt es aber noch eine notdürftig verhüllte direkte Zensur:

Soll ein Buch erscheinen, muß das „Amt für Literatur“ Expose und Vertrag genehmigen, ehe der Verlag seinen Autor an die Arbeit setzen kann. Das Amt überprüft auch genauestens das fertige Manuskript und teilt je nach dem politischen Wert des Buches das Papierkontingent zu (das Verfahren wird mit dem notwendigen Schutz vor faschistischer und militaristischer Literatur begründet, kommt aber auf eine kommunistische Normung hinaus). — Die Chefredakteure der Zeitungen werden täglich zu einer Presselenkungskonferenz zusammengerufen, auf der Richtlinien erteilt und Kritik geübt werden. — Die Hauptverwaltung Film begut. achtet jedes Drehbuch und zensiert aus dem Ausland importierte Streifen, z. B. schnitt es 1953 bei der „Ehrbaren Dirne“ den Schluß weg, weil die Rettung des Negers nicht zur Parteilegende über die USA passen wollte.

Dennoch kommt es vor, daß Bücher noch nach ihrem Druck eingestampft werden, wie 195 5 der amerikanische gesellschaftskritische Roman „Söhne der Nacht“; Filme nach ihrer LIraufführung aus dem Spielplan genommen werden, wie seit 1951 der antifaschistische, tief humanistische Film „Das Beil von Wandsbek“ von Arnold Zweig und Falk Harnack; daß Zeitungen beschlagnahmt werden, so 1953 der „Sonntag“, weil er ein mißlungenes Plakat mit dem Kopf von Ulbricht als „scheußliches Machwerk" bezeichnet hatte usw. Der Mechanismus kommunistischer Kulturpolitik ist aber im allgemeinen so durchorganisiert, daß derartige Pannen sehr selten sind. Die Steuerung vollzieht sich in der Regel geräuschlos. Viele Kulturschaffende sind sowieso schon dazu übergegangen, sich von vornherein einer Art „Selbstzensur“ zu unterwerfen, um sich die zeit-und nervenfressenden Zusammenstöße mit der Partei zu ersparen.

Das Ministerium Becher

Ein eigenartiges Phänomen der sowjetzonalen Kulturpolitik ist das Ministerium für Kultur, das von Johannes R. Becher geleitet wird. Schon formal ist sein Kompetenzbereich gering. Es gibt im Kulturleben der Zone außer diesem Ministerium noch folgende selbständige staatliche Institutionen: Ministerium für Volksbildung, Staatssekretariat für Hochschulwesen, Presseamt, Amt für Kirchenfragen, Amt für Literatur, Amt für Denkmalspflege, Staatliches Rundfunkkomitee, Hauptverwaltung Film, Akademie der Wissenschaften, Akademie der Landwirtschaftswissenschaften, Bauakademie, Kammer der Technik u. a. Aus dieser Aufzählung ersieht man, wie wenig Becher zu verwalten hat. Dem Ministerium bleiben die Ressorts: Darstellende Kunst, Bildende Kunst, „Massenkulturarbeit“ und Volkskunst. Mit den anderen Institutionen gemeinsam ist dem Ministerium, daß es selbst in dem ihm nominell zugestandenen Bereich nicht mehr als die Rolle des Befehlsübermittlers und Subventionen-verteilers zu spielen hat. Deshalb begnügte man sich auch bis zum Jahre 195 3 mit einer schlichten „Kunstkommission“, der unbedeutende Funktionäre vorstanden. Die Gründung des’ Ministeriums unter Becher ist nur aus den besonderen Verhältnissen der Entstehungszeit verständlich, die wir kurz umreißen wollen.

Nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 195 3 hatten sich auch die Intellektuellen der Zone ein Herz gefaßt und von der Regierung eine Beseitigung ihrer Bedrückungen gefordert. Die repräsentativsten kulturellen Gremien der Sowjetzone, die Akademie der Künste und der Präsidialrat des Kulturbundes, die beide von Becher geleitet werden, nahmen Resolutionen an, aus denen wir einige Kernsätze zitieren wollen: „Jede wissensdiaftlidie Ansicht und künstlerisclte Auffassung wufJ in echter Gleichberechtigung die Möglichkeit zur geistigen Auseinandersetzung erhalten. Die administrative Einmischung staatlicher Stellen in die schöpferischen Fragen der Kunst und Literatur muß aufhören. Die staatlichen Organe sollen die Kunst in jeder nur denkbaren Weise fördern, sich aber jeder administrativen Maßnahmen in Fragen der künstlerischen Produktion und des Stils enthalten. Die Kritik muß der Öffentlichkeit überlassen bleiben. Die eigene Verantwortung der Schriftsteller und Verleger, der bildenden Künstler, der Leiter der Theater und Orchester in den Fragen des künstlerischen Schaffens ist zu sichern.

Die Verantwortlichkeit des Journalisten muß wieder hergestellt werden. Die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und Lehre ist gemäß der Verfassung der DDR zu sichern

Die Selbständigkeit des Lehrers im Unterricht ist gegen kleinliche Angriffe und schematisdte Vorschriften zu sichern usw. usf."

Das Aussprechen dieser für einen in der freien Welt lebenden Menschen selbstverständlichen Forderungen sah die SED als ein Staatsverbrechen an. Das „Neue Deutschland“ schrieb dazu: „Nach den Forderungen und Vorschlägen der Akademie könnte es so aussehen, als ob nicht der amerikanische Imperialismus der Feind der deutschen Kunst ist, sondern unser Staat. Denn nicht die Einmischung des amerikanischen Imperialismus in die Angelegenheiten der deutschen Kunst verbittet sich die Akademie, sondern die Einmischung unseres Staates.“

Auf Grund solcher scharfen Angriffe der Partei fiel eine kleine Gruppe von Parteiliteraten sofort um, nämlich der Kreis um Johannes R. Becher, und beeilte sich, alle Forderungen der Intelligenz sofort wieder preiszugeben. Bechers Stellvertreter Abusch schrieb im Organ des Kulturbundes „Sonntag": „Haben nun der Kulturbund oder die Akademie mit ihren Vorschlägen auf dem Gebiete der Kunst versucht, die Rolle des Staates zu beeinträchtigen oder gar zu liquidieren? Nirgends wurde eine Neutralität unseres Staates in den Fragen der Kunst gefordert. Was vorgescltlagen wurde, zielt darauf, unseren Staat noch mehr zu befähigen, echte Methoden der Anleitung und Förderung im Sinne einer wahrhaft nationalen und demokratischen Kunst anzuwenden . . . Die ganze Diskussion über diese Fragen setzt voraus, daß wir unseren Staat als das Machtinstrument der Arbeiterklasse und der mit ihr verbündeten anderen fortschrittlichen Kräfte des Volkes erkennen. Als Partei der Arbeiterklasse ist die SED die führende Regierungspartei und zugleich die führende ideologische Kraft in unserem Staat. .

Dieser offene Verrat an den Interessen der Intellektuellen blieb nicht ohne Lohn. Um bei den Intellektuellen eine gewisse Beschwichtigung zu bewirken, kam das Politbüro auf die Idee, die allzu verhaßte Kunstkommission aufzulösen und ein Ministerium unter Becher und Abusch zu gründen, da diese Genossen als Mitautoren der Protestresolution im Geruch des Liberalismus standen, andererseits sich aber der Partei gegenüber ergeben genug gezeigt hatten. Sie haben denn auch das Vertrauen ihrer Partei nicht enttäuscht. Wohl muß man Becher zuerkennen, daß er sich an verschiedenen Stellen um Milderung bemüht hat, aber viele Beispiele unserer Abhandlung werden zeigen, wie wenig diese Bemühungen gefruchtet haben. Noch im Oktober 1954 gab das Ministerium eine Programmerklärung heraus, in der es hieß:

„Der neue Kurs bedeutet die verstärkte eigene künstlerische Verantwortung aller schöpferisch tätigen Persönlichkeiten ..."

Aber schon im Juli 195 5 erklärte der Sekretär des Zentralkomitees der SED Paul Wandel in einer Rede vor Schriftstellern und Künstlern brutal: „Ich glaube, wir sollten weniger über Kursfragen diskutieren. Die werden tagtäglich in unserer Nähe auf den Wechselstuben der Schieber in Westberlin sehr leidenschaftlich diskutiert, und einige wollen scheinbar diese Diskussioneh auf die Ideologie bei uns übertragen . . . In der sicheren Orientierung unserer Künstler hat das Ministerium für Kultur noch den größten Rüdtstand."

Wandel rügte das Ministerium, weil „das Administrieren, auf das wir nicht verzichten, nämlich die Anwendung der staatlichen Macht der Arbeiterklasse auch auf dem Gebiet der Kunst, in letzter Zeit offensichtlich nicht in die nötige Richtung gelenkt wurde.“ Diese neue Direktive des Zentralkomitees nahm Minister Becher widerspruchslos entgegen, derselbe Mann, der im Juni 195 3 die Forderung nach Aufhebung jeglicher Administration an erster Stelle unterschrieben hatte. Kein Wunder, daß der Sekretär des ZK zusammenfassend sagen konnte: „Der Beschluß zur Gründung des Ministeriums für Kultur hat sich als gerechtfertigt erwiesen, obwohl die Arbeit des Ministeriums noclt sehr unterschiedliclr und teilweise ungenügend ist.“

Die Berufung Bechers hatte allerdings noch einen anderen Grund. In seiner damaligen Rede zu diesem Akt erklärte Ministerpräsident Grotewohl ausdrücklich: „Mit der Nominierung eines solchen Mannes ist das Gesicht des Ministeriums auch sofort und aufgeschlossen nach dem Westen unseres Vaterlandes gerichtet.“

A Das sei „eine große Schwerpunktaufgabe“. Die joviale Figur des Partei-dichters, der aus der großbürgerlichen Boheme Münchens stammt und die expressionistische Literaturrevolte einst um einige der extra" vagantesten Gedichte bereichert hat, schien dem Zentralkomitee besonders geeignet, die ideologische Beeinflussung der westdeutschen Intelligenz zu übernehmen. Der eigentliche Daseinszweck des sowjetzonalen Kultusministers ist also seine Funktion als Aushängeschild nach außen wie nach innen. Bechers Unglück liegt darin, daß er auch dieser bescheidenen Rolle nicht gerecht werden kann, weil die Intellektuellen im Westen wie im Osten nicht mit Redensarten allein abzuspeisen sind. Mit Sorge erwähnte deshalb der Sekretär des ZK den Stand der Kultur-offensive: „Ernste Schlußfolgerungen gilt es für die gesamtdeutsche Arbeit zu ziehen. Es wurden kühne und richtige Schritte unternommen. Das Ministerium für Kultur hat vieles auf diesem Gebiet getan. Im letzten Jahr hat sich aber etwas geändert. Man blodziert nicht mehr so ausschließlich die DDR. Man kriecht durch den selbstgeschaffenen soge-nannten eisernen Vorhang, und zwar mit sehr hinterhältigen Absichten. Selbst das Kaiserministerium und ähnliche Stellen sprechen von der Förderung kultureller Beziehungen, und zwar mit der bewußten Absicht, sdiwankende Leute zu gewinnen und zu mißbrauchen. Daher gilt es in der Frage der gesamtdeutschen Arbeit wachsam zu sein. Die gesamtdeutsche Arbeit erfüllt nur dann einen Sinn, wenn sie dem Frieden und der Demokratie dient und nicht umgekehrt, wenn dadurch die Kräfte der Reaktion im Westen und in unserer Republik gefestigt werden . . . Einige starren so sehr nach dem Westen, daß sie bald Genickstarre bekommen!“

Hier offenbart sich das ganze Dilemma der SED in der Kulturpolitik. Macht sie in ihrer Zone echte Zugeständnisse an die kulturelle Freiheit und gestattet sie einen aufrichtigen gesamtdeutschen Kulturaustausch, so führt das unweigerlich zu einer Aufweichung des totalitären Macht-systems, auf dem die Herrschaft des Kommunismus in Mitteldeutschland beruht. Zieht sie hingegen die Zügel ihrer Diktatur an, um jede freiheitliche kulturelle Regung zu verhindern, wenden sich die Menschen von ihrem System ab, verlieren Kunst und Wissenschaft in ihrem Machtbereich alle Werbekraft, und die Propagandaoffensive nach dem Westen scheitert. Menschliche Kultur kann nur bei einem Mindestmaß an Freiheit gedeihen, das weit über dem liegt, was die Kommunisten zugestehen können — die Diktatur führt unweigerlich zur geistigen Versteppung.

Die kommunistischen Prinzipien in Kunst und Literatur

Das künstlerische Ideal der Kommunisten, auf das sie alle Kunst-schaffenden auszurichten versuchen, ist der sogenannte Sozialistische Realismus. Die kommunistischen Ästhetiker definieren ihn als „die historisch konkrete Widerspiegelung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung“. Mit anderen, etwas weniger umständlichen Worten: die Kunst soll das Leben schildern, so wie es sich aus der Sicht der Kommunisten darstellt. Das ist ihre propagandistische Aufgabe. Daraus ergibt sich, daß man von allen künstlerischen Äußerungen einen kommunistischen Inhalt und eine möglichst plausible, allgemeinverständliche formale Gestaltung erwartet. Thematisch stehen Aussagen über die Produktionsarbeit und den politischen Kampf im Vordergrund, man akzeptiert aber auch Landschaftsdarstellungen, die „die Schönheit des Vaterlandes zeigen“, Porträts der um den Staat verdienten Persönlichkeiten und dergleichen. Nach Möglichkeit soll ein Bild, mag es auch ein ganz unpolitisches Motiv haben, durch den Titel propagandistisch interpretiert werden: so zeigt beispielsweise ein bekanntes sowjetisches Gemälde Tauben fütternde Kinder unter dem Motto: „Auf der Wacht für den Frieden .

Desgleichen werden Musikstücke programmatisch ausgedeutet: ein sehr dissonanzenreicher Satz in Schostakowitschs jüngster, X. Sinfonie bestand vor den Ohren der Kritiker nur, weil sie ihn für eine Charakterisierung der imperialistischen Feinde hielt. In der Form liebt man das Akademische, Konventionelle, weil es die größte Publikumswirksamkeit verspricht. Deshalb ist der Naturalismus in der Darstellung besonders erwünscht, in der bildenden Kunst wird er bis zum sogenannten „Fotografismus“ getrieben. Alle modernen Ausdrucksformen sind streng verpönt.

Man versucht die Volkstümlichkeit noch besonders durch Rückgriffe auf Volkskunstelemente zu erhöhen. In diesen Zusammenhang gehört eine muffige Prüderie, die z. B. dazu führt, daß in den Ausstellungen so gut wie keine Aktdarstellungen gezeigt werden, und die Abneigung der sowjetzonalen Filmgesellschaft DEFA gegen Liebesszenen ist geradezu sprichwörtlich geworden.

Einige Beispiele mögen verdeutlichen, wie Tie Kommunisten an die Kunst herangehen. So schildert 1953 der sowjetische Schriftsteller Ehren-burg die charakteristische Fabel eines kommunistischen Romans: „In einem solchen Roman spricht der Verfasser unverzüglich von dem Beruf des Helden und der Heldin: sie arbeiten beide in der Stahl-gießerei. Die Heldin besitzt Kühnheit und verkörpert den Geist des Neubürgertums. Der Held ist ein ehrenhafter Mensch, aber er neigt zum Scltematismus. Die Heldin erfindet eine neue Produktionsmethode, durch die eine Ersparnis von sechs Prozent eintreten würde. Der Held glaubt nicht daran. Ausführlich sdüldert der Verfasser die Produktionsberatung, den gutmütigen alten Meister, der die Initiative der Heldin begrüßt, den skeptischen Ingenieur, der die Zweckmäßigkeit der neuen Methode bezweifelt, die Ankunft einer Zentralkommission, die Beratung im Gebietskomitee und schließlich den vollen Sieg der fortschrittlichen Idee. In tiefer Bewegung über diese Vorgänge beglückwünscht der Held die Heldin. Der Autor schildert, daß die Heldin dem Helden errötend antwortet: . Grisdta, jetzt müssen wir uns bei der Arbeit noch mehr ins Zeug legen/Im folgenden Kapitel erfahren wir zunächst, daß beide die Norm übererfüllt haben, und zweitens, daß sie einen Sohn bekommen haben. Wie sich herausstellt, haben sich der Held und die Heldin auch geliebt und haben geheiratet. Offen gesagt versetzt uns der Schrei des Neugebo: enen gelinde in Erstaunen...“

Aus dem Theaterstück „Elektroden“ (1954) des ostzonalen Nationalpreisträgers Karl Grünberg geben wir einen Ausschnitt aus dem vorangestellten Personenverzeichnis mit Regieanweisung: . EVELYN: Eine schöne, westlich-mondäne Frau, Anfang dreißig. Evelyns Wesensmerkmale sind: Lebenshunger, Koketterie, Geltungsdrang und Selbstsucht. In ihrer Stellung einerseits als Angestellte des amerikanischen Spionagebüros, andererseits als Vertraute und Geliebte des dortigen Chefs, hat sie reichlich Gelegenheit, diesen Neigungen zu frönen.

Mr. WESTINGHOUSE: Chef des getarnten Spionageinstituts in Dahlem. Ende der Vierzig. Sein Wesen ist amerikanisch selbstbewußt und überheblich, was er durch gekünstelte Jovialität zu mindern sucht. Dahinter verbergen sich Brutalität, Zynismus und eiskalte Berecknung. Er spricht ein fast fehlerloses Kattgummideutsch.

PROF. EURICH: Formeller Leiter des in Wirklichkeit von Westinghouse geleiteten „Technisclten Forschungsinstituts Dahlem“. Mitte fünfzig. Etwas korpulent mit frisdt rotem, harmlos wirkendem, ständig grinsendem Kindergesicht und halblangem, aber spärlichem weißen Haar. Er trägt auffallend hellgrauen Anzug, ebensolcl'ie seidene Krawatte, braune amerikaniscl'te Halbsdtuhe. Dieser Büroingenieur mit dunkler Nazivergangenheit verkörpert den Typ des beflissenen Adenauer-Mameludcen, der gegenüber seinen Brätdiengebern zu allen Schandtaten bereit ist.

Auf Anweisung des ZK hatte Kultusminister Becher im Sommer 195 5 den bildenden Künstlern klarzumachen, daß die Partei in den-Sujets eine stärkere Behandlung des kommunistischen Lebens wünsche. In Erkenntnis der Tatsache, daß die Künstler allen direkt politischen Themen nach Möglichkeit ausweichen, schlug er ihnen einen Kompromiß vor: „Wenn ich draußen herumfahre, dann staune ich direkt: warum fällt das keinem Maler ein? Feh bin ein Segler. Es segeln nicht mehr die alten Menschen. Das sind nicht die Söhne von Fabrikbesitzern, die sich diesen teuren Sport leisten. Kann man nidit in einem sold'ien Boot diese anderen Mensdren zeigen?“ Über die kommunistische Musik äußerte sich der berühmte sowjetische Komponist Chatschaturian 1954 in einem Artikel, den er aber sofort widerrufen mußte: „Wie oft hören wir unter Anwendung gewaltiger Orchestermittel monumentale Werke, die lautstimmig leeres kompositorisches Stroh droschen; dieses Stroh wurde mit einem gewichtigen, aktuellen, sidi hauptsädilid't in der programmatischen Verpadcung ausdrüd^enden Thema gewürzt ..."

Diese Beispiele, die man durch beliebig viele andere, nicht weniger krasse, ergänzen könnte, mögen genügen. Wir möchten zur Abrundung nur noch einen Begriff davon geben, wie unerwünschte Kunstrichtungen diffamiert werden. So schrieb 1951 die „Tägliche Rundschau“ über den großen Bildhauer Ernst Barlach: „Die Ideen, die er . . . verkörperte, drüdken im Wesentlidten die antidemokratisdien Ideen eines Teiles der deutschen Intelligenz aus. Seine eigenen und die aus seinem Schaffen abgeleiteten ästhetischen Theorien dienten zur Rechtfertigung einer ganzen Reihe von Künstlern, die wehrlos den antihumanistischen Tendenzen des Imperialismus erlagen . . . Seine Kunst ist . . . ihrem Inhalt nach mystisch und ihrer Form nadi antirealistisdd Sie ist . . . ein Beispiel für die Krise des Häßlichen in der Kunst.“

Die moderne westliche Architektur, die dem Prunkbedürfnis des Kommunismus nicht genügend entgegenkommt und deshalb als „Konstruktivismus“ bezeichnet wird, wurde vom „Neuen Deutschland“ 1952 als Ausdruck „imperialistischer Kriegsvorbereitung“ hingestellt: „Fällt eine Bombe, so werden die Scheiben und die Menschen hinausgepustet, die teure Stahfkonstruktion bleibt stehen; daher brauchen nur neue Scheiben und neue Mietzahler eingesetzt zu werden, der für die Kapitalisten entstandene Schaden ist gering.“

Als „sozialdemokratisch-reformistisch“ wurde vom Sekretär des ZK Wandel die Frühjahrsausstellung 195 5 der Ostberliner Akademie der Künste mit folgender Begründung bezeichnet: „Die Ausstellung ist alarmierend, weil sie grundlegende Mängel, die in unserem künstlerischen Sdtaffen vorhanden, sind, sehr deutlich aufzeigte. Sie war in vielen Fällen eine Widerspiegelung dessen, was politisch bei einem Teil sdtwankender Kreise der Intellektuellen zu verzeidtnen ist, ein Abseitsstehen, ein Abwarten, ein neutral sein wollen. Es fehlen nicht nur weitgehend brennende Themen, sondern, wenn sie sdton da sind, werden sie mit wenigen Ausnahmen auch ungenügend und fehlerhaft in Inhalt und Form behandelt.“

LInter dem Eindruck der Krise, in die das kommunistische Regime durch den Tod Stalins und den Volksaufstand vom 17. Juni im Jahre 195 3 geraten war, wurde, wie wir schon erwähnt haben, vorübergehend ein liberalerer Neuer Kurs eingeführt, der es den Künstlern ermöglichte, an der Strenge der Parteidoktrin eine gewisse Kritik zu üben und in etwas freierer Weise zu arbeiten. Dieser Neue Kurs wurde aber bald wieder gestoppt. Unsere Beispiele sind aus allen Phasen der kommunistischen Kulturpolitik bis in die neueste Zeit gewählt, sie zeigen, daß die grundsätzliche Linie trotz gelegentlicher taktischer Manöver unverändert verfolgt wird. Auf diese Tatsache legt auch die SED selbst großen Wert, ihr 1. Sekretär Ulbricht erklärte deshalb im Juni 195 5 nachdrücklich: „Manche von eudt werden sidt wundern, warum ich die Bezeichnung , Neuer Kurs“ nidit gebraudit habe. Die Bezeichnung der Korrekturen, die wir auf einigen Gebieten 1953 vorgenommen haben, als , Neuer Kurs'hat einige Genossen veranlaßt, falsche Theorien über die vorrangige Behandlung der Konsumgüterindustrie zu verbreiten. Auch auf ideologisdtem Gebiet zeigten sich merkwürdige Erscheinungen, die vielfadi bis heute nadiwirken. Es verstärkten sidi die Tendenzen der Neutralität gegenüber den Einflüssen der bürgerlidten Ideologie und der Verbreitung von Aberglauben. — Ich kann nidit umhin, den Leuten, die solchen Vorstellungen nachhängen, einen Zahn zu ziehen. Wir hatten niemals die Absidit, einen soldten falschen Kurs einzuschlagen ..."

Damit erledigen sich die Ausreden, die die SED-Intellektuellen meist vorbringen, wenn man ihnen die kulturpolitischen Mißstände in der Zone vorhält, es handele sich um alte Fehler, die man inzwischen eingesehen habe. Natürlich werden allzu unsinnige und provokative Maßnahmen gelegentlich auch revidiert, aber diese Erleichterungen werden durch immer neue, ganz ähnliche Eingriffe sofort wieder wettgemacht.

Die Kommunisten und das klassische Erbe

In ihrem Streben nach Legitimation haben die Kommunisten dem klassischen Kulturerbe der Menschheit ihre besondere Aufmerksamkeit zugewandt. Solange sie noch von ihrer ursprünglichen Vorstellung einer völligen sozialen Neuordnung der Welt durchdrungen waren, also in den ersten Jahren nach der russischen Oktoberrevolution, legten sie auf eine solche Anknüpfung keinen Wert, ja, verwarfen in letzter revolutionärer Konsequenz alle bisherige Kultur als reaktionär und klassenfeindlich. Als dann in der Stalinschen Phase die Legitimation des Kommunismus durch sich selbst, als angeblich menschheitsbefreiende Kraft, immer fragwürdiger wurde, trat die Tendenz, die repräsentativen kulturellen Traditionen für die kommunistische Propaganda auszunutzen, in den Vordergrund. In der Pflege dieser kulturellen Traditionen haben die Kommunisten sich zum Teil wirkliche Verdienste erworben. Die Instandhaltung von Kulturdenkmälern, die Herausgabe billiger Klassikerbände, die Ausschöpfung und Bewahrung, teilweise sogar Restauration von Werken und Äußerungen der Volkskunst kann nur begrüßt werden. Der kommunistische Staat, der über materielle Mittel großzügig verfügen kann, hat auf diesen Gebieten oft mehr geleistet als demokratische Länder. Für die Sowjetzone gilt das allerdings nur bedingt, weil hier der traditionspflegerischen Arbeit durch das unbedingte Primat der russischen und Sowjetkultur Grenzen gesetzt sind. Während die Sowjets großzügig zaristische Generale und Diplomaten, selbst Herrscher wie Iwan den Schrecklichen und Peter den Großen als Vorläufer feiern, für alle Erfindungen der Kulturgeschichte russische Priorität in Anspruch nehmen, müssen die sowjetzonalen Kulturpolitiker ständig lavieren, um dem Vorwurf „nationalistischer“, militaristischer“ und „kapitalistischer“ Tendenzen zu entgehen. Außerdem muß die kommunistische Kulturpolitik sorgsam darauf bedacht sein, daß die Bevölkerung aus den klassischen Werken stets die Folgerungen zieht, die dem Regime genehm sind, was nicht immer ganz einfach ist. Es gilt als Regel, Klassikerausgaben nie ohne Interpretation zu lassen.

Um diese Art der Interpretation zu erläutern, die in den obligatorischen Nacworten zu Büchern, in den ebenso unvermeidlichen Programmheft-Belehrungen bei Theater-und Musikaufführungen, in den Literatur-, Kunst-und Wissenschaftsgeschichten, im Unterricht der Schulen und Hochschulen in Erscheinung tritt, bringen wir einige wahllos herausgegriffene Beispiele:

ARISTOTELES: Die WeltaHsd'taitung des A. ist von dem Bestreben durchdrungen, die Gesellschaft und den Staat der Sklavenhalter zu konservieren und zu festigen. Seine Lehre vorn Staat stellt einen erfolglosen Versuch dar, die Sklaverei zu rechtfertigen. Das bei A.deutlich hervortretende Streben, den Klassencharakter des als Unterdrücker der Werktätigen fungierenden Sklavenhalterstaats zu verhüllen, bildet den Grundzug auch aller späteren, von Ideologen der Ausbeuterklassen aufgestellten Recl'tts-und Staatstheorien. Charakristisch für A. ist sein ständiges Schwanken zwischen Materialismus und Idealismus . . . (Große Sowjetenzyklopädie)

HEGEL: Die idealistische deutsche Philosophie vor und nach 1800, die in der Philosophie Hs. gipfelte, war eine aristokratische Reaktion auf die französische bürgerliche Revolution und den französisclten Materialismus. Sie widerspiegelte die tiefgehenden Widersprüdte in der kapitalistischen Entwicklung Deutschlands unter den Bedingungen der feudalen Rüclzständigkeit des Landes und wurde zum ideologischen Ausdrucl? für die politische Orientierung des deutschen Adels und des sich ihm anscldieflenden Teils der Bourgeoisie auf den soge-nannten preussischen Entwicklungsweg des Kapitalismus, auf dem die gutsherrliche Leibeigenenwirtschaft langsam in eine bürgerliche, junkerliche hinüberwächst und die Bauern für Jahrzehnte zur qualvollsten Expropriation und Schuldknedttschaft verurteilt. (Große Sowjetenzyklopädie)

GOETHE: Wir hatten schliefhidt gesehen, daß G. im Bunde mit den anderen Vertretern unserer Klassik die geschiditliche Aufgabe der endgültigen Herausbildung einer gesamtdeutschen Nationalkultur dadurdi löste, dass er die in der zersplitterten deütsdren Volkskultur enthaltenen demokratisdten Elemente zur Höhe der gesdüditlichen Aufgabenstellung emporbildete . . . Diese prinzipielle Orientierung auf den produktiven Bestandteil der Volkskultur war richtig. Dieses Werk zu: vollenden, denn es wurde von der Klassik und von G. nidit konsequent zu Ende geführt, aber gerade auch die sozialistischen Keime, die, wie Lenin nadtgewiesen hat, in jeder Volkskultur enthalten sind, zur Höhe der heutigen gesdiidrtlichen Aufgaben emporzuheben . . ., ist die grosse Aufgabe des Tages für unsere Kunst. (Girnus: G., der größte Realist deutscher Sprache)

BACH: Bs. große Bedeutung liegt darin, daß er die kirchlichen Fesseln der Musik sprengte und an die Stelle toter Formeln menschlidtes Erleben und Empfinden setzte, worin die bürgerliche humanistische Opposition gegenüber der untergehenden Feudalgesellsdtaft zum Ausdrud? kam. Bs. große nationale Bedeutung liegt darin, daß er, eng mit dem Volke verbunden, Volkslied und Volkstanz in seinen Melodiensdtatz verwob und durdi die Verarbeitung von Volksliedern und anderen weltlichen Melodien zu Chorälen und zu anderer Kirchenmusik diese Musik . verweltlidtte'. . . Erst die mit der Zerschlagung des deutschen Faschismus durdi die Armeen der Sozialistischen Sowjetunion herbeigeführte Niederlage der deutschen Imperialisten hat den Weg zu einer wahrhaft objektiven Wertung und Würdigung Bs.freigemadit. (Erklärung des Parteivorstandes des SED zum Bach-Jahr)

BEETHOVEN: Wofür Beethoven kämpfte und was er für die Zukunft vorausahnte und erstrebte, das wurde durch die Große Sozialistische Oktoberrevolution, durch die Sowjetmadit, Wirklidikeit. Als den Völkern der Sowjetunion 1936 die Stalinsdie Verfassung gegeben wurde, erklang Beethovens 9. Sinfonie. Am Vorabend der Gründung unserer SED hörten die Delegierten die Klänge von Beethovens 9. Sinfonie, die sie mit Kraft und Zuversidit erfüllten. (Tägliche Rundschau)

DÜRER: Die Begründung für die außerordentlich hohe Einsdiätzung, die wir gegenüber D. hegen, beruht letzten Endes darauf, daß D. zu denjenigen Männern gehörte, die die Herrsdiaft der modernen Bourgeoisie begründeten, die aber — nach den Worten von Friedrich Engels alles waren, nur nicht bürgerlich beschränkt. Er verband die Ideen des klassischen Humanismus mit der demokratisdten Volksbewegung. (Tägliche Rundschau) .

GRÜNEWALD: Er sah im Gegensatz zu Dürer, Holbein und Riemen-schneider mehr das untergehende Alte als das entsdieidende Neue im geistigen und moralischen Antlitz des werktätigen Menschen und vor allem des Bürgertums. (Kalender des Verlages der Kunst)

In dieser Weise werden mit mehr oder weniger Konsequenz alle Persönlichkeiten der Kulturgeschichte in Böcke und Schafe gesondert. Wo es möglich ist, wie bei Bühnenaufführungen oder Bearbeitungen, wird die kommunistische Interpretation gleich in das Werk hineingearbeitet. Auch wird die Publikation bzw. Aufführung der Werke ganz nach den Gesichtspunkten des politischen Nutzens zugelassen oder verhindert. So wurden Handzeichnungen von Grünewald, die 1952 in Ostberlin gefunden wurden, sofort unter Verschluß genommen. Die moderne Kunst ist in den meisten mitteldeutschen Museen nicht ausgestellt. Die antiken Dramen werden ungern aufgeführt. Hauptmanns „Weißer Heiland“ wurde von der sächsischen SED-Zeitung wegen reaktionärer Grundhaltung, Hebbels „Judith“ von der Leipziger Bezirksleitung der SED wegen religiöser Prapaganda angegriffen. Verpönt sind die Dichter wie Novalis, Baudelaire, Stefan George, Kafka, Hemingway usw., sie werden so gut wie nie verlegt. In der Musik sind die meisten neueren Komponisten ausgemerzt, auch solche, die in der ganzen übrigen Welt unbestritten anerkannt sind, wie Schönberg, Hindemith und Strawinsky. Dafür geht andererseits die Okkupation des klassischen Erbes soweit, daß Becher 1951 Beethovens Chorfantasie durch einen aktuellen Text bereichterte.

Besonders hart betroffen wurden die deutschen Volksmärchen. Dafür einige Beispiele aus der Grimm-Ausgabe des Ostberliner Kinder-buchverlages: Im Märchen „Tischlein-deck-dich" dürfen die drei tüchtigen Handwerksgesellen nun nicht mehr am Schluß mit Hilfe ihrer wohlverdienten Zauberinstrumente Wundertischlein und Goldesel reich und glücklich sein, sondern müssen wieder an die Arbeit gehen, um kein Beispiel des Müßiggangs zu geben. Ohne Rücksicht auf Handlungsverknüpfungen darf das Schwesterchen der „Sieben Raben“ nicht mehr notgetauft werden, wie überhaupt Anspielungen auf religiöse Dinge möglichst getilgt wurden. Im Märchen „Die zwei Brüder“ wurde der Appetit eines ursprünglich auch Bürgerstöchter fressenden Drachen einzig auf die Königstochter reduziert. Eine in der Sowjetzone viel gespielte Fassung der „Bremer Stadt-musikanten“ läßt die entlaufenen Tiere zu ihrem Herrn zurückkehren, weil andernfalls die Arbeitsmoral der Kinder untergraben werden könnte.

Auf dem Gebiet der Denkmalspflege sind einige bedeutende Restaurationsarbeiten zu verzeichnen, so die Wiederherstellung der Wartburg, des Dresdener Zwingers, der Berliner Staatsoper. Alle diese Arbeiten wurden mit Sachkenntnis und beträchtlichen finanziellen Mitteln geleistet. Die Bewahrung Sanssouci’s war vor allem Sadie der sowjetischen Kulturoffiziere, da die SED-Funktionäre einen Horror vor der friderizianischen Tradition haben (daher auch die Entfernung der Inschrift an der Staatsoper). Diesen dankenswerten Leistungen stehen aber leider auch nie wieder gutzumachende Zerstörungen gegenüber. Das von Bomben getroffene, aber restaurierbare Berliner Stadtschloß, der bedeutendste Barockbau Norddeutschlands, wurde als „Bollwerk des Militarismus gesprengt, weil das Politbüro einen Aufmarschplatz im Zentrum Berlins wünschte. Das berühmte Schlößchen Rheinsberg in der Mark wurde in ein „Sanatorium Helmut Lehmann“ umgebaut, wobei die Innenarchitektur zum größten Teil zerstört, ein historischer Komplex von Nebengebäuden abgerissen und der Park restlos vernachlässigt wurde. Es gibt noch zahlreiche andere historische Bauwerke, die dies Schicksal teilten, weil man in ihnen — besonders in den Jahren der Bodenreform — „Herrenhäuser der Junker sah. Auch heute, wo den gröbsten Zerstörungen durch ein Denkmalsschutzgesetz ein Riegel vorgeschoben ist, kommt ein Mißbrauch durch schonungslose sinnentfremdende Benutzung noch häufig genug vor.

Kommunismus und Wissenschaft

Wenn man vom Verhältnis des Kommunismus zur Wissenschaft spricht, pflegt man sich die Zustände in der Sowjetunion vorzustellen. Man denkt an die brutale Ausrichtung der Biologie, die den berühmten Genetiker • N. Wawilow und seine Mitarbeiter 1940 ins Strafarbeitslager brachte, und die 1954 erfolgte überraschende Revision durch Chruschtschow, der nun wieder Wawilows Überwinder Lyssenko maßregelte. Man denkt an die kultische Verehrung und Allmacht des Historikers Pokrowski und des Linguisten Marr zu ihren Lebzeiten und ihre genau so maßlose posthume Beschimpfung. Der Ökonom Varga wurde, so erinnert man sich, bald nach Kriegsende seiner Würden enthoben, weil er nicht an das unmittelbare Bevorstehen einer kapitalistischen Wirtschaftskrise glaubte, aber wenige Jahre später traf dann seine Widersacher, in erster Linie das Politbüro-mitglied Wosnessenski, der Bannstrahl, bis schließlich wieder dessen Gegner mit Malenkow an der Spitze wegen ihrer angeblich falschen ökonomischen Lehren gemaßregelt wurden. Auf den Gebieten der Physik, Chemie, Physiologie und der Kosmogonie wurden Diskussionen veranstaltet, in denen „die reaktionären idealistischen Theorien entlarvt wurden“. Diese fortgesetzten Eingriffe des Staates und der Partei in alle nur denkbaren Bereiche der Wissenschaft, die für die Sowjetunion charakteristisch sind, finden aber im wissenschaftlichen Leben der Sowjetzone nicht immer ihre Entsprechung, jedenfalls soweit es sich um technische find Naturwissenschaften handelt.

Natürlich fällt es nicht schwer, eine Reihe von Beispielen anzuführen, wo auch in der Sowjetzone von übereifrigen Funktionären und Opportunisten solche Drangsalierungen der Wissenschaft unternommen wurden. Es gab die Aufsätze eines gewissen Victor Stern gegen die „idealistischen“ Theorien der modernen Physik, in denen er mit Einstein, Heisenberg, Weizsäcker und anderen namhaften Forschern polemisierte, ein fatales Pendant zu der Kampagne der Nazis gegen die „jüdische Physik". Es gab Ausfälle der radikalen kommunistischen Studentenzeitung „Forum“ gegen Professoren der Humboldt-Universität und eine Kritik des theoretischen Organs der SED „Einheit“ an den „reaktionären“ Auffassungen einiger Professoren in Greifswald, es gab schließlich Tagungen und Kampagnen besonders in der Biologie und Medizin, die eine stärkere Anpassung der mitteldeutschen Gelehrten, Ärzte und Dozenten an die sowjetischen Auffassungen zum Ziel hatten, aber man kann den Druck dieser Art nicht mit dem auf die Künstler vergleichen. Das materialistisch-kommunistische Odium umhüllt die Naturwissenschaft der Sowjetzone mehr äußerlich, dokumentiert sich an den Hochschulen, in den Lehrbüchern, in den philosophischen Interpretationen und politischen Rechenschaftsberichten, in den Zeitungsartikeln (so gibt die Akademie der Wissenschaften eine Zeitschrift für ernsthafte wissenschaftliche Publikationen „Forschungen und Fortschritte“ und eine populäre, ideologisch ausgerichtete „Wissenschaftliche Annalen“ heraus). Bestimmend für das Ergehen der Naturwissenschaften in der Zone ist die ideologische Färbung nicht.

Das Sowjetzonenregime kann sich nämlich eine solche Beeinträchtigung der Wissenschaft nicht leisten. Während selbst die primitivste Kunst noch von einigen bornierten Funktionären schön gefunden werden kann, weil es einen objektiv erfaßbaren Maßstab dafür nicht gibt, wirkt sich eine Fehlorientierung der Wissenschaft sofort in der Produktion aus. Auch die Sowjetunion, die wirtschaftlich viel stabiler ist, ist in letzter Zeit mit den Eingriffen in die Wissenschaft vorsichtiger geworden. Dazu kommt unter den besonderen deutschen Bedingungen noch die ständige Gefahr einer Abwanderung der qualifizierten Wissenschaftler nach dem Westen. Deshalb befleißigen sich die SED-Funktionäre im Umgang mit der technischen Intelligenz größtmöglichen Taktes und ideologischer Zurückhaltung. Kommt es, was sich unter den Verhältnissen der Diktatur nicht vermeiden läßt, zu Zusammenstößen zwischen Wissenschaftlern und örtlichen Funktionären, nimmt die Parteiführung meist für die Intellektuellen Partei.

Das Verhältnis der Kommunisten zur technischen Intelligenz wird durch die Erfordernisse der Ausbeutung bestimmt. Hierher gehört die massenhafte Verschleppung technischer Spezialisten in die Sowjetunion, darunter solcher Koryphäen wie Nobelpreisträger Hertz und Hochfrequenzforscher von Ardenne, die erst im Jahre 195 5, also zehn Jahre nach Kriegsende, freigelassen wurden. Viele deutsche Techniker werden noch heute in der UdSSR festgehalten. Hierher gehört die Annexion aller Patente, die in der Sowjetzone angemeldet werden. Die Kommunisten bezahlen in materieller Bevorzugung und ideologischer Toleranz den Schatz, der ihnen in Gestalt eines wertvollen Teiles der deutschen Wissenschaft in die Hände gefallen ist.

Wenn dennoch die mitteldeutsche Wissenschaft auf den meisten Gebieten hinter der westdeutschen zurücksteht, so sind dafür verantwortlich: die Abschnürung vom Westen und einseitige Bindung an die Sowjetunion, die Beeinträchtigung der Hochschulausbildung durch den Ballast staatspolitischen Unterrichts und die bornierte „Kaderpolitik“ (soziologisch-politische Auslese), die häufige Abwanderung gerade der besten Kräfte wegen der allgemeinen politischen Misere nach dem Westen und schließlich die praktizistische Bindung an den Plan, die einer freien und unternehmenden Forschung sehr enge Grenzen zieht. Der Direktor der Akademie der Wissenschaften, Dr. Wittbrodt, verlangte 195 5 die „unverzügliche Anwendung neuerworbener wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Praxis“. Und der zuständige Sekretär des ZK, Hager, erklärte: „So sehr in Forschung und Technik die Persönlichkeit und Qualifikation des Forschers oder Technikers wirksam ist, so muß doch vor allem auch diese Arbeit einen organisierten, planvollen und kontinuierlichen Charakter tragen.“ Die Hauptschwierigkeit der Forscher besteht also darin, den geldgebenden Funktionären stets die ökonomische Notwendigkeit und Dringlichkeit ihrer Arbeiten begreiflich zu machen, was bei dem hypothetischen Charakter wissenschaftlicher Forschung oft nicht möglich ist.

Die Geistes-und Gesellschaftswissenschaften unterliegen wesentlich stärker ideologischen Beeinflussungen. Auf allen diesen Gebieten ist die marxistische Doktrin tonangebend. Die wenigen übriggebliebenen nichtkommunistischen Gelehrten werden überall von geschmeidigen Opportunisten und unausgegorenen Emporkömmlingen in den Schatten gedrängt. Als Beispiel mag die Geschichtsforschung dienen. Wohl sind im wissenschaftlichen Beirat des „Museums für deutsche Geschichte“ in Ostberlin auch eine Reihe bürgerlicher Fachwissenschaftler vertreten, aber wenn man das mit großem Aufwand hergerichtete Museum besucht, stellt man fest, daß es eine einzige Illustration der kommunistischen Theorie ist, in der Darstellung der letzten hundert Jahre sogar reine Parteigeschichte. An den Universitäten werden die nichtkommunistischen Professoren, die man aus Mangel an qualifizierten Kräften nicht entbehren kann, vornehmlich auf reine Fachgebiete abgedrängt, von philosophischen und geistesgeschichtlichen Vorlesungen dagegen ferngehalten.

Aber auch die Wissenschaftler, die sich zum Marxismus oder zur soziologischen Betrachtungsweise bekennen, haben es nicht leicht. Über die deutsche „Zeitschrift für Philosophie“, in der die besten Köpfe der marxistischen Philosophie in Deutschland, Bloch, Harich, Erkes, Baum-garten, der in der Sowjetzone lebende Franzose Cornu und der deutsch schreibende Ungar Lukacs ihre Arbeiten publizieren, hieß es 1954 im „Neuen Deutschland“: „Sie dient gegenwärtig weder dem Aufbau der Grundlagen des Sozialismus in der DDR noch unserem gesamtdeutschen nationalen Kampf. Sie hilft unserer Entwicklung nidit vorwärts. Unsere neue Intelligenz und unsere Studenten fördert sie nicht in ideologischer Hinsicht, sondern verwirrt sie. Von den propagandistischen Kadern unserer Partei wird sie im allgemeinen abgelehnt.“ Ähnlich ist die Aversion des Funktionärsapparats gegen die marxistischen Literaturhistoriker Hans Mayer und Klemperer, den Ökonomen Kuczynski, den Sozialphilosophen Niekisch und andere. Über den soziologisch orientierten Kunstwissenschaftler Hamann, Professor in Ostberlin und Marburg, hieß es in einer 1954 in der Sowjetzone erschienenen Schrift eines sowjetischen Autors, seine Arbeiten seien „ohne jeden wissenschaftlichen Wert“. Man kann beinahe sagen, daß die Verfolgung ideologisch nahestehender Gelehrter größer ist als die anderer, weil die Kommunisten eine panische Angst vor der Ketzerei haben, zu der jede objektive wissenschaftliche Haltung auch auf materialistischer Grundlage nun einmal führt. Diese Einstellung verdeutlicht am besten, daß die kommunistische Gesellschaft nicht auf einer bestimmten Weltanschauung und wissenschaftlichen Meinung beruht, sondern auf der bedingungslosen Unterordnung unter ein totalitäres Machtsystem. Die Motivation ist im Grunde nur Vorwand. Deshalb haben die ideologisch diametral entgegengesetzten Systeme des Nationalsozialismus und Bolschewismus verblüffend ähnliche Erscheinungen produziert. Ein Feind ist also in erster Linie nicht derjenige, der die Motivation, sondern der die machtpolitischen Konsequenzen in Frage stellt.

Kommunistische Erziehung

Die Volksbildung in der Zone ist seit 194 5 eines der wichtigsten und entwickeltsten Instrumente kommunistischer Machtentfaltung. Sie hat zahllose Reformen, Experimente und ideologische Kämpfe gesehen. Ihre Anpassung an die sowjetischen Prinzipien ist total. Wir können uns in unserem Rahmen nur mit einigen Grundzügen beschäftigen.

Wie unter dem Nationalsozialismus spielt die politische Jugendorganisation eine entscheidende Rolle. Während aber das Verhältnis zwischen Hitlerjugend und Schule immer gespannt war, ist die Schule im kommunistischen System völlig von der FDJ bzw.den „Jungen Pionieren“ durchsetzt und absorbiert worden. Das Organisationsgefüge baut sich auf den Schulen auf, Lehrer sind oft auch die Pionierleiter. Diese Verschmelzung hat zuerst einmal einen außerordentlich positiven Effekt: Das gute Lernen ist eine Ehrensache für den „Jungen Pionier“. Es gibt „Abzeichen für gutes Wissen“ und „Wettbewerbe für gutes Lernen“. Es steht außer Frage, daß die Lern-und Betragensdisziplin in den sowjetzonalen Schulen durch diese Maßnahmen erstaunlich gefördert worden ist.

Die Kehrseite der Medaille ist eine Politisierung der Kinder-und Jugenderziehung, die die der Nationalsozialisten noch weit in den Schatten stellt. Bereits mit den ersten Buchstaben der Fibel werden die kommunistischen Begriffe eingehämmert. Wir zitieren eine methodische Anleitung für den Unterricht Sechsjähriger: „ 1n unserem ersten Schuljahr wird laut Lehrplan das Thema , U^ser Präsident Wilhelm PiedT erarbeitet. Aufgabe muß es hierbei sein, den Schülern das Wesentliche dieses Begriffes, selbstverständlidt in der dieser Altersstufe entsprechenden Form, nahezubringen und verständlich zu machen. Es kann nicht nur darauf ankommen, unseren Präsidenten als liebenswerten und verehrungswürdigen Menschen darzustellen, sondern es muß hier schon seine jahrzehntelange Arbeit für die Befreiung der Arbeiterklasse im Mittelpunkt stehen.“

Ein beliebig herausgegriffenes Kinderbuch schildert beispielsweise, wie ein im Spiel zusammengekniffenes Papierschiffchen durch Deutschland schwimmt: neben mancherlei ganz unpolitischen Stationen passiert es auch den Elbestrand, wo furchterregende amerikanische Soldaten mit finsteren Gesichtern Wacht für den „Imperialismus" halten, und schließlich die Berliner Stalinallee, die, besät mit zahllosen roten Fahnen, als ein Bild „friedlichen sozialistischen Aufbaus“ dem westlichen „Kriegstreiben“ gegenübergestellt wird. Solche Beispiele könnte man massenhaft anführen: nicht nur der Unterricht in Gegenwartskunde, Geschichte, Deutsch und Russisch, genau so der in Erdkunde, den Naturwissenschaften und Mathematik ist durch die Auswahl der Beispiele und die vorgeschriebene weltanschauliche Interpretation eng mit den politischen Erziehungszielen verbunden. Die Bedeutung der Unterrichtsfächer wird nach ihrem politischen Nutzen gewertet: so bedurfte es langer Kämpfe der Pädagogen und Eltern, die Diskreditierung der Anglistik als „Lehre einer imperialistischen Sprache" aufzuheben (erst die Arbeit Stalins über Sprachwissenschaft, nach der die Sprache nicht zum ideologischen „Überbau“ gehört, beendete diesen Zustand). Der Kunst-und Musikunterricht ist jeweils alternierend auf eine Wochenstunde beschränkt worden, weil die musische Erziehung eine Sache der Freizeit und weniger der Schule sei.

Denn die kommunistischen Schulen sind keine Bildungsanstalten im humanistischen Sinne, sondern, was immer wieder betont wird, „Kaderschmieden der Arbeiter-und Bauernmacht“. Sie dienen neben der politischen Ausrichtung unmittelbar der Hinführung zum Produktionsprozeß. Ein besonderes Charakteristikum ist der sogenannte „polytechnische Unterricht", d. h. eine weit über den Werkunterricht hinausgehende praktisch technologische Ausbildung, eine Einführung in die Arbeitsgänge der modernen Produktion, nicht nur an Berufs-, sondern auch an Oberschulen. Die 195 5 geschaffenen zehnklassigen Mittelschulen, die der sozialistischen Forderung nach allgemeiner und gleichwertiger zwölfjähriger Schulbildung eklatant widersprechen, wurden ausdrücklich eingeführt, um möglichst schnell den Bedarf an „Kadern in der Schwerindustrie, der Landwirtschaft und den bewaffneten Streitkräften" zu befriedigen. Sie sind auf die unmittelbare Berufsvorbereitung reduzierte Oberschulen. Nur die dramatischen Ereignisse im Juni 1953 konnten die schon verkündete, der Sowjetunion entlehnte Reduzierung der Oberschulen auf elf Klassen verhindern.

Die Methodik des Schulunterrichts ist streng konservativ. Reformversuche in Richtung auf eine Arbeitsschule wie überhaupt alle modernen Tendenzen in der Pädagogik sind als „imperialistische Zersetzungserscheinungen“ verpönt. Das sowjetzonale Schulsystem beruht auf dem Prinzip des Paukens und der Unterordnung. Die Lehrpläne sind bis in die letzten Details genau festgelegt. In der Sowjetunion hat die Schuldisziplin militärischen Charakter, das ist allerdings in der Sowjetzone noch nicht so sehr der Fall. Ebenso ist es in der Zone aus rein materiellen Gründen nur selten möglich, das in der Sowjetunion bevorzugte Internatssystem für Schulen, Fachschulen und Hochschulen nachzuahmen.

Ein wesentliches Moment der kommunistischen Erziehung bildet die antireligiöse Propaganda. Sie tritt teilweise offen auf wie 1952 bei der Verfolgung der „Jungen Gemeinde“ und 195 5, bei der Einführung der „Jugendweihen“, vor allem aber getarnt und systematisch in der Interpretation des wissenschaftlichen Unterrichts. Die sogenannte „Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse“ ist im Grunde nichts weiter als eine geschickte Fortführung der alten bolschewistischen Gottlosenbewegung. Das „Neue Deutschland“ brachte nicht zufällig 1955 eine zynische Darstellung dieser Methode in einer Erzählung aus dem Russischen:

Ein Junge kommt zu seinem Vater: „Papa, wie sind die Berge entstanden?" — „Lernt ihr das nidtt in der Sdtule?“ — „Im Erdkundebudt steht, daß die Berge durdt Faltung der Erde entstanden sind.“ — „Nun, wenn es im Erdkundebuch steht, so hat sie sich gefaltet." — „Aber der Pope sagt, daß Gott die Berge gesdtaffen hat.“ — „Wenn der Pope das sagt, dann hat eben Gott die Berge geschaffen.“ Die Augen des Jungen füllen sich mit Tränen. „Warum weinst du?“ fragt die Mutter. „Die Berge sind entstanden — im Erdkunde-buch, weil sich die Erde gefaltet hat, aber beim Popen sind sie entstanden — weil Gott sie geschaffen hat. Und Papa jagt mich fort.“ — „Siehst du, dem Popen muß man gehorchen und Gott muß man lieben. Aber Erdkunde muß man natürlidt lernen, und du mußt Vater und mir Freude bereiten und eine Zwei nach der anderen bringen. Lauf, und geh spazieren, sonst bekommst du noch Kopfschmerzen!“ Der Junge geht mit traurigen Augen. (Gekürzt)

Kommunistische Erziehung ist Erziehung zu kommunistischer Moral. Die kommunistische Moral hat Lenin auf den sehr einfachen Nenner gebracht: Was dem Kommunismus dient, ist gut; was ihm nicht dient, ist schlecht und schädlich. Im Mittelpunkt steht die Erziehung zum Kollektiv, was aber nicht zur Kameradschaftlichkeit und Solidarität bedeutet (im Gegenteil, eine wichtige Rolle spielt das Angebertum), sondern Staatsräson und Nivellierung der Persönlichkeit. Zur kommunistischen Erziehung gehören aber auch menschliche MoraTbegriffe wie der schon erwähnte Lerneifer, gegenseitige Hilfe, Achtung vor den Eltern, Patriotismus, sexuelle Sauberkeit (bis zur Prüderie). An die Stelle der zehn Gebote sind die „Pioniergesetze“ getreten. Einen verdienstvollen Kampf hat die sowjetzonale Pädagogik gegen die „Schmutz-und Schundliteratur geführt, freilich ersetzt sie sie neuerdings durch nicht weniger blutrünstige Groschenhefte über den Kampf mit „amerikanischen Spionen und Agenten“. Ein sowjetisches Kinderstück „Ferien am Waldsee , das 1954 von verschiedenen „Kindertheatern“ in der Zone gespielt wurde, versuchte das Spitzeltum der Kinder als patriotische Tugend zu popularisieren. Trotz der seit zehn Jahren unternommenen systematischen Beeinflussung steht die Jugend Mitteldeutschlands, auch die Zwanzigjährigen, die unter dem Regime ausgewachsen sind und aus der FDJ kommen, in ihrer überwältigenden Mehrheit bewußt gegen die Diktatur, wie ihre hervorragende Beteiligung am Volksaufstand vom 17. Juni und die Massenflucht vor der Einberufung zur Volkspolizei sichtbar dokumentierten. Im Gegen-satz zu den Nationalsozialisten haben die Kommunisten die Jugend ganz offensichtlich nicht gewonnen. Das ist für den Außenstehenden nur deshalb nicht so sichtbar, weil alle Äußerungen der jungen Menschen natürlich von der kommunistischen Ideologie und Terminologie gefärbt sind. Die tatsächliche Antipathie der Jugend gegen das System mag zum Teil auf die vorherrschend antikommunistische Stimmung ihrer häuslichen und beruflichen Umwelt, aber auch auf den Abscheu junger Menschen vor dem Doktrinarismus und Asketismus, vor der ideologischen Verödung ihres Lebens zurückgehen. Die Parteiorgane kämpfen verzweifelt gegen die Zersetzung der FDJ, gegen prowestliches Gebaren, Kinobesuche in Westberlin, Booggie-Wooggie-Tänze und erotische Freizügigkeit, die viele Jugendliche aus einer Art anarchischem Protest gegen die Partei-moral an den Tag legen. Das sind keine Anzeichen von Verwahrlosung, denn die sozialen Verhältnisse sind bei den Betreffenden geordnet und die Arbeitsmoral ist gut. Die Entartung der „Weltjugendfestspiele" 1951 zu Westberlin-Abstechern einerseits und Liebesorgien andererseits war ein typisches Symptom jugendlicher Auflehnung gegen politischen Mißbrauch. Die SED hält sich viel darauf zugute, das Bildungsprivileg der besitzenden Schichten gebrochen zu haben. Tatsache ist, daß zwar nicht die in der DDR-Verfassung versprochene generelle Schulgeld-und Lernmittelfreiheit verwirklicht wurde, wohl aber ein großzügiges Stipendienwesen. Diese Modifikation hat ihre Gründe: Mit Hilfe der Stipendien kann man bequem „Kaderpolitik“ treiben, die an die Stelle einer Begabtenauslese tritt. Benachteiligt werden alle Kinder der Mittelschichten, bevorzugt die der Funktionäre, Intellektuellen, Arbeiter und Bauern. Aber auch aus den Arbeiterschichten werden nicht etwa die Begabten gefördert, sondern es werden diejenigen, die sich in der politischen Arbeit bewährt haben, von den Partei-und Gewerkschaftsleitungen ihrer Betriebe, delegiert. Es gibt also keine Abhängigkeit vom Geldbeutel der Eltern, wohl aber von der sozialen Herkunft und dem politischen Leumund. Die 50 Prozent der Studenten ausmachenden Arbeiter-und Bauernkinder vertreten noch lange nicht die Elite ihrer Klasse, einmal wegen der bei vielen gerade der Intelligentesten und Tüchtigsten herrschenden Aversion gegen das Regime und das politische Studium, andererseits wegen der wirtschaftlichen Verschlechterung, die trotz der Stipendien bei einem qualifizierten, gut verdienenden Arbeiter eintritt, wenn er die zwei bis drei Jahre „Arbeiterund Bauern-Fakultät", drei bis fünf Jahre Universität und die niedrig bezahlte Anfangszeit in dem neuen Beruf durchläuft.

Die vor einigen Jahren eingeführte Hochschulreform, die von dem berechtigten Interesse an einer besseren Organisation des Studienbetriebes ausging, hat die Universitäten nach sowjetischem Beispiel in Fach-schulen verwandelt. Es gibt einen festen Stundenplan, Anwesenheitslisten, kollektives Selbststudium, ausschließliche Orientierung auf e i n Studienfach, jährliche Berufspraktiken und Zwischenprüfungen, Dissertation möglichst nur bei wissenschaftlicher Laufbahn. Dazu eine Fülle staatspolitischen Unterrichts: Dialektischer'und historischer Materialismus, Politökonomie, Wehrsport, Russisch als Pflichtfach. Daneben gibt es für die Ausbildung führender Kader eine Reihe besonderer Partei-und Verwaltungshochschulen.

Die Sowjetisierung des mitteldeutschen Kulturlebens

Der koloniale Charakter des Sowjetzonenregimes kommt in der Sowjetisierung und Russifizierung zum Ausdruck. In unseren bisherigen Ausführungen ist diese Tatsache schon an vielen Stellen hervorgetreten, so daß wir das Bild jetzt nur abzurunden brauchen. Der Russisch-Unterricht ist für Kinder vom zehnten Lebensjahr an obligatorisch. Bis 1950 gab es sogar im Schulunterricht mehr Russisch-als Deutschstunden. Als nach dem 17. Juni 195 3 der staatspolitische Unterricht an den Hochschulen abgebaut werden sollte, um den Leistungsstandard zu heben, fiel nur der bis dahin ebenfalls obligatorische Unterricht in deutscher Sprache und Literatur fort, an das Russische wagte man sich nicht. Die Bevorzugung des Russischen wird damit begründet, daß die Sowjetunion die „fortschrittlichste Kunst und Wissenschaft“ besitze, ohne deren Kenntnis die Sowjetzone rückständig bleiben müsse. Es gibt in jedem Jahr einen besonderen „Monat der deutsch-sowjetischen Freundschaft“, den November, in dem das Kulturleben der Sowjetzone völlig sowjetischen Charakter trägt. Wenn man die an sowjetzonalen Theatern seit 194 5 aufgeführten Stücke zusammennimmt, dürfte ihr größter Teil russischen Ursprungs sein. Das gilt besonders für das Repertoire der „Kindertheater“. Eine wahre Invasion herrschte an sowjetischen Filmen, deren niedriges Niveau das Publikum derart aus den Lichtspielhäusern trieb, daß die sowjetischen Kontrolloffiziere selbst für kassenfüllende Westimporte eintraten. Es gibt einen besonderen Verlag für sowjetische Belletristik „Kultur und Fortschritt“. Die sowjetischen Übersetzungen stellen auch den Löwenanteil vor allem bei den Kinderbüchern und der Fachliteratur aller Art. Die „Große Sowjetenzyklopädie“, die in Stichworten die orthodoxe Auffassung der Sowjets zu allen Geschichts-und Lebensfragen festlegt, wird in der Sowjetzone in Hunderttausenden von Einzelheften verbreitet. Eine öffentliche Kritik an sowjetischen Arbeiten gilt als „antisowjetische Haltung“ und kommt so gut wie nie vor.

Von den Sowjets übernimmt die SED natürlich auch die komplette Geschichtsdarstellung. Die Geschichtslehrbücher sind entweder sowjetische Übersetzungen oder Nachahmungen. Als wichtigste Periode der deutschen Geschichte sehen die Kommunisten nicht etwa eine der revolutionären Erhebungen an, sondern die Befreiungskriege von 1813 wegen der „deutsch-russischen Waffenbrüderschaft“. Die deutsche Tradition wird so weit wie nur irgend möglich ausgeschlachtet, aber stets der russischen untergeordnet. Auf dem Gebiet der Erfindungen und Entdeckungen wird der „Lomonossow“ -Unfug, das Zuschreiben aller Prioritäten an Russen, besonders an den ohne Zweifel universalen und verdienten Lomonossow, unbesehen übernommen; deutsche Gelehrte, die bei den Sowjets aus irgend welchen ideologischen Gründen inopportun sind wie Virchow, gelten auch in der Sowjetzone als fragwürdig. Selbst bei Marx, dem „größten Sohn des deutschen Volkes“, vergißt die SED nie, Lenin und Stalin als mindestens gleichwertig zu nennen. Die klassische deutsche Philosophie von Kant, Fichte, Schelling und Hegel, als deren Erben sich noch Marx und Engels bekannten, ist weit hinter die russischen Demokraten Herzen, Belinski, Tschernyschewski zurückgedrängt worden. — Andererseits soll aber nicht verkannt werden, daß der enge Kontakt mit der sowjetischen Kultur auch Erkenntnisse vermittelt hat, die der Bundesrepublik bedauerlicherweise zum größten Teil noch fremd sind, so vor allem die Begegnung mit der epochalen Gestalt des russischen Physiologen Pawlow, eine Reihe umwälzender Theorien und Verfahren vor allem auf dem Gebiet der Medizin, die bedeutenden historischen Schriften von Smirin über den deutschen Bauernkrieg und Tarle über die napoleonische Epoche u. a. Doch würden die großen Kulturleistungen des russischen Volkes — seine Dichtung von Puschkin bis Gorki, seine Musik von Glinka bis Prokoffiew, sein Ballett, seine Volkskunst gehören dazu — in ganz Deutschland auf noch fruchtbareren Boden fallen, wenn unsere kulturelle Berührung auf der Basis der Gleichberechtigung und Gegenseitigkeit statt der Bevormundung und nationalen Degradierung beruhen würde.

Als Beispiele für die entwürdigende, teilweise groteske Art des Byzantinismus der SED sollen drei Vorgänge angeführt werden:

Als im Zuge der Vorbereitung des Neuen Kurses in der Sowjetunion eine Diskussion über das Verhältnis zwischen formaler Logik und Dialektik veranstaltet wurde, die keinerlei praktische, nur hintergründige ideologische Bedeutung hatte, kam das Zentralkomitee der SED auf den Gedanken, „zur Aneignung sowjetischer Erfahrungen“ auch eine Logiker-tagung einzuberufen. Es beauftragte ein Mitglied des ZK, das von Philosophie keine Ahnung hatte, mit dem Referat. Der Funktionär begnügte sich damit, den versammelten Professoren der Sowjetzone den neuesten Aufsatz aus der Moskauer Zeitschrift „Fragen der Philosophie vorzubeten. Als er wenige Wochen später sein Referat publizieren wollte, war inzwischen in Moskau ein neuer Aufsatz mit ganz anderen Resultaten erschienen. Der Funktionär berief sich nun ganz ungeniert auf den neuen Artikel und behauptete von dessen Lösung genau wie zuvor von der des anderen, daß sie ihm als „die einzig richtige“ erscheine. Die Professoren fanden sich aber nicht mit dem ideologischen Unfug ab, sondern beriefen sich geschickt auf Stalin: die Sprache gehöre nicht zum ideologischen „Überbau“, folglich das Denken, die Logik, auch nicht. Die kommunistischen Kommentare wären also überflüssig. Daraufhin verlief das ganze Unternehmen des Zentralkomitees im Sande.

Das gesamte Theaterleben der Sowjetzone wird nach der Methode Stanislawskis ausgerichtet. Stanislawski war ein großer Theaterpädagoge und Regisseur, dessen Erkenntnisse ohne Zweifel von großer Bedeutung sind. Statt nun aber zu einer fruchtbaren Beschäftigung mit seinen Lehren vorzudringen, wurden zahlreiche Bücher und Broschüren gedruckt, Tagungen einberufen und an jedem Theater „Stanislawski-Zirkel gegründet. Hand in Hand damit ging die Abwertung der deutschen Tradition, obwohl Stanislawski selbst ein Verehrer der Meininger und Brahms, ein Freund Reinhardts war. Die Entwicklung führte einerseits dazu, daß bald jeder prominente Theatermann im Osten Stanislawski im Munde führte, ohne das Geringste davon zu verstehen, andererseits steuerte alles auf einen eintönigen naturalistischen Stil hin, der eine schlechte Kopie des russischen war. Der offensichtliche Qualitätsverlust und der Widerstand der Schauspieler haben dieser Entwicklung dann Einhalt geboten, aber noch 1955 griffen die Presseorgane „Theater der Zeit“ und „Nationalzeitung“ Bert Brecht an, weil einige seiner Thesen nicht mit Stanislawski übereinstimmten.

Während die russischen Märchen in zahlreichen Ausgaben in der Zone verbreitet wurden, konnten die deutschen Volksmärchen 1952 nur in der von uns schon erwähnten Bearbeitung erscheinen. Der Publikation hat ein Prof. Siebert eine „Kurze Anleitung für Erzieher, Lehrer, Pionier-leiter und Eltern“ beigegeben. Daraus zwei Interpretationen:

Das Wasser des Lebens: „Im Märchen ist das Wasser des Lebens noch ein Zanbertrank'. lnzwischen ist der Märchentrauw vom besseren Leben im Land des Sozialismus zur Wirklichkeit geworden. Das Wasser des Lebens ist das in den Staudämmen, Bewässerungsanlagen und Kraftwerken den Menschen dienstbar gemachte Wasser der großen Flüsse, wodurch sich Wüsten und unfruclttbare Steppen in fruchtbare Äcker und blühende Felder verwandeln und Krieg und Hunger nicht mehr der Schrecken der Menschen sind. Der sowjetische Sdtriftsteller A. Koshewnikow nennt deshalb seinen neuen Roman über die Frudrtbarmachung der Steppen von Kyss-Tass , das Wasser des Lebens.“

Der süße Brei: „Was zur Zeit der Ohnmacht gegenüber der Naturgewalt noch ein Traum ist, wird zur Zeit der Herrschaft der Natur im Sozialismus Wirklidikeit. Durch die Entdeckungen Mitschurins und Lyssenkos angefeuert,, gelingt es dem Nomaden Tschaganak Bersijew, das Unmöglid'ie wahrzumachen. Hatte im russischen Volksmärdien ein Hirsekorn 500 neue Körner hervorgebracht, so hatte Kasache Bersijew schon das Märdien überboten mit 700 Körnern auf ein Hirsekorn. 1941 erntete die Arbeitsgruppe Bersijew schon von vier Hektar je 155, 8 Doppelzentner, 1952 bradite sie es auf 175 Doppelzentner . . . Das Märchen von der Wunderhirse wird zurWissensdiaft von den hohen Getreideerträgen im Land des Sozialismus. Die Hirse hilft der Roten Armee zu ihren völkerbefreienden Siegen. Das Märdien wird wahr. Nicht nur das große Land des Sozialismus, sondern die , ganze Welt'beginnt schon zur Hälfte satt zu werden durdt den Sieg der Kräfte des Fortsdiritts und des Friedens über die imperialistische Welt des Kapitalismus.“

Militaristische Tendenzen im Kulturleben der Zone

Militaristische Tendenzen traten im sowjetzonalen Leben 'und damit auch in der Kultur ziemlich schlagartig im Jahre 1952 ans Licht, als die solange getarnte Aufstellung der „Kasernierten Volkspolizei“ offen zugegeben worden war. Noch ein Jahr zuvor war eine objektive Würdigung der historischen Persönlichkeit von Clausewitz in der „Berliner Zeitung“ sofort von der Parteihochschule kritisiert worden, da Stalin in einem Brief den preußischen Militärtheoretiker als Vorläufer des deutschen Militarismus bezeichnet hatte. Nun aber überstürzten sich die Publikationen, die die Jugend „zur Verteidigung der sozialistischen Errungenschaften“ aufriefen und die „patriotischen Traditionen“ feierten. Diese Entwicklung wurde durch den Volksaufstand am 17. Juni vorübergehend unterbrochen, lebte aber in den letzten Jahren verstärkt auf.

Es gibt in der Sowjetzone eine umfassende vormilitärische Ausbildung. Sie wird getragen einerseits von der FDJ und der eigens zu diesem Zweck geschaffenen „Gesellschaft für Sport und Technik“, die vor allem die technischen Wehrsportarteri pflegt, andererseits aber auch von den Schulen und Hochschulen selbst, da nur ein Teil der Jugend in den Organisationen erfaßt werden kann. An sämtlichen Universitäten und Hochschulen sind wöchentlich mindestens zwei Stunden für Pflichtsport vorgesehen, der für Studenten beiderlei Geschlechts Schießen, Handgranatenwerfen, Gepäckmärsche usw. einschließt. Neuerdings werden Wehrsport und Geländeübungen auch für die oberen Klassen der Schulen eingeführt. Die Hochschulen dienen weitgehend der Ausbildung militärischer Kader, so werden die Absolventen des Staatsexamens verschiedener Fachrichtungen, z. B.des Instituts für Publizistik in Leipzig, direkt zu den entsprechenden Organen der Volkspolizei kommandiert. Die Medizinstudenten der LIniversität Greifswald streikten 1955 gegen die Umwandlung ihrer Fakultät in eine militärärztliche Akademie; die Auflehnung wurde durch Terror niedergeschlagen.

Die vormilitärische Ausbildung wird durch die sogenannte „patriotische Erziehung“ ergänzt, die einen wesentlichen Raum in den Lehrplänen der Schulen, im Arbeitsprogramm der Jugendorganisationen und in der literarisch-künstlerischen Produktion einnimmt. Das Zentralorgan der FDJ, „Junge Welt“, kreierte in den letzten Jahren eine „Gewehr und Liebe“ -Lyrik, die freilich schon wegen ihrer mangelhaften literarischen Qualität auf FDJ-Zeitungen und -Versammlungen beschränkt blieb. In den tonangebenden Zeitungen „Neues Deutschland“ und „Tägliche Rundschau“ startete Fritz Lange, ursprünglich Leiter der Staatlichen Kontrollkommission, jetzt Minister für Volksbildung, 1952 seine pompös aufgemachte Artikelserie über 1813: „Marschall Vorwärts“, „Lützows wilde verwegene Jagd“, „Turnvater Jahn" usw. (besonders kurios deshalb, weil Marx bekanntlich der 1813er Bewegung mehr als kritisch gegenüberstand). Ulbricht persönlich forderte die Popularisierung der Schlacht im Teutoburger Wald. Das Amt für Literatur, das für die Verlagsplanung verantwortlich ist, erteilte 1952/53 sämtlichen Verlagen den Auftrag, Bücher mit „patriotischen Themen“, vornehmlich über die deutsch-russische Waffenbrüderschaft 1813, zu „erstellen . Diese Aktion mußte schließlich von demselben Amt gebremst werden, als die Auflageziffern dieser Wunschliteratur in die Hunderttausende gingen, ohne daß ein Absatz garantiert war. In der Folge dieser „ 1813er Schwemme“ stoßen noch heute die sowjetzonalen Verlage derartige Bücher aus, darunter wertvolle Chrestomathien, überwiegend aber literarisch und wissenschaftlich minderwertigeBiographien, Romane und Theaterstücke. Die beiden von der Sowjetzonenpresse am meisten popularisierten und von den Staatsfunktionären gelobten Bilder der Dresdener Kunst-ausstellung 1953 hießen „Junge Flieger“ (nach einem Foto nationalsozialistischer Pimpfe) und „Bildnis eines Offiziers der Kasernierten Volkspolizei“ (mit der Hand am Koppel wie bei der SA). Der Stellvertreter von Johannes R. Becher, Alexander Abusch, eröffnete 195 3 in der Akademie der Künste, Ostberlin, eine repräsentative Ausstellung „Patriotische Kunst von 1813“, zusammengestellt aus über 300 Werken der bildenden Kunst, die bis dahin in den Kellern der mitteldeutschen Museen gelagert hatten, sei es wegen ihrer nach 1945 verpönten militaristischen Tendenz, sei es wegen der bekannten kitschigen Darstellungsweise der preußischen Historienmaler. Nach 1945 hatte man die Standbilder Blüchers, Yorks, Gneisenaus usw. vor dem Berliner Ehrenmal abgerissen und auf irgendwelchen Bauplätzen verkommen lassen, teilweise eingeschmolzen; 195 3 aber sollten sie auf Anordnung der Regierung plötzlich wieder aufgestellt werden, und es wurde eine Fahndung nach ihnen eingeleitet. Dagegen gelten die Fridericus-Bilder Menzels nach wie vor als in opportun. Die militaristische Propaganda kollidiert nun freilich mit der üblichen kommunistischen Agitation des „Kampfes um den Frieden“ und stößt bei der Mehrzahl der Bevölkerung bis hinein in die Reihen der Parteiliteraten auf Widerstand. Die kommunistische Dialektik bemüht sich deshalb krampfhaft, den Unterschied zwischen einem „Gewehr für den Frieden“ und einem „Gewehr für den Krieg“ plausibel zu machen und warum die SED die Aufstellung nationaler Streitkräfte in der Zone propagiert, aber in Westdeutschland verdammt. Die Diffamierung des Pazifismus spielt in der Propaganda der SED eine große Rolle. Man stellt dem „bürgerliehen Pazifismus“ die „bewaffnete Verteidigung des Friedens“ gegenüber, eine Definition, die frappierend an die Visionen Orwells („Krieg bedeutet Frieden“) erinnert. Ein Hauptangriffsziel bietet in dieser Beziehung Brecht: Seinem Schauspiel „Mutter Courage“ wurde vorgeworfen, daß es den Dreißigjährigen Krieg nur anklagt, aber nicht durch Darstellung patriotischer Aktionen überwindet. Seine Oper „Das Verhör des Lukullus“ wurde 1951 verboten, weil darin der römische Feldherr Lukullus schlechthin wegen Kriegführung der Verdammnis überantwortet wird. Nach ganztägiger Konferenz mit der Regierung änderte Brecht das Libretto dahingehend ab, daß mm der Vorsitzende des Totengerichts unvermutet die Verhandlung mit den Worten unterbricht: „Jetzt wollen wir uns alle zu Ehren derjenigen erheben, die ihr Vaterland verteidigen.“ In Westdeutschland ließ Brecht jedoch die unveränderte, pazifistische Fassung spielen. — Zur Bekämpfung des Pazifismus gehörte es auch, daß 1955 unter dem Vorwand angeblidier Verrechnungsschwierigkeiten die sowjetzonale Lizenzausgabe von Werner Fincks „Disziplin ist alles" beschlagnahmt wurde.

Die materielle und moralische Lage der Intellektuellen

Das Positivste an der kommunistischen Kulturpolitik sind die beträchtlichen Staatsausgaben für kulturelle Zwecke, die die öffentlichen Aufwendungen demokratischer Länder für die Kultur übersteigen (dafür gibt es aber unter kommunistischer Herrschaft keinerlei Möglichkeit eines privaten Mäzenatentums und Auftragswesens). Die Subventionen der Theater und Orchester liegen auch nach den jüngsten Einsparungen für die Aufrüstung über denen in Westdeutschland. Dabei sind die Theater-plätze billiger (für Kollektivbesuch der Betriebsbelegschaften). Billiger sind auch bei qualitativ durchaus hochwertiger Ausstattung die Bücher, sowohl der kommunistischen Tendenzschriftsteller wie der (sortierten und kommentierten) Klassiker. Bei allen Bauvorhaben sind zwei Prozent der Ausgaben für die bildende Kunst vorgesehen. Der Staat gibt in großem Stil Forschungsaufträge aus und gewährt den (produktionswichtigen) wissenschaftlichen Instituten große finanzielle Unterstützung. Es werden zahlreiche Auszeichnungen verliehen, angefangen bei den Titeln „Verdienter Arzt, Lehrer, Wissenschaftler, Erfinder des Volkes“ über diverse mittlere Literatur-, Kunst-und Filmpreise bis zu den Nationalpreisen, in deren erster Klasse 100 000 Mark ausgesetzt sind.

Die materielle Lage der Intellektuellen darf man aber darum nicht überschätzen. Gewiß gibt es die enormen Westgeldgagen für Filmstars und Opernsänger, die zur Aufrechterhaltung der Kulturfassade gewonnen werden müssen, und Monatsgehälter bis zu 15 000 Mark für die Spitzen-kräfte der technischen Intelligenz, Nobelpreisträger, . Atomphysiker, Erfinder usw. Auch das Durchschnittseinkommen der Künstler, Schriftsteller, Journalisten, Ärzte, Ingenieure, Professoren liegt noch erheblich über dem der Masse der Sowjetzonenbevölkerung, ist aber auf der Grundlage des niedrigen Lebensstandards und der unentwickelten Konsumgüterinustrie kaum dem der gut verdienenden Arbeiter und gehobenen Angestellten in der Bundesrepublik vergleichbar. Der jugendliche Held an einem Theater der ersten Kategorie wie Halle verdient z. B. 6 50 Ost-mark. So ist der Besitz eines Autos oder Fernsehapparats selbst bei namhaften Künstlern und Wissenschaftlern Ausnahme. Bei den Spitzenkräften der Intelligenz sorgt ein besonderer „Förderungsausschuß“ in gewissen Umfange für Einfamilienhäuschen in den sogenannten „Intelligenz-Siedlungen“ und für günstige Urlaubsreisen (an die Ostsee oder ins Mittelgebirge). Unzureichend ist die Lage der arbeitsmäßig schwer belasteten Lehrer, deren bevorzugte Versorgung bei ihrer großen Zahl schwierig ist.

Der wesentliche Vorteil, den der totalitäre Staat den Intellektuellen zu bieten hat, ist ihre soziale Sicherstellung. Außer bei einigen Künstlergruppen gibt es für sie so gut wie keine Arbeitslosigkeit (allerdings auch in keinem Fall Arbeitslosenunterstützung). Selbst ein Lyriker, der doch in keiner anderen Gesellschaft allein vom Ertrag seiner Gedichte existieren kann, hat im kommunistischen Staat sein Auskommen, wenn er nur leidliche Hymnen auf die Partei und den kommunistischen Aufbau schreibt. Der Staat, der vom Volkseinkommen beliebige Summen abzweigen kann, versorgt ihn durch öffentliche Aufträge, Subventionierung seiner Bücher, Berufung in alle möglichen lukrativen Gremien, durch Staatspreise und Ehrenpensionen. Verliert ein Angehöriger der staats-wichtigen Intelligenz durch irgend eine Umdisposition seine Stellung, wird ihm in der Regel sofort eine neue vermittelt, es sei denn, ihm wurde aus politischen Gründen gekündigt, wozu es freilich leicht kommen kann (dann findet er nie wieder ein angemessenes Unterkommen, denn der ganze Staat ist eine einzige Firma, über deren Personalpolitik der Staatssicherheitsdienst wacht). Eine Altersgrenze gibt es praktisch nicht, man scheidet im allgemeinen nur bei Invalidität aus dem Produktionsprozeß aus. Gegenüber der für die Masse der Bevölkerung katastrophalen Altersversorgung wurde für Teile der Intelligenz eine besondere Alters-und Hinterbliebenenpension geschaffen.

Dafür ist der Intellektuelle im kommunistischen Staat zu einem Kulturbeamten, zum Manager gestempelt. Das gilt auch für die sogenannten freien Berufe. Für die Künstler gibt es keine Privataufträge mehr, die Ärzte sind fast restlos von öffentlichen Einrichtungen wie Betriebspolikliniken und Ambulatorien aufgesogen worden, und die Rechtsanwälte hat die Partei zur besseren Aufsicht in Kollegien zusammengefaßt. Es liegt auf der Hand, daß diese Abhängigkeit vom Staate bei der Praxis der kommunistischen Kulturpolitik zu einem Martyrium für die geistig-schöpferischen Menschen wird. Im Jahre 195 3, nach dem Juni-Aufstand, hat es die sowjetzonale „Berliner Zeitung“ einmal offen auszusprechen gewagt, daß die SED-Organe u. a. „die Kunstproduktion gehemmt, Schaffenskrisen psychotischen Charakters bei hervorragenden Künstlern hervorgerufen, die besten Kunsthistoriker abgestoßen und das Ansehen der kulturellen Errungenschaften unserer Republik in ganz Deutschland geschädigt haben“ (die damals verantwortlichen Funktionäre sind trotz mancher Umgruppierung samt und sonders heute noch in leitenden Positionen tätig). Die Intellektuellen‘müsseir ihre soziale Sicherstellung mit Bevormundung, Demütigung und Entrechtung, mit ständigen nervenzerreibenden Auseinandersetzungen bezahlen.

Denn die Verwandlung des Intellektuellen zum Kulturbeamten gefährdet notwendigerweise seine Integrität als autonomer geistiger Mensch. Die Bindung an die Macht ersetzt die Bindung an den Geist. Es ist ein tiefer Widerspruch zwischen dieser neuen Funktion des intellektuellen Menschen und seiner historischen Berufung als Mittler der Schönheit, Wahrheit und Menschlichkeit. Der geistig schaffende Mensch darf sici niemals damit abfinden, ein geregeltes Einkommen und gesellschaftliche Ehren zu empfangen, während rings um ihn das Unrecht zum Himmel schreit. Seine Intelligenz, seine Bildung, sein Wissen und das Gefühl seiner Verantwortung lassen ihn nicht zur Ruhe kommen angesichts der Lüge und des Terrors, des Elends vieler Menschen, der Schädigung der Kunst und Vergewaltigung der Wissenschaft. Dennoch. Und das ist seine Tragik, muß er unter dem Regime arbeiten und mit dem Regime auskommen, wenn er leben will. Es bliebe ihm andernfalls nur die Flucht nach dem Westen, die aus mancherlei Gründen nicht als ideale Lösung angesehen werden kann; denn einmal ist die Bundesrepublik gar nicht in der Lage, allen mitteldeutschen Intellektuellen eine Existenz zu bieten, und außerdem wäre es höchst bedenklich, die siebzehn Millionen Menschen in der Zone ihrer pädagogischen, künstlerischen, wissenschaftlichen und technischen Betreuung zu berauben.

Das bedeutet für die Intellektuellen der Sowjetzone, daß sie einen Kompromiß mit dem Regime eingehen müssen. Es gibt verschiedene Arten des Kompiomisses: der eine unterwirft sich zähneknirschend der Gewalt, um heimlich seine humanistische Arbeit fortführen zu können; der andere verkauft sein Gewissen und seine Ideale. Während ein Kompromiß der ersten Art oft unumgänglich notwendig ist, ist der andere für einen schöpferischen Menschen untragbar. Wer ihn wählt, und es sind Namen von Rang darunter, hat seine Legitimation als Repräsentant des Geistes aufgegeben, er bezahlt den Teufelspakt mit künstlerischer Impotenz und wissenschaftlicher Unredlichkeit. Dabei ist es ganz gleichgültig, aus welchen Motiven sich jemand dem Regime ausgeliefert hat, ob sein Horizont von kommunistischen Mythen umstellt ist, ob er Karriere machen will oder ob er einfach Angst hat.

Darüber, daß die verantwortungslose Haltung dieser Handvoll kommunistischer Prominenter zu verurteilen ist, dürfte es keine Diskussion geben. Sehr viel umstrittener aber ist die Stellung jener Masse der Intellektuellen in der Zone, die eine geistige Opposition gegen das Regime bewahrt haben, die aber von dem Fluch betroffen sind, getreu eine Arbeit tun zu müssen, von der man nie ganz genau weiß, ob sie mehr den Menschen oder mehr dem Regime dient. Sie sind hilflos und einsam den Bedrückungen und Anfechtungen der Macht ausgesetzt. Ihr Kompromiß ist ein lebensgefährlicher Balanceakt zwischen Unterwerfung und Widerstand. Und für jeden kann einmal der Tag kommen, wo er zwischen den beiden Alternativen wählen muß. Natürlich hat der kommunistische Staat nichts dagegen, daß ein Arzt Kranke heilt, ein Architekt Häuser baut, ein Konservator die Bilder der alten Meister restauriert, weil hier die Interessen der Menschen und des Regimes parallel laufen. Aber das kann sich schnell ändern. Der Arzt, der nicht genügend Menschen für die Volkspolizei und die Landarbeit tauglich schreibt, der Baumeister, dem die Bequemlichkeit der Wohnungen wichtiger erscheint als die den Staat repräsentierende Fassade, der Museumsleiter, der expressionistische Bilder ausstellt oder Handzeichnungen des „Formalisten“ Grünewald publiziert, wird sofort zum Staatsfeind gestempelt. Jeder Intellektuelle wird einmal vor die Frage gestellt: Wie kann ich anständig bleiben, ohne mich selbst und meine Arbeit zu gefährden? Exponierte Berufe wie Lehrer, Schriftsteller, Journalisten, Geisteswissenschaftler stehen sozusagen immer an der Front. Der ideologische Charakter ihrer Tätigkeit macht es ihnen besonders schwer, eine aufrechte und ehrenhafte Haltung zu bewahren, ohne eine Verfolgung heraufzubeschwören. Andere Berufe wie Techniker, Chemiker, Agronomen, Archivare u. ä. sind weniger gefährdet. Aber der Auseinandersetzung ausweichen kann auf die Dauer niemand. Dieser tägliche, unausweichliche Konflikt ist die Dornenkrone des geistigen Menschen im Osten. Wie der Einzelne sich dann entscheidet, hängt oft von ganz individuellen Gegebenheiten ab wie Alter, Herkunft, Stellung, familiäre Bindung, Charaktereigenschaften, Weltanschauung. So wenig es einen Freibrief geben darf, die Verbrechen des totalitären Regimes zu unterstützen, so ungerechtfertigt wäre es auch, von der sicheren und unangefochtenen Position des Außenstehenden ein vorschnelles Urteil über die Haltung des Intellektuellen unter kommunistischer Herrschaft zu fällen. Es handelt sich um einen tiefen und schmerzhaften Konflikt, der nur allzu oft zu einer jähen und bitteren Lösung führt, d. h. zu Verhaftung oder Flucht.

Wir wollen gar nicht von den Intellektuellen, zum Teil bedeutenden Namens sprechen, die schon 1945 beim Einmarsch der Russen und anschließend in den sowjetischen KZ’s zugrunde gegangen sind. Auch später sind zahlreiche geistig schaffende Menschen dem Terror zum Opfer gefallen, beispielsweise wurde der bekannte Karikaturist Karl Holz zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt und kam in einem russischen Lager um. Die angesehensten Persönlichkeiten sind von 1945 bis jetzt aus der Sowjetzone in den Westen geflüchtet oder übergesiedelt bzw. haben ihre Tätigkeit im Osten aufgegeben: neben den an anderer Stelle erwähnten bildenden Künstlern seien genannt die Dichter Plivier, Ricarda Huch, Hagelstange und Kasack, die Philosophen Nicolai Hartmann, Spranger, Theodor Litt, die Dirigenten Furtwängler, Keilberth, Klemperer, Rother und Kempe, die Regisseure Gründgens, Erich Engel, Harnack, Legal und Arnold, die gesamte erste Garnitur der Sänger und Schauspieler aus Ostberlin und Dresden sowie zahllose Professoren und Wissenschaftler, soweit diese nicht als technische Spezialisten in die Sowjetunion verchleppt wurden. Jüngst noch haben der weltberühmte Dirigent Erich Kleiber und Albert Schweitzer alle Beziehungen zum Sowjetzonenregime abgebrochen.

In diesem Zusammenhang drängt sich die Erinnerung an das Schicksal der besten Künstler und Wissenschaftler in der Sowjetunion auf, wo zur Vollendung entwickelt wurde, was in der Zone erst in Ansätzen vorhanden ist. Ein paar Beispiele: Der Dichter Maxim Gorki und sein Sohn wurden vergiftet; der Romancier Pilnjak, die Dramatiker Tretjakow und Erdmann, der Kritiker Auerbach, die Schauspielerin Sinaida Reich wurden erschossen; die Lyriker Jessenin und Majakowski verübten Selbstmord; der Dichter Isaak Babel, der Theaterregisseur Meyerhold und der Biologe Wawilow gingen in den Zwangsarbeitslagern zugrunde; der Satiriker Sostschenko, die Musiker Schostakowitsch, Prokoffiew und Chatschaturian, die Philosophen Deborin und Alexandrow, der Historiker Tarle, der Physiologe Orbeli wurden gemaßregelt; die Romanciers Scholochow, Fadejew und Gladkow mußten ihre bereits weltbekannten Werke umschreiben; der Filmregisseur Eisenstein, der Theaterregisseur Tairow, die Maler Lissitzky und Malewitsch wurden zum Schweigen verurteilt; der Komponist Strawinsky, der Philosoph Berdjajew, die Maler Repin und Chagall gingen ins Exil. Das sind nur einige Namen von Weltruf; von den Abertausenden unbekannter Intellektueller, die unter dem Stalinismus zugrunde gingen, kündet keine Chronik.

An diese Tatsachen muß man denken, wenn man die Worte des sowjetzonalen Kulturministers, des Stalinpreisträgers Johannes R. Becher, vernimmt: „Möge es riid'it nur über dem Eingang zum Ministerium für Kultur als programmati$dt& Verkündigung stehen bleiben, möge es in den Herzen und aus den Handlungen aller seiner Mitarbeiter deutlidt zu lesen und zu ersehen sein, daß jene Zukunft unseres Volkes schon begonnen hat, wohin uns die Sowjetunion, die Lehrmeisterin aller freien, friedliebenden Völker, schon vorangeeilt ist ..."

Fussnoten

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Jürgen Rühle, geb. 5. November 1924 in Berlin; Stadium der Philosophie, Germanistik und Kunstwissenschaft in. Berlin; war nach seiner Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft im Jahre 1949 Feuilleton-Redakteur der „Berliner Zeitung" und Theaterkritiker des „Sonntag“ in Ostberlin; diffamierende Angriffe der SED-Zeitungen gegen seine Theaterkritik veranlaßten ihn, im Frühjahr 1955 seine Stellung in der sowjetzonalen Presse aufzugeben; seitdem als freier Schriftsteller in Westberlin.