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Die Sowjetspionage. Die Rote Kapelle in Deutschland | APuZ 49/1955 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 49/1955 Die Sowjetspionage. Die Rote Kapelle in Deutschland

Die Sowjetspionage. Die Rote Kapelle in Deutschland

David J. Dallin

David I. Dallin behandelt auf Grund umfangreichen Aktenstudiums in seinem neuen Werk die verzweigte und intensive Tätigkeit des geheimen sowjetischen Nachrichtenapparates. Da? Buch von David I. Dallin wird unter dem Titel „DIE SOWJETSPIONAGE" demnächst im „Verlag für Politik und Wirtschaft", Köln, erscheinen. Mit ireundlicher Genehmigung des Verlages veröffentlichen wir in den Beilagen folgende Kapitel: Kapitel 3: „Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg"; Kapitel 6: „Die Rote Kapelle in Deutschland"; Kapitel 9: „Die Vereinigten Staaten". Sie lasen zuletzt Kapitel 3: „Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg“, es folgt in dieser Ausgabe Kapitel 6: „Die Rote Kapelle in Deutschland".

1. Die Gruppe Schulze-Boysen-Harnack

Als am 22. Juni 1941 die sowjetischen Dienststellen in Deutschland ihre Tore schlossen und die sowjetischen Beamten ihre Koffer packten, gab es in Deutschland nichts, was diese Leitstellen und Meldeköpfe des sowjetischen ND auch nur annähernd zu ersetzen vermochte. Im Unterschied zum sowjetischen Untergrund in Belgien, Holland, Frankreich und der Schweiz war das Geheimnetz in Deutschland nur höchst unzulänglich organisiert. Es blieb kein einziger erfahrener Nachrichtendienst-offizier zurück, der die Arbeit übernehmen konnte, als Kobulow, „Erd-berg“ und Shachanow ihre Funkgeräte abbauten, ihre Papiere verbrannten und die Hauptstadt, die in der Erwartung „epochemachender Siege“ stand, in Richtung Moskau verließen.

Was Kobulow und „Erdberg“ zurückließen, das war eine Handvoll embryonaler Ansätze, aber kein Netz. Bei ihrer fieberhaften Suche nach Nachfolgern hatten sie ein paar alte Kommunisten aufgetan, die in fast völliger Zurückgezogenheit lebten, ein paar weit über das Land verstreute und untätige Sowjetagenten, die nicht von der Polizei bedrängt waren, und ein paar junge Enthusiasten, in denen Haß, Hoffnung und Ehrgeiz brannten, und die nur zu glücklich waren, in die aufregende Welt des Untergrund gehen zu können. Während der letzten Monate in Berlin hatten die sowjetischen Diplomaten gerade Zeit genug gehabt, •ihre engsten Freunde miteinander bekannt zu machen und ein paar Funkgeräte auszugeben. Bei ihrer Abreise war alles noch unfertig. Kurze Zeit darauf bildete sich sehr schnell jene Gruppe, die von der deutschen Abwehr später die Bezeichnung Rote Kapelle erhielt, während sie in der kommunistischen Literatur nach ihren beiden Führern die Gruppe Schulze-

Boysen—Harnack genannt wird.

Arvid Harnack, der ältere von beiden (er war bei Ausbruch des Krieges mit Rußland vierzig Jahre alt), entstammte einer berühmten Familie von Philosophen und Schriftstellern. Sein Onkel war der bekannte Kirchenhistoriker Adolph von Harnack, sein Vater, Professor Otto von Harnack, galt als Autorität der Literaturgeschichte, während andere Mitglieder der Familie wichtige Regierungsposten bekleideten.

Kurz nach dem Ende des ersten Weltkrieges schloß sich der junge Harnack einer der rechtsradikalen Gruppen an, die sich in dieser Zeit, als Deutschland von nationalistischen Leidenschaften aufgewühlt war, überall bildeten. Aber schon nach einigen Jahren kehrte er den nationalistischen Richtungen den Rücken und wandte sich um die Mitte der zwanziger Jahre dem Marxismus und Kommunismus zu, dem er bis zum Ende seines Lebens treu blieb. Dieser Hang zu den extremsten Programmen und Parteien — Nationalismus in seiner schärfsten Form und sozialer Fortschritt in seiner pervertierten Verkörperung durch den Kommunismus — war für Harnacks Persönlichkeit charakteristisch. Auch Erziehung und Bildung konnten diesen Zug im Wesen dieses ehrlichen und zugleich einfachen Mannes, der die Logik bi; zur Absurdität trieb, nicht abschwächen. Im Jahre 1927 ging Harnack in die Vereinigten Staaten, wo er mit Hilfe eines Rockefeller-Stipendiums zwei Jahre lang die Wirtschaftsverhältnisse und die Geschichte der sozialistischen und kommunistischen Bewegungen in Amerika studierte. Während dieser Zeit schrieb er ein Buch mit dem Titel „Die vormarxistische Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten“, das die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung in Amerika von 1792 bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges darstellt. Die Arbeit hielt sich an Tatsachen, war zweifellos eine ernsthafte und aufrichtige Untersuchung, aber kein wissenschaftliches Meisterwerk. Es schloß mit einer Prophezeiung über die Ausbreitung des Marxismus in der amerikanischen Arbeiterbewegung.

Im Jahre 1931 gründeten einige junge deutsche kommunistische Intellektuelle, unter ihnen Harnack, mit Unterstützung der sowjetischen Botschaft in Berlin eine prosowjetische Propagandagesellschaft, die „Arbeitsgemeinschaft zum Studium der Planwirtschaft“ (abgekürzt Arplan). Der Spiritus rector dieser Vereinigung war Sergeij Bessonow, ein ehemaliger Sozialrevolutionär, ein Mann mit guter Erziehung und interessanter Redner, der zunächst zum Direktorium der sowjetischen Handelsgesellschaft gehört hatte, dann aber zum Beamten an der sowjetischen Botschaft in Berlin ernannt worden war. Ein Sekretär der Botschaft, A. Hirschfeld, nahm sich der technischen Einzelheiten bei der Verwaltung der Vereinigung an.

Die Arplan wurde in derselben Absicht gegründet und unterstützt wie so viele andere gleichgeartete Organisationen — die Sowjets wollten eine Gruppe einflußreicher, aber nichtkommunistischer Wissenschaftler an sich ziehen, auf deren Unterstützung sie in einem entscheidenden politischen Moment rechnen konnten. Spionage war in solchen Fällen nicht das Hauptziel, obgleich die Beschaffung von Informationen für Moskau und die Anwerbung neuer Agenten auch dabei niemals vernachlässigt wurde. Von den ungefähr fünfunddreißig Mitgliedern der Vereinigung gehörten nur fünf oder sechs der KPD an, während die übrige Mitgliedschaft sich aus Personen zusammensetzte, die entweder mit der Linken sympathisierten, eine deutsche Zusammenarbeit mit Rußland befürworteten. oder aber, was bei einigen konfusen Hirnen der Fall war, Lenin gegen den „kosmopolitischen“ Marx verteidigen wollten usw. Unter den kommunistischen Mitgliedern befanden sich verschiedene hervorragende Persönlichkeiten; da waren neben Harnack der Soziologe und Sinologe Karl August Wittfogel, der Philosoph Georg Lukacz, der Wirtschaftswissen-

schaftler Richard Oehring und einige andere. Bei den Zusammenkünften der Arplan, die ungefähr einmal monatlich stattfanden, wurden Arbeiten über sowjetische Probleme — sowjetisches Recht, die Landwirtschaft der UdSSR usw. — verlesen, deren wissenschaftliches Niveau ebenso hoch war wie das der jeweiligen Diskussionen.

Die sowjetischen Beamten steuerten die Vereinigung aus dem Hintergrund, während die deutschen Kommunisten, wenigstens nach außen hin, eine zweitrangige Rolle spielten. Präsident war Professor Friedrich Lenz, ein Nichtkommunist; Arvid Harnack war der Sekretär.

Der Wendepunkt in Harnacks Leben kam während einer „Studienreise“ nach Rußland, die 1932 von Bessonow für vierundzwanzig Mitglieder der Arplan organisiert worden war. Bei den Besuchen, die Harnack offiziellen Dienststellen in Moskau abstattete, wurden seine Ergebenheit und seine Fähigkeiten bemerkt. Noch vor seiner Rückkehr nach Berlin wurde er von den Kominternführern Otto Kuusinen und Ossip Piatnitsky empfangen und geradeheraus gefragt, ob er bereit sei, direkt für die sowjetische Regierung tätig zu werden. Er willigte ein

Seit jenem Zeitpunkt arbeitete Harnack ein volles Jahrzehnt für den sowjetischen ND. Er war stolz auf diese Arbeit und lehnte es ab, sich durch finanzielle Überlegungen bestimmen zu lassen.

„Insgeheim für den Kommunismus zu arbeiten“, so drückt Reinhold Schönbrunn, einer seiner kommunistischen Freunde, es aus, „gab dem Leben dieses Fanatikers seinen Inhalt“.

Als Hitler zur Macht kam und die Arplan einging, sah Harnack nur einen Grund, weiter in seinem Vaterland zu bleiben, nämlich den Dienst für die Sowjets.

Harnack war fanatisch, unbeugsam, fleißig, ausfallend energisch und tüchtig, alles in allem nicht unbedingt eine liebenswerte Persönlichkeit oder ein angenehmer Umgang. Er war stets sehr ernst und hatte wenig Sinn für Humor; wir, seine Kollegen, fühlten uns in seiner Gegenwart immer etwas beengt. In diesem Manne war etwas Puritanisches, etwas Enges und Doktrinäres. Aber er war ergeben bis zum äußersten. Auch bei [seiner Frau] Mildred fand sich etwas von Arvids Charakterzügen

Harnack trat nie der Kommunistischen Partei bei, erschien aber hin und wieder auf kleineren kommunistischen Versammlungen, wie zum Beispiel auf Zusammenkünften der „Berufs-“ oder „Gewerkschafts-“ Gruppen. Im Hintergrund reiften Pläne für einen größeren Einsatz dieses gelehrten Freundes der Sowjetunion.

Im Jahre 1 93 3 übernahm Harnack einen Posten im Reichswirtschafts-

ministerium. Mehrere Gründe hatten ihn zu diesem Schritt geführt. Bei seiner Arbeit als Fachmann für russische (und amerikanische) Wirtschaftsfragen hatte er regelmäßigen Kontakt zur sowjetischen Botschaft zu unterhalten und diese Pflicht konnte als Tarnung seiner Besuche bei sowjetischen Botschaftsräten und Attaches dienen. Außerdem träumte Harnack von einer großen Zukunft in einem neuen Deutschland, in dem er sich selbst als einen der führenden Männer eines deutsch-sowjetischen Regimes sah, der das Land nach russischem Muster sozialisierte. Sein Ansehen im Reichswirtschaftsministerium war groß und niemand zweifelte an seiner Loyalität. Seine Beförderung zum Oberregierungsrat ließ nicht lange auf sich warten. Nach Abschluß des deutsch-sowjetischen Paktes von 1939 schickte man ihn als Mitglied einer deutschen Handels-delegation nach Rußland.

Zu den besonders auffallenden Zügen im Bild Harnacks gehören seine Vorsicht und seine genaue Beachtung der Regeln der konspiratsia. Im Gegensatz zu manchen der Männer, die eines Tages mit ihm zusammen die Rote Kapelle führen sollten, beging er niemals eine gedankenlose Handlung, setzte sich niemals einer unnötigen Gefahr aus und tat niemals etwas, durch das er sich selbst verraten hätte. Seine Mitarbeiter im Ministerium und seine Freunde mußten ihn für den soliden, gewissenhaften, loyalen deutschen Beamten halten und hielten ihn auch dafür.

Später sprachen seine Richter und selbst die Ermittlungsbeamten der Gestapo mit Hochachtung von ihm *). Sein Vetter Axel von Harnack, der Arvid ebenfalls hochschätzt, zeichnet allerdings ein realistischeres Bild, in dem auch der Eifer und der Kampfgeist des Kommunisten deutlich werden:

„Mein Vetter Arvid Harnack . . » war ein hochbegabter, vielseitig vorgcbildeter Beamter, ein scharfsinniger, grüblerischer Kopf, geübt im Debattieren und stets geneigt dazu. Eine gewisse Härte war kennzeichnend für ihn: er verfügte neben ihr aber auch über das Mittel der Ironie und verschmähte seine Anwendung schwächeren Gegnern gegenüber im Redekampf nicht. Er besaß starken Ehrgeiz und ein Selbstbewußtsein, das auf anerkannten Leistungen beruhte

In der sowjetischen Botschaft war Harnacks Freund und geistiger Führer, Sergeij Bessonow, inzwischen zum Botschaftsrat aufgerückt. Dieser bemerkenswerte Mann blieb bis zum Februar 1937 in Berlin, wurde dann allerdings von einem harten Schicksal getroffen. Man rief ihn in der ersten Phase der Großen Säuberung nach Moskau zurück und verhaftete ihn unter der Beschuldigung, eine Verbindung zwischen Trotzky und den Nationalsozialisten hergestellt zu haben. Zehn Monate weigerte er sich hartnäckig, ein Geständnis abzulegen — ein außergewöhnlicher Fall. Dann aber brach man seinen Widerstand und stellte ihn zusammen mit Bucharin und Rykow vor Gricht (12. — 13. März 1938), wo er „gestand“ und sich selbst und seinen Mitangeklagten, Nikolai Krestinsky, den früheren Sowjetbotschafter in Deutschland, schwer belastete. Krestinsky wurde zum Tode verurteilt, Bessonow erhielt fünfzehn Jahre Gefängnis

Arvid Harnack fand in seiner Frau Mildred Fish, einer amerikanischen Dozentin der Literaturgeschichte, die er in den Vereinigten Staaten geheiratet hatte, eine Gefährtin bei allen Unternehmungen einschließlich der Roten Kapelle. Mildred Fish war im Grunde ein unpolitischer Mensch und nur an Literatur und Sprachen interessiert. Sie übersetzte amerikanische Romane ins Deutsche und dozierte an der Berliner Universität über amerikanische Literatur. Noch im Gefängnis übertrug sie Goethes Gedichte ins Englische. Literatur war ihre wirkliche Leidenschaft und nur durch ihren Mann, dessen Intellekt und dessen berufliche und wissenschaftliche Leistungen sie bewunderte, kam sie in Verbindung mit dem Kommunismus und dem sowjetischen ND. Axel von Harnack schrieb über sie.

„Ein strahlendes, klares Auge blickte einen an, reiches, blondes, schlicht gescheiteltes Haar umrahmte ihre Züge. Ihr gewinnendes, freundliches Wesen mußte für sie einnehmen. Wer sie knapp charakterisieren wollte, hätte sie eine edle Erscheinung nennen müssen. Ihrem aufrechten Charakter entsprach ihre äußere Haltung, ihre betont schmucklose Kleidung und die gesamte Lebensführung

Harro Schulze-Boysen, der andere Führer dieser Gruppe, unterschied sich von Harnack in vieler Hinsicht, war aber, was Familie und Herkunft betrifft, so bemerkenswert wie sein gelehrter Freund. Er kam aus hoch-konservativen, monarchistischen Kreisen und war in deren Geist erzogen worden, die sowohl gefühlsmäßig wie politisch jede Art von Nationalsozialismus ablehnten. Admiral von Tirpitz ist einer seiner Vorfahren. Harros Vater, Erich Schulze, diente im ersten Weltkrieg als Offizier in der kaiserlichen Marine und war im zweiten Weltkrieg Stabschef des Deutschen Militärbefehlshabers in Holland. Mit siebzehn Jahren gehörte Harro bereits dem konservativen „Jungdeutschen Orden“ an, der den Nationalsozialismus bekämpfte. Dann begann er langsam nach links hinüberzuwechseln. Während seiner Universitätszeit in Berlin, in der sich kurz vor Hitlers Machtergreifung wilde Kämpfe zwischen den extremen Gruppen abspielten, lehnte er es ab, sich entweder den Nationalsozialisten oder den Kommunisten anzuschließen. Sein Denken war noch unreif und verschwommen. Er neigte dazu, die Ideen der verschiedensten politischen Gruppen „fortschrittlichen“ Charakters miteinander zu ver-

quicken. Diese Negation politischer Einseitigkeit war ein wichtiger Zug im Denken des jungen Schulze-Boysen und blieb, bis zu einem gewissen •) Kriminalrat Pannwitz von der Gestapo liebte es, mit Häitlingen politische Themen zu diskutieren. Die Berichte, nach denen Pannwitz zum Osten übergegangen sei, sind unbestätigt. Nach Aussagen von Spätheimkehrern befand sich Pannwitz noch im Sommer 1955 in Workuta. Sein Vorgesetzter, Oberst Panzinger, ist dagegen im Herbst 1955 aus der SU zurückgekehrt. Grad, ein ständiger Zug in seinem politischen Charakterbild. Im März 1932 — er war damals zweiundzwanzig Jahre alt — schrieb er in der Zeitschrift „Der Gegner“: „Tausend Menschen reden tausend verschiedene Sprachen, schreien sich ihre , Ismen'ins Gesicht und sind bereit, zur Austragung ihrer angeblichen Gegensätze bis auf die Barrikaden zu gehen . . . Wir dienen keiner Partei . . . wir haben kein Programm. Wir kennen keine steinernen Wahrheiten . . . Die . alten Mächte“, Kirche und Feudalismus, Bürgerstaat, Proletariat und die Jugendbewegung haben versagt . . .

Diese kleine Zeitschrift wurde Anfang 1933 verboten. Harro Schulze-Boysen wurde verhaftet und von der Gestapo mißhandelt. Seine Mutter bot alle ihre Beziehungen auf und erreichte schließlich, daß man ihn nach drei Monaten wieder auf freien Fuß setzte. Schulze-Boysen verließ das Gefängnis als ein scharfer Gegner des Nationalsozialismus. Er besuchte zunächst eine Luftfahrtschule, studierte dann Fremdsprachen und wurde schließlich Abwehroffizier in Görings Reichsluftfahrtministerium (RLM). 1936 heiratete er die junge Libertas Haas-Heye, eine Großenkelin des Fürsten Philipp zu Eulenburg. Hermann Göring zählte zum großen Freundeskreis ihrer Familie.

Die lebhafte, charmante und zum Abenteuer neigende Libertas spielte eine wichtige Rolle bei den Unternehmungen der Roten Kapelle. Sie half ihrem Mann Harro bei seiner politischen Arbeit und seiner Spionage-tätigkeit, ohne sich über die Gefahren völlig im klaren zu sein. Sie nahm ein trauriges Ende, glaubte im Unterbewußtsein immer, sie werde „irgendwie“ ohne Schaden aus diesem Kampf hervorgehen. In den Erinnerungen ihres Verteidigers, Rudolf Behse, heißt es: „Sie war nicht nur eine Schönheit, sondern besaß auch große Anziehungskraft als Frau. Sie war in der Tat so attraktiv, daß bei ihrer Verhaftung ein Befehl erlassen wurde, bei den Vernehmungen müßten stets zwei Beamte zugegen sein

Schulze-Boysen stand seit den Jahren 1936 und 1937 mit der kommunistischen Bewegung in Verbindung, schloß sich aber niemals den organisatorischen Überresten der KPD an. Seine ND-Arbeit für die Sowjets begann 1936, als er Informationen über geheime deutsche Abwehrvorgänge im Zusammenhang mit dem Spanischen Bürgerkrieg weitergab *). Daß eine Frage der internationalen Politik, bei der sich der Kommunismus angeblich mit den Westmächten alliierte, Schulze-Boysen den Anstoß zum ersten Akt direkter Zusammenarbeit mit der sowjetischen Regierung gab. ist kein Zufall, sondern bezeichnend für diesen Mann, der Kommunist aus anti-nationalsozialistischen Emotionen war, nicht aber auf Grund ideologischer Überlegungen zu den Fragen des Marxismus-Leninismus, der bis zum Jahre 1939 nicht eine einzige von Lenins Schriften gelesen hatte und nur mit ein paar Werken Stalins vertraut war.

In der Bibliothek des RLM [so schreibt ein Freund Harro Schulze-Boysens, Dr. Hugo Buschmann] gab es einige neuere Schriften Stalins; aber von Lenins Werken wußte Schulze-Boysen praktisch nichts. Ich sagte, daß ich ihm da helfen könne. Meine eigene Bibliothek hatte seit 193 3 mehr als ein Dutzend Durchsuchungen überstanden, von Lenins Werken hatte ich eine fast vollständige, von Trotzkys Werken eine vollständige Sammlung retten können. Außerdem besaß ich noch Stalins ältere Schriften und einige andere Arbeiten . . . Wir gingen zu einem Versteck im Keller . . . Seit jenem Tage kam Harro Schulze-Boysen fast täglich in unser Haus, um dort einige Stunden zu verbringen

In diesen Vorkriegsjahren war „Schubo", wie sein Spitzname lautete, ständig von fünf oder sechs Freunden umgeben, die später während des Krieges unter seiner Führung als politische Gruppe in der Roten Kapelle tätig wurden. Am 11. Oktober 1938 schrieb er an seine Eltern: „Ich sage jetzt für 1940/41 spätestens, vermutlich aber schon kommendes Frühjahr den Weltkrieg mit anschließendem Klassenkrieg in Europa vor-aus. Lind ich behaupte fest, daß Österreich und die Tschechoslowakei die beiden ersten Schlachten des neuen Krieges gewesen sind

Die Gruppe um Schulze-Boysen bildete zwar den Kern einer kommunistischen Organisation, entsprach aber dennoch nicht dem streng umgrenzten Begriff einer kommunistischen Zelle. Ein Mitglied der Gruppe, Harros Freund und Bewunderer, Günther Weisenborn, behauptet, daß Schulze-Boysen „ein Kommunist wie Harnack“ war Dagegen bestreitet Harros Mutter, daß ihr Sohn jemals orthodoxer Kommunist gewesen sei, was ebenfalls zutrifft: „Mein Sohn hatte sich zum Ziel gesetzt, die Diktatur zu stürzen. Ihm waren alle Mittel und alle Mitkämpfer recht, ganz gleich, ob sie rechts oder links standen . . . Daß er seine Mitkämpfer vor allem in kommunistischen Reihen fand, beruht wohl darauf, daß dort die aktivsten, kompromißlosesten und mutigsten Widerstandskämpfer standen

Als politischer Führer war Schulze-Boysen eine umstrittene Persönlichkeit. Dieser Mann der nie erlahmenden Tatkraft, der in der Wahl seiner Mittel skrupellos und als fanatischer Gegner Hitlers bereit war, sich mit jedem anderen Gegner des Regimes zu verbünden, hätte sich kaum in das eiserne Gefüge einer kommunistischen Partei pressen lassen. Sein ständig bohrender Geist war nie mit einer Antwort zufrieden. Er war viel zu gefühlsbetont und unbeständig, um einen gehorsamen „Apparatschik“ abgeben zu können. Er rief hier uneingeschränkte Bewunderung, dort scharfe Ablehnung hervor. Harnack, der gesetzte Marxist, für den alle ideologischen Probleme ein für allemal gelöst waren, hielt Schulze-Boysen für einen Wirrkopf. Günther Weisenborn dagegen erinnert sich seines toten Freundes: „Ein schönes, ein reines Gesicht . . . herrlich gewachsen, blauäugig, kühn . . . die unabhängige Heiterkeit eines sicheren Menschen . . .der suggestive Schwung eines genialen Politikers, der sah, der uns alle mitriß Alexander Kraell, der im Jahre 1942 den Prozeß gegen die Rote Kapelle leitete, verglich Schulze-Boysen mit anderen Mitgliedern der Roten Kapelle und gewann einen negativen Eindruck: „Schulze-Boysen war eine ausgesprochene Abenteurernatur, klug und gewandt, aber unbeherrscht und ohne Hemmungen, rücksichtslos auch in der Ausnutzung seiner Freunde, im höchsten Grade ehrgeizig, ein glühender Fanatiker und ein geborener Revolutionär

Hätte „Schubo“ den Krieg überlebt,. wäre ihm sicherlich eines der höchsten Ämter in der sowjetischen Besatzungszone übertragen worden. Aber er hätte sich nicht in den Chor der Satellitenminister einstigen können. Er war viel zu selbständig und leidenschaftlich, um zu einer Zeit, als Kommunistenführer wie Laszlo Rajk, Traicho Kostoff und Rudolf Slansky in den Tod gehen mußten, die Rolle eines gehorsamen Dieners einer fremden Macht spielen zu können. Wäre Harro Schulze-Boysen nicht im Jahre 1942 im Gefängnis Plötzensee gehängt worden, hätte man einige Jahre später irgendwo in der Nähe von Pankow oder Karls-horst einen anderen Galgen für ihn gebaut.

Bei Ausbruch des Krieges im Jahre 1939 trat Schulze-Boysen, der jetzt eine festausgeformte politische Persönlichkeit war, in den letzten und von höchster Aktivität ausgefüllten Abschnitt seines Lebens ein. Für ihn war der Krieg nicht die große Katastrophe, sondern der Anfang vom Ende des Nationalsozialismus. Trotz dem Pakt, der gerade zwischen Moskau und Berlin geschlossen worden war, setzte er all seine Hoffnungen auf Rußland.

Am Schicksalstag des 1. September 1939 traf sich eine Gruppe deutscher Intellektueller, unte ihnen Schulze-Boysen, in einem Privathaus im Grunewald. Diese Zusammenkunft ist von einem anderen Gast, Hugo Buschmann, beschrieben worden:

Der junge Luftwaffenoffizier [Schulze-Boysen], wenig älter als Dreißig, mit gegerbtem Gesicht und blauen Augen voller Leben und Energie, war eine interessante Persönlichkeit in diesem Grunewaldzirkel von Schriftstellern, Schauspielern und-Malern. Sie feierten keinen Jahrestag, sondern den Ausbruch des Krieges. Was für Illusionen diese Leute hatten! Alle waren sich sicher, daß das Ende des Dritten Reiches kommen werde; fast alle glaubten, es stehe nahe bevor in jedem Augenblick erwarteten sie den ersten britischen Luftangriff auf Berlin . . . Nur der junge Luftwaffenoffizier, dessen Gesicht vor Haß zitterte, wenn er von den Nazis sprach, war anderer Ansicht. Er wollte ’) „Die nachgewiesene Venatstätigkeit Schulze-Boysens geht bis zum Jahr 1936 zurück, wo er als Angestellter des RLM in der Lage war, sich Informationen über geheime nachrichtendienstliche Operationen, die gegen die rotspanische Regierung gerichtet waren, zu beschaffen. Unter Mithilie seiner Frau ließ er durch die inzwischen verstorbene und wegen hochverräterischer Umtriebe bekannte Kommunistin Gisela von Pöllnitz der SU-Botschaft in Berlin einen Warnbrief mit dem Erfolg zukommen, daß in der Gegend von Barcelona auf rotspanischem Gebiet Maßnahmen gegen beabsichtigte Unternehmungen der Franco-Regierung getroffen wurden.“ Gestapobericht vom 21. Dezember 1942. ihnen den Optimismus nicht zerstören. Sicher, der Kleinbürger Hitler würde stürzen. Aber so einfach war das nicht zu erreichen.

Schulze-Boysen hatte ganz allgemein kein allzu großes Zutrauen zu England, und Chamberlains Politik hatte ihn zum Gegner dieses Landes gemacht. Er hielt England nicht für fähig, mit Hitler fertig -zu werden, und wandte seine ganze Aufmerksamkeit dem Osten zu ... Wartet doch nicht auf die englischen Bomber, pflegte er während der ersten Phase des Krieges zu sagen — sie sind zu schwach.

Die Befreiung wird von den Russen kommen, nicht von den Briten.

Ich sagte, ich sei mit dem Hitler-Stalin-Pakt keineswegs einverstanden, aber Schulze-Boysen war anderer Meinung. Für ihn war dieser Pakt ein schlaues Manöver; wenn die Zeit reif ist, werden die Russen zuschlagen und als Sieger hervorgehen

In der ersten Phase des Krieges (1939— 1941) vergrößerte Schulze-Boysen den Kreis seiner Freunde, setzte sich mit alten Kommunisten in Verbindung und nahm Kontakt mit ND-Offiziercn in der sowjetischen Botschaft auf. In dieser Zeit bildete sich eine Gruppe, die später zur Roten Kapelle, einer recht umfangreichen „Widerstandsgruppe", anwuchs. Eine Anzahl Männer und Frauen, die bereit waren, nicht bei der bloßen politischen Opposition stehenzubleiben, sammelte sich um Schulze-Boysen, der jetzt mit dem alten KPD-Mann Hans Coppi zusammentraf, einem alten Metallarbeiter, der ein eingeschworener und gehorsamer Kommunist geblieben war, darauf mit dem alten KPD-Kämpfer Johann Graudenz, dann mit Johann Sieg, dem früheren Redakteur der „Roten Fahne“, und noch einigen anderen. Eine der wichtigsten Persönlichkeiten in dieser letzten Gruppe war der bekannte Schriftsteller und Theaterregisseur Adam Kuckhoff, den eine enge Freundschaft mit Arvid Harnack verband. Er gehörte schon fast einer älteren Generation an — er war um diese Zeit bereits über fünfzig Jahre alt — und hatte, wie so viele andere aus der Welt der Künstler, lange Zeit hindurch keinen festen, klar umrissenen politischen Standort bezogen. Einige seiner frühen Romane hatten zum deutschen Nationalsozialismus geneigt, jetzt dagegen schrieb er für die Rote Kapelle Flugblätter, die pro-kommunistisch waren. Seine Frau Margarete, die im Rassenpolitischen Amt der NSDAP arbeitete und Kapitel aus Hitlers „Mein Kampf" ins Englische übersetzt hatte, war Kommunistin und unterstützte Adam Kuckhoff bei seiner gegen das Regime gerichteten Arbeit. Jetzt ist sie Präsidentin der Notenbank in der deutschen Sowjetzone.

Kurz vor Ausbruch des Krieges mit der Sowjetunion wurde Schulze-Boysen mit „Alexander Erdberg“ von der sowjetischen Botschaft in Berlin bekanntgemacht. Es dauerte nicht lange, bis die Väter der keimenden ND-Zelle entdeckten, welche Möglichkeiten sich ihnen in der Person dieses jungen Enthusiasten auftaten. Schulze-Boysen war bald einer der drei Männer, die ausgesucht und bestätigt wurden, den Berliner Spionageapparat im Falle eines Krieges zu leiten. Seine beiden Kollegen waren Arvid Harnack und Adam Kuckhoff. Es war bezeichnend — und verhängnisvoll — daß keiner dieser Leiter des Apparats ein richtiger Apparatschik war, keiner von ihnen Untergrunderfahrung oder Kenntnisse in der Technik des geheimen Funkverkehrs und des Verschlüsselns hatte, daß keiner von ihnen mit Parteifragen, Abweichungen, Geständnissen und Säuberungen auch nur annähernd vertraut war. In dieser Hinsicht unterschied sich die deutsche ND-Gruppe der Sowjets wesentlich von ihren Schwestergruppen im Ausland, die von erfahrenen ND-Agenten wie Leopold Trepper, Victor Sukulow und Alexander Rado geleitet wurden. Amateurarbeit, Naivität und „Salonkommunismus“ kennzeichneten diese Gruppe. Auf der anderen Seite zeigten die Mitglieder dieser Gruppe mehr jugendliche Begeisterung, mehr Fanatismus und größere Ergebenheit gegenüber der Sache als viele ihrer Kollegen im Ausland.

Auf diese Weise entstand die Rote Kapelle. Sie war ein kleiner sowjetischer ND-Ring, der zugleich Teil eines viel größeren und umfassenderen politischen „Widerstands“ war — in Wirklichkeit eine kommunistische Organisation, deren Mitglieder zum großen Teil nichts von der Spionage wußten, die einige unter ihnen zu Gunsten der Sowjetunion betrieben. Diese beiden Merkmale der Roten Kapelle waren eng miteinander verflochten, das eine Merkmal unmöglich ohne das andere.

Von verschiedenen Seiten, besonders in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, ist später der Versuch gemacht worden, die Tätigkeit der Gruppe um Schulze-Boysen als reinen „Widerstand“ gegen das nationalsozialistische Regime hinzustellen, wobei man die Spionage-tätigkeit absichtlich unerwähnt läßt ’).

Diese Behauptung ist unwahr. Es trifft zu, daß die ungefähr hundert Personen, die sich um die innere Kerngruppe sammelten, nichts von den Geheimberichten wußten, die nach Moskau gingen, nichts von sowjetischen Kurieren, die mit Fallschirmen abgesetzt wurden, und nichts von den Kontakten mit Spionageapparaten in den Nachbarländern. Aber die Köpfe des Netzes dienten dem sowjetischen ND und die Rote Kapelle gehörte somit zum Spionagesystem der Sowjets in den Kriegsjahren.

Andererseits hat es während der Zeit des Nationalsozialismus und später nicht an Versuchen gefehlt, der Roten Kapelle jeden Einschlag von „Widerstand abzusprechen und sie lediglich als eine Gruppe von Spionen darzustellen. Auch diese Behauptung ist falsch. Ein „reiner“

Spionagering hätte niemals eine solch große Zahl von Personen umfassen können. Ohne eine gemeinsame Idee und ohne starke politische Emotionen hinter dieser Idee wären diese Männer und Frauen niemals in der Lage gewesen, sich zu einer politischen Organisation zusammenzuschließen und eine Tätigkeit auf sich zu nehmen, die für alle die größten Gefahren barg.

Trotz der Tatsache, daß einige schlecht orientierte Nichtkommunisten und einige junge Feuerköpfe, die von dem wirklichen Charakter der Gruppe keine Vorstellung hatten, in diesen Kreis hineinstolperten, war die Gruppe Schulze-Boysen—Harnade wesentlich eine kommunistische Organisation, die sich aus mehreren klar unterscheidbaren Elementen zusammensetzte:

Da waren zunächst die Leute aus den Überresten der alten KPD, durch die in Gefängnissen und Konzentrationslagern verbrachte Zeit und durch die langen Jahre einer Untergrundexistenz hart gemacht, die jetzt schon zur älteren Generation gehörten und einiges von ihrer Vitalität und Kampfenergie eingebüßt hatten. Während der Jahre erzwungener Ruhe hatten sie sich in winzigen Gruppen getroffen. Ab und zu traf ein Kurier aus dem Ausland ein, hin und wieder wurde ein Flugblatt gelesen und diskutiert und manchmal tauchte ein alter Genosse aus dem Konzentrationslager auf.

Daneben stand die junge Generation, die nur geringe Kenntnisse des Leninismus-Marxismus besaß und erbärmlich falsche Vorstellungen über Rußland und den Westen hatte, dafür aber leicht entflammbar, dynamisch und voll Haß auf den Führer, seine Partei und seinen Krieg war.

Befreiung vom Hitlertum war der Grundstock ihrer Philosophie und der Hauptpunkt ihres Programms. Sie glaubten, ein künftiges Sowjet-deutschland werde ein freies Land sein; sie glaubten, daß sie zunächst diesem Sowjetdeutschland und erst in zweiter Linie der Sowjetunion dienten. „Antifaschismus“, dieses zuerst von Moskau scheinheilig in die Welt gesetzte Schlagwort, war für diese jungen Männer und Frauen blutiger Ernst. Für sie war alles — ihr winziger Kreis, die Zusammenkünfte, die Lehrer, die zu ihnen sprachen — etwas Neues, eine große Erfahrung. Anti-nationalsozialistische Flugblätter zu verteilen, war ein aufregendes Unternehmen. Auf die in vielen Erfahrungen gereiften „Veteranen", von denen sie lernten und sich führen ließen, blickten sie mit Bewunderung und Verehrung.

In der Gruppe Schulze-Boysen waren die „alten KPD-Leute“ zahlenmäßig in der Mehrheit, aber ihr Einfluß war nicht entscheidend. Von den ungefähr siebzig Mitgliedern der Roten Kapelle, deren Biographien bekannt sind, waren siebenunddreißig alte Kommunisten. Über dreißig hatten vor dem Jahr der Machtergreifung Hitlers nicht der KPD angehört, da sie damals noch zu jung waren. In gewisser Weise verkörperten die beiden Führer Schulze-Boysen und Harnack die beiden wesentlichen Elemente. Es war nur natürlich, daß der jüngere und tatkräftigere Schulze-Boysen die eigentliche treibende Kraft des Netzes wurde, sowohl bei der allgemeinen „Widerstandsarbeit“ wie auch bei der Spionage-tätigkeit des kleineren Kernes "). * •) Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) hat 1948 in Berlin eine Schrift unter dem Titel „Die Widerstgndsgruppe Schulze-Boysen-Harnack" veröffentlicht. In den Biographien Schulze-Boysens und seiner Freunde ist das Wort Spionage nicht erwähnt; alle Beteiligten, sogar die bezahlten Spione, werden lediglich als „Widerstandskämpfer" dargestellt.

Von den überlebenden der Roten Kapelle hat nur einer, Günther Weisenborn, den Mut gehabt, seine Spionagetätigkeit zuzugeben. Eric H. Boehm, We survived (New Haven, Yale Universiiy Press, 1949), S. 195.

-) Alexander Kraell, der 1942 dem Gericht präsidierte, schien den alten KPD-Leuten den Vorzug zu geben. „Die Zusammensetzung der Berliner Gruppe war außerordentlich heterogen. Zum überwiegenden Teil bestand sie aus Angehörigen der bürgerlichen Intelligenzschicht, zum anderen Teil „Alexander Erdberg“, von dem die vorgesehenen Führer des Netzes ihre jeweiligen Spionageaufträge erhalten hatten, hatte mit Harnack ein bestimmtes Buch als Schlüsselbuch vereinbart und ihn in die Kunst des Verschlüsselns eingeführt. Schulze-Boysen und Coppi waren kurz in der Technik des Funkverkehrs unterrichtet worden. Im Mai und Juni 1941 händigte „Erdberg" eine Anzahl von Funkgeräten an Coppi und Kuckhoff aus und übergab kurz vor seiner Abreise seinen Berliner Agenten Geldmittel in Höhe von 13 5 50 Mark.

Diese Amateure waren jedoch nicht in der Lage, einen regelmäßigen Funkverkehr mit der sowjetischen Hauptstadt herzustellen. Ein paar von Harnack abgefaßte und verschlüsselte Funksprüche wurden über die Geräte abgesetzt und erreichten Moskau. Es handelte sich dabei um wichtige Meldungen über die deutsche Luftwaffe, über die bevorstehenden deutschen Truppenbewegungen am Dnjepr, ferner um Angaben über den Standort einer Großwerkstatt in Finnland (offenbar in Verbindung mit einem möglichen sowjetischen Luftangriff) usw. Insgesamt aber arbeitete der neue Apparat, was die technische Seite anging, in keiner Weise zufriedenstellend. Zu dieser Zeit (Juli 1941) erwies sich der deutsche Angriff als überaus erfolgreich und die häufigen Fehlleistungen im Funkverkehr zwischen Berlin und Moskau hatten verheerende Auswirkungen. Als die ersten Funksprüche in Moskau einliefen, war „Erdberg“ bereits wieder in der Moskauer ND-Zentrale Zwei wichtige Schritte wurden beschlossen: zunächst einmal sollte der erfahrene und tüchtige „Petit-Chef“, Victor Sukulow, der in Brüssel operierte, nach Berlin gehen, um dort nach dem Rechten zu sehen; dann aber sollten einige Agenten, die eingehend in den Techniken der ND-Arbeit und des Funk-verkehrs mit Moskau ausgebildet worden waren, schnellstens auf einen Einsatz in Deutschland vorbereitet werden, wo man sie mit Fallschirmen absetzen wollte. Sukulow erhielt folgende Befehle: 1. die Kuckhoffs aufzusuchen, wobei er „Alexander Erdberg“ als Kennwort zu benutzen hatte; 2. sich durch Kuckhoff mit „Arvid“, „Choro" (Schulze-Boysen) und Libertas in Verbindung zu setzen; 3. bestimmte Informationen über vier andere Mitglieder der Berliner Gruppe einzuholen und weiterzugeben *’); 4. einen Kurier an die sowjetische Botschaft in Stockholm und einen weiteren an die Handelsvertretung in der Türkei zu entsenden;

5. die nötigen Vorbereitungen für die Übernahme und Einweisung sowjetischer Fallschirmspringer zu treffen, und 6. sich der reparatur-bedürftigen Funkgeräte der Gruppe „Choro“ anzunehmen und einen zufriedenstellenden Funkverkehr mit Moskau zu sichern.

Sukulow reiste als „Vincente Sierra“, Bürger von Uruguay, und kam mit einer Gruppe von Fremdarbeitern über die Grenze in das Reichsgebiet. Bei seiner Ankunft in Berlin setzte er sich mit den beiden Führern, Harnack und Schulze-Boysen, in Verbindung. Ihr Treff im Tiergarten, der in der zweiten Hälfte des Oktober 1941 stattfand und von den beiden Frauen, Mildred und Libertas, „abgesichert“ wurde, war der Anfang einer engen Zusammenarbeit. Sukulow erhielt einen Satz Nachrichten, der nicht von Berlin übermittelt werden konnte. Er reparierte die defekten Funkgeräte und stellte ein weiteres Gerät zur Verfügung. Er sprach mit seinen Berliner Kollegen ab, daß das Nachrichtenmaterial, falls die Verbindung mit Moskau wieder einmal abbreche, von Berlin nach Brüssel geschafft werden sollte, um über die dortige Funkstelle nach Moskau abgesetzt zu werden, und Adam Kuckhoff, der Verwandte in Aachen hatte, in einem solchen Fall als Kurier einspringen würde. Bevor Sukulow Berlin wieder verließ, traf er noch mit dem Bildhauer Kurt Schumacher (nicht mit dem späteren SPD-Führer gleichen Namens verwandt) und dessen Frau Elisabeth zusammen, mit denen er, über den Kopf der Berliner Gruppe hinweg, Maßnahmen für einen getrennten Verkehr mit Moskau absprach. (Schumacher, ein eingeschworener Kommunist, hatte zwar für einige Jahre stillgelegen, bot aber kurz vor Ausbruch des Krieges sowjetischen Agenten seine Dienste an.) Schließlich nahm Sukulow noch Kontakt mit einem Veteranen des kommunistischen Llntergrunds, Kurt Schulze, auf. Schulze hatte die Funkschule in Moskau besucht und erhielt nun von Sukulow einen Sonderschlüssel für den Funkverkehr mit Moskau, der insbesondere dann verwendet werden sollte, wenn Funksprüche Rudolf von Schelihas aus dem Auswärtigen Amt zu übermitteln waren.

Die technischen Arbeitsbedingungen wurden nun langsam günstiger. Der Funkverkehr spielte sich besser ein und eine Anzahl Nachrichten liefen direkt von Berlin nach Moskau. Da aber der Umfang des Informationsmaterials ständig wuchs, mußte immer noch ein Teil abgezweigt und über die Funkstellen anderer Netze abgesetzt werden. Der Funker Hans Coppi steigerte ebenfalls seine Leistungen am Gerät, nachdem ihm der Funkexperte Kurt Schulze ein paar LInterrichtsstunden gegeben hatte. Der Sender wurde zuerst in Coppi's Wohnung aufgestellt, dann in das Haus der Tänzerin Oda Schottmüller verlegt, bis später die Gräfin (durch Heirat) Erika von Brockdorf, die im Reichsarbeitsministerium angestellt war, ihre Räume zur Verfügung stellte.

Im Gegensatz zu den technischen Einrichtungen funktionierte der Apparat für die Informationsbeschaffung, den die Gruppe aufgezogen halte, von Anfang an vorzüglich. Im Lauf der Monate weitete er sich aus, steigerte seine Leistungen, erschloß neue Quellen in Regierungsstellen und durchdrang schließlich die dicken, festen Mauern der amtlichen Geheimhaltung.

Schulze-Boysen selbst war in seiner Dienststellung als Abwehroffizier •im Reichsluftfahrtministerium eine wichtige Quelle. Einer seiner Freunde, Oberst Erwin Gehrts, arbeitete in einer Abteilung des gleichen Ministeriums, die sich unter anderem mit „geheimen Einsätzen“ (Sabotage) in Rußland befaßte. Oberregierungsrat Harnack genoß das Ansehen und Vertrauen des Reichswirtschaftsministeriums. Ein junger Student mit Namen Horst Heilmann, ein ehemaliger Nationalsozialist und jetzt ein Bewunderer der Schulze-Boysens, arbeitete in der Dechiffrierabteilung der Wehrmachtsführung, wo er hochwichtige Informationen politischer und militärischer Natur beschaffte, Herbert Gollnow, ein Leutnant in der Abwehrstelle der Luftwaffe, erfuhr regelmäßig Einzelheiten über Spionageabwehrmaßnahmen, die dasOKW für die Gegenspionage traf. Er war ebenfalls in der Lage, zeitig Warnungen über geplante Fallschirmeinsätze hinter den russischen Linien zu geben. Das fast sechzigjährige Apparat-mitglied Johann Graudenz, ehemaliger UP-Korrespondent in Berlin und Moskau, arbeitete jetzt als Vertreter eines Werkes für Fahrzeugbremsen und erhielt über die Ingenieure des Luftfahrministeriums, das zu den Kunden seines Werkes zählte, Kenntnis über technische Einzelheiten der deutschen Flugzeugproduktion, die er sofort an seinen Freund im gleichen Ministerium, Schulze-Boysen, weitergab. Der Bühnenschriftsteller Günther Weisenborn begann für die Reichsrundfunkgesellschaft mit der Absicht zu arbeiten, auf seine Weise dem ND-Netz dienlich zu sein. Er nahm an vertraulichen Konferenzen teil und erhielt „regelmäßige Informationen über geheimes Material aus Regierungsquellen“, die er Schulze-Boysen übermittelte Eine Wahrsagerin namens Anna Krause übte großen Einfluß auf einige ihrer Klienten aus — Erwin Gehrts, Johann Graudenz und andere. Aus ihren nichtpolitischen Besuchern — Offizieren und Geschäftsleuten — holte sie interessante Tatsachen heraus Andere V-Männer des Netzes berichteten aus Goebbels'Propagandaministerium, aus dem Auswärtigen Amt, dem Reichsarbeitsministerium, der Berliner Stadtverwaltung, der Berliner LIniversität, der Volkshochschule und einer Reihe anderer amtlicher und nichtamtlicher Stellen und Institutionen

Auf der Grundlage des Informationsmaterials aus diesen Quellen übermittelte der Berliner Apparat, der sich zu einem der bemerkenswertesten ND-Netze aller Zeiten entwickelte, Hunderte von Berichten an die Moskauer Zentrale, die entweder über die eigene Funkstelle des Apparates oder über den Umweg Brüssel abgesetzt wurden. Nach Feststellungen deutscher Dienststellen enthielten die wichtigsten Meldungen Angaben über folgende Punkte:

Strategische Pläne des deutschen Oberkommandos vom Herbst 1941 über die Verschiebung der Kaukasus-Offensive auf das folgende Frühjahr und Zeitplan dieser Offensive. aus organisierten Mitgliedern der KPD. Das beiderseitige Verhältnis war mit Argwohn geladen, namentlich seitens der alten Kommunisten. Das einigende Band war die gemeinsame politische Überzeugung. Mit belanglosen Ausnahmen waren sämtliche Beschuldigten überzeugte Kommunisten, alle aber fanatische Gegner des Naziregimes. Persönlich hinterließen die aus dem Kreis der alten KPD stammenden Angeklagten — meist einfache Menschen, deren gerade Haltung Achtung ausiöste — den weitaus besseren Eindruck.“ The Case of Dr. Roeder, S. 280— 81.

„Der Italiener“ (Ltnt. Wolfgang Havemann, ein Neffe Harnacks), . Strahlmann“ (Hans Coppi), „Leo" (Skrzypczynski) und „Karl“ (Behrens). Bewegungen und Verlegungen von Heerestruppen und Luftwaffeneinheiten und die Entscheidung, Leningrad nicht zu besetzen, sondern einzuschließen.

Geplante Fallschirmjägereinsätze mit genauen Angaben über Zeit und Einsatzort. t Geplante Angriffe auf Geleitzüge von Großbritannien nach Rußland.

Produktion synthetischer Treibstoffe.

Entwicklungstendenzen der deutschen Außenpolitik nach Berichten aus dem Auswärtigen Amt.

Politische Opposition gegen das nationalsozialistische Regime.

Spannungen im deutschen Oberkommando.

Ist-Stärke der deutschen Luftwaffe bei Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges.

Monatliche Flugzeugproduktion.

Die Rohmateriallage, in Deutschland.

Standorte deutscher Hauptquartiere.

Massenproduktion von Flugzeugen in den besetzten Gebieten.

Zusammenziehung chemischer Waffen in Deutschland.

Sowjetischer Funkschlüssel, der bei Petsamo entdeckt wurde. Verluste der deutschen Luftlandeeinheiten auf Kreta. Stärkebild der Luftwaffe an der Ostfront.

Verluste der Luftwaffe (periodische Berichte).

Deutsche Truppenbewegungen am Dnjepr.

Technische Leistungen der neuen Messerschmidt-Maschinen.

Neben der Roten Kapelle und unabhängig von ihr operierten für den sowjetischen ND noch einige Einzelgänger, die ihre Berichte mit ihren eigenen technischen Mitteln nach Moskau absetzten. Von diesen Einzelgängern waren Hans Kummerow und Rudolf von Scheliha von besonderer Wichtigkeit.

Hans Heinrich Kummerow, ein bekannter Ingenieur und Erfinder, hatte sich seit Ende der zwanziger Jahre, als die Industriespionage im Mittelpunkt der sowjetischen Aufklärungstätigkeit in Deutschland stand, an der BB-Bewegung beteiligt. Er arbeitete damals für die deutsche Luftfahrt und für die Rüstungsindustrie und hatte sowjetischen Agenten häufig Beschreibungen seiner Erfindungen und Patente, vor allem auf dem Gebiet des Radarwesens und der chemischen Kriegführung, ausgehändigt. Kummerow verfügte in Berlin jedoch nicht über einen eigenen Geheimsender und war nicht in der Lage, seine Berichte selbst zu übermitteln, die vor dem Kriege über das offizielle Funknetz der sowjetischen Stellen in Deutschland gelaufen waren. Nach Ausbruch des Krieges beschloß Moskau, ihm einen eigenen Funker zuzuteilen. Der für diesen Einsatz bestimmte Agent wurde von einem russischen Bomber mit dem Fallschirm über Deutschland abgesetzt, aber bereits bei der Landung verhaftet. Er verriet Kummerow und dessen Frau, die beide 1943 hingerichtet wurden.

Der zweite wichtige Einzelgänger war Rudolf von Scheliha vom Auswärtigen Amt in Berlin. Scheliha, der sich von allen kommunistischen und parakommunistischen Gruppen fernhielt und in keiner, nicht einmal privater Verbindung zu den Kreisen um Schulze-Boysen und Harnack stand, galt als ungefährdet, wenn ein Spion überhaupt sicher sein kann. Hätte in Berlin nicht die Knappheit an ND-Funkern bestanden, wäre es ihm und seiner Sekretärin Ilse Stöbe vielleicht möglich gewesen, noch längere Zeit zu arbeiten, eventuell sogar bis zum deutschen Zusammenbruch. Im Sommer 1941 wurde Sukulow jedoch von Moskau angewiesen, mit Ilse Stöbe („Alta“) in Berlin Kontakt aufzunehmen. Er stellte daraufhin dieser Gruppe einen eigenen Funker zur Verfügung, und zwar den bereits erwähnten alten KPD-Mann Kurt Schulze, der der beste Funk-techniker im Berliner Untergrund war; bei den nun einsetzenden Übermittlungen des Scheliha-Materials sollte Schulze den Sonderschlüssel, der ihm von Sukulow übergeben worden war, verwenden.

Wieviel Material Scheliha nach diesem Zeitpunkt lieferte, ist nie mit voller Sicherheit festgestellt worden. „Das Ausmaß des Verrats des Scheliha", stellte die Gestapo nach seiner Verhaftung fest, „kann nie völlig ermittelt werden.“ Es hat aber den Anschein, als sei der alternde Legationsrat, der sich offenbar fürchtete, nun mit größerem Zögern an die Arbeit gegangen. In Berlin gab es keine sowjetische Botschaft und keine sowjetischen Agenten mehr, die ihn unter Druck setzen konnten. Ilse Stöbe schwebte selbst in Lebensgefahr und hatte keine Möglichkeiten, ihn zu überreden, selbst wenn sie es versucht haben sollte. Scheli! as Berichte müssen seit Juni 1941 die Moskauer Zentrale nicht mehr zufriedengestellt haben; das dürfte sicherlich der Grund gewesen sein, warum Moskau beschloß, ihn auf eine Weise zu überreden, die man im gewöhnlichen Leben nur als Erpressung bezeichnen würde. Ein Sonder-kurier wurde nach Berlin gesandt, um den Fall Scheliha in Ordnung zu bringen. Dieser Kurier war Heinrich Koenen, Sohn eines bekannten deutschen Kommunistenführers und Reichstagsabgeordneten, ein Mann, in den Moskau größtes Vertrauen setzte. Koenen, der mit einem Fall-

schirm in Ostpreußen abgesetzt wurde, hatte ein überzeugendes Argument in Form einer von Scheliha unterschriebenen Quittung über 6 500 Dollar, die ihm im Februar 1938 über seine Bank in der Schweiz zugegangen waren. Weder die Zentrale in Moskau noch Koenen wußten jedoch, daß der Bericht Sukulows von 1941, der sich auf seinen Kontakt mir Stöbe und Scheliha bezog, inzwischen auf Grund des Verrats des ND-Funkers Johann Wenzel von der deutschen Abwehr entziffert worden war. Sie wußten auch nicht, daß die Stöbe am 17. September, sechs Wochen vor der Ankunft Koenens, von der Gestapo verhaftet worden war, und sie konnten nicht wissen, daß in der Berliner Wohnung der Stöbe eine Gestapobeamtin auf den Besucher aus Moskau wartete, von dessen Ankunft man ebenfalls durch einen aufgefangenen Funkspruch erfahren hatte. Als Koenen die Wohnung betrat, wurde er verhaftet. Er ließ sich leichter „überzeugen“ als Ilse Stöbe und verriet alle Einzelheiten des Unternehmens. Scheliha und Stöbe wurden vor ein Kriegsgericht gestellt, zum Tode verurteilt und am 22. Dezember 1942 hingerichtet. Neben ihren reinen ND-Operationen leistete die Führung der Roten Kapelle auch noch erhebliche politische Arbeit. In einigen „Ausbildungsund Studiengruppen“, die von Johann Sieg, Professor Werner Krauss, Dr. Johann Rittmeister, Wilhelm Guddorf und den drei Führern Schulze-

Boysen, Harnack und Kuckhoff geleitet wurden, diskutierte man über den Krieg, die Unvermeidlichkeit der deutschen Niederlage und allgemeine Fragen der Weltpolitik. Flugblätter, die von den Führern geschrieben und den Mitgliedern vervielfältigt wurden, ließ man in Verkehrsmitteln und Telefonzellen zurück oder verschickte sie mit der Post an ausgesuchte Adressen. Kuckhoff richtete seine Flugblätter an die „Arbeiter der Stirn und der Faust“, die er aufrief, nicht gegen Rußland zu kämpfen. Schulze-Boysen verfaßte eine Arbeit unter dem Titel „Das Leben Napoleons“, in der er Napoleons schließliche Niederlage nach seiner Invasion Rußlands hervorhob und andeutete, Hitler müsse ein ähnliches Ende nehmen. Diese kleine Schrift wurde weit verbreitet.

Flugblätter wurden manchmal an die Häuserwände Berlins geklebt. Eins dieser Flugblätter, überschrieben „Das Naziparadies", war als Antwort auf die gerade zu dieser Zeit in Berlin gezeigte Ausstellung „Das Sowjetparadies“ gedacht. Ein anderer Aufruf an die Öffentlichkeit er-

schien unter der Schlagzeile „Wie lange noch?“ In dieser gesamten Propagandatätigkeit lag die Betonung auf der Verteidigung Sowjetrußlands, nicht aber auf der Verteidigung des Westens. Was sie sich unter der richtigen Außenpolitik vorstellten, wurde ganz deutlich in dem Schlagwort „Verständigung mit den Vereinigten Staaten, Bündnis mit der Sowjetunion! ) *.

Die Verquickung allgemeiner kommunistischer Aktivität mit ND-Operationen war, vom Standpunkt der Sowjets, ein schwerer Nachteil des Berliner Apparats. Diese Verquickung sollte sich in der Tat auch für einige Dutzend Personen, die sonst verschont geblieben wären, als verhängnisvoll erweisen. Dies gilt insbesondere für Schulze-Boysen, der offensichtlich für irgendeine unterirdische Arbeit völlig unbegabt war. Daß er nicht eher entdeckt und gefaßt wurde, ist beinahe ein Wunder. Er sicherte in voller Uniform die nächtlichen Klebeaktionen von Kolonnen junger Männer und Frauen und hielt seinen Dienstrevolver in der Hand, verfaßte wenige Stunden später für Moskau einen Funkspruch über deutsche Truppenbewegungen, ging dann zu einem Treff mit einem sowjetischen Fallschirmagenten usw. •) . Widerstand im Dritten Reich", veröfientlicht von der pro-sowjetischen VVN in Ostberlin, S. 23. Gegen Rußland gerichtete Propagandalügen wurden manchmal auf höchst einfallsreiche Weise umgedreht. Weisenborn berichtet in Boehms We survived (S. 195): „Einmal gab mir ein Abteilungsleiter der Reichsrundfunkgesellschaft einen Bericht, nach dem in der Sowjetunion in einem Jahr 32 000 Ärzte getötet worden seien. Ich fügte eine Null hinzu und über die Sender ging die Nachricht, 320 000 sowjetische Ärzte seien getötet worden. Ich wurde scharf zur Rechenschaft gezogen und bedauerte den Diktatfehler. Der Moskauer und der Londoner Rundfunk hatten diese phantastische Meldung aufgefangen und verwendeten sie als Beweis für etwas, was jeder Hörer gemerkt haben mußte: daß nämlich der Groß-deutsche Rundfunk log." Eines Abends [so berichtet Schulze-Boysens Freund und Nachbar, Dr. Hugo Buschmann] kam er aufgeregt in unsere Wohnung gestürmt. Er hatte gerade erfahren — und auch nach Moskau gemeldet — daß ein britischer Geleitzug nach Rußland von deutschen Einheiten angegriffen werden sollte. Schulze-Boysen war in der Lage, Moskau zu warnen, und er hatte es auch getan; jetzt fragte er sich, ob die Meldung rechtzeitig eingetroffen sein könnte. Aus diesen Äußerungen entnahm ich zum erstenmal, daß Schubo Berichte an Moskau gab.

Manchmal versuchte ich, Harro zuzureden; er war äußerst unvorsichtig. Bei Hausfesten in Berlin erschien er in seiner Luftwaffenuniform mit Orden und erzählte dann sensationelle und irrsinnige Geschichten aus dem Ministerium, über militärische Operationen, über Hinrichtung von Gefangenen usw. Diese eleganten Damen und Herren unterhielten sich bis zum Morgengrauen ohne zu merken, wie gefährlich es war, mit ihm Beziehungen zu unterhalten

Aber damals, 1941-42, hatten sie keine Zeit mehr, die umständlich-strikten Vorschriften der ND-Disziplin zu beachten. Die Regeln der konspiratsia waren in der Tat schon mehrfach von Zweiggruppen der Roten Kapelle in Europa und den Vereinigten Staaten gebrochen worden.

2. Das Ende der Gruppe Schulze-Boysen-Harnack

Der deutsch-sowjetische Krieg hatte fast seinen Höhepunkt Stalingrad erreicht, als die Rote Kapelle nach vierzehn Monaten angestrengtester ND-Tätigkeit entdeckt und ausgehoben wurde. Daß sie überhaupt in einem Kriege so lange Zeit, dazu noch unter den Augen einer Polizei-organisation von bisher unbekanntem Ausmaß und trotz häufiger Verstöße ihrer eigenen Führer gegen die Regeln der konspiratsia, operieren konnte, ist fast ein Wunder. Die Rote Kapelle, deren Vernichtung aus verschiedenen Gründen unausweichlich geworden war, wurde von Abwehr und Gestapo konzentrisch angegriffen.

Als die ersten Verhaftungen einsetzten, war die Fahndung nach den geheimnisvollen Kurzwellenfunkern schon fast ein Jahr gelaufen. Seit Juli 1941 hatten die Funkhorchstellen in Deutschland chiffrierte Funk-Sprüche aufgefangen, deren Schlüssel von den Dechiffrierabteilungen nicht „geknackt" werden konnte. Als im Dezember 1941 die ersten Mitglieder des sowjetischen ND-Apparates in Brüssel verhaftet wurden, fand man im Gebäude der ND-Leitstelle einhundertundzwanzig verschlüsselte Texte. Da aber die Verhafteten mit Ausnahme der Rita Arnould jede Aussage verweigerten und Rita Arnould den Schlüssel nicht wußte, konnte auch hier kein Fortschritt erzielt werden. Im Frühjahr 1942 gelang der Abwehr die Entschlüsselung eines Teils der aufgefangenen Funksprüche — die Beunruhigung wuchs. Die verschlüsselten Meldungen hatten Moskau von der bevorstehenden deutschen Kaukasus-offensive unterrichtet, Einzelheiten über den Treibstoffverbrauch des Heeres, der Stärke der Luftwaffe, der deutschen Verluste usw. verraten. Der einzige Anhaltspunkt für die Ermittlung der Quelle war die Unter-Schrift „Choro". Die Abwehr setzte ihre Funkspruchanalysen fort, bis sie am 15. Juli den Klartext eines Spruches herstellte, in dem drei Namen und Adressen angegeben waren

Inzwischen war eine zweite ND-Gruppe in Belgien aufgeflogen und verhaftet worden. Der Funker der Gruppe, der Kominternveteran „Professor“ Hermann Wenzel, brach schließlich zusammen, verriet den Schlüssel und deckte darüber hinaus zahlreiche Spuren auf. Die deutschen Stellen waren jetzt in der Lage, den vom 28. August 1941 datierten und an Victor Sukulow in Brüssel gerichteten Funkspruch zu lesen: „Suchen Sie drei-Adressen in Berlin auf und stellen Sie fest, warum Funkverbindung oft ausbleibt. . Es folgten die Adresse Adam Kuckhoffs und Hinweise auf die Identität des „Choro“ (Schulze-Boysen) und Arvid Harnacks.

Das erschien zuerst selbst alterfahrenen deutschen Sicherheitsbeamten unglaubhaft. Die Ermittlungen der Gestapo liefen mehrere Wochen Am 30. August 1942 wurde Harro Schulze-Boysen am Eingang des Reichsluftfahrtministeriums ohne Aufsehen verhaftet. Libertas wurde einige Tage später in Gewahrsam genommen und die Harnacks, die man in einer Sommerfrische festgenommen hatte, trafen kurz darauf in Berlin ein.

Die Polizeiaktion wurde streng geheim gehalten. Schulze-Boysens Kollegen im Ministerium erhielten die Mitteilung, daß er wegen eines anderen Einsatzes seine Dienststelle verlassen mußte. Das Reichswirtschaftsministerium, die Dienststelle Harnacks, überwies ihrem Oberregierungsrat noch mehrere Monate hindurch sein Gehalt und der Behördenchef, Wirtschaftsminister Funk, wurde erst am Vorabend der Hinrichtung Harnacks von dem Fall in Kenntnis gesetzt Während der gesamten Zeit des nationalsozialistischen Regimes wurde die Affäre Rote Kapelle weder in der Presse noch im Rundfunk erwähnt. Die Verhaftungen folgten schnell aufeinander. Die Sicherheitsorgane hatten schon vor der Festnahme Schulze-Boysens sein Telefon angezapft und konnten bis zum Anfang September fast alle Mitglieder der Führungsgruppe sowie eine große Zahl von Personen geringerer Bedeutung verhaften. Horst Heilmann von der Dechiffrier-Abteilung wurde am 5. September festgenommen, Coppi, Graudenz und die Kuckhoffs am 12 September. Die Zahl der Verhafteten stieg bald auf über hundert an.

Die Ermittlungen wurden von den Kommunismusspezialisten der Gestapo, den Kriminalräten Pannwitz und Koppkow, geleitet. Ein leitender Beamter der Gestapo, Obergruppenführer Müller, hatte Himmler persönlich laufend Bericht zu erstatten. Die Gestapo bediente sich verschiedener Methoden, um aus den Häftlingen Tatsachen herauszubekommen und Geständnisse zu erlangen. In manchen Fällen genügte es, wenn einem Verhafteten mit der Verfolgung von Frau und Kindern gedroht wurde, in anderen wiegte man den Betreffenden in dem Glauben, daß sein Leben geschont würde, falls er offen spreche. Lang ausgedehnte Verhöre, starke Scheinwerfer und Handfesseln halfen, die Depressionen der Häftlinge zu steigern und ihren Widerstandswillen zu lähmen. Manche Häftlinge wurden geschlagen. Die Gestapo ließ sich bei der Wahl ihrer Methoden nicht von „falscher Humanität“ leiten ) *.

In anderen Fällen genügte allein die Tatsache, daß der vernehmende Gestapobeamte dem Verhafteten eine Vielzahl von bekannt gewordenen Einzelheiten über seine Vergangenheit vorlegen konnte, um eine vernichtende Wirkung hervorzurufen. „Wir sagten ihm zum Beispiel ins Gesicht, wo er in Moskau gelebt hatte, mit welcher Straßenbahnlinie er zu seiner ND-Schule gefahren war, welche Türen es in dieser Schule gab, die Namen von Kursusteilnehmern und Ausbildungspersonal auf dieser Schule, die Namen seiner Freunde usw. Er fühlte sich verraten und bloßgestellt

LInter den wenigen Mitgliedern der Gruppe Schulze-Boysen—Harnack, die sich bestimmen ließen, der Gestapo Namen und Tatsachen zu verraten, war Libertas Schulze-Boysen. Diese junge Adelige, die den Optimismus und die Vertrauensseligkeit eines Kindes besaß, glaubte den Versprechungen der Vernehmungsbeamten, man werde ihr Leben schonen, wenn sie als Kronzeuge gegen die anderen Angeklagten auftrete. Dieses Versprechen war glatte Täuschung, denn das deutsche Recht hat nie die Einrichtung des Kronzeugen, wie sie vor englischen Gerichten besteht, gekannt. Libertas begann zu sprechen und verriet sich selbst wie auch ihre Freunde. Die frühere Sekretärin des Anklagevertreters Roeder, Adelheid Eidenbenz, erklärt in ihrer Aussage vom September 1948: „Mir ist in Erinnerung, daß die Angeklagten im wesentlichen durch die Aussagen der Frau Libertas Schulze-Boysen überführt wurden. Frau Schulze-Boysen hatte sich wohl selbst für den Kronzeugen in diesem Verfahren gehalten und glaubte, durch die Preisgabe der anderen ihre Rettung erkaufen zu können. Jedenfalls wurden nach meiner Er-•) „Ich bemerke ausdrücklich, daß ich die Striemen am Körper Kuckhotls, die von den Mißhandlungen durch die Gestapo herrührten, selbst gesehen habe Ferner hat mir der Kauimann Graudenz auf einem Transport im Gefangenenwagen von der Prinz-Albrecht-Straße nach Spandau zugeflüstert, daß er aufs übelste mißhandelt worden sei.'Adolf Grimmes Aussage in Case of Dr. Roeder, S. 790.

Der Verteidiger Dr. Rudolf Behse erklärt: „Ich habe im Fall Rote Kapelle von Mißhandlungen gehört. Es scheint, als seien die mißhandelten, wichtigeren Angeklagten kurz danach hingerichtet worden. Die überlebenden der Roten Kapelle, die unwichtigeren Figuren, haben nichts über Foltern oder Schläge berichtet.“ innerung die sämtlichen Angeklagten erstmalig in der Hauptverhandlung einander gegenübergestellt und erfuhren erst dort, daß sie durch Frau Schulze-Boysen überführt worden waren.“

Libertas fiel einer weiteren Täuschung zum Opfer. Sie vertraute einer Gestapobeamtin, die als angebliche Gefangene auf Libertas’ Zelle gelegt wurde und Sympathie für ihre Mitgefangene heuchelte, eine Unmenge von Informationen an. Gertrud Breyer „beförderte“ auch die Briefe, die Libertas an ihre Mutter schrieb und die andere Personen belasteten, wobei die Briefe natürlich zuerst von der Gestapo kopiert wurden. Der Gefängnisgeistliche Harald Poelchau schrieb später: „Diese Tatsachen erfuhr Libertas Schulze-Boysen erst kurz vor ihrem Tode. Sie sagte mir, wie sehr sie es bedauere, einem Spitzel vertraut zu haben. Sie könne es nur aus ihrer Haftpsychose erklären. Die Breyer sei der erste Mensch gewesen, der sie im Gefängnis umarmt und freundlich mit ihr gesprochen habe

Libertas erkannte die bittere Ironie ihrer Situation: sie hatte ihre Freunde verraten und fiel nun selbst einem Verrat zum Opfer. In einem letzten Brief an ihre Mutter, wenige Stunden vor der Hinrichtung, sagt sie:

Ich hatte noch den bitteren Kelch zu trinken, daß eilt Mensch, dem ich mein volles Vertrauen geschenkt habe, Gertrud Breyer, mich (und Dich) verraten hat. Aber:

Nun iß die Früchte deiner Taten, denn wer verrät, wird selbst verraten.

Auch ich habe aus Egoismus Freunde verraten, ich wollte frei werden und zu Dir kommen — aber glaub mir, ich hätte an dieser Schuld unsagbar schwer zu tragen gehabt

Aber Libertas Schulze-Boysen 'war nicht das einzige Mitglied des Apparates, das ein Geständnis ablegte und Tatsachen preisgab.

Johann Graudenz und Heinrich Koenen, die möglicherweise unter Druck gesetzt worden waren, hielten ebenfalls nicht mit ihren Aussagen zurück. In ihrem vertraulichen Bericht bezieht sich die Gestapo außerdem noch auf weitere Geständnisse. Nachdem die Gestapo zwei Monate lang die über hundert Verhafteten und eine große Zahl anderer Zeugen verhört hatte, besaß sie ein ziemlich detailliertes Bild von den Operationen des Apparats. Als später der in Marseille verhaftete Sukulow-„Kent" ebenfalls zu Aussagen bereit war, mußte er in Berlin das Bild noch abrunden.

Von Harro Schulze-Boysen war jedoch wenig zu erfahren. Was die Gestapo von seiner Tätigkeit wußte, ergab sich aus den Aussagen anderer Mitglieder des Apparats. Als er jedoch immer mehr in die Enge gedrängt wurde und die Lage hoffnungslos zu werden. schien, nahm er zu einer List Zuflucht, um die Gestapo irrezuführen und vielleicht ein Jahr Aufschub für sich und seine Freunde herauszuschlagen. Er erklärte eines Tages, er habe während seiner langen Dienstzeit im Reichsluftfahrtministerium eine große Anzahl geheimer Schriftstücke und Dokumente „von höchster politischer und militärischer Bedeutung“ gesammelt und sie bei Freunden in Schweden deponiert. Diese Dokumente seien noch immer in den Händen seiner Freunde und bisher noch nicht veröffentlicht worden. „Wenn ich auf einen Knopf drücke,“ drohte Harro Schulze-Boysen, würden diese Dokumente den Feindmächten — Rußland oder Großbritannien — zur Veröffentlichung übergeben. Er weigerte sich, über den genauen Aufenthaltsort der Dokumente eine Aussage zu machen oder ihren Rücktransport nach Deutschland zu veranlassen, „da sie die einzige Sicherheit für ihn und seine Freunde darstellten“

Die Geschichte der „Schwedischen Dokumente“ löste in den Kreisen der Regierung beträchtliche Erregung aus. Göring wies die Gestapo an, „alle Mittel“ anzuwenden, um Schulze-Boysen zur Aussage über die Tatsachen zu zwingen, und Himmler befahl, den Häftling einer „verschärften Vernehmung“ zu unterziehen (was, offiziell, Auspeitschung bedeutete). Der Befehl wurde ausgeführt und die Auspeitschung des Luftwaffenoffiziers Schulze-Boysen offiziell in den Akten vermerkt. Harro Schulze-Boysen bot einen Handel an: er wollte alles über die Schwedischen Dokumente unter der Bedingung aussagen, daß die von ihm und seinen Freunden erwarteten Todesurteile nicht vor Ende des Jahres 1943 vollstreckt würden und daß die Gestapo in Gegenwart seines Vaters, Kommodore Erich Schulze, eine entsprechende Versicherung abgebe. (Seine Tante Else Boysen schrieb in ihren Erinnerungen: „Zweifellos war Schulze-Boysen fest überzeugt, daß bis dahin der Krieg zu Ende und die Hitler-Regierung beseitigt sei

Harros Vorschlag wurde angenommen: in Gegenwart seines Vaters bestätigte die Gestapo, daß die Abmachung auch dann gültig bleibe, wenn die Dokumente anderswo als in Schweden gefunden würden, da der einzige Zweck der Abmachung die Verhinderung einer Veröffentlichung sei. Nachdem die Gestapo diese Zusicherung gegeben hatte, erklärte Harro Schulze-Boysen, daß nie Schriftstücke irgendwelcher Art aus den Geheimakten des Reichsluftfahrtministeriums entnommen worden seien und die ganze Geschichte frei erfunden worden sei, um sein Leben und das seiner Freunde wenigstens zeitweise zu retten. Da die „ungewöhnliche Abmachung“ mit Zustimmung „höherer Stellen“ (offenbar Göring oder Himmler, vielleicht sogar Hitler) getroffen worden war, bestätigten die beiden Gestapobeamten Pannwitz und Koppkow ritterlich ihre Gültigkeit und die Aufschiebung der erwarteten Hinrichtungen ").

Oktober 1942 waren die Untersuchungen der Gestapo praktisch abgeschlossen und der dreißigbändige Bericht über die Rote Kapelle wurde der Anklage übergeben.

Vom Beginn der Verhöre bis zum Urteilsspruch versuchten Gestapo und Anklagevertretung, bei den Angeklagten niedere Charakterzüge und unmoralische Beweggründe herauszustellen. Obgleich auf Hochverrat, selbst bei Nachweis idealistischer Motive, die Todesstrafe stand, bemühte sich die Anklagevertretung, die ideologischen Grundlagen und Auswirkungen des Falles Rote Kapelle in den Hintergrund zu schieben, und betonte, nur gemeine und egoistische Motive seien für die Angeklagten bestimmend gewesen. Bezeichnungen wie „bezahlte Agenten“ und „Spionage gegen Bezahlung“ wurden immer wieder eingeflochten. Die Anklage behauptete, Schulze-Boysen, Kuckhoff und einige andere hätten die Gelder der Organisation unterschlagen, und spielte immer wieder auf die „intimen Beziehungen“ unter den verheirateten und unverheirateten Mitgliedern der Roten Kapelle an. Sie stellte die sogenannten „Vierzehn-Punkte-Parties“ stark heraus, auf denen die Frauen angeblich nur so viel Kleidungsstücke getragen hätten, wie man zu jener Zeit auf die vierzehn Punkte der Kleiderkarte kaufen konnte, und behauptete, diese Parties hätten in Orgien geendet. Sie behauptete weiter, einige der jüngeren Frauen aus dem Kreis der Roten Kapelle hätten intime Beziehungen zu mehreren „Quellen“ mit Zustimmung ihrer Ehemänner unterhalten. Selbst die fast vierzigjährige, schwerkranke Mildred Harnack wurde der Teilnahme an diesen Vorgängen beschuldigt, während andere Frauen nach Behauptung der Anklage sehr viel weiter gingen ").

Allgemein legte die Anklage es darauf an, den Kreis der Roten Kapelle als eine Gruppe von Männern und Frauen hinzustellen, die von Raffgier und Lust getrieben wurde. Man glaubte, die Schande, die durch die Auf-deckung einer großen für Rußland arbeitenden Spionagegruppe über das seit zehn Jahren bestehende Dritte Reich hereingebrochen war, dadurch auslöschen zu können, daß man die Angeklagten als den Auswurf der Gesellschaft darstellte.

„Die Aufrollung einer Spionageaffäre in bisher nicht gekanntem Ausmaß und die führende Beteiligung von Angehörigen verschiedener Ministerien schlug gleich einer Bombe ein. Hitler verlangte beschleunigte und schärfste Bestrafung. Aus altem Argwohn gegen die Militär-justiz hatte er zunächst vor, diese auszuschalten und ein Sondergericht mit der Aburteilung zu beauftragen. Ähnlich wie er dies später hinsichtlich der Vorgänge vom 20. Juli 1944 getan hat. Daß es trotzdem gelang, ein Abgehen vom Rechtsweg zu verhindern, dürfte Göring zu verdanken sein, den Hitler mit der Erledigung der Sache beauftragt hatte

Das entscheidende Argument, das zugunsten eines „normalen“ Kriegsgerichtsverfahrens und gegen ein schnellarbeitendes Sondergericht sprach, war die Überlegung, daß eine übereilte Hinrichtung von zwei oder drei Dutzend Spionen der Aufklärung laufender oder künftiger Hochverratsfälle nicht dienlich sein könne. Göring war schließlich der Mann, in dessen ’) The Case ot Dr. Roeder, S. 783— 84. Daß die Gestapo nicht daran dachte, ihre Zusicherung zu halten, braucht wohl kaum erwähnt zu werden. Die Verurteilten wurden wenige Tage nach dem Urteilsspruch hingerichtet.

") Überlebende der Gruppen behaupten, daß die Angeklagten manchmal versucht hätten, ihre politischen Beziehungen als Liebesaffären zu tarnen. Es sei immerhin besser gewesen, wegen moralischer Vergehen vor Gericht zu stehen als wegen einer Spionageaffäre. Ministerium und dessen Luftwaffe die Rote Kapelle am stärksten gearbeitet hatte; viele der Beschuldigten waren Angehörige der Wehrmacht — ein Kriegsgericht als Ort der Verhandlung verstand sich also eigentlich von selbst. Hitler willigte dann auch ein, daß der Prozeß vor dem Reichskriegsgericht stattfinden solle, allerdings unter der Bedingung, daß jedes LIrteil nur mit seiner Bestätigung rechtskräftig werden und er andererseits jedes LIrteil aufheben könne *). Die vom Gericht kurz vor Beginn des Prozesses bestellten Verteidiger hatten nicht die Möglichkeit, genügend Zeit und entsprechende Sorgfalt auf die Vorbereitung des Verfahrens zu verwenden.

Politische Erwägungen, Gründe des Prestiges und die Absicht, eine Kette von Verhandlungen vor verschiedenen Gerichten zu vermeiden, führten dazu, daß alle die verschiedenartigen Elemente der Affäre vereinigt wurden, um in einem Verfahren erledigt zu werden — der aus Deutschen bestehende kommunistische Untergrund, Spionage zugunsten der Sowjetunion, die nichtkommunistischen Helfer usw. Dann stellte es sich als notwendig heraus, die große Zahl der Angeklagten in Gruppen von fünf bis fünfzehn Personen auszuteilen. Die Leitung der Anklage-vertretung lag in den Händen Dr. Manfred Roeders ’) *.

Somit erschien die Rote Kapelle in ihrer letzten Phase als ein Sammelbecken der verschiedensten Gruppen und Personen, die nichts anderes gemein hatten, als daß sie — getrennt oder zusammen, wissentlich oder unwissentlich — in Kriegszeiten für die Sowjetunion und die kommunistische Bewegung gearbeitet hatten. Neben den Führern, die sich der Bedeutung und der Gefahren ihrer Arbeit voll bewußt waren, standen viele, deren Rolle in diesem ND-Apparat nur nebensächlich war. Einige hatten gar nicht gewußt, daß sie einer Spionageorganisation gedient hatten, und wieder andere hatten niemals etwas mit der Gruppe Schulze-Boysen — Harnack zu tun gehabt.

Der erste Prozeß gegen dreizehn Angeklagte '*) * begann am 15. Dezember. Das überreiche Material in den Händen der Anklage machte es den Angeklagten unmöglich, die Beschuldigungen glattweg abzustreiten und die ihnen zur Last gelegten Tätigkeiten zu leugnen. Sie wußten, daß ihre Lage hoffnungslos war.

Das Gericht verhängte gegen elf Angeklagte die Todesstrafe. Von den Frauen wurden Mildred Harnack und Erika von Brockdorf zu sechs und zehn Jahren verurteilt. Libertas Schulze-Boysen nahm das Todesurteil mit Entsetzen auf:

Als das LIrteil verkündet wurde [berichtet ihr Verteidiger, Dr. Behse] schrie Libertas auf und brach ohnmächtig zusammen. Ich hatte sie mehrfach inständig gebeten, doch die Lage klar zu sehen und sich auf das Schlimmste vorzubereiten; aber sie hatte ihr Vertrauen nicht verloren und war bis zu diesem Augenblick im Gerichtssaal optimistisch geblieben. Sie erklärte nun, die Gestapo habe ihr doch versprochen, sie werde mit einer leichten Strafe davonkommen, oder zur Belohnung für ihr Geständnis sogar freigesetzt werden. Ich legte Berufung gegen das LIrteil ein. Da die Anklage, auf die sich das LIrteil stützte, nicht umzustoßen war, lehnte das Gericht die Berufung ab

Daß Hitler die Todesurteile bestätigen würde, konnte keinem Zweifel unterliegen. Aber das Schicksal der beiden Frauen Mildred Harnack und Erikavon Brockdorf war ungewiß, da Hitler „in Verratssachen irgend-welche persönlichen Milderungsgründe niemals anerkannte. Seine ständige Redensart war nach Mitteilung Keitels: , Wer auch nur in den Schatten des Landesverrats gerät, hat sein Leben verwirkt ‘ Nach'der Urteilsverkündung wurde Göring mündlich Meldung erstattet, der „bei dem Wort . Freiheitsstrafen'explodierte . . . Niemals, so sagte er, werd, der Führer damit einverstanden sein

Als Hitlers Adjutant Admiral Puttkammer, den Bericht vorlegte, verweigerte der Führer tatsächlich die Bestätigung der gegen die beiden Frauen verhängten Gefängnisstrafen und ordnete einen neuen Prozeß an. Er bewilligte die Todesstrafe gegen die übrigen Angeklagten.

Jetzt war Himmlers Stunde gekommen. Das Kriegsgerichtsverfahren mit all seinen juristischen Feinheiten war für Himmler und seine Gestapo zuviel gewesen. Zwischen Himmlers Reichssicherheitshauptamt und dem Reichskriegsgericht hatte sich in diesen Monaten ein scharfer Gegensatz entwickelt. Generaloberstabsrichter Dr. Rudolf Lehmann sagte später aus: „Ich habe . . . nach dem LIrteil in Sachen Harnack — Schulze-Boysen eine erregte Aussprache mit dem Gruppenführer Müller gehabt. Er beschwerte sich auf das heftigste über die langsame Behandlung auch dieser Sache durch das Reichskriegsgericht und über die angeblich schleppende Verhandlungsführung durch Dr. Kraell. Der ganze Sachverhalt sei sonnenklar gewesen. Es sei völlig überflüssig gewesen, eine so lange Verhandlung so genau durchzuführen

Die ersten Hinrichtungen wurden drei Tage nach der Urteilsverkündung vollstreckt. Im Gefängnis Plötzensee waren noch vor Beginn des Prozesses Vorbereitungen für eine Hinrichtung besonderer Art getroffen worden. Im Hinrichtungsraum wurde nicht die Guillotine aufgestellt, die als das humane Hinrichtungsmittel galt (der Tod trat in elf Sekunden ein). Statt dessen wurde an der Decke des Raumes ein besonderer Eisenträger mit acht Haken angebracht. (Das Beil, mit dem früher die Todesurteile vollstreckt worden waren, hatte man 1 934 durch die Guillotine ersetzt, die schneller arbeitete und mehrere Hinrichtungen innerhalb kurzer Zeit ermöglichte.) Den Männern war ein schmerzhafter und entehrender Tod am Galgen bestimmt. Am 22. Dezember 1942 gingen elf Mitglieder der Roten Kapelle in den Tod ) *.

Die anderen Gruppen der Roten Kapelle wurden 1943 nacheinander vor Gericht gestellt. Die zum Tode Verurteilten wurden durch die Guillotine hingerichtet. Im zweiten Prozeß gegen Mildred Harnack und Erika von Brockdorf zeigten die neuen Richter nicht genügend Mut, erneut Gefängnisstrafen auszusprechen und verhängten Todesurteile, worauf Mildred Harnack im Februar und Erika von Brockdorf im Mai 1943 hingerichtet wurden. Der Prozeß gegen die Kuckhoffs, den früheren sozialdemokratischen Staatsminister Adolf Grimme und seine Frau sowie einige andere fand vom 3. bis 5. Februar 1943 statt. Kuckhoff wurde zum Tode verurteilt und am 5. August hingerichtet. Das Todesurteil gegen seine Frau Margarete wurde später aufgehoben. In der Kette der Hinrichtungen nach den verschiedenen Prozessen gegen die Gruppen der Roten Kapelle, die sich bis zum Oktober 1943 hinzogen, müssen zwei Daten besonders erwähnt werden: der 13. Mai, an dem dreizehn Hinrichtungen, und der 5. August, an dem sechzehn Hinrichtungen zugleich stattfanden Alles in allem wurden im Zusammenhang mit dem Fall Rote Kapelle ungefähr fünfundfünfzig Personen hingerichtet.

Als die letzten Mitglieder der Roten Kapelle in Plötzensee enthauptet wurden "), war bereits der Keim für eine neue, umfassende Widerstandsbewegung gelegt worden, die am 20. Juli 1944 mit dem Anschlag auf Hitlers Leben ihr Ende fand. Die Rote Kapelle und die Gruppe vom 20. Juli 1944 waren beide revolutionäre Gruppen, beide waren aus dem Glauben an Deutschlands unabwendbare Niederlage erwachsen und beide versuchten, durch Anstiftung zum inneren Aufstand eine schlimmere ') Das Gesetz 'verlangte nur eine Bestätigung der Urteile des Reichskriegsgerichts durch den Gerichtspräsidenten. In diesem Falle behielt Hitler sich dieses Recht vor.

") Dr. Roeder, der als tüchtiger und zuverlässiger Anklagevertreter in politischen Prozessen galt, hatte bei früheren Fällen das Vertrauen Görings gewonnen. Der zweite bedeutende Fall, in dem er die Anklage vertrat, war später der Prozeß gegen Johannes von Dohnanyi (Schwarze Kapelle), der 1943 stattfand. Nach dem Krieg wurde Roeder interniert. Die Behörden der amerikanischen Besatzungsmacht untersuchten seinen Fall, um seine wirkliche Rolle bei den politischen Prozessen der nationalsozialistischen Zeit, insbesondere beim Verfahren gegen die Rote Kapelle, festzustellen. Es ging dabei um die Frage, ob er des Verbrechens gegen die Menschlichkeit schuldig sei. Bezeichnenderweise hielten sich die sowjetischen Anklagevertreter in Nürnberg, die im allgemeinen den Kreis der „Kriegsverbrecher" zu erweitern suchten, im Fall Dr. Roeder zurück. Sie waren offenbar angewiesen worden, weitere Enthüllungen über die Spionageaffäre zu verhüten. Ende 1948 übergaben die amerikanischen Behörden, die kein für die Einleitung eines Verfahrens ausreichendes Belastungsmaterial gefunden hatten. Dr. Roeder den deutschen Behörden. Er wurde Anfang 1949 aus der Haft entlassen und die Ermittlungen, die kein Material gegen ihn erbrachten, wurden 1952 eingestellt.

""") Die drei Ehepaare Schulze-Boysen, Harnack und Schumacher, Hans Coppi, Horst Heilmann, Erwin Gehrts, Kurt Schulze, Johann Graudenz, Herbert Gollnow und Erika von Brockdorf. Die Angeklagten Rudolf von Sche. -liha und Ilse Stöbe waren bereits in einem vorausgegangenen Prozeß zum Tode verurteilt worden. ') Die Hinrichtungen von Herbert Gollnow und Erwin Gehrts wurden aufgeschoben, da die Verurteilten lür den neuen Prozeß gegen Mildred Harnack benötigt wurden. Sie wurden kurze Zeit später hingerichtet. ") Wir dürfen bei den hier abgedruckten wertenden Urteilen noch einmal darauf hinweisen, daß die in den Beilagen abgedruckten Bücherauszüge. wissenschaftlichen Abhandlungen und Artikel nicht mit dem Urteil der herausgebenden Stelle übereinzustimmen brauchen. Die Redaktion. Katastrophe abzuwenden. Beide Gruppen wurden von ihrer Feindschaft gegen das Regime Hitlers getrieben. Und dennoch standen sie sich fremd, sogar feindlich, gegenüber. Die grundsätzlichen Unterschiede, die sie voneinander trennten, und ihre innere Gegensätzlichkeit, waren in der Tat Symptome von historischer Bedeutung. Die Rote Kapelle war eine prosowjetische Widerstandsbewegung mit allen charakteristischen Merkmalen einer prosowjetischen Organisation — Ergebenheit und Selbstaufopferung, politische Blindheit, ein hartnäckiger Defaitismus und die Bereitschaft, sich Moskau zu unterwerfen, um eine Katastrophe zu vermeiden, bestimmten das Gesicht dieser Gruppe. Hingegen vertrat die Gruppe vom 20. Juli den Weg der Mitte, auf der ihr die Mehrheit der Nation gefolgt wäre. Sie hatte Angst vor Rußland und war wesentlich prowestlich und demokratisch. In diesem Sinne waren die beiden Bewegungen im Deutschland der Kriegsjahre bereits die Kernpunkte der beiden Deutschlands nach dem Kriege — Ost und West — und die am Vorabend der deutschen Niederlage zwischen ihnen herrschende Auseinandersetzung wuchs sich zu dem großen und welterschütternden Antagonismus unserer Nachkriegsjahre aus.

Nach dem Kriege wurde der Fall der Roten Kapelle in Büchern, Zeitschriftenartikeln und Reden weidlich erörtert und zum Ausgangspunkt einer hitzigen politischen Debatte gemacht. Während die Presse in der sowjetischen Besatzungszone alle Mitglieder der Roten Kapelle als „Antifaschistische Helden“ verherrlichte, griffen gewisse Rechtselemente in Westdeutschland die gleichen Personen, von denen einige noch leben, als „Verräter“ an. Auf dieser Seite wurde behauptet, der Spionagering habe durch hochverräterische Akte, wie zum Beispiel die Auslieferung strategischer Pläne des deutschen Oberkommandos an Moskau rund zweihunderttausend deutsche Soldaten in den Tod geschickt. Hier war der Ansatzpunkt für eine neue Dolchstoßlegende, eine schwache Erinnerung an die Jahre nach 1918, als die Niederlage im ersten Weltkrieg dem Verrat von Linkselementen zugeschoben wurde. Auch diesmal gingen die Wogen der Leidenschaft hoch. Aber die endlose Debatte führte zu nichts und verlief schließlich völlig im Sande.

Auf die Frage, ob Spionage in einem nationalsozialistischen Land zu Gunsten der Sowjetunion moralisch gerechtfertigt war, gibt es keine endgültige Antwort und kann es keine Antwort geben. Wenn tatsächlich hunderttausend oder zweihunderttausend deutsche Soldaten wegen der Tätigkeit der kommunistischen Spione den Tod fanden, wer kann behaupten, sie hätten nicht den Tode gefunden, wenn sie vom deutschen Oberkommando zur Verlängerung des Krieges eingesetzt worden wären? Hätten sie nicht ebenso gut in einer noch größeren Katastrophe nach dem Mai des Jahres 1945 umkommen können? Welches ablehnende LIrteil man auch immer über Spionage fällen mag, die zu Gunsten des Rußlands Stalins betrieben wurde — man sollte immer darauf hinweisen, daß ein weltweiter Unterschied besteht zwischen einer Untergrundarbeit, die sich gegen einen demokratischen Staat richtet, der um seine Unabhängigkeit und Freiheit kämpft, und einer konspirativen Tätigkeit, die gegen ein aggressives und brutales politisches System gerichtet ist.

3. Unternehmen Fallschirm

Der Berliner Apparat war bereits im August 1941 von Moskau (über Brüssel) angewiesen worden, Vorbereitungen für die Übernahme und Einweisung neuer Agenten zu treffen, die mit Fallschirmen über Deutschland abgesetzt werden sollten.

Vorbereitungen für die Übernahme von Fallschirmagenten umsichtig zu treffen, war in der Tat für beide Seiten, Zentrale wie Apparat, eine Hauptaufgabe. Die Zentrale hatte geeignetes Personal auszusuchen, die für den Einsatz bestimmten Personen mit den Techniken der Verschlüsselung vertraut zu machen, sie im Fallschirmspringen auszubilden, mit Funkgeräten auszustatten und — ein sehr wichtiger Punkt — sie mit falschen Pässen und Papieren zu versehen, die einer genauen Prüfung standhalten konnten. Die deutsche Seite hatte für Unterkunft und Häuser zu sorgen, in denen der Sender aufgestellt werden konnte, und mußte Vorkehrungen für die Verpflegung treffen, die ja nur auf Lebensmittel-

kalten erhältlich war. Vorbereitungen dieser Art dauerten Monate. Die ersten Fallschirmagenten wurden imn Mai 1942 über Deutschland abgesetzt.

Um den Nachrichtenhunger der Kampfeinheiten an der Front zu dek-ken, wurden häufig Agenten zur Aufklärung im unmittelbaren Operationsgebiet hinter den Hauptkampflinien eingesetzt. Diese Frontaufklä-rungsund Erkundungseinsätze, die in den Stäben der jeweiligen Abschnittsbefehlshaber geplant und geleitet wurden und sich gegen militärische Nahziele richteten, waren von großer militärischer, aber nur von geringer politischer Bedeutung. Die von der Moskauer ND-Zentrale geleitete großräumige, strategische Spionage der Sowjets im Herzen des Gebietes der Feindmacht war eine Aufgabe, die man zunächst als selbstverständliche Arbeit den in Moskau lebenden deutschen Kommunisten zuwies: wem anders konnte man die streng geheimen Namen, Adressen und Verbindungen anvertrauen als Männern und Frauen, die vor den Nationalsozialisten geflohen waren, selbst von den deutschen Sicherheitsorganen gesucht wurden und in ihrem eigenen Land nur eine Heimat hatten, nämlich den kommunistischen Untergrund? lind war es nicht ihre Pflicht gegenüber der Partei, militärische Aufträge zu übernehmen und für ein kommunistisches Regime auszuführen, das ihnen Asyl gewährt und lange Jahre eine Existenz geboten hatte?

Theoretisch und vom Standpunkt der moralischen Haltung schien diese Überlegung gerechtfertigt und sogar selbstverständlich. Die für den Einsatz vorgesehenen deutschen Kommunisten konnten sich diesen Aufträgen nicht entziehen, da gleichzeitig Millionen sowjetischer Soldaten im Kampf gegen Deutschland ihr Leben aufs Spiel setzten. Die kommunistischen Emigranten konnten jedoch nicht wissen, mit welchem Zynismus die Zentrale an dieses Unternehmen heranging, mit welcher Leichtfertigkeit die notwendigen Vorkehrungen für Ausstattung und Sicherheit getroffen wurden und wie wenig mit diesen Einsätzen, die fast sicher den Tod bedeuteten, überhaupt für die „Sache des Antifaschismus“ erreicht werden konnte.

Die Fallschirmagenten hatten gewöhnlich einen doppelten Auftrag: sie sollten zunächst einmal über politische und militärische Fragen in Deutschland berichten, sich zum anderen aber darauf einstellen — und zwar im Hinblick auf die erwartete „Zweite Front“ der westlichen Alliierten — als Agenten in dem von den Westmächten überrollten und besetzten Teil Deutschlands zu bleiben und Agentendienste für Moskau hinter den Kampflinien der Westmächte zu leisten. Jeder Fallschirmagent bekam für einige Wochen Verpflegung in Form von Armeerationspäckchen, jeder hatte eine neue Lebensgeschichte, seine „Legende“, auswendig zu lernen und jeder erhielt einen Kurzwellen-sender.

Der sowjetische ND war jedoch seinen eigenen Leuten gegenüber vorsichtig und schickte Agenten niemals einzeln nach Deutschland. Wer konnte sicher sein, daß ein Einzelgänger sich nicht unmittelbar nach der Landung: auf dem Polizeirevier melden würde? Agenten wurden deshalb grundsätzlich zu zweit über Deutschland abgesetzt und die Aufstellung geeigneter Paare war eine der ersten Aufgaben Alexander Erdbergs nach seiner Rückkehr nach Moskau. Er löste diese Aufgabe gemeinsam mit den Führern der kommunistischen Emigranten aus Deutschland.

Die ersten Fallschirmagenten für den Einsatz in Deutschland waren Erna Eifler und Wilhelm-Heinrich Fellendorf. Erna Eifler (Decknamen: „Rosita", „Gerda Sommer“) hatte anfangs im BB-Apparat in Deutschland der Weimarer Zeit gearbeitet und war dann später als sowjetische Agentin nach Holland und China gegangen. Fellendorf, von Beruf Fernfahrer, der in der Zentrale unter den Decknamen „Helmuth“ und „Willy Machwuroff" geführt wurde, hatte als Offizier in der Internationalen Brigade in Spanien gedient. Beide waren zwar alte Kommunisten, hatten aber nicht die für einen solchen Auftrag nötige Erfahrung. Sie wurden daher zunächst vier Monate auf eine Agenten-schule geschickt, wo sie in der Funktechnik, den Methoden der Zersetzung, der Sabotage und im Fallschirmspringen ausgebildet wurden. Sowohl die Zentrale als auch die Führung der deutschen Kommunisten gab ihnen danach noch eingehende Instruktionen. Im Mai 1942 landeten Eifler und Fellendorf in Ostpreußen und reisten nach Hamburg, wo sie vor der Machtergreifung Hitlers mehrere Jahre gewohnt hatten.

Das zweite Paar bestand aus den beiden alten Kommunisten Albert Hössler und Robert Barth. Hössler (Decknamen: „Helmut Viegner , „Franz“, „Walter Stein“) war in Spanien als Mitglied der Internationalen Brigade verwundet worden, hatte dann seit 1939 in einem Stahlwerk in Tscheljabinsk gearbeitet. Barth (-„Walter Kersten“), ehemaliger Angestellter der „Roten Fahne“, hatte ebenfalls mehrere Jahre in Rußland zugebracht, allerdings mehr als Gefangener denn als Emigrant. Dieses zweite Paar, ebenfalls auf einer Agentenschule ausgebildet, wurde am 5. August 1942 von einem russischen Bomber bei Gomel im besetzten Gebiet abgesetzt, von wo es in wenigen Tagen Berlin erreichte.

Der nächste Ankömmling war Heinrich Koenen, dessen Auftrag bereits erwähnt wurde. Er sprang am 23. Oktober 1942 mit dem Fallschirm ab.

Bei diesem gesamten Unternehmen stand der sowjetische ND einem Problem völlig verständnislos gegenüber, nämlich der geistigen und seelischen Verfassung eines kommunistischen Agenten, der im Krieg von Rußland nach Deutschland eingeschleust wurde. Jeder Fallschirm-agent wußte, daß der Sprung von der Transportmaschine eigentlich ein Sprung in den Tod war, denn er wußte, daß im Deutschland Hitlers ein Spion keine Gnade erwarten konnte, so wie er auch wußte, daß er bei einer Entdeckung alle seine Kontakte, Gastgeber und sogar zufällige Bekannte mit in das Verderben reißen würde. Diese Agenten, einsam selbst unter ihren Genossen, mußten überall auf Argwohn und Mißtrauen stoßen: war der Fremde nicht vielleicht doch ein Spitzel der Gestapo? Diese Agenten hatten einen harten Weg vor sich und waren darum für Versuchungen anfällig: könnte er bei einer Verhaftung sein Leben durch ein Geständnis retten? Wenn ja, warum dann warten, bis man verhaftet wurde? Warum nicht gleich und aus eigenem Antrieb zur Polizei gehen? Heroismus ist selten, auch im Untergrund, und ein Durchschnittsmensch, der dem Tode gegenübersteht, benimmt sich gewöhnlich durchaus nicht heroisch.

Die ersten fünf Fallschirmagenten sprangen, wie bereits erwähnt, zwischen Mai und Oktober 1942 über Deutschland ab. Als sich die Fallschirme der nächsten Einsatzgruppe öffneten, waren die ersten fünf bereits verhaftet. Erna Eifler und Wilhelm-Heinrich Fellendorf setzten sich in Hamburg mit der örtlichen kommunistischen Zelle in Verbindung. Sie wollten nach Berlin übersiedeln, wo Wilhelm Guddorf vom Berliner Apparat die notwendigen Vorkehrungen zu treffen versuchte, die jedoch noch nicht einmal abgeschlossen waren, als die Polizei Guddorf und fünfzehn Mitglieder der Hamburger Zelle faßte. Eifler und Fellendorf wurden im Oktober ins Gefängnis eingeliefert.

Sie waren nur fünf Monate in Freiheit gewesen, aber immerhin noch länger als das zweite Paar Hössler-Barth, die gleich von Berlin aus operieren wollten. Hössler traf mit Schulze-Boysen zusammen und begann dann, die Funkstelle zu betreiben, die in der Wohnung von Erika von Brockdorfs eingerichtet worden war. Sein Kollege Barth konnte tatsächlich drei Funksprüche über das harte Leben eines Agenten in der Reichshauptstadt nach Moskau absetzen. Aber schon nach zwei Monaten wurden sie festgenommen, Hössler am 9. Oktober, Barth ungefähr um die gleiche Zeit.

Für Heinrich Koenen blieben genau sechs Tage Freiheit. Er war am 23. Oktober 1942 bei Osterode in Ostpreußen gelandet und von dort mit seinem Kurzwellehfunkgerät nach Berlin gegangen. Am 29. Oktober betrat er Ilse Stöbes Wohnung, wo er prompt verhaftet wurde. Wie man Koenen zum Sprechen brachte, ist nicht bekannt; bekannt ist nur, daß er ein Geständnis ablegte und enthüllende Aussagen machte. Er hatte zwar zunächst gezögert, war dann aber in seinen Aussagen Schritt um Schritt weiter gegangen. „Geständnisse“, einmal begonnen, lassen sich in ihrem Ablauf gewöhnlich nicht mehr vom Häftling kontrollieren, zumal die Gestapo nur zu gut wußte, wie man das Letzte aus einem Häftling herausholt. Koenen wurde schließlich ein wichtiger Kollaborateur. Seine Kenntnisse der sowjetischen ND-Tätigkeit in Deutschland und die Zahl der ihm bekannten Namen und Adressen sowjetischer Kontakte waren beträchtlich und für die deutschen Sicherheitsorgane äußerst nützlich. Koenen verstand es allerdings nicht, die deutschen Stellen von seiner dauernden Nützlichkeit zu überzeugen — als er alles, was er wußte, ausgesagt hatte, wurde er hingerichtet.

In Moskau trieb man das Unternehmen Fallschirm derweil immer weiter vor. Eine große Zahl deutscher Emigranten wurde ausgewählt, geschult und zum Einsatz nach Deutschland geflogen. Ehemalige Kommunisten, die man unter den deutschen Kriegsgefangenen entdeckt hatte, wurden für Geheimaufträge herangebildet. Als dann die deutschen Rückzüge einsetzten, wurden auch nichtkommunistische Kriegsgefangene für diese Einsätze zugelassen, wenn sie Gegner des Hitlerregimes waren. Das Unternehmen wuchs sich sehr bald zu einer Massenaktion aus. Das geographisch günstiger gelegene und besser ausgerüstete Großbritannien erklärte sich bereit, dem sowjetischen ND beim Einflug der Fallschirm-agenten zu helfen. Sowjetische Agenten wurden auf dem Seeweg nach Großbritannien gebracht, wo sie ausgestattet und dann von britischen Maschinen über Orten abgesetzt werden sollten, die von den Sowjets vorher festgelegt worden waren. Dieses Kapitel britisch-sowjetischer Zusammenarbeit begann im Jahre 1943.

Elsa Noffke und Willy Beuthke, die im süddeutschen Raum in der Nähe der Schweizer Grenze operieren sollten, bildeten das nächste Fallschirmagenten-Paar. Elsa Noffke, die treibende Kraft in diesem Gespann, war früher mit einem Redakteur der „Roten Fahne“ verheiratet gewesen, der Anfang der dreißiger Jahre bei diesem Blatt der KPD gearbeitet hatte. Ihr Partner Beuthke war ein alter Kommunist aus Berlin. Nach der üblichen Schulung in Rußland wurden sie über die Aktionsroute hach Schottland gebracht, wo sie vom britischen Intelligence Service übernommen und betreut wurden. Das Paar lebte einige Zeit in der Nähe von London, wo sie auch mit der dortigen sowjetischen Botschaft in Verbindung standen. Sie wurden von den britischen Stellen neu ausgestattet, erhielten vor allem zwei ausgezeichnete Funkgeräte (die britischen Kurzwellengeräte waren dem sowjetischen Standardmodell „Sever“ und anderen Typen weit überlegen) und ließen sich dann von einem britischen Bomber in der Nacht zum 23. Februar 1943 in der Nähe von Freiburg in Breisgau absetzen. Sie hatten Anweisung, mit dem alten KPD-Mann Heinrich Müller in Freiburg Kontakt aufzunehmen. Die deutschen Sicherheitsorgane waren in den Besitz einer Anzahl von Anweisungen gekommen, die die Moskauer Zentrale an andere Agenten in Deutschland gefunkt hatte. Die deutsche Abwehr, die vom Eintreffen des Paares wußte, wartete in der Nähe von Freiburg auf die beiden Agenten. Noffke und Beuthke konnten zwar noch einmal entkommen, mußten aber Fallschirme, Funkgeräte und andere Ausrüstung an der Absprungstelle zurücklassen. Beide flohen zu Heinrich Müller.

Wir fanden [heißt’es in einem Bericht des Angehörigen der deutschen Abwehr Heinrich Kalthof] den Fallschirm und das Agenten-gepäck und leiteten eine systematische Fahndung ein. Die Lebensmittelkarten waren natürlich gefälscht. Wir versuchten also herauszufinden, welcher Freiburger Metzger diese gefälschten Marken entgegennahm und weiterleitete. Die Spuren führten schließlich zu einer Frau, die in Heinrich Müllers Wohnung gegenüber der Universität lebte. Wir beobachteten die Wohnung von der Universität mit Feldstechern und konnten deutlich zwei Teile eines in England herge-

stellen Kurzwellenfunkgerätes ausmachen.

Noffke und Beuthke wurden verhaftet und machten gleich Aus-

sagen. Sie berichteten eingehend über ihren Auftrag, ihre Arbeit in Moskau, ihre Reise nach Großbritannien und verrieten alle Adressen in Deutschland, die ihnen bekannt waren. Es hatte ja keinen Zweck, irgendetwas abzustreiten oder lügen zu wollen, da ja alle ihre Notizen und Dokumente in unserer Hand waren

Die beiden Agenten und das Ehepaar Müller wurden hingerichtet.

Von nun an folgte eine lange Reihe von Fallschirmagenten: Joseph Baumgarten, ein gebürtiger Bayer, der lange Jahre als Komintern-Agent in Japan tätig gewesen war, Theodor Winter, Schwiegersohn des jetzigen Staatspräsidenten der „DDR“, Wilhelm Pieck, und viele andere. Je weiter die Monate fortschritten, um so größer wurde die Zahl der nichtkommunistischen ND-Agenten, die unter den deutschen Kriegsgefangenen angeworben waren und nun über Deutschland abgesetzt wurden.

Die Kriegsgefangenenlager in der Sowjetunion unterstanden der GB, deren Spitzel unter den deutschen Gefangenen aus jeder Einheit und aus jedem Lager über jeden politisch interessierten Offizier und Mann, über ihre politischen Ansichten, ihre Unterhaltungen und Diskussionen berichteten. Die sowjetischen Behörden verschafften sich auf diese Weise ein recht detailliertes Bild der politischen Strömungen unter den Gefangenen. An die Gegner Hitlers, besonders an die Kommunisten und Sozialisten, trat man oft mit dem Vorschlag heran, sie sollten sich „aktiv am antifaschistischen Krieg beteiligen“. Diesen Vorschlag abzulehnen, bedeute gleichzeitig, sich selbst auf die Liste der NS-Gläubigen zu setzen. Auf diese Weise schafften sich die sowjetischen Dienststellen ein großes Reservoir an möglichen Fallschirmagenten, die dann näher an die Front verlegt wurden, wo man ihnen ein Minimum an Instruktionen gab, sie mit einigen Ausweispapieren und Uniformen ausstatte, um sie dann in Paaren über die Kampflinie hinweg nach Deutschland einzufliegen. Das Unternehmen nahm 1944, nach der Landung der Alliierten in der Normandie, große Ausmaße an.

Die sowjetischen ND-Dienststellen gingen von der Annahme aus, daß Deutschland nach seinen schweren Niederlagen so zerrüttet sein müsse, daß ein Agent in diesem Land mit jeder Art von Ausweis durchkommen könne. Diese Vorstellung bewies eine erschütternde Unkenntnis der wirklichen Verhältnisse, verleitete aber den sowjetischen ND dazu, der Ausstattung der einzelnen Agenten — Ausweispapiere, Uniformen usw. — noch weniger Aufmerksamkeit als zuvor zu schenken. Aus dem Unternehmen wurde eine typische „Massenaktion“ sowjetischen Musters.

Nach der Landung auf deutschem Boden setzte bei den Fallschirm-agenten die Ernüchterung mit der Frage ein, ob die Sache der Sowjets eigentlich die Gefahr wert sei, in die sie hineingeworfen wurden. Tat-

sächlich meldete sich in den Jahren 1944— 45 die Mehrzahl der deutschen Kriegsgefangenen, die mit Fallschirmen hinter den deutschen Linien abgesetzt wurden, sofort bei den deutschen Behörden, bevor noch einer ihrer Kollegen sie anzeigen konnte. Der sowjetische ND wußte darum, vertrat aber die Ansicht, die Chance, daß sich unter hundert Fallschirm-agenten ein wirklicher Spion herausstellen könnte, gleiche alle Gefahren und negativen Faktoren völlig aus. Die Nachrichtendienste der Alliierten und der Sowjets widmeten zu jener Zeit einen großen Teil ihrer Aufmerksamkeit der kleinen Ostseestadt Peenemünde, in der die deutsche Regierung ihre Versuchsstationen für Raketen-und andere Waffen errichtet hatte. Die Bedeutung Peenemündes zu jener Zeit läßt sich nur mit der Bedeutung der Entwicklungszentren für Atomwaffen in unseren Tagen vergleichen. Ab Mitte 1944 setzten sowjetrussische Flugzeuge größere Gruppen von Agenten, die unter den deutschen Kriegsgefangenen angeworben waren, im Raum Peenemünde ab. Diese Agenten, wie üblich mit Kurzwellenfunkgeräten, deutschem Geld und gefälschten Ausweispapieren ausgestattet, kamen ihren Instruktionen jedoch nicht nach. Einige von ihnen ließen sich in Zusammenarbeit mit der deutschen Abwehr in ein Funkspiel mit Moskau ein, um den sowjetischen ND durch Falschberichte irrezuführen. Ihre Funksprüche schlossen häufig mit der Forderung nach weiteren Geldmitteln. Der einzige Agent einer größeren sowjetischen ND-Gruppe in Peenemünde, der im Jahre 1944 echte Berichte nach Moskau funkte, war ein Leutnant Brandt, der aus dem nahegelegenen Swinemünde sechs oder sieben Funksprüche nach Moskau absetzen konnte. Die Funkabwehr ortete jedoch seinen Sender.

Brandt wurde verhaftet und später hingerichtet N Ein erschütternder, aber offenbar ehrlicher Bericht über einen Geheimagenteneinsatz in Deutschland wurde 1945 von dem ergebenen kommunistischen Parteiarbeiter Friedrich Schlotterbeck in Zürich veröffentlicht Dieses KPD-Mitglied hatte zehn Jahre in einem deutschen Konzentrationslager verbracht, aus dem er 1943 entlassen wurde. Er lebte danach bei seiner Familie in Stuttgart, wo ihn im Januar 1944 sein Bekannter Eugen Nasper („Nöller“), ebenfalls ein altes KPD-Mitglied, aufsuchte. Nasper erzählte dem früheren Genossen seine Geschichte: er war als Funker zur Wehrmacht eingezogen und später von den Russen gefangen genommen worden, die ihn jedoch gut behandelt hatten und mit einem ND-Auftrag nach Deutschland zurückschickten. Seine Hauptaufgabe war, Berichte über alle besonderen Entwicklungen nach Moskau zu funken, und darüber hinaus mit kommunistischen Untergrundorganisationen in Deutschland und mit Fremdarbeitern Verbindung aufzuneh-men. Moskau hatte das Haus der Schlotterbecks zum Geheimtreff und Anlaufpunkt seiner Agenten bestimmt ) *.

Nachdem Nasper gegangen war, unterhielten sich Schlotterbeck und sein Bruder über diesen außergewöhnlichen Besucher und erörterten ihre schwierige Lage: hier, das sahen sie genau, begann das Spiel mit ihrem Leben. Sie versuchten, sich an alles Z erinnern, was sie früher von Nasper gesehen hatten. Überdies stellten sie bei ihren Freunden Nachforschungen an. Alle Antworten waren günstig, und offenbar lag kein Grund vor, Nasper zu mißtrauen. Schlotterbeck wurde daraufhin ungefähr alle vierzehn Tage von Nasper aufgesucht, der ihm mitteilte, daß die Funkverbindung mit Moskau ausgenommen worden sei und zufriedenstellend laufe. Er blieb nicht, wie vorgesehen war, vier Wochen in Stuttgart, sondern fünf volle Monate. Geld und Lebensmittelkarten waren bei ihm nie knapp.

Eines Tages brach Nasper plötzlich zusammen und gestand Schlotterbeck, er arbeite in Wirklichkeit für die Gestapo. Er war bei seiner Fallschirmlandung gefangen genommen worden und stand seitdem im Dienste der Gestapo, die ihm erklärt hatte, sie spiele „ein großes Spiel mit Moskau“ und seine einzige Chance, mit dem Leben davonzukommen, sei Zusammenarbeit beim Funkspiel. Er erklärte sich dazu bereit, natürlich mit der Absicht, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit abzuspringen. Zuerst mißtraute ihm die Gestapo noch und ließ ihn bei jedem Gang von einigen Beamten beschatten. Allmählich jedoch konnte er sich in ihr Vertrauen einarbeiten, indem er sein beim Sprung beschädigtes Kurzwellengerät reparierte und die Funkverbindung mit Moskau unter Anleitung der Gestapo herstellte. Mit Zustimmung der deutschen Stellen funkte er alles nach Moskau, was er von Schlotterbeck erfahren hatte.

„Beim Empfang habe ich immer betrogen und immer unscharf eingestellt, so daß man nicht richtig verstehen konnte. Ich habe alles getan, was auffällig war. Sie mußten es . drüben'merken. Statt der vorgeschriebenen dreißig Minuten habe ich immer eine Stunde lang gefunkt, mit allerlei Nebensächlichkeiten, wie Güte Nacht!'und . Schlafen Sie gut!'und so Sie haben es bestimmt gemerkt und den Verkehr abgebrochen.“

Schlotterbeck wußte, was ihm bevorstand und floh ohne Zögern (5. Juni 1944) in die Schweiz, wo er sofort eine Warnung an Moskau abgab. Nach seiner Flucht mußte er feststellen, daß Nasper noch eine Vielzahl anderer Hitlergegner hintergangen und verrraten hatte. Alle Angehörigen Schlotterbecks wurden in Deutschland verhaftet und hingerichtet “). ') Die Unterhaltung der beiden Brüder Schlotterbeck mit Nasper ist bezeichnend für die Einstellung gegenüber dem britischen Alliierten:

„Wer schickt dich?!" — „Die Partei.“ — „Wer ist das, die Partei?" — „Ich weiß keine Namen ..." — Wie bist du hergekommen?" — „Mit dem Fallschirm abgesprungen . . — „Aus Rußland? — Ausgeschlossen!

Bis hierher kommt kein russisches Flugzeug . . — „Ich bin mit einem englischen Bomber gekommen ..." — „Dann kommst du also von den Engländern und nicht aus Moskau?" — „Mit den Engländern habe ich nichts zu tun. Sie haben mich nur abgesetzt.“ — „Na, du wirst doch nicht behaupten wollen, daß die Engländer so etwas umsonst machen.

Ausgerechnet die Engländer ..."

. . . Er erzählte von den großen Mengen Kriegsmaterial und den Vorbereitungen (in England) zur Invasion. „Wann kommt die Invasion?“ — „Dieses Jahr noch. Daß ich gekommen bin, hängt auch damit zusammen . . — „Na, na . . . Geredet wird ja viel davon, und inzwischen werfen sie alles zusammen . . .“ — „Ich habe keine andere Meinung über England als ihr, . . . aber jedenfalls führt es Krieg gegen Hitler, und das ist die Hauptsache". — „Du hast also nichts mit den Engländern zu tun?" — „Nein, sie hatten uns nur zu befördern und wissen nicht einmal unsere Namen . . (Friedrich Schlotterbeck, Je dunkler die Nacht, desto heller die Sterne, S. 227— 228, 232.)

*) Schlctterbecks Buch enthält die Fotokopie einer schriitlichen Mitteilung der Gestapo an das Standesamt in Stuttgart, in der die Gestapo um die notwendigen Änderungen im Personenregister ersuchte, da „die folgenden Personen am 30. November 1944 wegen Vorbereitung zum Hochverrat hingerichtet wurden.“ Es folgen die Namen von neun Mitgliedern der Familie Schlotterbeck.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Reinhold Schönbrunn, D-Akten, XYZ 94— 9.

  2. a. a. O., 97— 9; Anton Lehmann, D-Akten, XYZ 85— 6.

  3. Axel von Harnack, „Arvid und Mildred Harnack", Die Gegenwart, 31. Januar 1947, S. 15.

  4. Trial of the Anti-Soviet Bloc of Rightists and Trotskyites (Moskau, People’s Commissariat of Justice, 1938), S. 9, 10, 38— 66, 715— 18, 800.

  5. Axel von Harnack, „Arvid und Mildred Harnack“, Die Gegenwart, S. 15-16, 19.

  6. Elsa Boysen, Harro Schulze-Boysen (Düsseldorf, Komet-Verlag), S. 10, 13.

  7. D-Akten, b 241, 242.

  8. Hugo Buschmann, „De la resistance au defaitisme“. Les temps modernes, Paris, Nr. 46— 47, Aug. -Sept. 1949, S. 258— 9.

  9. Günther Weisenborn, Der lautlose Aufstand (Hamburg 1953), S. 211.

  10. Weltspiegel, 22. Februar 1948, Nr. 8.

  11. Frau Marie-Luise Schulzes Aussage vom 5. Dezember 1948. The Case of Dr. Roeder, S. 388.

  12. Weltspiegel, 22. Februar 1948.

  13. Aussage 6. Aug. 1948, The Case of Dr. Roeder, S. 388.

  14. Buschmann, „De la resistance au defaitisme", Les temps modernes, August-September 1949, und D-Akten, b 37, 99— 109.

  15. Gestapobericht, 21. Dezember 1942, S. 21.

  16. Wie später von sowjetischen Fallschirm-Agenten in Deutschland berichtet.

  17. Weisenborn, in Boehm. We Survived, S. 195.

  18. Dr. Manfred Roeder Die Rote Kapelle, Hamburg, Hans Siep, 1952, S. 18.

  19. Gestapobericht, 21. Dezember 1942.

  20. a. a. O.

  21. Buschmann, „De la resistance au defaitisme“, Les temps modernes, August-September 1949.

  22. Der Fortschritt (Essen), 24. November 1950.

  23. Bericht des Hauptmann Wedel vom 1. Januar 1945, D-Akten, XYZ 48.

  24. Axel von Harnack, „Arvid und Mildred Harnack“, Die Gegenwart, 31. Januar 1947, S. 16 ff.

  25. Heinrich Kalthoff in den D-Akten. b 213, 214.

  26. Harald Poelchau. Die letzten Stunden (Magdeburg, 1949), S. 73.

  27. Brief vom 22. Dezember 1942: D-Akten XIZ 78.

  28. Boysen, Harro Schulze-Boysen, S. 25— 8.

  29. a. a. O„ S. 27.

  30. The Case of Dr. Roeder, S. 395.

  31. D-Akten, b 243.

  32. Aussage vom 28. September 1948 von Dr. Rudolf Lehmann, Generaloberstabsrichter, The Case of Dr. Roeder, S. 529.

  33. Dr. Rudolf Lehmann, in The Case of Dr. Roeder, S. 525— 6.

  34. Dr. Rudolf Lehmann, in The Case of Dr. Reeder, S. 529.

  35. Nach den Angaben im Widerstand des Dritten Reiches, herausgegeben von der VVN.

  36. Heinrich Kalthof, D-Akten, b 213.

  37. Heinrich Hofmann, D-Akten, b 60— 1.

  38. Friedrich Schlotterbeck, Je dunkler die Nacht, desto heller die Sterne (EuropaVerlag, Zürich/New York, 1945).

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