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Der Aufstand von Kingir | APuZ 22/1956 | bpb.de

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APuZ 22/1956 Der Aufstand von Kingir

Der Aufstand von Kingir

ALFRED BURMEISTER

Am 1. Mai 1956 veröffentlichte der Berliner „Telegraf" unter der Überschrift „Sibiriens Straflager im Aufruhr" folgende United-Press-Meldung aus Wien:

„Zu einem großen Aufstand ist es in den ersten Apriltagen in den Straflagern Sibiriens gekommen, über 200 politische Gefangene wurden dabei von Einheiten der sowjetischen Sicherheitspolizei niedergemacht. Diese aufsehenerregende Meldung machte letzt ein Österreicher, der vor kurzem aus der Sowjetunion zurückgekehrt ist. Sein Name wird geheimgehalten.

Die Gefangenenrevolte spielte sich in den Lagern Woreschtschagino, Werchne Imbatskoje und Mirnoje ab. Sie liegen am Jenissei, etwa 1000 km nördlich von Tomsk. Ursache des Aufstandes waren Nachrichten, die über den neuen Anti-Stalin-Kurs in der Sowjetunion durchsickerten. Ein Sprecher der Häftlinge forderte daraufhin im Lager Mirnoje von dem zuständigen Kommandanten die Freilassung aller Gefangenen, die während der Stalin-Ära verurteilt worden sind.

Der Kommandant erschoß kurzerhand den Sprecher. Dies führte zu einer allgemeinen Empörung. Die Gefangenen machten den Kommandanten nieder und entwaffneten die Lagerwache. Der Aufstand breitete sich auf die beiden anderen Lager aus. Sondereinheiten der Sicherheitspolizei riegelten das Krisengebiet ab. Es kam zu heftigen Kämpfen zwischen den Polizeitruppen und den Gefangenen.“

Zwei Wochen später hat die sowjetische Regierung die Auflösung aller Konzentrationslager im Laufe der nächsten 12— 18 Monate angeordnet. Dies wurde am 13. Mai von einem hohen Beamten des sowjetischen Innenministeriums einer Delegation französischer Sozialisten mitgeteilt, die ein „Besserungslager'200 km von Moskau entfernt besichtigten.

Die erste dieser Meldungen beweist, daß die Welle der Streiks und Aufstände, die nach Stalins Tod in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern losbrach, bis heute nicht abgeklungen ist. Zahl und Umfang aller Erhebungen kennen wir nicht, bekannt geworden sind im Westen nur die Streiks der Lager, aus denen deportierte Ausländer in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Es ist jedoch anzunehmen, daß ihre Zahl größer ist, als wir wissen.

Aus der zweiten Meldung ergibt sich: Die Gefangenen der sowjetischen Zwangsarbeitslager haben die von den Kommunisten der freien Welt mißbrauchte Waffe der Arbeiterschaft — den Streik — mit Erfolg gegen die kommunistischen Unterdrücker angewandt. Die Auflösung der Lager scheint das Resultat des Kampfes der in den Lagern vereinten innersowjetischen Opposition, die sich jetzt mit der Entlassung aus den Lagern eine breite Plattform für die nächste Etappe ihres Kampfes schafft.

„Das Parlament" veröffentlicht in dieser und der folgenden Nummer Berichte über die Erhebungen in Kingir und Norilsk, die ebenso dramatisch wie anschaulich den Druck sichtbar werden lassen, dem die „sowjetische Bourgeoisie" seitens ihres Zwangsarbeiter-Proletariats ausgesetzt ist. Beide Streiks konnten noch niedergeschlagen werden, aber die jüngste Konzession beweist, daß sich die Zwangsarbeiter zielstrebig und erfolgreich Schritt um Schritt die Grundrechte der Arbeiterschaft erkämpfen, die den Demokratien des Westens seit langem selbstverständlich sind.

Einleitung

Anfang 1954 erschienen in der freien Welt die ersten Berichte über den Streik von Workuta *). Die Vermutung, dieser Streik sei nur Teil einer Welle von Streiks und Aufständen in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern nach Stalins Tod, sollte sich bald bestätigen. Nur zwei Monate nach der Veröffentlichung begann im fernen Kasachstan ein neuer großer Kampf der Gefangenen. Noch war in Workuta der Schnee nicht geschmolzen und der Sommer, in dem das Klima der Verbündete der Gefangenen ist, war in den Lagern des Nordens noch nicht angebrochen, als in einer anderen Sklaven-kolonie Rußlands die Gefangenen meuterten und eine Aktion einleiteten, die in ihrer Geschlossenheit und Kraft den Streik von Workuta noch übertraf. Ein aus Kasachstan angekommener Spätheimkehrer berichtet von einem vierzig Tage währenden Streik im Spez. Regimelager Nr. 392/3, KINGIR, 500 km von der Stadt Karaganda (Zentralasien) entfernt, der im Mai 1954 ausbrach und Ende Juni mit Panzern vom Typ T-34 niedergeschlagen wurde, wobei 500 Gefangene, darunter 200 Frauen, in dem ungleichen Kampf den Tod fanden. 10 Jahre hat Franz W. in sowjetischen Gefängnissen und Lagern zugebracht. Kurz vor Ende des Krieges war der Zweiundzwanzigjährige von den Russen gefangengenommen und zu 10 Jahren Lager verurteilt worden. Er hat Furchtbares erlebt, er war entsetzlicher Willkür ausgeliefert, ehe er im letzten Jahr seiner Gefangenschaft die große Revolte der Strafgefangenen von KINGIR miterlebte. Was Franz W. von der Aktion in Kingir berichtet, zeigt, wieviel die Gefangenen in Rußland aus den Erfahrungen von Workuta gelernt haben. (Die Behörden haben ihnen dabei ungewollt geholfen, indem sie die „Rädelsführer“ von Workuta aus den dortigen Lagern fort-brachten und auf die verschiedenen Lager der Sowjetunion verteilten.) Was 195 3 in Workuta ein machtvoller Beginn war, ist 1954 eine mit aller taktischen Klugheit und größtem Mut ausgeführte, machtvolle Fortsetzung. Workutas Gefangene streikten — die Gefangenen von Kingir organisierten einen Aufstand. In Workuta sprach man von Waffen — in Kingir stellte man sie, wenn auch primitiv, her. In Workuta hörte man ausländische Radiostationen — in Kingir baute man selbst einen Sender und versuchte auf Kurzwellen ins Ausland zu funken.

Aber Kingir zeigt im Verhältnis zur Workuta noch etwas anderes: daß der Streik von Workuta ausbrechen konnte, war bedingt durch die Schwäche des Sowjetregimes nach Stalins Tod, er war ausgelöst durch die Verwirrung des MWD im Zusammenhang mit der Verhaftung von Berija. Inzwischen ist eine geraume Zeit vergangen, man sollte annehmen, diese anfängliche Verwirrung sei überwunden, der Apparat arbeite wieder reibungslos. Der Aufstand von Kingir beweist: die Verwirrung im MWD ist keineswegs beigelegt, sondern im Gegenteil nur noch größer geworden. Der Bericht von Franz W. läßt die tiefe Erschütterung des ganzen Systems der politischen Polizei in Rußland erkennen. Auf den riesigen Bauvorhaben der entlegenen Gebiete der UdSSR, die auf Zwangsarbeit beruhen, gärt es. Die Über-gabe dieser Unternehmen aus der Verwaltung des MWD an die entsprechenden staatlichen Ministerien im Jahre 1953 einerseits und eine Reihe von Reformen im Strafvollzug andererseits haben der Allmacht der Geheim-Polizei ein Ende gesetzt. Während die Inter-essen der MWD-Funktionäre und Lagerleitungen mit denen der Fabrikdirektoren und Wirtschaftsleiter aufeinanderprallen, Befehle und Gegenbefehle sich kreuzen und die Verantwortlichen in Moskau verzweifelt zu vermitteln versuchen, formieren die Gefangenen ihre Reihen und gehen in den Kampf. Alle Bedingungen für eine „revolutionäre Situation“, wie sie Lenin nicht besser ersehnen konnte, sind für sie herangereift.

Die Lage in den Gefängnissen und Lagern Rußlands war für das Sowjetregime immer charakteristisch. Hinter dem Stacheldraht der „Isolierung", ist der Pulsschlag des Landes beinahe am deutlichsten zu erkennen. Das politische Klima, die Stärke und die Schwäche des Regimes finden im Leben der Zwangsarbeiter sofort ihren Ausdruck. Deshalb ist der Aufstand von Kingir für die innerpolitische Situation der UdSSR aufschlußreicher als so manche Rede oder Geste ihrer führenden Männer. Der Aufstand in Kasachstan und die Reaktion der Behörden auf ihn geben den plastischen Hintergrund für die Veränderungen, die das Sowjetregime durchmacht, zeigen auf, warum die neuen Herren so und nicht anders handeln, so handeln müssen, unabhängig davon, ob sie wollen oder nicht.

Der nachfolgende Bericht entstand nach Schilderungen von Franz W., einem Teilnehmer des Aufstandes.

Der Eroberer von Berlin

„Haben Sie schon überlegt, was man tun könnte, um den Anblick dieser Mauern nicht mehr ertragen zu müssen?!“ fragte mich Kusnetzow.

Es mag etwa bei seinem dritten Besuch im Ambulatorium gewesen sein, in dem ich zu jener Zeit, inoffiziell. Arztgehilfe war. Eigentlich durfte ich nicht dort arbeiten; nach meiner halbjährigen Haft im Untersuchungsgefängnis hatte ich dieses Recht verwirkt, aber ich war Invalide geworden, und so fand der freie Arzt, der mir wohlgesinnt war, immer wieder einen Grund, mich zu beschäftigen.

Kusnetzow schaute zum Fenster hinaus, während ich den Befund: „Magengeschwür" mit großen Buchstaben in seine Krankengeschichte schrieb. Ich brauchte meinen Blick nicht zu heben, um zu wissen, was er vor Augen hatte: die große Steinmauer, die kaum einige Meter vor unserer kleinen Krankenbaracke stand und unseren Dritten „Lag-Punkt“ von dem Zweiten trennte. Aus dem anderen Fenster war ebenfalls eine Mauer zu sehen, die 8 m hohe und etwa 60 cm breite Mauer, die den gesamten Lagerkomplex umgab, und auch hinter dem Ambulatorium war eine Mauer, sie umgab eben jenes Untersuchungsgefängnis, aus dem man mich vor kurzem entlassen hatte. Auch die Baracken, in denen wir wohnten, waren aus Stein. „Meinen Sie, daß wir weniger Steine sehen, wenn wir die Mauern niederreißen? Ganz Kingir ist eine Steinwüste.“ „Aber doch keine Festung! Und bei einer Festung sind nur zwei Posten zu ertragen — der des Festungskommandanten oder der des Belagerers.“

Ich schaute auf und sah den Schatten eines ironischen Lächelns in seinen kleinen grauen Augen. Es unterstrich noch die Kraft, die von dem gedrungenen, kaum mittelgroßen Mann mit den kahlen Kopf ausging. „Man könnte sie auch von innen belagern!" entfuhr es mir. Wir hatten sonst nicht so schnell Zutrauen zu einem neuen Gefangenen. Und als Kusnetzow von einigen Wochen angekommen war, hielten wir die offene Art, in der er seinen Haß gegen die Sowjets aussprach, einen Augenblick lang für Provokation. Aber dann begriffen wir, daß sie zu seinem Wesen gehörte. Man hatte ihn in tiefster Seele gekränkt und erniedrigt; er konnte den Haß nicht mehr zurückhalten. Und er eroberte sich unsere Herzen im Sturm. „Ich war ja auch ein „Eroberer von Berlin", scherzte er, wenn wir unsere Sympathie zum Ausdruck brachten. Er war es wirklich. Mit einem Panzerregiment war er 1945 in Berlin eingerückt, 5 Jahre lang gehörte er als Oberst der sowjetischen Besatzungsmacht an. Dann wurde er verhaftet und unter der Beschuldigung, er habe „mit seinem Panzer-regiment in den Westen abrücken wollen“, 1950 zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach drei Jahren Wanderung durch die Gefängnisse seiner Heimat traf er Ende 195 3 in unserem Spez-Regime-Lager ein.

Mit diesem Gespräch im Ambulatorium war meine Freundschaft mit Kusnetzow besiegelt, und es hat mich nie gestört, daß der Mann, dem wir so vertrauten, und der später unseren großen Aufstand leiten sollte, einer von jenen war, die uns seinerzeitbesiegt hatten. Ich war schon fünf Jahre im Lager, als man ihn erst verhaftete, und ich zählte schon lange zu den unfreiwilligen Erbauern des „sozialistischen“ Kasachstan, als er noch zur sowjetischen Besatzungsmacht in Deutschland gehörte. Aber vielleicht bedurfte es gerade eines frischen Mannes, um uns durch lange Sklaverei zermürbte Sträflinge zur Erhebung zu veranlassen!

Natürlich hatten wir auch vor der Ankunft von Kusnetzow in Kingir schon Widerstandsgruppen. Unser Lager war ein Straflager, und man hatte seit 1952 immer nur besonders renitente Gefangene von überall her hier zusammengezogen. Es muß dabei zu den besonderen Aufgaben unserer Aufseher gehört haben, auch unter uns noch die „Gefährlichsten" herauszusuchen und zu isolieren. In der ersten Zeit bediente sich die Lagerleitung dazu der Spitzel. Aber die Westukrainer, die etwa 60 Prozent aller Lagerinsassen ausmachten, hatten eine besondere Spitzel-Abwehr geschaffen. Im Verlaufe eines Jahres hatten sie fast hundert Denunzianten erschlagen. Als im Februar 195 3 das Gesetz herauskam, daß Lagermord mit dem Tode bestraft wird, fand ein Prozeß gegen eine Reihe dieser verwegenen Burschen aus der „Abwehr" statt. Damals wanderte auch ich in das Lagergefängnis. Man wollte mir unterschieben, ich hätte den „Befehl zur Ermordung" des aus den Reihen der Gefangenen zum Kommandanten avancierten F. gegeben. Er war ohne mein Zutun getötet worden, aber es war schwer zu beweisen, um so mehr, da jedermann wußte, daß ich über die Zuträgerei von F. empört war, die so manchen meiner Kameraden Unglück gebracht hatte. Mein Fall wurde noch verhandelt, als Stalin starb, und sein Tod rettete mir wahrscheinlich das Leben. Gleich allen anderen Untersuchungsgefangenen kam ich einige Tage nach dem Todestag des Diktators freu

Allzulaut jedoch durfte sich niemand in Rußland über den Tod des „Alten“ freuen. Schon im Juni 1953 kamen im Lager über hundert eben verurteilte Gesänge an; alle hatten 25 Jahre bekommen, weil sie sich am Todestag Stalins vor Freude betrunken und „antisowjetische Äußerungen" getan hatten. Es waren die letzten neuen politischen Gefangenen, die ich gesehen habe.

Das Gesetz gegen Lagermord kam, als in Kingir die Spitzel fast ausgerottet waren. Nun konnte die Lagerleitung nur noch durch Provokation besonders aktive Gefangene „entlarven". Die größte solcher Provokationen versuchte sie im Frühjahr 19 5 3, als ein Wachsoldat unmittelbar vor dem Lagertor mit der Maschinenpistole in die Reihen der von der Arbeit heimkommenden Gefangenen feuerte, „weil man ihm frech gekommen war". Es gab viele Verletzte und 6 Tote. Am nächsten Tag gingen wir aus Protest nicht zur Arbeit. Aber bereits nach drei Tagen war der Streik zu Ende — man versprach uns, „die Verantwortlichen zu bestrafen".

Natürlich wurde niemand von den Wachmannschaften bestraft, aber die Gefangenen, die auf der-von der Lagerleitung einberufenen Versammlung aufgetreten waren, wurden samt und sonders abtransportiert. Wie wir erfuhren, brachte man sie in geschlossene Gefängnisse nach Wladimir und Alexandowsk, die beide noch aus der Zarenzeit stammen, und in ein Gefängnis auf der Krim, das aus irgend einem Grund „Amerikanka" heißt. Aber an Stelle der „Rädelsführer“ unseres kurzen Streikversuches bekam Kingir schon im November 1953 die ersten strafversetzten „Rädelsführer" des großen Streiks in Workuta, und sie haben uns mit ihren Erfahrungen viel genützt. Gleich nach ihrer Ankunft begannen wir, eine große Aktion vorzubereiten. „Unser Lager gleicht einer Festung, aber die Insassen tragen ganz besondere Uniformen“, schrieb Kusnetzow in einem Brief an seine Frau, den er unzensiert auf Umwegen abschicken wollte, „damit man uns voneinander unterscheiden kann, hat man uns große Nummern auf den Rücken, die Brust, die Ärmel und die Hosenbeine gemalt. Wenn wir einen Aufseher treffen, müssen wir ihn untertänigst grüßen, aber er braucht uns nicht zu antworten und tut es auch nicht. Es wimmelt im Lager von diesen Aufsehern, und sie haben nicht zu tun, als uns für das geringste Vergehen in das Lagergefängnis zu stecken, in dem die Zellen winzigen Eisenkäfigen gleichen .. Der Brief landete durch ein Mißgeschick doch beim Zensor, und Kusnetzow bekam gleich Gelegenheit, sich die Gefängniszellen, die er beschrieben hatte, persönlich anzusehen. Die Beschuldigung lautete: „Bruch des Lagergeheimnisses". Aber es sollte nicht mehr zur Verhandlung kommen.

Die Aktion beginnt Es war Mitte April 1954. Der letzte Gefängnistransport aus Kingir war vor kurzem abgegangen, da trafen in unserem Lager neue Gefangene ein. Die erste Baracke unseres Lagers war für sie freigemacht, am nächsten Morgen standen sie vor der Ärztekommission, deren Gehilfe ich war. Als der erste der 600 Neuen eintrat, traute ich meinen Augen nicht — das war doch nicht möglich! Eine lila Schlange war auf seiner Brust eintätowiert, Sprüche zierten Oberarme und Rücken — es konnte keinen Zweifel geben: er war ein Krimineller. „Na, wie ist es in Eurem Sanatorium, geht man zum ... auch mit einem Soldaten!!“ Auch der zweite, der dritte und der vierte waren Kriminelle. Seit 1949, da die besonderen Regimelager für Politische geschaffen worden waren, hatte ich keine mehr gesehen. Unser Lager war nicht für sie bestimmt und die Aufnahme von 600 „Blatnojs" mußte eine ganz besondere Ursache haben. Denn es waren keine „Teichten Fälle“ dabei. Davon zeugte schon die Festsetzung einer großen Gruppe von ihnen in der Strafbaracke. Auch das Untersuchungsgefängnis war am nächsten Tag bereits überfüllt. Der Rest kam in unsere Baracke und es dauerte nur etwas über eine Woche, da wußten wir, warum die „Blatnojs“ in Kingir waren.

Ihr Anführer, Gljeb, sagte es eines Abends zu Anatol Sadoroshny. „Man hat einige meiner Leute zum Oper geholt (Oper — der operative Leiter, ist der MWD-Mann, der jeder unserer Baracken zugeteilt war). Sie sollen Zusammenstöße mit den Politischen provozieren. Man war nicht knauserig, hat ihnen allerhand versprochen. Nur damit ihr's wißt — wir denken nicht daran.“

Als Anatol, der Leiter der russischen Widerstandsgruppe in unserer Baracke, mir von diesem Gespräch berichtete, zitterte seine Stimme. Und ich konnte seine Aufregung verstehen. Ebenso wie ich, konnte sich Anatol, der seit Kriegsende im Lager saß, noch an die Zeit erinnern, da die Kriminellen für uns beinahe schrecklicher waren als die Wahsoldaten, an die ständigen Zusammenstöße mit ihnen und den Terror, den sie gegen uns ausübten. Es war kein Wunder, daß die Lagerleitung ganz sicher zu gehen meinte, wenn sie die „Blatnojs" jetzt auf uns losließ. Bei den Zusammenstößen die Spitzen der politischen Widerstandsgruppen herauszufinden und unschädlich zu machen, würde für sie ein Kinderspiel sein.

Sie hatte sich gründlich verrechnet. Und wie verhängnisvoll ihr Irrtum war, mußte sie schon sehr bald erkennen. Die „Blatnojs“ von 1954 waren nicht mehr die von 1947/48. Sie waren politisiert worden. Die Jahre in den Zwangsarbeitslagern hatten die politischen Tendenzen dieser, von den sowjetischen Verhältnissen auf den Weg des Verbrechens gestoßenen jungen Leute verstärkt. Aus der individuellen Gegnershaft zum Regime war eine prinzipielle geworden. Ihr Führer, Gljeb, war selbst ein gutes Beispiel dafür, auh wenn er sih niht in Workuta noh den Paragraphen 58/8, politishen Terror, zu seinem Totshlag-Paragraphen hinzugeholt hätte. Und wer weiß, ob der Totshlag, den der junge Offizier aus Shukows Armee, Absolvent des Instituts für Fremdsprahen, irgendwo in einer russischen Garnison der Ostzone Deutshlands verübte, niht auh shon politishen Charakter hatte? In Kingir jedenfalls glih Gljeb trotz seines gestreiften Matrosenhemdes, der umgekrempelten Schaftstiefel und der blumenreihen Sprahe in seiner Einstellung mehr einem Politishen als einem Kriminellen. Und es gab vom ersten Tag an keinerlei Feindseligkeiten zwishen seinen Jungens und uns. „Wir gehen mit Euh“, hatte Gljeb dem Führer der Widerstandsgruppen erklärt, und dann waren die Aktionen der 600 Neuankömmlinge in den Plan des bevorstehenden Aufstands eingebaut worden. Lind zwar sollten Gljeb’s Leute die Aktion eröffnen.

Der 15. Mai war ein Sonntag. Und es war ein shöner Tag. Ohne Übergang hatte der Sommer den Winter abgelöst. Es gibt keinen Frühling und keinen Herbst in Kingir. Nun war der Sturm niht mehr eisig, in einigen Wohen würde er glühend heiß werden — aber nie würde er hier aufhören, zu blasen.

Für den Nahmittag war im zweiten „Lag-Punkt“ neben uns ein Konzert angesetzt, die Nahriht davon hatte sih shnell bei uns verbreitet. Und Gljeb's Leute beshlossen, das Konzert zu besuhen. Ih habe niht gesehen, wie sie das große eiserne Rohr von der Badeanstalt abmontierten. Plötzlih bemerkte ich zwanzig oder dreißig von ihnen, die mit diesem Rohr auf jene Stelle in der Mauer zugehen, wo früher einmal ein Tor gewesen ist. Es war später zugemauert worden, aber die Wand ist an dieser Stelle niht ganz so dick. Bald ertönt rhythmisches Klopfen. Später habe ih mih immer gefragt, warum die Aufseher und Wahen in solher panischen Angst davonstürzten, als Gljebs Leute durh die Breshe der Mauer in den Hof des zweiten Lag-Punktes eindrangen; sie waren wie fortgefegt. Auh das Konzert fand natürlih niht mehr statt.

Inzwishen wird das Badehaus-Rohr an der hinteren Mauer unseres Lagers betätigt. Gljebs Leute shlagen shon zusammen mit den unseren die Tore zum Gefängnishof ein. Über 600 Arrestanten — 400 aus dem Gefängnis und über 200 aus der Strafbaracke — werden befreit. Unter den ersten, die wir herausholen, ist Kusnetzow. Wir umringen ihn jubelnd. Es ist selbstverständlich, daß er gleich die Führung der Politishen übernimmt. „Setzt die Aufseher fest!" kommandiert er.

In Sharen stürzen sih jetzt die Ukrainer auf die Mauern. Ihre breiten, unten gerafften Hosen mähen sie shon von weitem kenntlih. (Sie nähen sih immer einen breiten Keil in die Lagerhosen, um sie dem ukrainischen Nationalkostüm ähnlich zu mähen.) Das Tor zur Wirtshaftszone splittert. Jetzt strömt alles zur letzten Mauer, der aht Meter hohen Festungsmauer, die das Frauenlager umshließt. In einer knappen Stunde ist auh sie durhstoßen, und die dreieinhalbtausend Frauen sind zum ersten Male seit Jahren wieder zusammen mit uns in einer Zone. Es ist Nacht geworden und wieder Tag. Die Offiziere sind aus dem Lager gejagt, die Aufseher gefangengesetzt. Sie werden ebenso wie die großen Lebensmittelmagazine im Wirtschaftshof von unseren Leuten bewacht. Wir genießen unseren Sieg. Auch die Tore nach außen zu sprengen und das Lager zu verlassen, fällt uns noch nicht ein, es wäre in diesen ersten Tagen noch möglich. Noch sind Lagerverwaltung und MWD verwirrt und bestürzt, noch sind keine Truppen zusammengezogen. Nichts rührt sich scheinbar vor dem Lager, aber es ist nur die Ruhe vor dem Sturm.

Der erste Einmarsch der Truppen Es war drei Uhr in der Nacht vom Montag zum Dienstag, niemand im Lager schlief. Und alle hörten die Marschschritte, die plötzlich von allen drei Lagertoren gleichzeitig ertönten. Die MGB-Truppen waren da! Man hatte den Soldaten reichlich Wodka gegeben; sie johlten, als sie sich auf uns stürzten, um uns mit Bajonetten und Gewehrkolben auseinanderzutreiben. Bald fielen auch die ersten Schüsse in den Lehmhütten des Frauenlagers, aus dem sie die Männer in erster Linie zu vertreiben hatten. Gegen morgen hatten sie uns aus dem Wirtschaftshof herausgedrängt; auf den Mauern zwischen ihm und dem zweiten Lag-Punkt waren mit Maschinengewehren ausgerüstete Wachen postiert.

Noch in derselben Nacht war die Lagerleitung bemüht, alle Verwundeten aus dem Lager herauszubringen. Auch die Leichen der 60— 70 Gefangenen, die bei dem Eindringen der Soldaten getötet wurden, waren verschwunden. Die Verwundeten kamen in das 23 km entfernte Dshesgaskan, das Zentrum der Kupferminen, aber man entließ sie erst nach Monaten ins dortige Lager, vorher hielt man sie im Gefängnis-krankenhaus, damit sie nichts berichten konnten.

Diese Angst der Behörden von Kingir war verständlich. Der Einmarsch der Truppen in ein Zwangsarbeitslager muß von der Zentrale erlaubt sein. Diese Erlaubnis Moskaus war nicht eingeholt worden. Der Einmarsch war ein ausgesprochener Willkürakt der örtlichen Behörden, er konnte sie teuer zu stehen kommen. Wir wußten das, und deshalb begann unser Streik am nächsten Tag unter der Parole „Bestrafung der Schuldigen an dem ungesetzmäßigen Eindringen der Truppen ins Lager“. Wir forderten die Herausgabe der Leichen und ihre Sektion durch freie und gefangene Ärzte, damit einwandfrei festgestellt werden konnte, daß sie nur von den Truppen und nicht von Gefangenen bei irgendwelchen Zusammenstößen getötet worden waren, wie man es zweifellos später behaupten würde.

Die Offiziere, die ins Lager gekommen waren, um uns zu überreden, dieArbeit wieder aufzunehmen, versprachen alles. Sie versprachen auch, daß auf keinen Fall Gefangene aus dem Lager abtransportiert würden. Ja, sie versicherten feierlich, daß sie den Staatsanwalt ins Lager holen würden, damit er unsere Beschwerden anhöre. Daraufhin gaben die Leiter der Widerstandsgruppen die Anweisung, die Arbeit wieder aufzunehmen. Das war nach drei Streiktagen.

Der Verrat Die Arbeitsbrigaden haben das Lager verlassen. Ich sitze unruhig im Ambulatorium und traue dem Frieden nicht. Es ist wieder ruhig in der Zone, in den Baracken sind nur die Kriminellen, die noch keine Nummern tragen und deshalb noch nicht zur Arbeit gehen können. Kusnetzow hat seine alte Arbeit in der Buchhaltung ausgenommen und versucht wahrscheinlich trotz des Arbeitsausfalles vernünftige Löhne für die Leute herauszuholen. Er hat ein großes Talent dafür, die Prozentzahlen der Normerfüllung so zu deuten, daß für die Gefangenen soviel wie möglich herauskommt. Ob ich zu ihm gehe?

Kaum bin ich auf dem Hof, da kommt er mir entgegengelaufen: »Fedja, sie haben uns verraten! Schau, was sie machen!"

Jetzt sehe ich auch: In der ersten Baracke ist man dabei Gljebs Jungens herauszujagen. Die Aufseher zerren sie zum Lagertor.

Es ist klar, man will sie abtransportieren. „Gljeb hat sich versteckt und viele andere auch. Lauf, sag'jemandem, daß er die Sirene einschaltet — sie sollen draußen aufhören zu arbeiten!" Man ist modern in Kingir, die alte Eisenschiene, die mit einem Eisenklöppel geschlagen wird, ist schon vor Jahren durch eine Art Fabrik-sirene ersetzt, die uns zum Aufstehen, zur Arbeit, zum Schlafengehen und viermal am Tag zum Appell ruft.

Einen Augenblick später heult die Sirene auf. Einmal, noch einmal und immer wieder. Man wird es verstehen draußen auf den Bauten.

Die meisten Gefangenen in Kingir arbeiten auf dem Bau. Sie haben das große Verhüttungswerk gebaut, das 8 und 10 Stockwerke hoch ist und bis zu 20 m in die Tiefe geht. 14 Abteilungen sind schon fertig, aber die Arbeit geht immer noch weiter. Die Verhüttung des Kupfers und die Gold-und Platingewinnung wird von Freien besorgt. Zum erstenmal in meiner 10jährigen Wanderung durch Kasachastan habe ich hier erlebt, daß nicht Gefangene, sondern Freie, oder zumindest Freigelassene, irgendeine Arbeit selbst verrichten. Sonst stellen sie nur Aufseher oder leitendes Personal. Trotzdem steht die Fabrik in Kingir sofort, wenn wir streiken, denn den Transport des erzhaltigen Gesteins von und zur Fabrik besorgen immer noch die Gefangenen. Sie bauen die Häuser für die Freien und das Wasserwerk, sie errichten die elektrische Kraftstation und legen die Straßen an. Ohne sie steht das Leben in Kingir still, obwohl die Bevölkerung jetzt schon 35000 Menschen beträgt.

Immer noch heult die Sirene, aber die Gefangenen kommen nicht ins Lager zurück. Statt ihrer kommen wieder Truppen durch die Tore. Sie setzen die Mauern wieder instand. Bis zum Abend ist die alte Tür wieder zugemauert, die Eisentore zum Gefängnishof sind wieder befestigt. Oben auf den Zwischenmauern thronen Maschinengewehrnester. Jetzt können die Arbeitsbrigaden kommen.

Sie wollten gleich zurück, als die Sirene ertönte, aber die Wachen ließen sie nicht gehen. So saßen sie bis zum Abend an ihren Arbeitsplätzen, aber gearbeitet wurde nicht. Und jetzt, als sie nachhausekommen, ist ihre Wut umso größer. Der Aufstand bricht von neuem und mit noch grösserer Gewalt los.

Die Lagerkommission und die 16 Forderungen 14 Vertreter der verschiedenen Parteien und Nationen unter den männlichen Gefangenen und eine Vertreterin der Frauen sind in der „Lagerkommission", die ab jetzt die Aktion der Gefangenen leitet. Als erstes arbeiten sie 16 Forderungen aus, die sie einem Vertreter des Zentralkomitees der Partei und nur diesem vorlegen wollen. Die Lager-kommission hat die oberste Gewalt in der gesamten Lagerzone. Die Mauern sind wieder durchbrochen — jetzt an mehreren Stellen. Die Offiziere und Aufseher sind wieder geflüchtet, sie haben keinen Schuß von ihren Maschinengewehrnestern abgegeben. Niemand geht zur Arbeit.

Außer den bisherigen Forderungen verlangen wir jetzt:

ÄMMestie für die Minderjährigen und Invaliden;

Revision der Verfahren;

Verwandlung des Lagerg aus einem Spez-Regimelager in ein einfaches Lager;

Abschaffung der Nummern; Abnahme der Gitter vor den Baracken-fenstern; öftere Schreiberlaubnis;

Einführung der Strafverkürzung bis zu 7 Tagen für einen Arbeitstag;

Repatriierung der Ausländer;

Achtstundentag;

Höhere Löhne;

Freie Wahl des Aufenthaltsorts nach der Freilassung;

Straffreiheit für das Streikkomitee;

Revision der Verfahren vom Frühjahr 1953, Bestrafung der Offiziere, die an den hohen Strafen sdtuld waren.

Die Lagerkommission hat ihren Sitz in der Baracke Nr. 1 der ehemaligen Frauenzone. Neben Kusnetzow, Gljeb, Anatol, den Ukrainern und den Mohammedanern sitzt eine große weißhaarige Frau, die von den Frauen in die Kommission gewählt wurde. Sie ist schon 18 Jahre im Lager, noch von den „Siebenunddreissigern" übriggeblieben (aus der großen stalinschen Säuberungswelle von 1937/38). Es ist das erste Mal, daß Frauen im Lager politisch aktiv werden, und die alte Frau ist sich dessen bewußt.

Verhandlungen mit Generälen aus Moskau „Achtung, Achtung!" tönt es eines Tages aus großen Lautsprechern, die die Lagerleitung nach Ausbruch des Aufstandes an den Wachtürmen anbringen ließ, „Vertreter aus Moskau sind gekommen, mit Euch zu verhandeln! Nachmittags um drei Uhr kommen sie ins Lager!"

Die Nachricht kommt aus dem Haus der Verwaltung einige hundert Meter vor den Lagertoren. Von dort aus wird die Gegenaktion gegen uns geleitet.

Lange vor der angegebenen Zeit ist der Hof des zweiten Lag-Punktes brechend voll. Vor die Speisehalle wird ein großer Tisch gestellt. Kusnetzow und ein Teil der Lagerkommission haben an ihm Platz genommen. An einem ähnlichen Tisch warten, umringt von den Gefangenen des dritten Lag-Punktes, Anatol und die übrigen Kommissionsmitglieder auf den zweiten Moskauer Vertreter. Es sollen zwei Versammlungen gleichzeitig stattfinden, sagt das Radio. Die Frauen sind auf beide Höfe aufgeteilt.

Pünktlich um drei Uhr gehen jeweils vier Mann von uns zu den Lagertoren. Sie sollen die Verhandlungspartner geleiten, denn sie kommen allein, ohne Bewachung. Da sind sie schon! Die goldenen Tressen ihrer Uniformen und die Orden funkeln in der Sonne. „Stellvertretender Generalstaatsanwalt des MWD, General Dolgisch! sagt der eine von ihnen im zweiten Lag-Punkt und setzt sich neben Kusnetzow. „Stellvertretender Leiter des GULAG (+/Hauptverwaltung der Zwangsarbeitslager der UdSSR), General Bytschkow!" stellt sich der andere bei uns vor und setzt sich neben Anatol Sadoroshnyj.

Erwartungsvolle Stille liegt über den beiden Versammlungen. „Feierlich, wie auf dem Roten Platz vor der Parade“, flüstert jemand. Dann steht General Bytschkow auf, nimmt aus seiner Aktentasche einige Papiere und räuspert sich. „Ihr habt eine Reihe von Forderungen aufgestellt, Genossen!" begint er, und obwohl wir schon seit dem Tode Stalins mit „Genossen“ angeredet werden — früher hießen wir immer nur „Gefangene" oder „Leute“ — so verfehlt diese Anrede aus dem Munde des Generals doch nicht ihre Wirkung. Kann er einen Menschen, den er mit „Genosse“ anredet, einfach wie einen Hund niederknallen lassen? „. . . Eine Reihe von Forderungen, die zum Teil gerecht sind“, fährt Bytschkow fort. „So gerecht, daß die Regierung sie bereits erfüllt hat, ehe ihr sie gestellt habt.“ „Was sagt er?" fragt neben mir ein Ukrainer „ist er betrunken?!" „Hier habe ich Euch dieVerordnungen mitgebracht, die im April dieses Jahres von der Regierung herausgegeben wurden. Es sind erst einige Wochen vergangen, sie mögen noch nicht bis Kingir vorgedrungen sein. Aber ihr könnte ganz sicher sein, sie werden erfüllt." Der General blättert; dann zeigt er ein Papier: „Ihr fordert Freilassung der Minderjährigen, unabhängig von der Art ihrer Strafe. Diese Verordnung hier, vom 24. April 1954 sieht das bereits vor. Ihr fordert Amnestie für die Invaliden“ — Bytschkow hat ein zweites Blatt ergriffen — „Die alten und kranken Gefangenen können auf Antrag der Lagerverwaltung zur bedingten Freilassung vorgestellt werden. Das gilt für alle Kategorien der Gefangenen. Auch eine Verordnung vom 24. April 1954.“ »Ihr fordert den Achtstundentag“ — wieder schwenkt Bytschkow ein Papier — „hier ist er. Die Wiedereinführung der Strafverkürzung bei guter Arbeit, auch für diejenigen, die auf Grund des Paragraphen 58 *) verurteilt sind. Bitte sehr, das ist die Verordnung, wonach man sie einführt. Allerdings sieht sie nicht 7 Tage für einen vor, aber immerhin drei für einen. Auch das bedeutet, wenn mich nicht alles täuscht, für die meisten von Euch nur noch eine kurze Haftzeit!“

Bytschkow merkt die Bewegung, die uns alle erfaßt hat. Er wird noch um einen Grad freundlicher: „Seid doch vernünftig, Genossen! Beraubt Euch nicht durch Ausfälle gegen die Lagerverwaltung dieser Vergünstigungen!“ Beinahe wortwörtlich dieselbe Rede hält im zweiten Lag-Punkt General Dolgisch. „Genosse Kusnetzow wird klug genug sein. Euch dasselbe zu raten, wie ich!“ fügt er nur mit einem kurzen prüfenden Blick auf den Eroberer von Berlin hinzu. (Vielleicht ist er doch ein potentieller Bundesgenosse?) „Und was ist mit den anderen Forderungen?" fragten in der Diskussion nach der Rede der Generäle die Gefangenen. „Mit den Revisionsverfahren? Der Bestrafung der Schuldigen am Blutbad? Der Milderung des Regimes im Lager? Wann verschwinden die Gitter vor den Fenstern? „Wir werden darüber reden", antworten Dolgisch und Bytschkow, „ab heute sind wir beide jederzeit für Euch zu sprechen. Morgen schon könnt Ihr Eingaben für Revisionsverfahren einreichen und — wir garantieren Euch, daß sie in beschleunigtem Tempo erledigt werden.“ „Und wann kommt ein Vertreter des Zentralkomitees der Partei?!“ Anatols magerer Körper strafft sich, als wolle er zum Schlag ausholen, während er Bytschkow diese Frage stellt. „Meint Ihr, das Zentralkomitee hat für alles Zeit?" antwortet Bytschkow leicht verärgert. — „Außerdem sind wir alle vom ZK bestimmt, ich ebenso wie General Dolgisch und Euer Lagerleiter Tschetschow! Wozu braucht Ihr noch jemanden!" „Es ist Blut geflossen in diesem Lager!“ die Stimme Anatols ist schneidend scharf „wir wollen Gerechtigkeit!“ »Ihre Soldaten sind ins Lager einmarschiert, Bürger General" sagt leiser, aber ebenso unerbittlich im zweiten Lager Kusnetzow, „wir haben siebzig Tote und Hunderte von Verletzten. Ich glaube, das Zentralkomitee muß das wissen!“ (Nein, dieser Mann ist kein Bundesgenosse, auch potentiell nicht). Die Stimme des Generals wird drohend: „Überlegt es Euch gut! Wir kommen am Abend wieder und von Eurer Antwort wird es abhängen, was mit Euch geschieht!“

Würdig marschieren die Generäle ab. Schweigend, wie man sie angehört hat, macht man ihnen und unseren Jungens, die sie eskortieren, Platz. Aber kaum sind sie hinter den Lagertoren verschwunden, fängt das Stimmengewirr auf den Plätzen an. Es braucht nur eines kleinen Gerüchtes, um die Hoffnungen der Gefangenen hell aufflackern zu lassen; um wieviel mehr also ist sie von den Worten der Generale angefacht worden! „Habt Ihr gehört, Amnestie, auch für unsere Leute!“ „Strafverkürzung, 3 Tage für einen, dann komme ich ja schon in einem halben Jahr frei!“

„Ich schon in einem und sonst hätte ich noch drei vor mir!“ „Und wenn er gelogen hat?“ „Das darf er doch nicht! Es ist doch Gesetz!“ „Ach Ihr Kindsköpfe: Gesetz! Was ist nicht alles Gesetz bei uns und wird doch nicht eingehalten!“

Der das sagt, ist einer von denen, die aus Workuta kamen. Und ihre Worte, ihr eindringliches „denkt daran, was man mit uns gemacht hat!“ bleiben ausschlaggebend. „Die Gefangenen haben die Lagerkommission beauftragt, Ihnen mitzuteilen, Bürger General, daß sie auf ihrer Forderung bestehen, mit Vertretern des Zentralkomitees der Partei zu verhandeln. Bis zu ihrer Ankunft werden sie die Arbeit nicht aufnehmen.“ Diese Erklärung geben Kusnetzow und Anatol den am Abend wieder im Lager erschienenen Generälen aus Moskau. Es ist unser letztes Wort.

Dennoch haben Lagerleitung und die Vertreter Moskaus nicht sofort alle Hoffnung aufgegeben, uns umzustimmen. Am nächsten Tag wurden 180 Minderjährige wieder durch Lautsprecher an die Lagertore gerufen, angeblich zur Entlassung. Erst als es sich herausstellte, daß man nur etwa 30 von ihnen wirklich entließ, die andern aber in eine Arbeitskolonie nahe bei Kingir steckte und gleich wieder zur Arbeit führte, weigerten sich die restlichen Jugendlichen das Lager zu verlassen. Auch Invaliden, vor allem TBC-Kranke wurden aus dem Lager gerufen und nach einem kurzen Gerichtsverfahren freigelassen. Etwa fünf Prozent unserer Invaliden waren durch diese Gerichtsverfahren gegangen, als die Sache eingestellt wurde. Den größten Eindruck machten die Staatsanwälte von Alma Ata, Karaganda und anderen Städten Kasachstans, die ebenfalls am nächsten Tag ins Lager kamen und die Gefangenen über das Blutbad ausfragten. Sie machten sogar Aufnahmen von den Spuren, die der Einmarsch der Truppen hinterlassen hatte und versicherten uns, die Schuldigen seien schon in Untersuchungshaft. „Seid standhaft, gebt nicht nach“, flüsterte uns ein freier Arzt zu, „sie müssen es dem Zentralkomitee melden!"

Und wir blieben standhaft.

Die Gefangenenrepublik Es mag sonderbar erscheinen, warum wir mit solcher Hartnäckigkeit auf dieser Forderung bestanden, nur mit Vertretern des ZK zu verhanhandeln. War es nicht völlig gleichgültig, ob wir mit den Leuten des GULAG und des MWD sprachen oder mit denen des ZK? Würden die letzteren uns tatsächlich mehr Recht angedeihen lassen?

Nun, es mag richtig oder falsch sein, wir waren jedenfalls überzeugt davon, das MWD sei daran interessiert, dem Zentralkomitee den Aufstand zu verheimlichen. In diesem Glauben mag etwas von dem alten Bauernglauben gelegen haben: „Der gute Zar weiß nicht, was seine bösen Gendarmen tun“, aber entscheidend war wohl, daß wir fühlten, die Differenzen zwischen der Partei und dem MWD-Apparat seien solcher Art, daß wir Gefangenen unseren Vorteil daraus ziehen könnten. Vielleicht würde das Zentralkomitee uns gegenüber die Rolle des generösen Herrn spielen, der den Opfern örtlicher Übergriffe übereifriger MWD Beamter Recht und Gnade angedeihen läßt. Für diese Theorie sprach, daß die Lagerleitung selbst jetzt, da die MWD-Vertreter angekommen waren, nicht in Erscheinung trat. Sie beobachtete, agitierte und drohte — aber alles aus der Ferne, ohne das Lager zu betreten. Tschetschow, der Lagerleiter, ließ sich nie blicken.

Nachdem wir es endgültig abgelehnt hatten, die Arbeit wieder aufzunehmen, wenn nicht ein Vertreter des ZK nach Kingir käme, und etwa zur gleichen Zeit, als die Staatsanwälte ihre Erhebungen über das letzte Blutbad in Kingir machten, zog das MWD aus ganz Kasachstan seine Spezialtruppen nach Kingir zusammen. In drei hintereinander-liegenden Kreisen wurde unser Lager von etwa 2000 Mann eines solchen Spezialbataillons umgeben. Aber auch sie rührten sich vorläufig nicht.

Die stille Belagerung dauerte 40 Tage, genau bis zu dem Augenblick, da die MWD-Behörden genügend Material zusammen hatten, um von Moskau die Erlaubnis zur bewaffneten, blutigen Niederschlagung des Aufstandes zu erhalten. Aber das verstanden wir erst später.

Die Verwaltung des Lagers lag jetzt ganz in den Händen der Lagerkommission. Unter Kusnetzows Leitung war alles auf das genaueste organisiert worden. Jede Baracke hatte einen Kommandanten, die Wirtschaftszone wurde von uns bewacht, und wir sorgten dafür, daß die Lagerräume der Freien unangetastet blieben. Unsere eigenen Vorräte wurden ebenfalls bewacht, und die Rationen waren nicht erhöht worden. Später, als sich die Vorräte zu neigen begannen, wurden sie sogar gesenkt, ohne daß jemand dagegen protestierte. Die Kantine war weiter in Betrieb und jeden Abend kam die freie Kassiererin ins Lager, um die Kasse an sich zu nehmen. Sie wurde von unseren Wachleuten am Lagertor abgeholt und wieder zurückgeleitet. Auf den Höfen fanden regelmäßig unter freiem Himmel Gottsdienste statt. Wir hatten Priester aller Konfessionen im Lager, und so lösten Katholiker, Orthodoxe und Unierte einander ab. Die Mohammedaner beteten schon immer an einem besonderen Platz im dritten Lag-Punkt, und die zahlreichen Zeugen Jehovas erhielten jetzt eine eigene Baracke zugewiesen. Mit den Letzteren hatten wir viel Scherereien, sie meinten, jeder Widerstand gegen die Staatsgewalt sei ein Widerstand gegen Gott. Die Zeugen Jehovas kamen zumeist aus Bessarabien und Macedonien und unterschieden sich sehr von den zahlreichen russischen Sektierern, die jede Widerstandsaktion voll unterstützten.

Die Frauen, die in den Treibhäusern gleich hinter dem Frauenlager arbeiteten, brachten Blumen ins Lager und stellten sie im Totenhaus auf, in dem noch einige der Opfer der Schießerei vom 16. Mai aufgebahrt lagen. Andere nähten Fahnen, die wir dann auf den Speise-hallen der drei Lager hißten. Es waren die Fahnen des Roten Kreuzes: ein rotes Kreuz und ein Halbmond auf weißem Grund. Zum Zeichen der Trauer um unsere Gefallenen umrandeten wir die Fahnen mit einem breiten schwarzen Streifen.

Wie in allen Zwangsarbeitslagern der UdSSR, so gab es auch in Kingir in jeder Baracke einen Lautsprecher. Der Empfänger stand im zweiten Lag-Punkt in einem besonderen Häuschen, er wurde von meinem Freund Sascha bedient. Jetzt benutzten wir die Lautsprecheranlage, um auf die täglichen Angriffe der Lagerverwaltung, die sie durch die Lautsprecher an den Wachtürmen von draußen ins Lager strahlte, in der gleichen Lautstärke zu antworten. Das war beinahe unser einziger Kontak mit der Außenwelt, und er führte dazu, daß wir Anfang Juni einen kuriosen Besuch erhielten.

Es herrsche Mord und Totschlag im Lager, hatte man den Freien in Kingir erzählt, Raubüberfälle und Vergewaltigungen seien an der Tagesordnung, und wir bildeten eine schreckliche Gefahr für die Stadt.

„Schickt eine Delegation ins Lager", riefen wir ins Radio, „überzeugt Euch selbst davon, wie es bei uns aussieht!“ forderten wir die freien Einwohner Kingirs auf. Und sie kamen wirklich. Eine Gruppe von Ingenieuren, Meistern, Bauleitern und Polieren von den Bauten und Unternehmen, auf denen wir beschäftigt waren, ging durch die Baracken, ließ sich von der Lagerkommission alles erklären und verließ dann beruhigt das Lager. Die Arbeitskräfte, mit denen ihre Planerfüllung stand und fiel, schienen ihnen erhalten zu bleiben. „Hört nicht auf Kusnetzow!“ hetzte es von den Wachtürmen. „Er ist ein Verräter! Er hat den Leninorden und die anderen Auszeichnungen, die ihm die Regierung verlieh, entweiht und seine Ehre als hoher sowjetischer Offizier besudelt! Er wollte seine Panzer an die Amerikaner und Engländer verkaufen!“ Jetzt verstand ich, warum Kusnetzows alte Uniform, die er manchmal am Sonntag anzog, aus so außergewöhnlich gutem Stoff war, die Hosen mit Leder gekantet: er mußte einen sehr hohen Posten bekleidet haben .. . Kein Wunder, daß sie so wütend auf ihn waren.

„Wenn Ihr Kusnetzow folgt, nehmt ihr an einem antisowjetischen Aufstand teil!“

„Es lebe die Sowjetverfassung! Nieder mit dem Verräter Berija und denen, die seine Politik weiterführen wollen!“ antworteten wir auf Anordnung Kusnetzows, der in einer Reihe von Versammlungen den Gefangenen klar machte, daß wir nur auf einem solchen Weg der äußeren Loyalität erfolgreich sein könnten.

„Sie sollen keine Handhabe finden, uns für antisowjetisch zu erklären", sagte er, „und außerdem würde es tatsächlich genügen, wenn sie das, ’was in der Sowjetverfassung steht, wirklich durchführten, um uns freizumachen!“ Und so schrieben unsere Jungens dieselben Parolen auch auf die Wände unserer Speisehallen.

„Genossen Frauen, wie könnt Ihr mit Verbrechern gemeinsame Sache machen?“ brüllte es von den Wachtürmen, „denkt an Eure Kinder und Mütter, die Ihr nicht wiederseht, wenn Ihr nicht friedlich wieder an die Arbeit geht!"

„Frauen der MWD-Offiziere, schämt Ihr Euch nicht, mit Mördern verheiratet zu sein?" antworteten unsere Frauen.

Manchmal lockte das Radio unsere Leute auch anders:

„Anatol Sadoroshny kann das Lager verlassen, seine Frist ist abgelaufen! Wenn er sofort kommt, erhält er einen sauberen Paß!“ 10 Jahre hatte Anatol, der jetzt unser Barackenkommandant und ein führendes Mitglied der Lagerkommission war, abgesessen. Das Lager hatte seine Gesundheit vollkommen ruiniert und das wäre, weiß Gott, Sühne genug dafür gewesen, daß er seinerzeit auf Seiten der Deutschen gekämpft hatte.

Anatol hatte nicht gegen dasVaterland, sondern gegen das System kämpfen wollen, dessen Untergang er herbeisehnte. Deshalb hatte er die deutsche Uniform angezogen. Und dieses volksfeindliche System haßte er heute noch mehr als damals. Todkrank hatte er sich einmal, als er in meinem Krankenhaus lag, aus dem Bett aufgerafft, um schnell noch die Prozentzahlen seiner Brigade richtig zu vermerken, damit seine Kameraden auch ihr Geld bekämen. Immer gingen ihm die Interessen der Allgemeinheit vor seine eigenen. So wunderte es mich nicht, als er auf die Aufforderung der Lagerverwaltung antwortete: „Ich gehe, wenn meine Kameraden den Kampf gewinnen!" Und das, obwohl das Versprechen, einen „reinen Paß“ zu bekommen, für einen Gefangenen die größte Bedeutung hatte.

Er würde nach dem Verlassen des Lagers dorthin gehen können, wohin es ihm beliebte, sogar nach Moskau und Leningrad. Gewöhnlich bekam er entweder gar keinen Paß und mußte sich sofort unter Polizeiaufsicht in Kingir oder einem ebensoweit vom Zentrum des Landes entfernten Gebiet niederlassen, oder er erhielt einen Paß mit „Minussen", in dem vermerkt war, daß er sich keiner größeren Stadt auf weniger als 100 km nähern dürfe.

Aus Papier machten wir einen riesigen Ballon, in dessen Mitte wir große brennende Kerzen stellten. „Wir fordern das Zentralkomitee der Partei“ stand in roten Lettern auf dem Ballon, der langsam über die Mauern des Lagers schwebte und etwa 300 m weiter in Kingir zu Boden ging. Erschrocken schauten die Wachsoldaten draußen auf das Ungetüm, nur mühsam beherrschten sie sich, um nicht auf das Ding zu feuern. Noch hatten sie Schießverbot ...

Sympathiestreik in den Kupferminen von Dshesgaskan Die Chauffeure, Gefangene mit leichten Strafen, die in einem Lager für „konvoylose", d. h. solche, die sich frei bewegen durften, gleich neben unserem Lager untergebracht waren, verbreiteten die Kunde von unserem Streik bis in die Kupferminen von Dshesgaskan. Sie waren es auch, die uns eines Tages durchgaben, daß sich der größte Teil der dortigen Gefangenen unserem Streik angeschlossen hatte.

Ich konnte mir die Stimmung im Lager von Dshesgaskan gut vorstellen. Ich kannte dieses Lager. 1948 und 49 hatte ich in den Kupfer-minen gearbeitet, mit einem Finger meiner linken Hand hatte ich für das Vergnügen gezahlt, dabei gewesen zu sein, wie die Kupferprodukttion Kasachstans an die 1. Stelle in der UdSSR und an die zweite Stelle in der Welt rückte. 10 Stunden täglich verlud ich das erzhaltige Gestein in den fürchterlichen Minen der noch von den Engländern angelegten Kupfergruben „POKRO“, in denen der grau-grüne Staub ständig wie eine Wolke in der Luft hängt und die Lungen der Gefangenen in höchstens drei Monaten ruiniert. Er hat keine Zeit abzuziehen, denn die Zeit, in denen die Kommandos der freien Techniker das Gestein sprengen können, beträgt nur zwei Stunden. Es ist die Zeit zwischen den Schichten, und manchmal sprengen sie noch, wenn die Nachtschicht der Gefangenen schon wieder einfährt. Wer nicht an Tbc in den Minen POKRO oder PETRO zugrunde geht, der kommt bei den Unfällen und Explosionen um, die dort an der Tagesordnung sind.

Am 10. Juni traten 14 000 Gefangene des ersten Lagers und etwa die Hälfte des zweiten Lagers — die sogenannten „Zuchthäusler", die unter einem strengeren Regime gehalten wurden — in den Streik. Auf die Frage nach ihren Forderungen, antworteten sie, es seien die gleichen, wie die der Gefangenen von Kingir.

Wie wir, so wurden auch sie von der Lagerverwaltung zunächst betrogen, gingen wieder zur Arbeit und nahmen dann den Streik erneut auf. „In den Kupferminen arbeitet man wieder“ verkündete das Radio, und um uns davon zu überzeugen, wurden 4 Vertreter unserer Lager-kommission nach Dshesgaskan gefahren. Aber man zeigte ihnen nur einen Schacht. Wie wir später erfuhren, war er von 300 arbeitswilligen „Konvoylosen" beschickt worden, um uns zu täuschen. „Die Aufständischen von Kingir sind von den Amerikanern und Engländern bezahlt, hütet Euch!“ erklärte man inzwischen den Gefangenen von Dshesgaskan. Aber sie brachen ihren Streik erst zwei Tage nach dem Ende unseres Aufstandes ab, als sie hörten, was bei uns geschehen war.

Die Radiostation „Fedja, wir brauchen eine Radiostation“, sagte Anfang Juni Kusnetzow zu mir.

„Und was sollen wir damit?“

„Wir werden uns an das Internationale Rote Kreuz wenden. Du kennst doch das Morsealphabet!“ „Ich habe in drei Monaten meine Zeit abgesessen. Soll ich mir noch neue 25 Jahre holen? Radioverbindung mit dem Ausland werden sie am allerschwersten verdauen!" „Wir finden noch jemanden. Du mußt es ihm nur zeigen! Und das Material für den Sender mußt Du finden.“

Lind so geschah es. Mein Freund Sascha baute aus Teilen der Röntgen-apparatur und anderen medizinischen Apparaten den Sender. Sascha war Student der technischen Hochschule in Georgien gewesen. 1950 hatte er im Kreise seiner Freunde die Vermutung geäußert, daß Berija mit dem Ausland in Verbindung stehe, vielleicht Beziehungen zu England unterhalte. Dafür erhielt er 20 Jahre Zwangsarbeit. Berija war schon längst unter der gleichen Beschuldigung hingerichtet worden, aber Sascha saß noch immer.

Wir stellten den Sender in einer gut getarnten Ecke der zweiten Baracke im Frauenlager auf. Niemand außer drei Mitgliedern der Kommission wußte, wo er stand und wer ihn bediente. Kusnetzow fand einen Litauer, dem ich das englische Morsealphabet beibrachte und abwechselnd funkten wir nun Tag und Nacht unsere Forderungen und die Bitte um Unterstützung auf Kurzwellen in den Äther. Der Sender war schwach, aber wir rechneten doch, daß er über die Grenzen Kasachstans hinaus zu hören war. Später wollten wir einen stärkeren bauen.

Als wir die Radiostation errichteten, gingen wir gleichzeitig daran, für den Fall eines erneuten Einmarsches der Truppen, Barrikaden zu bauen. In unserem dritten Lag-Punkt verbarrikadierten wir das ganze Gelände. Allerdings rechneten wir nicht mit der Möglichkeit, daß Panzer ins Lager kämen, die Barrikaden waren nur für Soldaten gedacht. Auch im Frauenlager, besonders um den „Stab", die Baracke, in der die Lager-kommission sich niedergelassen hatte, zogen wir Drahtverhaue. „Jeder vpn uns muß bewaffnet sein!" sagte Kusnetzow und so war die Schmiede Tag und Nacht beschäftigt, kalte Waffen herzustellen. Zum Teil dienten die Eisengitter, die wir von den Fenstern der Baracken genommen hatten, als Rohmaterial. Aber auch eine Art von Handgranaten wurden unter der Anleitung von Kusnetzow hergestellt. Schon lange vor dem Aufstand hatten wir Sprengstoff ins Lager geschmuggelt, nun wurde er in Flaschen gefüllt, die man zur Explosion bringen konnte.

Unaufhörlich kreisten Spähflugzeuge über dem Lager. Da wir die Waffen in aller Offenheit herstellten, konnten sie sogar Aufnahmen davon machen. „Hütet Euch!“ sagte das Radio der Lagerverwaltung, „wir werden Euch bis auf den letzten Mann vernichten!" „Wir fürchten weder Tod noch Teufel und sprengen uns eher selbst in die Luft, als daß wir uns ergeben!“ antworteten wir, aber wir glaubten nicht an ihre Drohungen.

Unter dem Vorwand, die Gefangenen wollten die Stadt in die Luft sprengen, begannen die Behörden die Evakuierung von Kingir. Die Bevölkerung war uns gegenüber nicht feindlich eingestellt. Sie bestand zu gut sechzig Prozent aus ehemaligen Gefangenen, und sie verstand uns nur zu gut. Als man sie zwang, die Stadt zu verlassen, warnten sie uns: „Man will gegen Euch vorgehen, seid wachsam!" Aber die Lagerverwaltung sagte es auch selbst. Die Niederwerfung des Aufstandes „Wenn Ihr nicht bis zum 24. Juni die Arbeit wieder aufnehmt, werden die Truppen das Lager besetzen", verkünden die Lautsprecher an den Waditürmen seit Mitte Juni regelmäßig, „Kingir wird aufgelöst, und Ihr werdet nach Kolyma gebracht!"

Es heißt, auf der Bahnstation in Kingir stehen schon die Eisenbahnwagen für uns bereit, um uns in den fernsten Nordosten des Landes zu befördern. Kolyma? Adi was, so denken wir, sie werden es nicht tun, sie brauchen uns hier notwendig genug und dann — was kann auf Kolyma schon schlimmer sein?

Niemand im Lager will den Aufstand abbrechen, niemand denkt daran, wieder an die Arbeit zu gehen, ehe unsere Forderungen nach einem ZK-Vertreter erfüllt ist. Die nicht mitmachen wollen, haben schon in den ersten Tagen das Lager verlassen. Wir haben sie sogar dazu ermutigt, der Aufforderung der Lageradministration Folge zu leisten, sich an den Lagertoren zu melden. Es waren etwa 150— 160 Gefangene. Man hat sie irgendwo an den Baustellen untergebracht, auf denen sie arbeiten.

Wir verstärken jetzt unsere Vorbereitungen zum Widerstand. Sie sollen uns nicht unvorbereitet finden, wenn sie ihre Drohung wahr-machen: Wir werden unser Leben und unsere Freiheit so teuer als möglich verkaufen. Dabei gibt es die ersten Meinungsverschiedenheiten. Die Ukrainer sind dafür, mit Gewalt aus dem Lager auszubrechen um sich mit den Gefangenen der Lager in Dshesgaskan zu vereinigen und unseren Aufstand zu einem allgemeinen Aufstand der Gefangenen von Kasachstan zu machen. Kusnetzow und die anderen Russen in der Lager-kommission haben Mühe, sie von dieser selbstmörderischen Idee abzubringen. Manche Ukrainer, die sich bisher bereitwillig den Anweisungen der in ihrer Mehrheit russischen Lagerkommission gefügt haben, sind nun fast geneigt, sie für ihre Feinde zu halten. Aber schließlich siegt die vernüftige Haltung der übrigen Gefangenen doch, und wir führen unseren ruhigen und disziplinierten Widerstand weiter.

Die Nacht des 24. zum 25. Juni verläuft ruhig. Haben Bytschkow und Doigisch sich doch nicht zu einem Eingreifen der Truppen entschließen können? Aber dann kommt der 26. Juni.

Am Tage habe ich unseren Sender bedient, jetzt löst mich Jary Michajlowitsch ab, und ich gehe zurück in meinen dritten Lag-Punkt.

Olga erwartet mich. Es ist eine schöne Nacht, — wir halten uns an den Händen und freuen uns, daß wir ungestört beieinander sein können. Es kommt nicht oft vor im Leben der Gefangenen.

Von den Wachtürmen ertönt Musik. Sie spielen oft Schallplatten in der Lagerverwaltung draußen, um unsere Lautsprecher zu übertöne. Sonst ärgert uns das, aber jetzt passen die Lieder gut zu unserer Stimmung. „Es geht ein Mädelchen durchs Feld, Ein Mädelchen, in dessen Zöpfe ich verliebt bin!"

singt gefühlvoll ein weicher Tenor.

Dann bricht das Lied kurz ab. Es muß gegen 3 Uhr in der Nacht sein. „Hör'mal, ist das nicht Bytschkow?" sagt Olga.

Ja, es ist seine Stimme, ich erkenne sie sofort, obwohl jetzt nichts mehr von der einschmeichelnden Freundlichkeit des Meetings in ihr liegt. „Achtung, Achtung!" — so tönt es scharf von allen Wachtürmen, „ins Lager marschieren Truppen ein! Ich befehle allen, die Baracken zu verlassen!" Kaum hat er den Satz beendet, da ist das Lager in grelles Licht getaucht. Jenseits der Mauern sind Tausende von Leuchtraketen hochgegangen. In ihrem Schein sehe ich, wie sich ein mächtiger Panzer durch unser Lagertor in die Zone schiebt. „Mein Gott, sie kommen mit Tanks!" ruft jemand entsetzt, gleichzeitig ertönt rechts hinter der Baracke ein gellender Schrei: die 16jährige Estin Anja, die dort auf Posten steht, ist von einer Kugel getroffen zu Boden gesunken. Die Soldaten, die gleich hinter dem Panzer ins Lager strömen, schießen scharf: sollen wir deshalb alle die Baracken verlassen? Ich ergreife Olgas Hand und zerre sie in die Badeanstalt. „Schnell hierherein!" ruft Wanja und stößt uns in eine der geöffneten Desinfektionskammern! „Hoffentlich kommen sie nicht auf die Idee, hereinzuschauen!" Selbst hinter der eisernen Tür der Kammer hören wir das Rattern der Panzer und die wilden Hurrarufe der Soldaten. Sie müssen wieder betrunken sein. Immer wieder ertönen Gewehr-salven. Olgas Atem geht schwer, aber sie sagt kein Wort. „Auf keinen Fall darfst Du Deinen Namen nennen“, flüstere ich ihr zu, „es sind sicher fremde Soldaten, sie kennen Dich nicht. Wenn sie aber erfahren, wer Du bist, so erschießen sie Dich sofort!“

Olga sitzt dafür, daß Fadejew sie in seinem berühmten Roman „Die junge Garde“ zur Verräterin stempelte. Er verfälschte die Ereignisse, aber nannte echte Namen und so erhielt die 1944 erst 15jährige Olga Latzkaja 15 Jahre Lager. Bei jeder Gelegenheit wird sie nun schon 12 Jahre lang den Truppen und Besuchern als diejenige demonstriert, „die die Partisanen an die Deutschen verraten hat".

Kaum habe ich die Warnung ausgesprochen, da hören wir, wie die Soldaten das Badehaus betreten. „Hier ist niemand!" sagt einer. Ich atme auf, aber in diesem Augenblick wird die Tür unserer Kammer geöffnet.

„Aha, da steckten die Hurensöhne, los raus!“. Im Nu werde ich von starken Fäusten gepackt und aus der Baracke gestoßen. Ich sehe nicht mehr, was mit den beiden andern geschieht, höre sie nicht mehr — denn um mich ist die Hölle.

Salven und Todesschreie erfüllen den vom Feuerschein erhellten Hof unseres Lagers. Betrunkene Soldaten jagen unter lautem Fluchen einzelnen verzweifelt flüchtenden Gefangenen nach. Unter Johlen und Schreien erstechen sie mit Bajonetten am Boden liegende Verwundete. Dröhnend fährt der Panzer zwischen den Baracken hin und her. Aus seinen Luken wird unaufhörlich geschossen.

„Verlaßt die Baracken!“ wiederholt immer noch Bytschkows Stimme aus den Lautsprechern.

„Sie wollen uns alle umbringen!“ durchzuckt es mein Hirn, und ich fühle, wie meine Hände kalt werden. „Dreh'Dich um Du .. .!“ ruft einer der Soldaten. Ist das das Ende? Jetzt müßte in einer Sekunde mein ganzes Leben an mir vorbeiziehen — so habe ich immer gelesen. Aber mir fällt in diesem Augenblick nichts ein. Weder das Gesicht meiner Mutter, noch das Haus, in dem ich auf-wuchs. Nur fürchterliche Leere erfüllte mich und brennendes Bedauern, gerade jetzt, gerade am Ende der sinnlosen zehn Jahre auch wieder sinnlos umzukommen. „Führ’ ihn heraus zu den anderen!" ruft eine laute Stimme dicht neben mir. Noch ganz benommen von den Gedanken des Abschieds vom Leben, drehe ich mich nach dem Soldaten um, gilt dieser Befehl wirklich mir? Aber da trifft mich schon ein unmißverständlicher Rippenstoß. „Da geht's lang!" Man treibt mich mit anderen Gefangenen zu dem sonst geschlossenen Ausgang in der hinteren Lagermauer. Eskortiert von einigen Dutzend Soldaten gehen wir durch den ganzen dritten Lag-Punkt. Die zweite und dritte Baracke verteidigen sich. Brennende Sprengstoff-Flaschen fliegen in die Haufen der belagernden Soldaten.

Zweimal hat die zweite Baracke den Angriff abgewehrt, erzählte man mir später. Erst hatte man dort beschlossen, sich zu ergeben. Ein alter Armenier erbot sich, aus der Baracke zu gehen und den Soldaten den Beschluß der Gefangenen mitzuteilen. Er war ein Greis, sein langer grauer Bart flatterte im Wind, als er den Soldaten entgegentrat. „Hört mich an, Söhnchen!“ rief er, aber die Kugel traf ihn, ehe er weitersprach. Irgend jemand von den Soldaten trennte seinen Kopf mit einem Messer vom Rumpf und warf ihn in die Baracke zurück. Deswegen verteidigten sie sich nun so verzweifelt.

„Etwa 20 Leute von ) S*MERSCH sind im Lager!“ erzählt ein anderer, als wir schon draußen auf dem Feld hinter dem Lager sind. „Sie ver-suchen die schlimmsten Verbrechen zu verhüten. Aber sie haben ihre Leute so wild gemacht, daß sie sie jetzt selbst nicht mehr im Zaum halten können." „Zweites Regiment unter Leutnant Kirijenko in den 1. Lag-Punkt zur Unterstützung von Antonow!" kommandiert durch die Lautsprecher Bytschkow. Er steht am Fenster in der vierten Etage der Lagerverwaltung auf der anderen Seite des Lagers. Von dort aus dirigiert er die „Operation". Er hat einen guten Überblick, der Herr General, braucht nicht einmal einen Feldstecher. Das ganze Kampffeld liegt wie auf der Hand vor ihm. Jetzt gegen Morgen braucht es nicht mehr von Leuchtraketen erhellt zu werden. Die Soldaten unseres Kingirer Regiments übernehmen unsere Bewachung.

Auch die Einwohner der Stadt, die man noch nicht evakuiert hat, verfolgen den Kampf im Lager mit Spannung. Die Dächer der Häuser und der Fabrik sind voller Menschen. Sie sehen die Panzer und die Truppen, aber ob sie die Einzelheiten erkennen können? In der kleinen Kabuse in der zweiten Baracke des Frauenlagers, in dem unser Sender steht, hat sich der Jary Michailowitsch, der mich ablöste, die Pulsader geöffnet, als er die Panzer in das Lager rollen hörte. „SOS! SOS! wir werden gemordet!" funkte er bis zuletzt in den Äther. Aber wer hörte schon diesen verzweifelten Ruf außer dem MWD an den Empfangsgeräten Kasachstans? Und wer hätte schon auf ihn reagiert, wenn er wirklich bis ins Ausland gedrungen wäre, so frage ich mich heute, wo ich Gelegenheit habe, dieses Ausland, auf dessen Hilfe wir in Kingir so hofften, kennenzulernen? Wen rührt in Berlin, Paris, London und New York schon das Sterben in Kingir oder Workuta?

Die Frauen tragen den litauischen Funker aus seinem Bunker heraus und versuchen ihn noch zu retten, aber es ist zu spät. Es ist auch zu spät an die eigene Sicherheit zu denken; die Flaschen, die von den Mädchen und Frauen mit Sprengstoff gefüllt waren, sind zu Ende. Auch die Steine, mit denen sie die Truppen zuletzt abwehrten, sind verbraucht.

Gegen 7 Uhr früh fassen sich zweihundert Frauen und Mädchen aus der zweiten Baracke des Frauenlagers an den Händern und gehen singend heraus auf den Hof, den Panzern entgegen. Sie werden doch nicht einfach in die Reihen der Frauen hereinfahren — so hoffen sie. Aber die Panzer fahren hinein. Ohne anzuhalten überrollen die eiseren Raupen die Leiber der Frauen und Mädchen. Die betrunkenen Tankisten am Steuer sind wie im Bluträusch.

Kusnetzow wird von einem dieser Soldaten mit dem Lasso gefangen, als er von der 1. Baracke, dem Stab, zur dritten herüberlaufen will. Man zieht ihn in den Panzer hinein. Der Befehl lautet: Die Mitglieder der Lagerkommission sind unter allen Umständen lebend gefangen-zunehmen.

Handgranaten sollen die letzten Gefangenen aus den Baracken treiben. Beißender Rauch der in Brand gesetzten Strohmatratzen zwingt sie schließlich auch in der dritten Baracke unseres Lag-Punktes dazu, den Kampf aufzugeben. Anatol Sadoroshny hat sie bis zuletzt gehalten, nun leitet er die Kapitulation.

Um 9 Uhr wird es ruhig im Lager. Wir sind jetzt schon über Tausend draußen auf dem Feld. Ich sehe auch Olga. Sie hinkte und stützte sich schwer auf die Kameradinnen, als man sie aus dem Lager herausführte. Hat man sie verwundet? Ich kann es nicht erfahren — man führt die Frauen gleich zu den Eisenbahnwaggons. „Wir ersticken! Durst, Durst!!“ rufen sie gegen Mittag aus den in der Gluthitze stehenden, verschlossenen Güterwagen, Es sind etwa 50 Grad Wärme im Schatten. Obwohl ich nur Hemd und Hose anhabe, komme ich hier draußen auf dem Feld beinahe um vor Hitze. Aber als wir wie instinktiv immer näher zu den Waggons rücken in dem Drang, unseren Frauen zu helfen, jagen uns die Soldaten wieder zurück.

Irgendwann im Laufe des Tages werden Kusnetzow, Gljeb, Anatol und noch einige der Lagerkommission an uns vorbeigeführt. Sie sind gefesselt und von Wachen umringt. Hinter ihnen folgen in einiger Entfernung höhnisch lächelnd Doigisch und Bytschkow. Nur einen Blick erhasche ich noch von Kusnetzow, dann befiehlt man, uns mit dem Gesicht zur Erde auf den Boden zu legen.

Es war ein aufrechter, stolzer Blick, und auch Kusnetzows Gang ist aufrecht und stolz. Man hat ihn geschlagen, sein Hemd hängt ebenso wie das von Gljeb und den anderen in Fetzen herunter, aber die Haltung und diesen Blick kann man ihnen nicht nehmen. „Wir mußten der Übermacht weichen" — so scheint dieser Blick zu sagen, „aber wir waren im Recht!" Der Sieger von Berlin hat uns nicht zu einem militärischen Sieg führen können, aber er hat uns zu einem moralischen Sieg verholfen. 2000 schwerbewaffnete Soldaten und sieben Panzer vom Typ T-34 mußten gegen uns eingesetzt werden. 1600 Soldaten veranstalteten noch das Feuerwerk. Auf dem Flugfeld lag eine Reihe Bomber des MWD, grau-grün überpinselte Douglas-Maschinen, zum Einsatz bereit. 500 Tote, darunter 200 Frauen und Hunderte von Verletzten — das ist die Bilanz der „Operation" von Bytschkow und Doigisch.

Während die 15 Mitglieder der Lagerkommission sofort ins Untersuchungsgefängnis eingeliefert werden, stopft man uns 1600 „aktive“ Aufständische am Abend des 26. Juni in die Eisenbahnwaggons, die zum Abtransport nach Kolyma vorbereitet wurden. Unsere Namen sind zum Teil von jenen verraten worden, die in der ersten Tagen des Auf-standes das Lager freiwillig verlassen hatten. „Ihr könnt sofort wieder ins Lager zurück", hat man den Frauen gesagt, die man noch vor uns in die Wagen sperrte ... „Ihr müßt Euch nur bereit erklären, zu arbeiten!" Aber sie weigerten sich. „Wir gehen mit den Jungens!“ Es sind, wie die Zweihundert, die gegen die Panzer gingen, zumeist West-Ukrainerinnen. Ihr Mut und ihre kompromißlose Hartnäckigkeit sind heroisch.

Am dritten Tag des höllischen Aufenthaltes in dem glühenden Eisenbahnwaggon werde ich aufgerufen, ich gehöre zu denen, deren Frist noch in diesem Jahr abläuft. Wir kommen ins Lager von Kingir zurück. Unser Transport nach dem fernen Kolyma lohnt sich nicht. Anscheinend hat die Lagerverwaltung das den GULAG-Vertretern doch klar machen können.

Nachher Es ist ein trauriges Lager, das ich nach den drei Tagen wieder betrete. Alle Mauern sind wieder aufgerichtet. Da die meisten Gefangenen sich weigerten, diese Arbeit auszuführen, wurden die „Zeugen-Jehovahs" dazu eingesetzt. Am Bau der Barrakaden hatten sie sich nicht beteiligt, aber Gefängnismauern zu errichten, schien ihnen den Geboten Gottes nicht zu widersprechen. Zwischen den Lag-Punkten, auch zwischen unserem dritten Lag-Punkt und dem Gefängnis sind jetzt breite Zonen „Niemandsland“ eingerichtet worden. Anscheinend zittern die Behörden davor, der Aufstand könne noch einmal losbrechen.

Alle Krankenhäuser, Ambulatorien und Kabinette sind überfüllt mit Schwerverwundeten. Gleich den übrigen Ärzten und Krankenpflegern habe ich Tag und Nacht zu tun. Dennoch bemerke ich bald, daß sich im Lager nach dem Aufstand sehr viel verändert. Das Signal zum Aufstehen wird zwei Stunden später gegeben, statt um sechs Uhr verlassen die Arbeitsbrigaden das Lager erst um acht Uhr morgens. Um fünf Uhr nachmittags sind alle zurück. Die Baracken sind nicht mehr verschlossen, die Gitter vor den Fenstern wurden nicht erneuert. Das Leben könnte jetzt leichter und fröhlicher sein, aber die Erinnerung an das Gemetzel bewirkt, daß die Stimmung unter uns mehr als gedrückt ist. Man hört kein lautes Sprechen, und das Lachen haben wir vollends verlernt.

Dabei geschieht eigentlich viel, was uns mit Hoffnung erfüllen sollte. Der Lagerleiter Tschetschow wird kurze Zeit nach dem Aufstand von einem anderen abgelöst. Der neue Lagerleiter bringt eine Reihe von Beamten mit, die jetzt in jedem Lag-Punkt regelmäßig Sprechstunden abhalten. Jeder von uns kann dort Eingaben und Beschwerden einreichen. Die Revisionsverfahren laufen auf Hochtouren, und wer um Revi-sion des Urteils bittet, hat zumeist Erfolg. Beinahe in allen Fällen werden die Strafen um einige Jahre verkürzt. Zehn bis fünfzehn Personen verlassen jetzt durchschnittlich im Monat das Lager. Nur wer um Begnadigung bittet, statt um Revision, bekommt negativen Bescheid.

Ununterbrochen werden Minderjährige und Invaliden freigelassen. Die Invaliden gehen durch ein öffentliches Gerichtsverfahren, das im Lager stattfindet. Etwa dreißig Prozent von ihnen, deren Strafen für „besonders schwere Verbrechen“ verhängt worden sind, werden nicht befreit, obwohl die Verfügung vom April 19 54 für alle, unabhängig vom Paragraphen, gelten sollte.

Audi bei den Minderjährigen geht man geschickt vor. Man ist darauf bedacht, ihre Strafe so zu senken, daß sie dennoch über fünf Jahre beträgt, das heißt, nicht unter die Amnestie von 195 3 fallen kann. Ein Gefangener, der amnestiert wird, hat das Recht, in seinen Heimatort zurüdezukehren, so aber muß er, wie alle anderen politischen Gefangenen, vom Lager aus direkt in die Verbannung.

Es ist diese Verbannung, die den meisten die Freude an der Befreiung verdirbt. Stattt eines Passes bekommt der Freigelassene nur einen Schein mit dem Ort in die Hand gedrückt, an den er sich unverzüglich zu begeben hat. Zumeist ist er genau soweit fort vom Zentrum und von seinem Zuhause wie Kingir. Überdies kann er ihn nicht einmal selbst auswählen. Die Lagerverwaltung hat ihn längst in Übereinstimmung mit den Anforderungen der Industrie ausgewählt. Er wird dort zwar nicht hinter Stacheldraht wohnen, aber sich regelmäßig bei der politischen Polizei melden müssen und deshalb ebensowenig frei sein, wie hier.

Der dritte Lag-Punkt, in dem ich ebenso wie vor dem Aufstand untergebracht bin, zählt nur noch 600 Gefangene. Vorher waren wir 2000, aber die meisten der „aktiven Aufständischen“ kamen von uns und sind daher nach Kolyma abtransportiert worden. Nach einigen Monaten wird unser Lag-Punkt aufgelöst, und ich komme in den zweiten.

Die Frauenzone ist wieder hermetisch abgeschlossen. Aber man hat zwei Neuerungen eingeführt. Die eine ist die Theatergruppe. Ungeachtet der Schwere ihrer Strafe sind jeden Tag eine Reihe von Mädchen bei uns im Lager, Schauspielerinnen, die zur Probe gehen. Und jeden Sonntag wird in unserer Speisehalle zum Tanz aufgespielt, dann kommen etwa 200 Mädchen und Frauen zu uns zu Besuch.

Olga ist nicht unter ihnen. Es gelang mir zwar, ihren Abtransport nach Kolyma zu verhindern, aber der freie Arzt, der das auf meine Bitte hin bewirkte, mußte sie dazu ins Krankenhaus legen. Dort besuchte ich sie manchmal. Dann aber wird sie gesund geschrieben und einige Wochen darauf dennoch abtransportiert — nach Taischet in Mittelsibirien.

Der Prozeß Aufgeregt kommt am 26. November der Arzt Fuster zu mir. „Heute beginnt der Prozeß gegen das Lager-Komitee; ich bin als Zeuge geladen." Fuster ist alter Spanienkämpfer. Nach dem Ende des Bürgerkrieges kam er nach Moskau, wo er die Verhaftung beinahe sämtlicher seiner Mitkämpfer durch die Geheimpolizei erlebte. Aus reinem Zufall blieb er selbst verschont. In Moskau wurde er zum Gegner der Sowjets. 1947 wandte er sich an die spanische Botschaft mit der Bitte um Repatriierung. Dafür erhielt er 25 Jahre Zwangsarbeit.

Der Prozeß gegen Kusnetzow und seine Freunde findet im großen Gebäude der Lagerverwaltung jenseits der Lagermauern statt. Wie mir Fuster erzählt, wird er nach allen Regeln demokratischer Prozeßführung abgehalten, allerdings bleibt die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Die 15 angeklagten Gefangenen sitzen auf einer Bank, während auf einer anderen Anklagebank 7 Offiziere des MWD Platz genommen haben. Es sind; der Leiter der Untersuchungsabteilung, der den Einmarsch der Truppen ins Lager am 16. und 17. Mai sanktioniert hat, der Hauptmann der Garnison, der die Truppen kommandierte und den Schießbefehl gab, ein Leutnant, der selbst mit einer Pistole auf Gefangene geschossen hat, und einige Aufseher, die seinem Beispiel folgten. Fuster ist von dem Gericht geladen, um über die Todesursachen der von ihm seinerzeit sezierten Leichen auszusagen.

Die Untersuchungsgefangenen sehen nicht aus, als ob man sie gefoltert hätte; acht von ihnen erhalten sogar Diätnahrung. Nur sind sie alle sehr blaß, und Kusnetzows Gesicht ist beinahe ganz weiß. „Heute wurde die Vertreterin der Frauen in der Lagerkommission ins Lager zurückgeschickt“, sagte mir Fuster einige Tage später. „Ihr Verhör dauerte nur kurze Zeit. Als man sie fragte, warum sie sich dazu verleiten ließ, der Lagerkommission beizutreten, wies sie auf ihre grauen Haare und sagte: . Meine Haare sind schuld, die grau wurden in den siebzehn Jahren meiner durch nichts verdienten Lagerhaft.'"

Die Untersuchungsgefangenen werden auf Schritt und Tritt bewacht. Das ganze Verwaltungsgebäude ist während der Dauer des Prozesses von Truppen umgeben. Wenn die Angeklagten die Toilette aufsuchen, werden sie immer von zwei Soldaten mit Maschinenpistolen begleitet. Trotzdem unterläuft den Wachen, wie beinahe immer in sowjetischen Gefängnissen, einmal ein unverzeihlicher Fehler. Anatol, der an schwerer Tuberkulose leidet, bekommt die Erlaubnis zu einer Röntgenuntersuchung. Die Soldaten, die ihn führen, sind nicht aus Kingir und wissen nicht, daß man den Gefangenen auch noch im Ambulatorium bewachen muß. So kommt es, daß ich mich über eine halbe Stunde ungestört mit Anatol unterhalten kann. „Man will uns unbedingt irgendwelchen Terror nachweisen", berichtet Anatol. „Gljeb ist großartig. Er nimmt alle Gewaltakte auf sich. Kusnetzow habe nichts davon gewußt, daß wir die Brennstofflaschen vorbereiteten, auch die Bestrafung der Spizel und die Schaffung der Radiostation seien nur auf seine, Gljebs Veranlassung hin, erfolgt."

Anatol selbst hat es schwerer, seine Mitschuld an Gewalttätigkeiten der Aufständischen abzuleugnen, denn vor dem Gericht erscheint als Zeuge jener junge Kriminelle, dem er eine gehörige Lehre erteilen ließ. Der Junge hatte es verdient. Wie vom Himmel gefallen stand er eines Tages, noch am Anfang des Aufstandes unter uns und zeigte uns einen Packen Flugblätter, die angeblich von den Engländern über dem Lager abgeworfen worden seien. „Wir begrüßen den Aufstand" stand auf ihnen. Später gestand er, daß er von der Lagerleitung geschickt worden sei, um unsere Reaktion auf diese gefälschten Aufrufe zu sehen. „Heute trat Kusnetzow auf“, berichtet mir eines Abends Fuster. Kusnetzow sprach von acht Uhr früh bis zehn Uhr abends, ohne unterbrochen zu werden. Jede Kleinigkeit des Aufstandes führte er an, um zu beweisen, daß wir in voller Disziplin für unsere gerechten Forderungen eingetreten seien. Auch den Unsinn von der Plünderung, die unsere Leute angeblich begangen hätten, wies er zurück. Man solle doch die Delegation der Freien befragen, die während des Aufstandes das Lager besucht hatten. Wenn jemand geplündert habe, so seien es die Soldaten gewesen, die noch in der Nacht des Einmarsches die Lebensmittellager im Wirtschaftshof ausgeraubt hätten.

Kusnetzow spricht nicht so temperamentvoll und mitreißend, wie Anatol, der auch die stumpfesten Gefangenen zu begeistern verstand. Seine Worte sind sachlich und nüchtern, aber vielleicht ist ihre Wirkung auf die Leute im Gerichtssaal dadurch nur um so größer. Alle, die Angeklagten ebenso wie die Richter, die Wachsoldaten ebenso wie die Zeugen fühlen, daß dieser Mann durch und durch rechtschaffen ist, und alles, was er tat, in der Überzeugung tat, dem Recht und nur dem Recht zu dienen. „So ein Dummkopf, dieser Kusnetzow“, sagte der neue Lagerleiter, bei dem ich mich melden sollte, zu mir. „Gestern kam seine Rehabilitierung; wenn er diesen Aufstand nicht gemacht hätte, so wäre er heute schon frei. Nun wird er wohl neue 25 Jahre bekommen." Es klingt Mitgefühl in den Worten des Lagerleiters, der mir gerade mitgeteilt hat, daß meine Frist abgelaufen ist. Ein knappes halbes Jahr Straferlaß auf Grund der neuen Verfügung ist angerechnet worden. Aber was hilft es? Ich muß doch weiter im Lager bleiben. Bis ein Transport mich in die Freiheit bringt, das. kann noch Monate dauern. Nach einer Woche Verhandlungen stellt das Gericht in Kingir fest, daß es für den Fall Kusnetzow und Genossen nicht mehr zuständig ist. Es seien zuviel Offiziere in die Angelegenheit verwickelt, meint der Vorsitzende, und es sei daher besser, den Fall an das Gebietsgericht in Alma-Ata zu überweisen. „Wir hoffen, daß auch Alma-Ata sich als nicht zuständig erweist und unser Prozeß in Moskau zur Verhandlung kommt", steht auf dem Zettel, den Kusnetzow noch aus dem Gefängnis schmuggeln kann. „Wir hoffen, daß uns doch noch Recht wird."

Es ist streng verboten, im Lager über den Aufstand zu sprechen. Die Behörden fürchten, daß der Widerstandswille bei uns wieder aufflackern könne. Aber die Blutspuren vor unseren Baracken erinnern uns zu jeder Stunde daran, was im Juni geschah, und auch wenn wir schweigen, so lebt der Aufstand immer fort. Der Transport aus Kingir, der durch das ganze Land nach Kolyma ging, hat die Kunde von unserem Widerstand überall verbreitet. Man hatte alle Leichtverletzten mit in die Waggons gestopft: eine Wunde galt als Beweis für aktive Teilnahme am Aufstand. Ich sah die Verwundeten noch, als ich im Zug saß. Man hatte sie nur oberflächlich verbunden. Bei einigen waren nicht einmal die Kugeln aus den Wunden entfernt. Sie streckten ihre verwundeten Arme und Beine aus den Fenstern des Güterzuges, mit dem man sie in den Fernen Osten brachte. „Man hat unseren Aufstand mit Panzern nieder-geworfen", so riefen sie aus den Fensterluken überall dort, wo der Transport hielt. „Hunderte von niedergemetzelten, wehrlosen Gefangenen — so sieht der Sieg der MWD-Truppen aus!" Es gibt sicher keinen Ort auf dem Wege von Kingir bis Nachodka am Japanischen Meer, wohin die Nachircht von den vierzig Tagen Aufstand in Kingir nicht gedrungen wäre" — so schrieben uns unsere Freunde bald aus Kolyma. Und nun weiß es auch ganz Kolyma.

Im Spätherbst kommt ein Transport aus dem Lager Ekibastos bei uns an. Mit dem Bau der Stadt Ekibastos, im Norden Kasachstans, beinahe schon in Sibirien, war erst 1949 begonnen worden. Ich selbst hatte die ersten Baracken mitgebaut, inzwischen war eine mittelgroße Stadt entstanden. Und die Kohle, die dort nahe an der Erdoberfläche liegt, wird jetzt von Freien und Freigelassenen gefördert. Es wunderte mich schon damals, daß man Gefangene an einen verhältnismäßig schönen Ort bringt. Aber sie sollten nur die Häuser bauen und die Schächte anlegen. Jetzt waren sie überflüssig. Aus der lieblichen Landschaft und den schönen Blockhäuschen von Ekibastos wurden die letzten Gefangenen zu uns getrieben.

„Wehe, wenn ihr den Neuen etwas von den Juni-Ereignissen sagt!“ warnten die Aufseher. Aber bereits am zweiten Tage hielt einer von ihnen selbst es nicht mehr aus: „Hat Euch niemand etwas davon erzählt, was hier los war? Ich kann Euch sagen, meine Lieben, hier ist Blut in Strömen geflossen!" So sorgten sie selbst dafür, daß niemand in Kingir etwas vergessen konnte.

Eine kurze Zeit lang diente unser ehemaliger dritter Lag-Punkt als Unterkunft für Soldaten, dann wurde er eines Tages wieder zu einem Spez-Regime-Lager. Während unsere Räume im zweiten Lag-Punkt und im Frauenlager fast einem gewöhnlichen Lager angeglichen waren, während wir nur von wenigen Aufsehern bewacht wurden und manche Freiheiten einschließlich des Gebrauchs eigener Rasiermesser genossen, erduldeten die Neuen, eben aus den Gefängnissen Eingelieferten, wieder den ganzen Terror, dem wir durch den Aufstand entronnen waren.

Darum galt mein letzter Blick, als ich im Dezember 1954 das Lager von Kingir verließ, den Mauern meines ehemaligen dritten Lag-Punktes, und meine Gedanken weilten die ganzen fünf Monate meiner Reise in die Freiheit bei jenen Kameraden, die weiter hinter diesen Mauern dulden müssen.

Soweit der Bericht von Franz W. Er gibt ein gegenüber früheren Lagerberichten verändertes Bild von den Zuständen in den sowjetischen Konzentrationslagern. Es unterscheidet sich nicht nur von dem Bild, das wir uns von diesen Lagern zu Lebzeiten Stalins machten, sondern es differiert auch von dem, was man uns noch vor einem Jahr, also bereits nach dem Tode Stalins, berichtete. Man fühlt, daß in dem ganzen System der Anwendung von Zwangsarbeit in Rußland eine grundlegende Veränderung vor sich geht. Es bleibt dahingestellt, inwieweit solche Ereignisse, wie der Aufstand von Kingir Ursache oder Folge dieser Veränderungen sind, aber sicher sind sie untrennbar mit ihm verbunden.

Größte Nachgiebigkeit gegenüber den Forderungen der Gefangenen, ängstliches Bedachtsein auf die Wahrung von Gesetz und Recht paarten sich in Kingir mit Willkür und Terror. Diese Widersprüche, die dem Westen zunächst unerklärlich und vielleicht wenig glaubhaft erscheinen, sind dennoch für die jetzige Lage in Rußland symptomatisch. Während man von oben her den Terror abbauen und wenigstens den Schein einer Demokratisierung des Regimes aufrecht erhalten will, läuft unten die Maschinerie noch im alten Stil weiter, und die MGB-Funktionäre sträuben sich das Neue anzuerkehnen.

Denn etwas Neues gibt es zweifellos. Die Verordnungen, die in aller Stille im April 1954 gefaßt und den Gefangenen von Kingir in den ersten Tagen ihres Aufstandes mitgeteilt wurden, sind eine Realität: sie werden aus anderen Lagern Rußlands bestätigt. Wenn man die Folge dieser Verordnungen untersucht, so kommt man zu dem Schluß, daß die Sowjets anscheinend auf dem Weg sind, die Zwängsarbeitslager, wenn nicht ganz aufzulösen, so doch stark zu reduzieren.

Franz W. erwähnt außer der Amnestierung von Minderjährigen und Invaliden die Einführung des sogenannten „Straferlasses bei guter Arbeit". Diese Verordnung, die dem Gefangenen für einen Arbeitstag zwei bis drei Tage Haftzeit anrechnet, war in ähnlicher Form bereits bis 1938 in Rußland bindend. Nach der großen Stalinschen Säuberung wurde sie abgeschafft. Ihre jetzige Wiedereinführung ist in sowjetischen Publikationen bisher nur vage angedeutet worden, praktisch aber, wie uns die Heimkehrer berichten, tatsächlich überall bekannt. Die meisten politischen Gefangenen in Rußland rekrutieren sich zur Zeit wahrscheinlich aus den Opfern der letzten Stalinschen Terrorwelle in den Jahren 1948/49. Sie haben samt und sonders, wie wir aus den Berichten von Joseph Scholmer und Brigitte Gerland wissen, 20— 25 Jahre erhalten. Von dieser Strafe haben sie jetzt im Durchschnitt sieben Jahre verbüßt, so daß ihnen 18 respektive 13 Jahre ihrer Frist noch bevorstünden. Bei Anrechnung von drei Tagen Haftzeit pro Arbeitstag wären das sechs, oder bei denen zu 20 Jahren Verurteilten drei Jahre Haft. Nun aber sagt Franz W., daß alle Eingaben um Revision, die in letzter Zeit in seinem Lager gemacht wurden, zu einer Strafsenkung von einigen Jahren führten. Praktisch also werden diese Gefangenen im Laufe der nächsten Jahre freikommen.

Ein weiteres Gesetz, über das von Heimkehrern berichtet wird, befreit Gefangene, die zwei Drittel ihrer Strafe verbüßt haben. Von ihnen werden vornehmlich diejenigen betroffen, die zu 10— 15 Jahren verurteilt worden sind. Franz W. registriert, daß in den letzten Monaten seiner Haft jeden Monat etwa ein Dutzend Gefangener das Lager verließen. Bedeutet diese Veränderung, daß in Rußland die Freiheit angebrochen ist?

Keinesfalls. Was wir sehen, ist nur eine großangelegte Veränderung im System der Zwangsarbeit. Zur erstmaligen Besiedelung der unwirtlichen Gegenden Rußlands mußte man die Menschen zwingen. Nur Gefangenen konnte man zumuten, die Goldgruben in Kolyma, die Kohlen-Schächte von Workuta und Karaganda und die Kupferminen von Dsheskasquan anzulegen und die ersten Wohnstätten dort zu errichten. In-zwischen sind rund 20 Jahre vergangen. Die Gebiete sind erschlossen, die Häuser stehen. Den freien Bürgern Rußlands, die sich vertraglich dorthin verpflichten wollen, stehen alle Vorzüge der Zivilisation zur Verfügung. Nun erst erweist sich, wie wenig rentabel die Arbeit von Gefangenen auf die Dauer ist.

Die Industrie meutert, wenn sie die interesselos, ja unwillig arbeitenden Gefangenen beschäftigen und überdies noch den ganzen Bewachungsapparat bezahlen muß, sie verlangt nach anderen Arbeitskräften, und der Staat kommt ihr entgegen.

Die Gefangenen, die das Lager verlassen, dürfen nicht in ihre Heimatorte zurück, sondern bleiben als eine Art Verbannter in den weit-entlegenen Gebieten Rußlands. Sie sind keine direkten Zwangsarbeiter, keine Lagerhäftlinge mehr, aber sie bleiben Menschen zweiter Klasse, dürfen sich nicht eigenmächtig im Lande bewegen und genießen keine Bürgerrechte. Man kauft sich ihr Interesse an der Arbeit dadurch, daß man sie hinter dem Stacheldraht hervorholt. Das bißchen relative Freiheit, das ihnen gegönnt wird, soll ihre Arbeit in den aus dem Boden gestampften neuen Industrieorten Rußlands rentabler machen. „Immerhin ein großer Fortschritt", wird man sagen und vielleicht meinen, daß die Streiks und Aufstände der Gefangenen jetzt weniger denn je am Platze sind. Nun, die Widerstandsaktionen der Gefangenen begannen in dem Augenblick, als das Regime den ersten Stoß bekam. Sie sind erst möglich geworden dadurch, daß die Position der Zwangsarbeiter in Rußland stärker wurde. Es liegt in der Natur der Dinge, daß nun keine Konzessionen den Kampf dieses neuen Proletariats um seine Rechte aufhalten können. Ob Zwangsarbeiter oder Zwangsangesiedelte — die ja wirtschaftlich gesehen nicht besser, sondern eher schlechter dran sind — diese unterste Schicht der russischen Arbeiterschaft hat ihren festen Platz im Wirtschaftsleben des Landes eingenommen. Industrie und Landwirtschaft der Sowjetunion sind in einem hohen Grad von ihr abhängig. Diese Erkenntnis dringt immer tiefer in das Bewußtsein dieser Schicht der Bevölkerung Rußlands ein.

Die Kunde vonr Aufstand in Kingir ist ebenso durch alle Lager der UdSSR gegangen, wie die vom Streik in Workuta. Schon hören wir von anderen Aktionen der Gefangenen im Gebiet von Norilsk und im Frauenlager Inta. Es kann sein, daß wir morgen von Aufständen in Kolyma oder in Mittelsibirien erfahren, und es ist durchaus möglich, daß über kurz oder lang die erste Aktion der Zwangsangesiedelten in Rußland ausbricht. Es ist das Urrecht des Arbeiters auf den Streik, das Urrecht des freien Bürgers auf den Kampf um ein besseres Dasein, das hier in Erscheinung tritt. Ein Recht, das die Herren im Kreml leicht-sinnigerweise in ihrer Verfassung niedergelegt haben, auf die sie sich gerade in letzter Zeit so gern berufen.

Fussnoten

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