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Der Streik von Norilsk | APuZ 23/1956 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 23/1956 Der Streik von Norilsk Wir streikten in Norilsk

Der Streik von Norilsk

HERBERT PASSIN/FRITZ VAN BRIESSEN

„Das Parlament" veröffentlicht in seiner heutigen Beilage zwei Berichte über den Streik von Norilsk. Die Vorgänge in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern sind ein Teil der sozialen und politischen Unruhe des sowjetischen Proletariats, das die Sowjetregierung zu so bemerkenswerten, kürzlich proklamierten Konzessionen wie der Auflösung der Zwangsarbeitslager, der Erhöhung der Renten und der freien Wahl des Arbeitsplatzes gezwungen hat.

Der Streik von Norilsk kann als klassisches Beispiel eines Zwangsarbeiterstreikes gelten. Der Bericht von Herbert Passin, Professor der Ohio-Universität, entstand nach Befragung zahlreicher japanischer Heimkehrer, deren Aussagen ein anschauliches Mosaik der dramatischen Ereignisse geben.

Der zweite Bericht stammt von einem Deutschen, der selbst Teilnehmer des Streiks war und dadurch in der Lage ist, die inneren Voraussetzungen des Streiks aus persönlichem Erleben darzulegen. Beide Berichte ergänzen einander. Sie stimmen in der Wiedergabe aller wesentlichen Tatsachen überein. Da die Ereignisse jedoch unter subjektiv verschiedenen Bedingungen erlebt wurden, weichen sie in einzelnen Details voneinander ab. Das erscheint bei der Darstellung eines so komplexen und unübersichtlichen Geschehens unvermeidlich.

Einführung Dies ist die Geschichte eines Streiks. Sie berichtet von Menschen, die, der Unterdrückung und Ausnutzung müde, in den Streik traten, ihre Forderungen formulierten und so lange kämpften, bis sie besiegt waren. Ihre Forderungen zielten auf bessere Lebensbedingungen, Löhne und Arbeitsverhältnisse, aber auch auf Sicherung der menschlichen Grundrechte. Eine Zeitlang verhandelten sie, bis schließlich die Zwingherren Truppen heranholten, um den Streik zu brechen. Und doch hatten die Streikenden einige ihrer Forderungen durchgesetzt, wenn auch nicht in der erwarteten Form.

Der Leser wird sagen, bisher klinge die Geschichte langweilig, uninteressant und alles andere als sensationell. Aber man bedenke, daß sie in der Sowjetunion spielte, in Sibirien, wo Streiks — um es ganz schlicht zu sagen — höchst ungewöhnlich sind. (Vgl. Artikel 58 des Sowjet-Strafgesetzes über gegenrevolutionäre Aktivität, Sabotage, Spionage, Zerstörung von Staatseigentum und die Strafen, die Über-tretern dieses weitgespannten Gesetzes und ihren Familien auferlegt werden.) Man bedenke ferner, daß die Streikenden politische Gefangene und zu Zwangsarbeit verurteilt waren; daß der Streik mit größerer Grausamkeit und mehr Blutvergießen als die meisten anderen Aufstände niedergeschlagen wurde; und schließlich, daß wir den Streik durch die Augen japanischer Gefangener sehen, die dabei waren. Es war die Zeit bald nach Stalins Tod, Frühling und Sommer 1953.

Unser Bericht ist das Ergebnis zahlreicher ausführlicher Gespräche mit japanischen Heimkehrern aus Norilsk, einem umfangreichen Komplex von Zwangsarbeits-Lagern im arktischen Norden des Territoriums von Krasnoyarsk. Wir wurden von den ehemaligen Gefangenen gebeten, ihre Namen nicht zu nennen. Erst wenn einmal alle Japaner aus Sowjetlagern heimgekehrt sind, werden sie bereit sein, frei und offen zu sprechen.

* Über die Streiks und Aufstände, die 1953 nach Stalins Tod im ganzen Sowjetimperium ausbrachen, ist inzwischen im Westen manches bekannt geworden. Es war, als ob Stalins Ende eine Kettenreaktion eingeleitet hätte, die sich wellenförmig ausbreitete, auf der einen Seite bis nach Berlin und auf der anderen durch die Zwangsarbeitslager Sibiriens bis hin nach Sachalin. Einiges deutet sogar darauf hin, daß diese Reaktion noch nicht völlig verebbt ist. Selbst noch im Januar 195 5 zum Beispiel, brach im Zwangsarbeitslager Taischet ein dreitägiger Streik aus.

Am besten unterrichtet sind wir über die Unruhen, die in den Satellitenländern, also vor allem in Ost-Deutschland ausbrachen, wo sie vor westlichen Augen schwer zu verheimlichen waren. Die Welt ist daher ziemlich vertraut mit dem Ablauf spontaner Aufstände, der blitzschnellen Entwicklung organisierter Führung, dem anfänglichen Zögern von Polizei und Militär dem Ereignis gegenüber, den dann folgenden, für sowjetische Verhältnisse unerhörten Verhandlungen mit den Streikenden und dem schließlichen Gewähren von Zugeständnissen. Ähnliche Unruhen brachen an vielen Punkten des sowjetrussischen Riesenreiches aus, in den Zwangsarbeitslagern Zentralasiens, des Hohen Nordens und des Fernen Ostens. Die meisten von ihnen lassen eine Entwicklungsform erkennen, die in großen Zügen den ostdeutschen Aufständen entspricht: spontaner Widerstand wegen eines relativ unbedeutenden Anlasses, schnelles Entstehen wirkungsvoller Führerschaft, anfängliches Zögern auf Seiten der Machthaber und schließlich blutige Unterdrückung verbunden mit gewissen Zugeständnissen.

Am bekanntesten wurde der Aufstand im Zwangsarbeitslager von Workuta, jenem großen Bergwerkskomplex innerhalb des nördlichen Polarkreises, über den von Brigitte Gerland, Joseph Scholmer und dem Amerikaner John Noble berichtet worden ist. LInruhen, wenn auch kleineren Stils, waren von entlassenen europäischen oder amerikanischen Gefangenen auch aus anderen Lagern wie zum Beispiel Karaganda berichtet worden. Die Repatriierung japanischer Gefangener, die langsam, aber stetig tröpfelnd vor sich ging, hat diese Berichte sowohl bestätigt als auch ergänzt. Hunderte von Japanern waren Insassen von Lagern, in denen Unruhen aufflammten, und ihre Augenzeugenberichte haben Aufstände und Streiks an anderen Plätzen ans Licht gebracht, über die bisher im Westen noch nicht berichtet worden war — Norilsk, Magadan, Taischet, Kingir (Karaganda) und Muika (Sachalin). Einige von ihnen waren offensichtlich Abschnitte der Kettenreaktion, die der Ur-Aufstand gleich nach Stalins Tod und etwa zur Zeit von Berijas Verhaftung aus-gelöst hatte. So waren anscheinend eine Anzahl der ukrainischen Anführer des Aufstandes von Norilsk in frühere Unruhen in Karaganda verwickelt, die sogar schon vor Stalins Tod ausgebrochen waren. Andere waren selbst Ausgangspunkte für spätere Streiks. Der dreitägige Streik zum Beispiel, der im Januar 1955 im Lager 43 von Taischet abrollte, scheint ein spätes Echo des Streiks von Norilsk im Sommer 1953, gewesen zu sein. Eine Gruppe von 15 der Führer des Norilsk-Aufstandes — auch sie wieder Ukrainer — wurden im Mai 1954 nach Taischet übergeführt; dort wurden sie das Zentrum einer neuen Widerstandsbewegung, die ihren Höhepunkt in einem Streik fand, der über die Frage der Kleider-Rationen ausbrach.

Der Streik, der im arktischen Bergwerkskomplex von Norilsk stattfand, begann am 7. Mai 1953 — zwei Monate nach Stalins Tod — und dauerte bis zum 11. August 1953, im ganzen etwa hundert Tage. Das bedeutet, daß er noch andauerte, als der Workuta-Streik zu Ende ging. Innerhalb des Komplexes breitete sich der Streik von Lager -zu Lager aus und wurde in der Nacht des 23. Mai 1953 vorübergehend durch Waffengewalt unterdrückt. Nach einem lebhaften Wiederaufflammen kam sein wirkliches Ende aber erst nach einem blutigen Massaker in der Nacht des 11. August 1953, in der nach zuverlässigen Schätzungen mehrere hundert Gefangene getötet oder verwundet wurden. Eine Anzahl japanischer Gefangener nahmen unmittelbar an den Ereignissen teil oder waren ihre Augenzeugen.

Obwohl der Streik von Norilsk zwei Monate vor dem Workuta-Streik begann, stimmten die Forderungen der Streikenden in bemerkenswerter Weise miteinander überein. Diese Tatsache läßt darauf schließen, daß zwischen den Zwangsarbeitslagern entweder eine Nachrichtenverbindung bestand — wie es in der Tat in gewisser Weise der Fall war — oder daß alle Lager auf die gleichen psychologischen und physischen Bedingungen reagierten und die Bedeutung der Ereignisse, die Stalins Tod umgaben, in ungefähr der gleichen Weise auslegten und analysierten.

Die Japaner in Sibirien Es ist häufig nicht ausreichend gewürdigt worden, daß beinahe 700 000 japanische Militär-und Zivilgefangene Erfahrungen in sowjetischen Zwangsarbeitslagern sammeln konnten, manche über einen Zeitraum von neun Jahren und mehr. Die Heimschickung der noch verbleibenden Gefangenen — über deren Zahl beträchtliche Meinungsverschiedenheiten zwischen der sowjetrussischen und der japanischen Regierung bestehen — ist ein bedeutendes Hindernis bei den derzeitigen Verhandlungen über eine „Normalisierung" der Beziehungen zwischen den beiden Ländern.

Als Orientalen mit einem eigenen und charakteristischen Kultur-Hintergrund haben die Japaner im Laufe ihrer Haft in Sowjetrußland eine Art Beziehungen mit den Russen und mit dem Leben im Zwangs-arbeitslager entwickelt, die sich völlig von der der westlichen Gefangenen unterscheidet. Es scheint, daß die Russen sich weit weniger um sie kümmerten; sie hatten daher größere Bewegungsfreiheit und mehr Beziehungen zu allen Schichten der russischen Gesellschaft — mindestens soweit sie den Lagerkomplexen nahe kamen — als etwa europäische Gefangene. Da die Mehrzahl der Japaner ländlicher Herkunft war, suchten und fanden sie Verbindungen und Freundschaften in den unteren Schichten der russischen Gesellschaft. Ihr Gefühl für die Probleme, Hoffnungen, Sehnsüchte, für die Stimmung und den Blickpunkt des einfachen russischen Volkes war daher besonders hoch entwickelt und von starker Sympathie bestimmt.

Die bedeutsame Rolle der Japaner in den sowjetischen Lagern wurde wahrscheinlich erst richtig erkannt und im Westen bekannt, als die letzte Gruppe von österreichischen Gefangenen im Juni 195 5 aus den Lagern entlassen wurde und in der Heimat eintraf. Einer der österreichischen Heimkehrer ging so weit, voller Bewunderung zu sagen: „Das System der Japaner funktionierte überall, wo ich es beobachten konnte, weitaus am besten.“

Nach Kriegsende im August 1954 waren 2 726 000 japanische Staatsangehörige mit militärischem oder zivilem Status, in den sowjetisch besetzten Gebieten: Mandschurei, Nordkorea, den Kurilen und SüdSachalin. Die meisten von ihnen wurden in den ersten großen Repatriierungswellen nach Japan zurückgeschickt, aber 700 000 landeten in den Zwangsarbeitslagern Sowjet-Asiens und der Äußeren Mongolei, wo sie in Fabriken, Bergwerken, Wäldern und riesigen Entwicklungsprojekten arbeiten mußten. Im April 1950 waren die meisten von ihnen heimgekehrt. Die japanische und die sowjetische Regierung sind jedoch verschiedener Meinung über die Zahl von Gefangenen, die noch in sowjetischen Händen sind. Eine japanische Schätzung nennt die Zahl 1200

(am 1. Mai 1955), aber die Russen erkennen nur 1047 an.

Vor allem von den japanischen Gefangenen, die im Dezember 195und im März 1954 repatriiert wurden, erfahren wir von den großen und kleinen Aufständen, die die sowjetrussische Zwangsarbeiterwelt erschütterten. Viele der Japaner waren Teilnehmer oder Zeugen der Widerstandsbewegungen; andere konnten sie beobachten oder von Teilnehmern und Augenzeugen Berichte erhalten. Die Japaner, die in diesen beiden Repatriierungen heimkehrten, waren in 46 Lagern zerstreut gewesen, so unter anderem in: Abez, Atschiskoje, Akmolinsk, Alma-Ata, Anadyr, Archangelsk, Biisk, Birobidschan, Blagoryeschensk, Chikarof, Chitei, Intar, Irkutsk, Iskichin, Kirov, Kasalinsk, Kirowsk, Krasnojarsk, Kansk, Karaganda, Kasachansk, Khabarovsk, Kliokani, Kuibyschew, Marüesk, Minussinsk, Magadan, Nervisilirks, Nowilsk, Rochiman, Reschetz, Petropawlowsk, Tanga Toyschat Tonask, Workuta, Wladiwostok, Woroschilow, Vorsk, Jenisseisk, Yansk, Yazarensk.

Noch immer leben japanische Gefangene in mindestens 32 Lagern dieser Liste, und dabei ist nicht einmal bekannt, in wievielen anderen Lagern ebenfalls Japaner gefunden werden könnten. Als Professor Shigeru Nambara, der frühere Präsident der Tokyo-Universität, im Mai 1955 in der Sowjetunion war, bekam er die Erlaubnis, einen japanischen General in Ivanov zu besuchen, einem Lager, das auf dieser Liste nicht erscheint. Ivanov scheint eine Art Musterkonzentrationslager für Kriegs-gefangene zu sein, in das fremde Besucher geführt werden und das nicht die üblichen Kennzeichen und Eigenarten der Zwangsarbeitslager Sowjetasiens hat.

Norilsk Der Streik in dem arktischen Bergwerkskomplex von Norilsk brach am 7. Mai 1953 aus. Unmittelbarer Anlaß dazu war ein Zwischenfall, bei dem ein Gefangener von der Wache angeschossen wurde. Der Streik verbreitete sich im Norilsk-Gebiet schnell von Lager zu Lager, und er brachte in bemerkenswert kurzer Zeit eine Gruppe entschlossener, doch anonymer Führer, eine Reihe weitreichender Forderungen und eine Kühnheit des Handelns hervor, wie sie bisher in sowjetrussischen Gefangenenlagern unbekannt gewesen waren. Der Ablauf des Streiks selbst förderte die Solidarität unter den Gefangenen, und die Schwäche der Lagerleitung bestärkte sie nur in ihrer Entschlossenheit. Bevor der Streik schließlich unterdrückt wurde, hatte er die Bedeutung eines Generalstreiks unter den politischen Gefangenen angenommen; darüber hinaus hatte die nicht im Lager lebende „freie Arbeiterbevölkerung“ von Norilsk Wege gefunden; ihre Solidarität kundzutun, und hohe Beamte aus Krasnoyarsk und selbst aus dem MWD-Hauptquartier in Moskau mußten herbeigeholt werden, um mit den Gefangenen zu verhandeln. Genau wie in Workuta weigerten sich die Gefangenen, mit den örtlichen Behörden zu verhandeln, und verlangten, daß höhere Autoritäten in Moskau angerufen würden.

Im Speziallager Nr. 3 (einem sogenannten Spez-Lager oder Lager für politische Gefangene) dauerte der Streik bis zum 11. August, das heißt also ungefähr 100 Tage; er endete erst, nachdem der Widerstand durch Erschießen von einigen hundert Gefangenen durch Soldaten der sowjetischen Armee gebrochen war.

Wirtschaftliche Bedeutung Norilsk liegt innerhalb des nördlichen Polarkreises auf 69 Grad 20 Minuten nördlicher Breite und 68 Grad 6 Minuten östlicher Länge, in der Nähe der Jenissei-Mündung an der Nordwestecke der sibirischen Ebene. Es ist der Mittelpunkt eines Industrie-und Verwaltungskomple-xes (oder Kombinats), das sich ostwärts bis zum Wariyok-Fluß (etwa 20 km), westwärts bis nach Dudinka, einem arktisdien Hafen am Jenissei (ungefähr 200 km) und nordwärts bis an die Ufer des Wariyok-Sees (etwa 100 km) erstreckt. Verwaltungsmäßig ist es ein Unterbezirk des Taimyr-Nationalgebiets im Territorium von Krasnoyarsk und bildet einen Teil des Jenissei-Stroy (Jenissei-Baubüros oder etwa Jenisseitalverwaltung). Das Gebiet ist reich an Bodenschätzen, und seine Erzeugung von Nichteisenmetallen ist mit seiner chemischen Industrie zu einem komplizierten industriellen System zusammengeschlossen, das — außer für Nahrungsmittel — praktisch autark ist.

Das Gebiet wurde hauptsächlich durch Gefangenenarbeit erschlossen und stand ursprünglich unter der Verwaltungshoheit der MWD. Im Spät-jahr 195 wurde es jedoch der Jurisdiktion des Kommissariats für Nichteisenmetalle unterstellt, eine Umschaltung, die auf eine wichtige Veränderung in der sowjetischen Praxis schließen läßt.

In der Sowjetunion war Zwangsarbeit das Hauptreservoir für Arbeitskräfte zur Entwicklung großräumiger Projekte, besondes in unerschlossenen oder schwierigen Gebieten wie Wüsten und Polarregionen. Die Verwendung politischer Gefangener zu diesem Zweck begann früh in den dreißiger Jahren und erreichte ihren Höhepunkt während der großen Säuberungsprozesse am Ende der Dekade. Ein neuer Höhepunkt kam mit dem Ende des zweiten Weltkrieges, als die Sowjetunion viele Millionen ausländischer Zivil-und Militärgefangener in ihren Händen hielt, nebst der großen und wachsenden Zahl „unzuverlässiger“ nationaler Gruppen wie der Ukrainer, der Wolgadeutschen, der Balten, Tschetschen-Ingush Krim-Tataren 3) und andere.

Norilsk wurde genau wie Workuta vor allem durch diese Zwangsarbeit erschlossen. Es war schon in der Zarenzeit bekannt gewesen, wurde aber erst nach einer wissenschaftlichen Expedition systematisch entwickelt, die das Gebiet 1923 erforschte. Der wirkliche Aufstieg — wenn man das Ereignis so nennen mag — begann in den dreißiger Jahren. Der Bau der Eisenbahn zwischen Wariyok und Norilsk wurde 193 5 in Angriff genommen. Eine Schmalspurbahn wurde zwischen der Jenissei-Mündung und Dudinka gebaut.

Am Ende des zweiten Weltkrieges nahm die Entwicklung von Norilsk einen ungeheuren Aufschwung. 1946 war es verwaltungsmäßig noch immer ein „Dorf", eine Bergwerksgemeinde von etwa 50 000 Menschen. Sieben Jahre später, als es den Status einer Stadt erhielt, war sein Areal mehr als zehnmal so groß und seine Bevölkerung auf über 300 000 gewachsen. Die wichtigsten Städte des Kombinatsgebietes sind Norilsk, das Hauptquartier, mit etwa 300 000 Menschen (außer den Truppen der sowjetischen Armee und den Gefangenen in den Lagern), und Dudinka, der Hafen von Norilsk an der Mündung des Jenissei mit etwas über 40 000 Einwohnern. An der Eisenbahnlinie zwischen Norilsk und Dudinka liegen nur ein paar unbedeutende Dörfer. Dudinka selbst ist der Mittelpunkt des Taimyr-Distrikts und der Umschlaghafen für Waren und Vorräte, die über die Nordmeerroute oder den Jenissei abwärts ankommen.

Im Jahre 1953 hatte Dudinka eine Sägemühle für das Bauholz, das den Jenissei herabgeflößt wurde, einen nichtmilitärischen Flugplatz mit einer Landung pro Tag, und zwei kleine Kohlengruben, die den Brennstoff für die Eisenbahn, die Dampfer und die Heizung förderten. In der Nachbarschaft gab es drei Zwangsarbeitslager — Nr. 4 mit 1500 Gefangenen, Nr. 26 mit etwa 500 und das sogenannte „Eisenbahnlager“ mit etwa 300 Gefangenen, dazu noch ein Lager für Kranke oder Gefangene, die arbeitsunfähig waren.

Der Hafen von Dudinka ist nur 4 Monate im Jahr, nämlich von Anfang Juni bis Anfang Oktober, eisfrei und schiffbar. Schiffe bis zu 5000 Tonnen können an den Kais anlegen. Größere Schiffe bis etwa 7000 Tonnen gehen an Bojen im Kanal vor Anker. Der Jenissei ist für Schiffe bis 5000 Tonnen befahrbar, die bis Fort Igarka herunterkommen.

Flußdampfer von 3000 bis 4000 Tonnen verkehren regelmäßig in der Saison zwischen Dudinka und Krasnoyarsk.

Etwa 30 km westlich von Dudinka liegt das kleine Grubendorf von Kairkan, was etwa „ein Schritt vor der Hölle" bedeutet. Die Gruben von Kairkan fördern täglich 2400 Tonnen guter, tiefschwarzer Kohle, die ziemlich weich ist und etwas Asche hinterläßt. In zunehmendem Maße wird modernes Gerät für den Abbau benutzt.

Die Nahrungsmittel für das Kombinat kommen nach Dudinka entweder über die arktische Route aus Archangelsk oder Murmansk oder den Jenissei abwärts aus Krasnoyarsk. Von Dudinka werden sie per Eisenbahn nach Norilsk verfrachtet. Kleine Mengen werden auch vor allem in Notfällen auf dem Luftwege transportiert. Die Lagerhäuser von Dudinka stapeln daher während der vier eisfreien Monate Vorräte für ein ganzes Jahr auf, die dann nach Bedarf abrollen.

Im Jahre 1950 wurde die Arbeit an einer Eisenbahnlinie von Krasnoyarsk nach Dudinka begonnen, aber 1952 wurde sie wieder eingestellt. Angesichts der entscheidenden Bedeutung der Transportfrage für die zunehmende Produktion des Kombinats von Norilsk muß aber damit gerechnet werden, daß der Eisenbahnbau bald wieder ausgenommen wird.

Es sind viele Vermutungen darüber angestellt worden, warum für die Entwicklung des Norilsk-Kombinats so außerordentliche Anstrengungen gemacht werden, trotzdem es doch in so ungeheurer Entfernung von den Zentren des russischen Lebens liegt und seine Lebensbedingungen und Arbeitsverhältnisse so hart und grausam sind. Welche Gründe auch immer dafür angeführt werden mögen, der Hauptgrund ist mit Sicherheit der ungewöhnliche Reichtum des Gebiets an seltenen Metallen und Erzen. In der Region von Norilsk werden Nickel, Kupfer, Kobalt, Platin, Gold, Eisen, Kohle, Tonerde, Gips gefunden. In vielen Fällen ist das Erz eine Mischung aus verschiedenen metalltragenden Gesteinen, die zugleich Kupfer, Nickel, Kobalt, Platin und Gold enthalten, vor allem in den Fundstellen auf dem Plateau südlich von Norilsk. Kohle von ausgezeichneter Qualität wird ganz in der Nähe der Stadt gefördert. Tonerde und Gips finden sich nahe der Oberfläche. Ungefähr 100 km nordöstlich von Norilsk gibt es reiche Eisen-, Kupfer-und Goldvorkommen, deren Ausbeutung 19 50 begonnen wurde. Die Eisenlager verdienen besondere Erwähnung, weil sie die Entwicklung des Kombinats für die Schwer-oder Maschinen-Industrie möglich machen, die 1953 noch nicht bestand. Das ganze Gebiet ist vermessen und geologisch ausgenommen worden, die Ergebnisse dieser Arbeit sind aber nicht bekannt. Im Museum von Norilsk sind mindestens 30 verschiedene, in der Gegend gefundene, Erze ausgestellt.

Das ohne Zweifel wichtigste Metall, das in Norilsk gefunden und erzeugt wird, ist Nickel. Möglicherweise sind die Fundstätten von Norilsk die reichsten in ganz Rußland. Von den mehr als 30 kleinen und großen Werken und Fabriken in Norilsk ist die Nickelschmelze bei weitem die wichtigste und größte Anlage. Sie besteht aus einer Mischanlage, einer eigentlichen Schmelze, einem Erzlager, einer elektrolytischen Raffinieranlage, einer Reparaturwerkstätte und einer kleinen Schmelze. Das Werk ist das älteste in Norilsk und seit dem zweiten Weltkrieg mehrfach vergrößert, verbessert und reorganisiert worden. Die elektrolytische Raffinieranlage enthält 320 Raffiniertanks; aus ihrer Zahl und Größe ist die Leistung des Werks auf etwa 400 bis 500 Tonnen Nickelblech pro Tag berechnet worden.

Eine Kupfer-Raffinerie, mit deren Bau 1948 begonnen wurde, war 1951 in einer nordwestlichen Vorstadt von Norilsk in Betrieb. Zwei Hochöfen werden je dreimal am Tag abgeblasen. Die Tageserzeugung wird auf 99 Tonen 60prozentig reinen Kupfers geschätzt. Ein Feinofen mit einer Tageskapazität von 144 Tonnen erhöht die Reinheit des Metalls auf über 70 Prozent. Ein elektrolytischer Prozeß bringt sie auf 99 Prozent. 1953 waren 2000 Arbeiter, 900 davon aus Gefangenen-lagern, ein Drittel davon Frauen, im Kupferwerk tätig.

Da das Norilsk-Erz mehrere Metalle zugleich oder dicht nebeneinander enthält, muß es zunächst sortiert werden. Diese Arbeit wird von zwei Sortieranlagen, einer großen und einer kleineren, besorgt. Das größere Sortierwerk liegt auf einem Hügel südlich von Norilsk und das Erz wird per Schiene aus der Grube herangeführt. Übrigens arbeiten fast alle Grubenanlagen wegen der Nähe der Erze an der Erdoberfläche im Tagebau. In der Sortieranlage wird das Erz sortiert, gebrochen und dann mit Wasser gemischt in Rohrleitungen in das Nickel-und das Kupfer-werk gesandt. Der Bau der großen Sortieranlage wurde 1948 begonnen und 1950 fertiggestellt. 2500 bis 3000 Arbeiter sind in drei Schichten eingesetzt, da in Norilsk in Tag-und Nachtschichten gearbeitet wird.

Die kleine Sortieranlage, die nordöstlich vom Nickelwerk liegt, ist älter und scheint ausschließlich für das Nickelwerk zu arbeiten.

Weitere Anlagen umfassen eine Kokerei, die auch Teer und Leuchtgas erzeugt, eine Schwefelsäureanlage und eine Chlorwassrstoff-Fabrik. Für die Erzeugung von Baumaterialien stehen eine Ziegelei, eine Zement-fabrik, eine Sägemühle, ein Kalkwerk, ein Gipswerk, eine Stahlrahmenfabrik, mehrere Reparaturwerkstätten, ein Formwerk und eine Schießpulverfabrik zur Verfügung, die Ammonit erzeugt, eine Art von staub-förmigem Dynamit, die in den Bergwerken auch bei Gefriertemperaturen benutzbar ist.

Gefangene berichten darüber hinaus von mehreren „Geheimfabriken", mit den Nummern 25, 26 und 476. Soweit japanische Heimkehrer über sie unterrichtet waren, wurden diese geheimen Werke nur von russischen „freien" Arbeitern bedient, ausländische politische Gefangene von ihnen strikte ferngehalten.

Aus den Berichten der heimgekehrten Gefangenen kann man mit guten Gründen schließen, daß Norilsk in der Sowjetwirtschaft eine bedeutende Rolle spielt. Außer seiner Kohlenerzeugung, die wohl hauptsächlich für die örtliche Industrie verwendet wird, scheint das Kombinat etwa 180 000 Tonnen Nickel, 50 000 Tonnen Kupfer und 100 Tonnen Kobalt pro Jahr zu erzeugen. Bei allen Projekten, außer den „Geheimfabriken“, wird die Arbeit von Gefangenen oder freigelassenen Gefangenen geleistet.

Die Stadt Norilsk Norilsk ist beispielhaft als eine soziologische Form, die für Sowjet-Asien typisch ist: die Gefangenenstadt. Da die Lebensbedingungen so außerordentlich schwierig sind, ist es nahezu unmöglich, freie Arbeiter in großer Zahl heranzulocken, wenn man ihnen nicht ganz ungewöhnliche Vergünstigungen bietet. Um das Gebiet zu entwickeln, hat sich die Sowjetregierung daher der Zwangsarbeit bedient. Das Arbeiterheer zur Entwicklung der Rohstoffquellen des arktischen Nordens rekrutierte sich hauptsächlich aus Gefangenen, gewöhnlichen Verbrechernsowohl wie politischen Häftlingen. Gefangene, die ihre Strafe abgedient hatten, wurden nur unter der Bedingung freigelassen, daß sie als „freie Arbeiter“ im Kombinatsgebiet blieben; es war ihnen nicht möglich, Aufenthalts-Erlaubnis für irgend ein anderes Gebiet zu erhalten. In den allerletzten Jahren sind jedoch „freie Arbeiter“ unter Verträgen nach Norilsk gebracht worden, die große materielle Vergünstigungen bieten, und im Sommer 1953, zur Zeit der Ereignisse, die hier geschildert werden, waren etwa 20’/o der Bevölkerung von Norilsk „freie Arbeiter“ mit vertraglichen Vergünstigungen.

Japanische Heimkehrer berichten, daß ein großer Teil dieser Einwanderer Frauen aus ländlichen Bezirken sind, die von den hohen Löhnen und von den guten Aussichten angezogen werden, einen Mann in den Strafgebieten zu finden, in denen das Verhältnis von Männern zu Frauen außerordentlich unbalanciert, neuerdings etwa 4 zu 1 ist.

Zur Zeit des Aufstandes von 1953 war die Norilsk Bevölkerung von 3 bis 400 000 Menschen ein erstaunliches Gemisch aus Personen vieler Nationalitäten, sowjetischen und nichtsowjetischen, vieler Typen — gewöhnliche Verbrecher, politische Gefangene, auf Wohlverhalten entlassene Gefangene, freigelassene Kriminelle, freigelassene politische Gefangene, freie Arbeiter, Soldaten, MWD Personal und Regierungs-Beamte. In diesem Gemisch waren von fünf Menschen vier Männer.

Da die Sowjetunion keine Bevölkerungszahlen veröffentlicht, die ohne weiteres akzeptabel sind, ist es schwierig, genaue Schätzungen der Bevölkerung von Norilsk zu machen. Sorgfältiges Abwägen aller Faktoren haben jedoch für die Zeit unmittelbar nach der Amnestie vom März 1953 folgende allgemeine Zahlen ergeben:

Bevölkerung von Norilsk Gewöhnliche Bürger 300 000 Ehemalige Gefangene 225 000 Politisd'ie 180000 Kriminelle 45 000 Einwanderer 60 000 Regierungsbeamte 15 000 Gefangene 45 000 Politische 15 000 Kriminelle 30 000 Insgesamt 345 000

Die Gefangenen-Bevölkerung hat während verschiedener Perioden stark gewechselt. Für 1947 wurde sie mit 140 bis 150 000 berichtet. 195 3 machten Gefangene und freigelassene Gefangene mindestens 70% der Bevölkerung von Norilsk aus.

Die große Majorität der Gefangenen waren Ukrainer, von denen viele in die eine oder andere der unaufhörlichen ukrainischen Widerstandsbewegungen gegen die Russen verwickelt waren: in der Zeit der Kollektivisierung, in den Jahren der großen Säuberung 1936— 37 und in den Jahren des 2. Weltkrieges. Ukrainer waren zahlreich unter den Kriminellen ebenso wie unter den Politischen, unter den freien Arbeitern wie auch den Wachmannschaften.

Die wichtigsten anderen Nationalitäten waren, nach den Berichten der japanischen Beobachter: Georgier, Letten, Litauer, Esten — der letzte Präsident von Lettland soll Gefangener in Norilsk gewesen sein — Deutsche (Wolgadeutsche und Reichsdeutsche), Chinesen, Polen, Krim-Tataren, Tschetschen-Igush und Juden. In geringerer Zahl waren viele andere inner-und außer-russische Nationalitäten in den Lagern vertreten, unter ihnen Afghanen, Italiener, Spanier und Zigeuner. Ein Japaner, der mehrere Jahre in einem „Lager für Invalide“ verbracht hat, berichtete, daß er in seinem Lager 32 verschiedene Nationalitäten gezählt habe.

Bis 1953 scheint die Bevölkerung stetig gewachsen zu sein, da immer neue Kontingente von Gefangenen in die Lager kamen und freigelassene Gefangene als „freie Arbeiter“ aus den Lagern in die Stadt zogen. Da aber die Zahl der Freigelassenen allmählich gegenüber der Zahl der neuankommenden Gefangenen wuchs, sank die Gefangenen-Bevölkerung allmählich ab, und zur Zeit der 1. Amnestie nach Stalins Tod vom 27. März 1953 war sie von 140000 (1947) auf 100000 gesunken. Ihre Zahl wurde durch die Amnestie um weitere 50 000 vermindert. Allerdings waren die freigelassenen Gefangenen der 1. Amnestie vor allem, ja beinahe ausschließlich Kriminelle, nicht Politische. Wie sich später zeigte, war diese Tatsache eines der Hauptärgernisse unter den streikenden Lagerinsassen. Im Frühjahr 1953 lebten noch 15 000 politische Gefangene in den Lagern, obwohl mehr als die Hälfte der „freien“ Bevölkerung von Norilsk aus freigelassenen politischen Gefangenen bestand. Im Oktober 1953 begann der Zustrom an neuen Gefangenen deutlich abzuflauen. Eine Anzahl Veränderungen wurden sichtbar, die alle darauf hindeuteten, daß vermutlich eine neue Form der Sowjet-Erschließung neuer Gebiete entwickelt wurde. So begann zum Beispiel der Anteil von Gefangenen an der Arbeiterbevölkerung deutlich abzusinken. Die Zahl von freien Vertrags-Arbeitern, relativ und absolut, stieg an. Zudem wurde Norilsk, das bisher verwaltungsmäßig ein Dorf gewesen war, offiziell zur Stadt erklärt und erwarb damit eine Anzahl neuer Rechte, zum Beispiel eine Quote von Abgeordneten der verschiedenen gewählten Körperschaften der Sowjetunion und die Abschaffung eines besonderen Einreisepermits. Im Oktober 1953 wurde die Jurisdiktion über Norilsk von der MWD auf das Kommissariat für Nicht-Eisen-metalle übertragen, was vielleicht tatsächlich eine Abwendung vom Regime der Zwangsarbeit — aus Mangel an Nachschub notwendigerweise — bedeutete. Das neue Zentrum des Norilsk-Kombinats ist eine moderne Stadt mit breiten Straßen und mehrstöckigen Gebäuden aus Backstein und Beton.

In einer so abnormalen Gesellschaft entwickeln sich natürlich mancherlei Abweichungen von der Norm. Eine davon ist das Verhältnis von Männern zu Frauen. Vor allem in den früheren Jahren beherrschten die Männer das Bild, da damals das Verhältnis von Männern zu Frauen etwa 8 zu 1 war. Für 1947 wird sogar geschätzt, daß von 140 000 Gefangenen nur 9000 Frauen waren, also ein Verhältnis von etwa 15 zu 1. Unter der freien Bevölkerung war das Verhältnis weniger ungünstig als in den Lagern. Bis zum Sommer 1953 scheint sich das Verhältnis verbessert und 4 zu 1 erreicht zu haben, vor allem weil viele Frauen durch die günstigen Vertragsbedingungen angelockt wurden und nach Norilsk kamen, um einige Jahre dort für gutes Geld zu arbeiten und einen Mann zu finden. Für die Japaner mit ihrem ausgezeichneten Instinkt für ländliche Probleme roch das sehr nach einer Krise auf dem Lande, durch die die Frauen vertrieben wurden. Das Mißverhältnis zwischen Männern und Frauen schuf im Leben der Gefangenen und der Stadtbevölkerung manches peinliche Problem.

Zwischen den Zwangsarbeitslagern und der Stadt gab es zahlreiche Kontakte. Die meisten Stadtbewohner waren selbst ehemalige Gefangene und hatten daher viele Freunde unter denen, die in den Lagern hatten bleiben müssen. Außerdem arbeiteten Gefangene und freie Arbeiter in den Fabriken, Bergwerken und Bau-Projekten Seite an Seite, so daß die Verbindung nie abriß. Lastwagenfahrer und Boten aller Art sorgten dafür, daß die Kontakte eng und kontinuierlich blieben. Da die Gefängnisbestimmungen keine Nahrungsmittelvorräte in den Lagern gestatteten, mußten die Nahrungsmittel täglich durch Lastwagen angeliefert werden, so daß mindestens diese tägliche Chance für Verbindung mit der Außenwelt bestand. Daneben wurden Gefangene so häufig von einem Lager in ein anderes transferiert, daß die Lager stets auch über größere Entwicklungen wohlunterrichtet waren.

Ein Stadterweiterungsplan für Norilsk hatte seit längerer Zeit vorgelegen, aber bis Sommer 1953 war nur ein kleiner Teil davon verwirklicht worden. Daher herrschte starker Wohnungsmangel. In den älteren Stadtteilen, die vor dem Krieg besiedelt worden waren, standen große Barackenbezirke zur Unterbringung von Unverheirateten. Aber selbst angesichts der starken Bautätigkeit seit Kriegsende stand nicht genug anständiger Wohnraum zur Verfügung. So war es schwer für Familien, beisammen zu wohnen; und Wohnraum war so knapp, daß sich alle Symptome des Schwarzmarkts entwickelten: nichtgenehmigtes Bauen, gefälschte Bauerlaubnisse, Schlüsselgeld.

Die günstigsten Wohnungen waren die sogenannten „Staats" -Appartements, Eisenbeton-Gebäude, in denen vor allem Beamte, Aufseher und andere Angehörige der „herrschenden Klasse“ wohnten, um einen beliebten Ausdruck der Sowjet-Terminologie zu gebrauchen. Die japanischen Heimkehrer berichteten, daß 1953 das übliche Schlüsselgeld für 20 Quadratmeter Wohnraum in einem „Staats" -Appartement zwischen 5 und 6000 Rubel lag.

Der Einfallsreichtum der Menschen in einer Mangellage ist immer wieder überraschend. In Norilsk entwickelten die Gefangenen und die Stadtbewohner eine Vielzahl von Methoden, um die Bestimmungen und Kontrollen zu umgehen. Pa Baumaterial von der Regierung scharf kontrolliert wurde, stahlen sie es aus den Fabriken und anderen Unternehmungen, die einen amtlichen Anspruch darauf hatten. Mit Hilfe von Freunden wurde völlig einwandfreies Baumaterial für „Ausschuß“ erklärt. In Lastwagen der Werke wurde es dann, häufig ganz offen, zur nichtgenehmigten Baustelle gefahren. Die Baustelle lag gewöhnlich im Schutz eines bereits bestehenden Gebäudes, wie etwa den Unverheirateten-Baracken in der „Altstadt", die alteingesessene Rechte auf Gas, Elektrizität, Dampf usw. hatten. Die illegalen Hütten wurden dem legalen Gebäudekomplex angefügt, und die Bewohner konnten so nicht nur an gewissen Diensten wie z. B. Strom teilhaben, sondern erwarben sich auch Schutz gegen die Behörden.

Es gab 1953 sechs Kinotheater in Norilsk, jedes mit etwa 2— 300 Sitzplätzen, deren Eintrittspreise bei 3 Rubel pro Platz lagen. Der Andrang war immer sehr groß. Einmal wurde ein amerikanischer Tarzan-Film gezeigt, der so populär wurde, daß die Kinder ein Spiel erfanden, in dem sie Tarzans Urwaldschrei nachahmten; und „Tschita" — der Name von Tarzans Lieblingsaffen — wurde für Hunde und Haustiere in Norilsk ungemein populär. Die japanischen Gefangenen berichteten von einer Aufführung des Tarzan-Filmes auch aus Chabarowsk, wo Tarzan offenbar eine ähnliche Volkstümlichkeit erwarb wie in Norilsk.

Von den sechs Schulen in Norilsk hatten fünf alle Klassen von der t.

bis zur 11. und eine von der 1. bis zur 7. Für fortgeschrittene Schüler und Erwachsene gab es mehrere technische Schulen. Das kleine Museum der Stadt zeigt geologische und industrielle Objekte, die Knochen eines in der Nähe ausgegrabenen Mammuts, außerdem hat es eine Leihbibliothek. Einer der japanischen Heimkehrer berichtete, daß er auf der Suche nach einem Buch das Museum kurz nach Berias Verhaftung besucht habe. Es zeigte sich, daß die Verwaltung der Bibliothek jeden einzelnen Band genauestens nach der Erwähnung von Beria durchsucht und jede Stelle entweder ausgeschnitten oder mit Tusche übermalt hatte.

Selbst in Norilsk wird der Sport von der Regierung sehr gefördert, und 1953 war die Rede vom Bau eines Stadions. Sportler unter den Gefangenen haben gewisse Vorteile, und sie werden sehr ermutigt, sich sportlich zu betätigen.

Da es so wenig Frauen in Norilsk gibt, ist ein normales Familienleben die Ausnahme. Darüber hinaus aber berichten die japanischen Gefangenen, daß die wenigsten Ehen bürgerlich geschlossen waren und die meisten Paare in wilder Ehe zusammenlebten. Die Japaner mit ihrer strengeren Auffassung fielen von einem Staunen ins andere über die außerordentlich lockere Moral. Einer von ihnen meinte: „Ich möchte nicht sagen, daß es überhaupt keine Jungfrauen in Norilsk gibt, aber sie sind sicher ungeheuer selten."

Nach den Berichten der Japaner gab es keine berufsmäßige Prostitution, aber nach ihrer Erfahrung war es nicht schwer, eine Frau für eine kleine Erkenntlichkeit, meistens eine Flasche Schnaps, zu finden. „Wenn Du eine Frau haben willst,“ so berichtete ein japanischer Heimkehrer, „dann brauchst du nur in der Stadt in ein Restaurant zu gehen und eine auszusuchen. Es gibt keinerlei Schwierigkeiten, und meist ist nicht einmal Geld notwendig. Eine Flasche Schnaps tut’s auf alle Fälle.“

In manchen Gegenden bestanden zwischen Männer-und Frauen-Lagern enge Beziehungen. Der Zwischenfall, der den Streik auslöste — Anschießen eines Gefangenen durch die Wache — entwikkelte sich daraus, daß ein Gefangener durch den Stacheldraht-Zaun griff, um einen Brief aufzulesen, der um einen Stein gewickelt, von einer Frau aus der benachbarten Ziegelei herübergeworfen worden war.

Alle japanischen Heimkehrer aus Norilsk sind sich darüber einig, daß die Kriminalität in der Stadt sehr hoch war. „Es war so schlimm“, berichtete einer, „daß man nachts nicht auf den Straßen gehen konnte. Man mußte stets einen kräftigen Knüppel bei sich tragen; sonst konnte man nicht wagen, die Tür des eigenen Hauses ungestört aufzuschließen.“ Ganz besonders schlimm wurde es nach der Amnestie vom 27. März 1953, weil es die Kriminellen, nicht die Politischen waren, die damals entlassen wurden. Lind sie erhöhten die ohnehin schon zahlreiche Verbrecherkolonie der Stadt ganz beträchtlich.

Im Jahre 1953 gab es etwa 150 Personen-und 850 Lastwagen verschiedenster, u. a. auch deutscher und amerikanischer Herkunft in Norilsk. Viele Werke und Geschäfte hatten ihre eigenen Omnibusse und Lastwagen, und etwas außerhalb der Stadt gelegene Fabriken und Gruben holten ihre Arbeiter in den eigenen Fahrzeugen ab, da das städtische Transportsystem nicht ausreichend war.

Wie andere Städte der Sowjetunion hatte Norilsk sowohl Staatliche Läden als auch blühende Basars. Das Problem war sonst meist, daß es viel zu kaufen gab, aber niemand das Geld dazu hatte. In Norilsk allerdings war es umgekehrt. Die Löhne waren relativ hoch, weil der besondere „arktische Zuschlag" bezahlt wurde; aber die Geschäfte hatten meist keine ausreichenden Vorräte.

In den ersten Jahren nach dem Krieg waren die meisten Konserven amerikanischen Ursprungs und „Made in USA" stand groß auf ihnen zu lesen. Aber vom Februar 1952 an kamen zuerst in kleineren, dann in größeren Mengen chinesische Nahrungsmittel und Waren in die Läden. Darunter waren Schweinefleisch, Zuckerwerk, Orangen, Äpfel und Erdnüsse. Nach Stalins Tod nahm die Menge und die Qualität der Gebrauchsgüter ein wenig zu. Bis dahin hatte es zum Beispiel nur ganz wenige Muster für Frauenkleider gegeben und sie mußten gleicherweise für Kinder wie für alte Frauen benutzt werden. Nach Stalins Tod jedoch kamen zahlreiche neue Muster und zum ersten Male auch Glühbirnen auf den Markt. Die Bäckereiwaren-Fabrik von Norilsk erzeugte Anfang 1954 zum ersten Male Süßigkeiten und Gebäck verschiedener Art in großen Mengen.

Was den japanischen Gefangenen ganz besonders imponierte, das war die Fähigkeit der Russen zur Vertilgung schweren Alkohols. „Vielleicht“, so meinte einer von ihnen, „kann man in einem Platz wie Norilsk kaum ohne ihn auskommen.“ Im Februar 1952 waren die Geschäfte von Norilsk tatsächlich völlig ohne Schnaps, und es bestand so etwas wie eine bedenkliche Krise. Da der Hafen von Dudinka im Winter durch Eis gesperrt ist, war es unmöglich, ausreichende Mengen rechtzeitig heranzubringen. Doch die Beunruhigung war so groß, daß die Behörden tatsächlich kleinere Mengen Trinkalkohol per Flugzeug herein-brachten, um die schlimmste Knappheit zu beseitigen. Die erste Ladung zur See kam im Juni an. Als sie in den Staats-Läden zum Verkauf kam, standen die Menschen Schlange, und es kam an einigen Stellen zu schweren Zusammenstössen.

Der Streik In den Monaten nach Stalins Tod herrschte große Unruhe in den Lagern. Die Gefangenen empfanden das Ereignis als einen Wendepunkt in ihrem Schicksal und waren überzeugt, daß es nun besser werden müsse. Zeichen der Lockerung mehrten sich in den von Moskau ausgehenden Maßnahmen. Die neue Malenkow-Beria-Politik schien erregende Perspektiven zu eröffnen. Aber die erste Amnestie, die von Stalins Nachfolgern am 27. März verkündet wurde, erwies sich als bittere Enttäuschung für die politischen Gefangenen: sie galt nur für gewöhnliche Verbrecher. Dieser Umstand in Verbindung mit den üblichen Ärgernissen und Mißständen des Lagerlebens, die im Laufe der Zeit immer unerträglicher geworden waren, schuf eine äußerst gespannte Atmosphäre.

Der Bericht, der hier vom Ausbruch und Verlauf des Streiks in Norilsk gegeben wird, beruht auf den Erzählungen und Aussagen von heimgekehrten japanischen Gefangenen, die in den Lagern Nr. 4 und Nr. 3 in Norilsk, und Kairkan Nr. 5 gewesen waren, als der Streik begann. Jeder Zeuge war in der Lage des Frosches im Brunnen: er hatte eine verhältnismäßig genaue Vorstellung von dem, was in seinem Brunnen vorfiel, wenn es darin auch reichlich finster war; aber er konnte nur raten und vermuten, was im nächsten Brunnen geschah. Zudem standen nur sehr wenige der japanischen Gefangenen den Streikführern nahe genug, um ein zusammenhängendes Bild, selbst in ihrem eigenen Lager zu bekommen. Die sowjetrussischen Behörden verschoben in diesem Zeitabschnitt die Gefangenen unaufhörlich von einem Lager ins andere, so daß es vermutlich nur ganz wenige Menschen einschließlich der Behörden selbst gibt, die ein vollständiges Bild von Ausbruch, Verlauf und Unterdrückung des großen Streiks von Norilsk haben. Da ein großer Teil der Tatsachen den Gefangenen bewußt vorenthalten wurde, konnten sie nachträglich nur Schätzungen und Spekulationen über Einzelheiten und Gesamtverlauf machen. So gaben sich die Behörden zum Beispiel allergrößte Mühe, die Zahl der Toten und Verwundeten zu verheimlichen, und durch schnellste Verschickung der — vermutlichen — Streik-führer in Einzelhaft oder andere Lager konnten sie verhindern, daß sich die Gefangenen zusammentaten und ihre Kenntnisse und Erfahrungen verglichen.

Spez Lager Nr. 5, in dem der Streik begann, liegt im nördlichen Teil von Norilsk, genau östlich von der in Entwicklung begriffenen Neustadt, dem Golstroy. Zwei andere Lager für Politische, das Frauenlager Nr. 6 und Lager Nr. 4 liegen in der Nähe. Nr. 5 ist etwa dreihundert Meter lang und einhundert Meter breit. Sein Südost-Ende wird durch einen Halbkreis von 50 m Radius abgeschlossen.

Zur Zeit als der Streik ausbrach, waren mehrere tausend Insassen im Lager, darunter mehrere hundert nichtsowjetischer Ausländer wie Japaner, Ungarn, Koreaner, Chinesen, Deutsche, Tschechen und Italiener. Wie in den meisten anderen Lagern dieser Gegend war die größte Gruppe die der Ukrainer. Aber Nr. 5 hatte noch etwas anderes, nämlich mehrere Dutzend Ukrainer, die 1952 in den Aufstand eines Zwangs-arbeitslagers in Karaganda verwickelt gewesen und später nach Norilsk geschickt worden waren. Sie schienen einen wichtigen Kristallisationsund dann Brennpunkt des Streiks zu bilden und gaben ihm Führung und Kühnheit.

So wurden schon bald nach ihrer Ankunft eines nachts vier Gefangene umgebracht, von denen man wußte, daß sie Spione der Lagerleitung waren. Die Täter sind nie herausgefunden worden. Noch bedeutsamer ist die Tatsache, daß sie mit einer Hacke getötet wurden, was andeutet, daß in irgend einer Weise auch die Wachen beteiligt gewesen sein müssen. Denn jeder Gefangene wurde bei der Rückkehr ins Lager aufs genaueste durchsucht, und Werkzeug mußte bestimmungsgemäß der Wache ausgehändigt werden. Es war daher wohl sehr gute Organisation und Zusammenarbeit notwendig, um so etwas Sperriges wie eine große Hacke unauffällig ins Lager zu bringen.

Dieser Zwischenfall hatte übrigens bemerkenswerte Folgen. Er schwächte die Kontrolle der Verwaltung über das Lager und seine inneren Angelegenheiten. Er jagte den Anhängern der Verwaltung und den geheimen Agenten großen Schrecken ein. Und er zeigte den Gefangenen eindrucksvoll, welche Entschlossenheit die Ukrainer an den Tag legten und welchen Erfolg sie damit hatten. Das machte die Gefangenen natürlich geneigter, ihre Führung anzuerkennen.

Zur Zeit des Streiks war Lager 5 hauptsächlich mit dem Bau eines sechsstöckigen Gebäudekomplexes in der Nähe des Lagers beschäftigt. An dieser Arbeit waren auch Lager 4 und das Frauenlager Nr. 6 beteiligt. Lager Nr. 10 benutzte dasselbe Backstein-Depot wie Nr. 5. Die Arbeiter von Nr. 5 waren in zwei Schichten, eine Tag-und eine Nacht-schicht, eingeteilt.

Lager 5 ist von einem doppelten Stacheldrahtzaun umgeben; der äußere ist etwa 4 m, der innere 1, 7 m hoch. Der südwestliche Zaunabschnitt grenzt an die Ziegelei. Wachen patroullierten den Raum zwischen dem inneren und dem äußeren Stacheldraht, der Sapretnaja Sona oder verbotenen Zone.

Da sie am selben Bau zusammenarbeiteten und alle Ukrainer waren, gab es zahlreiche Kontakte zwischen den Männern von Lager 5 und den Frauen von Lager 6. Sie hielten regelmäßige Verbindung miteinander durch Botschaften aufrecht, die sie mit Schnüren an Steine banden und über den Stacheldrahtzaun warfen. Das war natürlich verboten, aber die Wachen waren nicht allzuscharf. Damit man nicht einen Einzelnen als Übeltäter herausfischen konnte, warfen meist ganze Gruppen von Gefangenen gleichzeitig ihre Botschaften. Und wenn die Wache einen der Briefe aufnahm, dann konnte sie unmöglich einen einzelnen Gefangenen dafür belasten.

Der erste Streik in Lager 5 Am 7. Mai mittags warfen mehrere Gefangene Botschaften mit Steinen beschwert einigen Frauen zu, die in der Ziegelei arbeiteten. Gelegentlich lagen die Steine mit den Antworten der Frauen etwas zu kurz und fielen in die Sapretnaja Sona. Die Männer versuchten, mit ausgestreckten Armen oder Stöcken zwischen den Stacheldrähten hindurchzugreifen und die Steine heranzuziehen; in dem Durcheinander, das so entstand, gab einer der Posten den Befehl, vom Zaun zurückzutreten. Einige der Gefangenen kümmerten sich nicht um den Befehl und angelten seelenruhig weiter nach den Steinen mit den Botschaften. Das nahm einer der Wachmänner, der neu im Lager war, zum Anlaß, um zwischen den beiden Stacheldrahtzäunen auf die Gefangenen zuzugehen. Im allgemeinen waren diese Nadsor unbewaffnet; aber bei dieser Gelegenheit trug der Mann eine Pistole. Als er sich dem Zentrum der Unruhe näherte, schob eben ein Gefangener seinen Stock durch den Zaun, um einen Stein heranzuholen. Der Nadsor zog seine Pistole, feuerte und verwundete den Gefangenen am Arm.

AIs die Gefangenen zusammenliefen und sich dicht um den Verwundeten stellten, schoß die Wache mehrmals in die Luft. Aber die wütenden Gefangenen waren nicht so leicht auseinanderzutreiben, und die Wache schoß noch einmal, diesmal auf den Boden. Dabei wurde ein anderer Häftling leicht am Finger verwundet. Jetzt erst gingen die Gefangenen zögernd auseinander.

Aber eine seltsame und draufgängerische Stimmung war durch die Schießerei unter den Gefangenen ausgelöst worden. Nach den Bestimmungen durfte die Wache nur auf Leute schießen, die sich zwischen dem inneren und dem äußeren Stacheldrahtzaun befanden; aber es war ihr nicht erlaubt, innerhalb der Zäune im Lager selbst oder in das Lager zu schießen. Die Gefangenen argumentierten, daß die Wache kein Recht hatte, zu schießen, da der Verwundete sich noch innerhalb des Lagers befand. Die Wache erklärte, sie habe ein Recht gehabt zu schießen, da sich die Hand des Verwundeten außerhalb des Lagers befunden habe.

Die Verwundeten an der Spitze, zog eine Gruppe von Gefangenen zum Büro des Lager-Direktors und verlangte, daß der Posten vor Gericht gestellt werde. Ein japanischer Augenzeuge berichtet, daß die Unterhaltung etwa folgendermaßen abgelaufen ist:

Direktor: Der Posten schoß nicht in das Lager. Ihr seid hier im Unrecht. Gefangene: Wir sind nicht im Unrecht. Sie können doch selbst sehen, daß er verwundet ist.

Direktor: Bringt ihn ins Hospital, dort wird man sich seiner annehmen. Gefangene: Wir sind zwar Gefangene, aber auch wir haben gewisse Rechte.

Direktor: Ihr Burschen seid nur etwas aufgeregt. Wir werden morgen weitersprechen, wenn ihr wieder ruhiger geworden seid. Das ist alles für heute.

Die Gefangenen waren verärgert und mit dem Verlauf des Gesprächs unzufrieden, aber sie gingen auseinander.

Am folgenden Tag, dem 8. Mai, marschierten die Gefangenen wie gewöhnlich zum Schichtwechsel auf den Bau. Aber die Arbeitszuteilungen der Brigadeführer, die ja selbst Gefangene waren, waren nicht klar, so daß die Tagschicht sich träge herumtrieb und nicht viel Arbeit geleistet wurde. Die Gefangenen begannen langsam zu empfinden, daß eine starkeunsichtbareHanddieZügel ergriffen hatte und daß die Brigadeführer vielleicht sogar nach einer Weisung handelten, nach der „kurz getreten“ werden solle.

Das gleiche geschah dann auch wieder am 9. Mai. Lind an jenem Abend trat die zum Schichtwechsel kommende Nachtschicht in den Sitzstreik und ging am nächsten Morgen nicht ins Lager zurück. Die neue Tagschicht konnte daher die Arbeit nicht aufnehmen.

Der Sitzstreik auf dem Bau hatte eine sofortige Wirkung auf die Tagschicht von Spez Lager Nr. 4. Sie kehrte ins Lager zurück und erklärte, daß sie in den Sympathiestreik mit der Nachtschicht von Lager Nr. 5 treten werde.

Im Lager 5 verbreitete sich mit Windeseile das Gerücht, daß sich der Streik auf Lager Nr. 10 und das Frauen-Lager Nr. 6 ausgebreitet habe. Die Atmosphäre war elektrisch. Die Verbindung der Worte „Streik“ und „Sowjetunion“ war völlig neu und erregend. Und unter vielen der politischen Gefangenen, die einen großen Teil ihres Lebens mit revolutionären Kämpfen verbracht hatten, wühlte das Wort Streik tiefe und hochempfindliche Bezirke der Erinnerung und des Bewußtseins auf. Es gab in den Lagern eine große Zahl ehemaliger Kommunisten, Sozialisten, Gewerkschaftler, Bauern-und Studentenführer, und der Gedanke an einen Streik erschreckte sie und befeuerte zugleich ihre Leidenschaften.

Die Nachtschicht hatte eine schwarze Flagge aus Matratzenfutter auf dem Gebäude gehißt, in dem sie streikte. Auch in Lager Nr. 4 flatterten plötzlich überall schwarze Flaggen.

Die Lagerverwaltung schien unsicher und wußte nicht recht, was geschehen sollte; aber schließlich wurden Nahrungsmittel in Lager 5 gebracht und das Essen wie sonst ausgegeben. In Lager 4 wurde kein Essen verteilt; es ist jedoch nicht klar, ob die Verwaltung sich weigerte, das streikende Lager zu ernähren oder ob die Streikführerbeschlossen hatten, kein Essen anzunehmen. Auf jeden Fall blieben die Gefangenen von Lager 4 drei Tage lang ohne Nahrung.

Schließlich kehrte am Morgen des 12. Mai nach dreitägigem Sitzstreik die Nr. 5-Nachtschicht in das Lager zurück. Einer der Nadsors versuchte daraufhin, die Tagschicht schleunigst zum Arbeitsplatz zu bringen; aber die Gefangenen weigerten sich, und ganz offenbar hatte ein neues Gefühl der Entschlossenheit sie ergriffen. Daraufhin verkündete etwa gegen 9 Uhr vormittags der Kommandant des Lagers über die Lautsprecher, daß „Sabotage“ — unter die auch Arbeitsverweigerung fiel — mit einer Verlängerung der Strafe um drei Jahre bestraft würde. „Geht sofort an die Arbeit!" warnten scheppernd die Lautsprecher. Aber die Gefangenen reagierten nicht. Eine Gruppe von ihnen näherte sich dem Kommandanten vor dem Büro und verlangte, daß „jemand aus Moskau“ gesandt werde, um die Klagen der Gefangenen anzuhören. „Sie haben keine Autorität“, riefen sie, „schickt Malenkow!“ Ob aus instinktiver Vorsicht oder kluger Überlegung, die Gefangenen riefen ihre Forderungen stets im Sprechchor, so daß niemand als Führer oder Sprecher erkannt werden konnte.

Die Drohung einer Verlängerung der Strafe um drei Jahre erschreckte die Gefangenen mit 25jährigen Strafen nicht; aber sie hatten doch eine gewisse Wirkung auf die „Acht-und Zehnjährigen", die sich dem Ende ihrer Haft näherten und nun eine Verlängerung fürchteten. Einige der Japaner, die kurz vor der Entlassung standen, überlegten sich bereits, wie sie aus dem Lager kommen konnten, um nicht allzusehr in den Streik und seine Folgen verwickelt zu werden.

Am 13. Mai kam ein hoher Beamter des Norilsk-Kombinats, den die Gefangenen für den höchsten Chef des Kombinats hielten, um sich der Sache anzunehmen. Es gelang ihm jedoch nicht, den Streik zu schlichten, und am gleichen Abend kam per Flugzeug ein General aus Krasnoyarsk, in dem die Gefangenen Generalmajor Panikoff, den Chef des Jenissei-Stroj mit Sitz in Krasnojarsk zu erkennen glaubten. Vor dem Postraum wurde ein Schreibtisch aufgestellt, und der Adjutant des Generals, der selbst schwieg, sprach in seinem Namen zu den Gefangenen. Die Gefangenen machten jedoch einen solchen Lärm, daß es ganz unmöglich war, die Diskussion durchzuführen. „Es ist sinnlos, mit Ihnen zu verhandeln. Sie haben keinerlei Autorität. Wir wollen mit jemanden aus Moskau sprechen!“

Die einzige Antwort, die die Gefangenen schließlich auf ihre Sprechchöre bekamen, war die: „Kein höherer Beamter wird kommen. Wenn Ihr den Streik nicht sofort einstellt, wird Euch allen die Strafe um drei Jahre verlängert."

Das gleiche geschah in Lager Nr. 4. Und doch kam am nächsten Tag aus Moskau ein hoher Offizier des MWD im Rang eines General-majors angeflogen, der unter den Gefangenen als direkter Assistent Berias beschrieben wurde und Verhandlungen führen sollte.

Er forderte die Gefangenen auf, ihre „Vertreter“ sollten eine Bittschrift mit einer Liste der Beschwerden einreichen. Das brachte die Gefangenen in eine schwierige Lage. Denn wenn auch niemand genau wußte, wer eigentlich die Führer waren, so wollte zugleich auch niemand irgend einen vermutlichen Führer den zu erwartenden Repressalien aussetzen.

Schließlich trat ein junger Ukrainer vor, der sich durch die dichte Menge einen Weg bahnte, und bot sich selbst als Vertreter an. Berias Assistent jedoch, der neu aus Moskau angekommene Generalmajor, akzeptierte das Angebot nicht und weigerte sich, zu verhandeln, wenn nicht „die Vertreter“ der Gefangenen sich meldeten. Eine schnelle Besprechung unter den Gefangenen hatte dann das Ergebnis, daß sieben oder acht Personen als „Erklärer“, nicht jedoch als „Vertreter“ oder „Führer“ bezeichnet wurden und vortraten. Berias Assistent nahm diese Gruppe als Unterhändler an.

Der MWD-Mann machte übrigens durch seine Offenheit und Freundlichkeit einen höchst günstigen Eindruck auf die Gefangenen. Er war nach den Worten eines japanischen Gefangenen „ein Mann von mittlerer Größe, etwa 45 Jahre alt, Brillenträger, sehr angenehm im Benehmen und freundlich im Ausdruck.“ Übrigens war in der Gruppe von „Erklärern“ selbst ein früherer Parteigenosse aus Moskau und schien sogar ein Bekannter des Berija-Mannes zu sein.

Eine Liste von Beschwerden war von den Streikführern vorbereitet worden und wurde nun überreicht. Sie war in einer Geheimsitzung der Führer formuliert worden, und die gewöhnlichen Gefangenen hatten weder an der Abfassung teilgenommen noch eine Gelegenheit gehabt, ihrer Zustimmung oder Ablehnung Ausdruck zu geben. Als sie jedoch von den Forderungen erfuhren, waren sie nicht nur sehr zufrieden, sonder auch stolz. Folgende Forderungen wurden gestellt:

1. Anwendung der Amnestie audt auf politische Gefangene.

2. Bessere Nahrungswittelrationen.

3. Achtstündiger Arbeitstag. (Zu jener Zeit war der Arbeitstag zehnstündig und erreichte 12 Stunden bei Einschlujl des An-und Ab-marsches zum Arbeitsplatz.)

4. Bessere kulturelle Einrichtungen vor allem für die Gefangenen mit 15 oder 25jährigen Strafen. („Die Bereicherung unseres Wissens ist für den Aufbau der Sowjetunion wichtig", so argumentierten sie.)

5. Überführung aus Norilsk in ein weniger hartes Klima; oder aber vernüftigere Arbeitsbedingungen in Norilsk selbst.

6. Beseitigung der Unterschiede in den Arbeitsbedingungen auf den verschiedenen Arbeitsplätzen.

7. Bedingungsloses Aufhören der Diskriminierung gegen nationale Minderheiten.

8. Versetzung des Lager-Kommandanten.

9. Einführung eines genauen und streng durchgeführten Buchführungssystems für das Kombinat. (Die Beschwerde beruhte darauf, daß die „Lager-Beamten nur Zwisdienhändler für die Ausbeutung unserer Arbeitskraft sind.“)

10. Beseitigung der Erkennungsnummern an der Kleidung.

11. Erhöhung des Geldbetrages, der nach Hause überwiesen werden konnte.

12. Kein Versdtließen der Baradten bei Nadtt.

13. Keine Repressalien.

Der MWD-Mann schien außerordentlich verbindlich und entgegenkommend. Am 15. Mai wurde am schwarzen Brett vor der Speisehalle eine Mitteilung folgenden Inhalts angeschlagen: „Die Beschwerden und Forderungen werden geprüft und Maßnahmen werden sofort getroffen. Inzwischen geht wieder an die Arbeit." Daraufhin wurde die Parole ausgegeben, daß der Streik abzubrechen und das Ergebnis der Untersuchung abzuwarten sei.

Im Lager Nr. 4 hatte eine ähnliche Konferenz stattgefunden. Der MWD-Mann machte auf die Gefangenen den Eindruck, daß er es ernst meine und daß man ihm trauen könne. So wurde denn der Streik abgebrochen. Der zweite Streik im Lager Nr. 5 Aber schon nach ein paar Tagen hatten die Gefangenen das Gefühl, daß die Behörden kein sauberes Spiel mit ihnen trieben. Tag um Tag verging, aber die Verwaltung nahm zu den Forderungen, die dem Assistenten Berias vorgetragen worden waren, keine klare Stellung. Dazu erregte eine Reihe von Maßnahmen den Verdacht der Gefangenen.

Am 19. Mai wurden ein paar hundert ausländische Gefangene, einschließlich der meisten Japaner, in Baracken im halbkreisförmigen Süd-ost-Ende des Lagers überführt. Es wurde ihnen gesagt, daß ausländische Gefangene auf Grund der Amnestie nach Stalins Tod bald nach Hause geschickt würden, und daß die Zusammenziehung in den Südost-Baracken nur eine Vorbereitung für die Heimschickung sei. Die ausländischen Gefangenen nahmen jedoch diese Erklärung nur mit großem Mißtrauen auf.

Am darauffolgenden Tag, dem 20. Mai, gab es große Veränderungen. Etwa die Hälfte der Gefangenen wurde aus Lager 5 herausgenommen, einige von ihnen in Lager 4 gebracht, andere in ein neues Lager, das noch im Bau war und keine Nummer hatte; es lag rund 2 km südlich von Lager 5. Unter den Gefangenen herrschte das Gefühl, daß dies nur ein Trick war, um die Streikführer zu isolieren, oder die aktiven von den schwachen Gefangenen zu trennen, oder die Zahl der Gefangenen in Lager 5 zu reduzieren oder schließlich, um sie in kleinere Grupppen aufzulösen, die leichter zu beaufsichtigen und zu handhaben waren. Wie auch immer, die Gefangenen sahen die Maßnahme als ein böses Vorzeichen an. Sie sah aus wie eine Verletzung der Forderung, daß keine Repressalien ergriffen werden durften, und wie das Vorspiel zu drastischen Schritten.

In der Gruppe, die aus Lager 5 herausgenommen wurde, waren keine Japaner, so daß wir über ihr Schicksal nicht zuverlässig unterrichtet sind. Aus ihrer Unterkunft in den neuen Baracken jedoch hörten die japanischen Gefangenen, daß beim Abmarsch der ausziehenden Gruppe Maschinengewehrschüsse gefeuert wurden. Auch von den Gefangenen in Lager 4 wurde das Maschinengewehrfeuer gehört. Es war nicht zu erkennen, was der Anlaß zu der Schiesserei war, aber sowohl in Lager 5 als auch in Lager 4 verbreitete sich bald das Gerücht, daß ein paar Dutzend Männer verwundet worden seien. Es war allgemeine Überzeugung, daß die kämpferischen und unnachgiebigen ukrainischen Führer zu Isolierung, Bestrafung und vielleicht Schlimmerem ausgesondert werden sollten. Das MG-Feuer schien auf die Möglichkeit hinzudeuten, daß sie an Ort und Stelle erschossen wurden. In anderen Lagern, die in den Streik getreten waren, wurden ähnliche Gefangenen-Verschiebungen vorgenommen. Am nächsten Tag hatten sich Wut und Ärger der in Lager 5 gebliebenen Gefangenen zu solcher Intensität gesteigert, daß ein neuer Streik ausbrach. Auch in Lager 4 begann der Streik von neuem, und es ist schwer zu sagen, ob das eine Folge guter Nachrichtenverbindung und Organisation oder die Reaktion auf eine ähnliche Stimmung und ähnliche Verhältnisse wie in Lager 5 war.

Kurz nach Mitternacht — das heißt also am frühen Morgen des 22. Mai — fuhr eine Motorfeuerspritze in das Lager und parkte unmittelbar neben dem Hauptwasserhahn der Lagerbäckerei. Im gleichen Augenblick begann einer der Nadsors die Türen der Baracke B 2 zu verriegeln. Einige Gefangene jedoch, die noch nicht eingeschlafen waren, hörten das Geräusch und weckten ihre Kameraden auf. Da man vermutete, daß beabsichtigt war, die Baracken voneinander zu isolieren, um so vollkommene Kontrolle über das Lager zu erhalten, wurden die Gefangenen sehr erregt und zerbrachen die Fenster. Dann gingen sie zu den anderen Baracken, zerschlugen die Schlösser und riefen die Gefangenen heraus. Eine Gruppe der aufgeregt durcheinanderlaufenden Häftlinge griff die Motorspritze an. Der Fahrer bekam es mit der Angst zu tun, gab Fersengeld und raste dem Lagertor zu. Dabei verletzte er einen Gefangenen. Die Erregung unter den Lagerinsassen war zum Siedepunkt gestiegen, und sie übernahmen nun das ganze Lager. Die Wachen wurden nicht hereingelassen, und auf Anordnungen der Verwaltung wurde nicht reagiert. Befehle wurden von Mann zu Mann weitergegeben; so wurde das Lagerleben und seine neuen Aktivitäten orgnisiert; niemand ging der Frage nach, woher die Befehle eigentlich kamen.

Die Erregung dauerte den ganzen 22. Mai über an; die Gefangenen hatten das Lager fest in der Hand und übten die Polizeigewalt selbst aus. Den ganzen Tag lang brüllten Lautsprecher in das Lager: „Hohe Beamte aus Moskau sind unterwegs. Wenn der Streik fortdauert, wird er mit Gewalt unterdrückt werden.“

Am Abend des 22. Mai marschierte eine Kompanie Rotarmisten durch das Haupttor ins Lager. Eine Gruppe von Gefangenen, die sich in der Nähe des Kommandantenbüros aufhielten, gingen den Rotarmisten bis zum Ostrand des Warenlagers entgegen und begannen eine Diskussion. Die Argumente wurden hitzig, und der Kompanieführer schwankte zwischen Nachgiebigkeit und Drohung hin und her.

Eine zweite Gruppe von Gefangenen hatte sich hinter die Rotarmisten geschoben und behielt sie von hinten im Auge, was entweder auf gute militärische Schulung oder sorgfältige Organisation schließen ließ. Die Unterhaltung verlief etwa so:

Offizier: „Wir werden Eure Forderungen prüfen. Was wollt Ihr sonst nodt? Morgen geht Ihr Bursdten besser wieder an die Arbeit.“

Gefangene: „Wir glauben Dir nicht!“

Offizier: „Was soll das heißen? Ihr glaubt der Roten Armee nicht?

Ist Euch denn nicht klar, daß Eure Strafen erhöht werden können schon wegen dieser Bemerkung?“

Gefangene (wütend): „Hau ab! Du hast überhaupt hier nichts zu sagen, und wir wollen Dich hier nicht sehen!“

Offizier: „Ich warne Eudt, wenn Ihr näherkommt, wird geschossen.“

Dabei schoß der Offizier seine Pistole in den Himmel ab. Das war wie ein Signal für die Wachmannschaften, das Feuer zu eröffnen. Die Ge-fangenen warfen sich auf den Boden, und der Offizier wich zurück. Als die Gefangenen plötzlich merkten, daß das Schießen nur eine Drohung gewesen war, griffen sie Backsteine und Stöcke auf, gingen die Rotarmisten an und drängten sie bis zur Vorratsbaracke zurück. In diesem Augenblick begann von anderer Seite Unterstützungsfeuer, und zwar in der Höhe des zweiten Stockwerks. Die Gefangenen wichen bis vor den Trockenraum, und der Offizier zog sich unter Deckung bis zum Lagertor zurück.

Noch immer erregt, blieben die Gefangenen in einer dichten Gruppe vor dem Trockenraum stehen; die Lautsprecher forderten sie immer wieder auf auseinanderzugehen. Als das nicht geschah, wurde das Feuer zum dritten Male ausgenommen, diesmal aber mit flacherer Schußbahn; die Gefangenen liefen schnell auseinander, als ihnen die Schüsse über die Köpfe pfiffen.

Am nächsten Tag, dem 23. Mai, plärrten die Lautsprecher den ganzen Tag monoton die gleiche Aufforderung: „Geht zurück an die Arbeit! Wenn Ihr nicht gehorcht, werden drastische Maßnahmen ergriffen.“ Aber als der Abend kam, hatten die Gefangenen der Aufforderung noch immer nicht Folge geleistet. Daraufhin begannen die Lagerbchörden Vorbereitungen zu treffen, um die Kontrolle des Lagers mit Gewalt zu übernehmen.

Soldaten nahmen rund um das Lager Aufstellung. Vor dem Hintereingang des Lagers als Schußlinie wurde starke Feuerkraft konzentriert. Jeder Verkehr zwischen dem rechteckigen und dem halbkreisförmigen Teil des Lagers wurde unterbunden. Der Hintereingang wurde blockiert. Vor dem Holzzaun wurden Rotarmisten aufgestellt. Und dann wurde die Mehrzahl der ausländischen Gefangenen auf dem Hügel konzentriert. Einige Ausländer jedoch und darunter auch Japaner blieben im Lager zurück. Mehrere von ihnen waren an verschiedenen Punkten des Lagers Augenzeugen der Ereignisse. Ein Japaner zum Beispiel befand sich gerade in der Abteilung für Geisteskranke des Lagerhospitals, wohin er einige Patienten zum Baden begleitete. Während der Vorfälle waren mindestens fünf Japaner im Lager zugegen.

Nachdem so von Seiten der Lagerleitung alle Vorbereitungen getroffen waren, begannen Verhandlungen zwischen den Behörden und den Gefangenen. Als die Gefangenen es ablehnten, sich zu unterwerfen, marschierte je eine Kompanie Rotarmisten durch das vordere und das hintere Tor in einer halbkreisförmigen Formation ein. Die Gefangenen wurden auf der Straße zwischen dem Ostende der Vorratsbaracke und der Bäckerei zusammengedrängt. Dann begann die Abteilung, die außerhalb des Stacheldrahtes in Richtung auf das Hospital zu aufgestellt war, über die Köpfe der Gefangenen hinweg zu schießen. Das schien jedoch wirkungslos zu bleiben. Als die Abteilung, die durch das Hintertor hereingekommen war, in den Gebäuden auf Deckung gegangen war, eröffnete die Abteilung, die durch das Vordertor gekommen war, das Feuer direkt auf die dichtgedrängte Gruppe der Gefangenen. Es gab zahlreiche Tote und Verwundete. Einige der Geisteskranken, die von der Schießerei alarmielt worden waren, liefen geradewegs in die Feuer-linie, so daß eine Anzahl von ihnen getroffen wurde.

Das scharfe Schützenfeuer überraschte und betäubte die Gefangenen vollkommen, und sie ergaben sich ohne Widerstand; sie wurden in der Nähe des Lagergefängnisses zusammengetrieben.

Die japanischen Gefangenen konnten von der Zahl der Toten und Verwundeten kein klares Bild gewinnen. Einer sagte aus, er habe Leichen auf der ganzen Strecke vom Trockenraum bis zum Gefängnis liegen sehen. Später kamen sieben oder acht Lastwagen angefahren, um die Toten und Verwundeten abzutransportieien.

In den anderen Lagern Während diese Ereignisse im Lager 5 abrollten, waren, wie man sich erinnert, auch in den anderen Lagern mit politischen Gefangenen des Norilsk-Gebietes Streiks ausgebrochen. Die meisten von ihnen waren Sympathiestreiks. Außer im Lager 4, dessen Streik einen ähnlichen Verlauf nahm wie der im Lager Nr. 5, wurden die Streiks aus den Lagern 2, 3, 6, 10 und 25 im eigentlichen Norilsk-Gebiet, in zwei Kohlengrubenlagern Kairkan Nr. 5 und einem Lager bei Dudinka gemeldet.

Der Konflikt hatte die Formen eines Generalstreiks in den politischen Lagern von Norilsk angenommen.

Unsere Kenntnis der Einzelheiten der Streiks ist notwendigerweise in vielen Fällen höchst unvollständig, weil unser Bericht auf dem beruht, was Japaner gesehen oder gehört haben, die bereits wieder nach Japan zurückgekehrt sind. In manchen Fällen ist die Quelle ihrer Information bei mitgefangenen Japanern zu suchen, die noch nicht zurückgekehrt sind. In anderen Fällen erfuhren sie Einzelheiten aus Gesprächen mit nichtjapanischen Mitgefangenen, Lastwagenfahrem oder anderen Augenzeugen. Im Lager Kairkan Nr. 5, einem Kohlengrubenlager für Politische, scheinen es ebenfalls die Ukrainer gewesen zu sein, die die Streik-führung übernahmen. Es wird von dort berichtet, daß als Vorspiel für den Streik eine Anzahl der von der Lagerverwaltung eingeschmuggelten Spione und Spitzel umgebracht wurden.

Im Lager 10, so wird erzählt, hatten sich Gefangene leichte MGs und Maschinenpistolen zu verschaffen gewußt, den Lagerkommandanten eingesperrt und Lösegeld für ihn verlangt. Wie die Lastwagenfahrer berichteten, von denen die Japaner die Geschichte erfuhren, kam es zu einer richtigen Schlacht zwischen den bewaffneten Gefangenen und den Truppen. Die Gefangenen wurden schließlich von den Rotarmisten umzingelt und in der Nähe des Haupttors vom Lager 10 völlig zusammengeschossen. Einige Japaner, die aus Nr. 5 in das neue Lager ohne Nummer übergeführt wurden, hörten Schießen und Geschrei im Frauenlager Nr. 6, als sie daran vorbeimarschierten.

Lager 3 Obwohl der Streik im Lager 5 durch den Angriff in der Nacht des 2 3. Mai beendet wurde, fuhren andere Lager zu streiken fort. Das wichtigste von diesen Lagern war Nr. 3, wo der Streik bis zum 11. August dauerte.

Die Nachricht von der blutigen Unterdrückung des Streiks im Lager 5 war wie ein Lauffeuer durch den ganzen Komplex von Zwangsarbeitslagern und die Stadt Norilsk selbst gelaufen, und die Zahl der Toten und Verwundeten wuchs mit jeder Widerholung der Nachricht. Schließlich glaubten viele, daß Tausende getötet worden seien. Und einige Gefangene sind sogar überzeugt, daß diese Übertreibungen absichtlich begünstigt wurden, um Angst und Schrecken in den Lagern zu verbreiten. Als die Gefangenen des Lagers 3 die Kontrolle übernahmen, errichteten sie Barrikaden an den Lagertoren. Genau wie im Lager 5 kam es zu ergebnislosen Konferenzen mit hohen örtlichen Offizieren, einschließlich des Generals Panikoff aus dem Jenissei-Stroj und gefolgt von einer Konferenz mit dem freundlichen Assistenten Berijas.

Der Streik zog sich ergebnislos hin; den Streikenden wurden keine Zugeständnisse gemacht, aber zugleich wurden auch keine scharfen Unterdrückungsmaßnahmen ergriffen. Die Nahrungsmittelzufuhr wurde nicht abgeschnitten und Gewaltmaßnahmen unterblieben. Die Gefangenen verwalteten das Lager selbständig und hißten jeden Tag die schwarze Flagge. Leute aus der Stadt, die früher selbst Gefangene gewesen waren, und Gefangene aus anderen Lagern, die vorbeimarschierten, demonstrierten ihre Solidarität mit den Streikenden, indem sie Nahrungsmittel und Zigaretten in das Lager 3 warfen. Die Gefangenen stellten Flugblätter her, auf denen ihr Standpunkt formuliert war, und ließen sie mit Drachen höchsteigen und auf die Landschaft flattern. In Norilsk selbst begannen mysteriös gedruckte Flugblätter zu erscheinen, auf denen die Beschwerden und Forderungen der streikenden Gefangenen mitgeteilt waren.

Am 11. August jedoch schienen die Behörden endlich überzeugt zu sein, daß keine Mittel helfen würden, und sie beschlossen, zu scharfem Eingreifen überzugehen. Ungefähr um 11 Uhr abends an diesem 11. August umgaben Truppen das ganze Lager 3 und eröffneten unverzüglich das Feuer auf die Gebäudegruppen des Lagers. Das Schießen hatte die anderen Lager und die Stadt in ungeheure Erregung versetzt. „Ich blieb die ganze Nacht über wach", so berichtete ein japanischer Heimkehrer, der in der Stadt Norilsk lebte, „und lauschte auf den Lärm der Gewehre mit Schrecken und — da ich wußte, worum es ging — auch mit so etwas wie Faszination." Die Schießerei dauerte sporadisch bis etwa 6 Uhr morgens am 12. August an.

Japanische Schätzungen geben die Zahl der Toten und Verwundeten mit 1500 aus einer Gesamtlagerbevölkerung von 2500 Menschen an. Drei Tage dauerte der Verkehr von Ambulanzen für Erste Hilfe und Hospital-Transport.

Damit kamen die Unruhen von Norilsk, die am 7. Mai begonnen hatten, zum Abschluß. Alles in allem hatten sie 96 Tage gedauert, vor dem Aufstand von Workuta und Ostberlin begonnen und noch angedauert, als diese schon zu Ende waren.

Nachspiel Die Forderungen der Streikenden werden erfüllt Der Norilsk-Streik wurde zwar schließlich mit Gewalt unterdrückt, aber die Beschwerden und Forderungen der Gefangenen fanden doch wenigstens teilweise Gehör. Wie im Falle von Workuta und dem ostdeutschen Aufstand muß es den Historikern überlassen bleiben, einmal das verwirrende Gewebe von Ursache und Wirkung zu entflechten. Norilsk war eine Wirkung des gleichen allgemeinen Prozesses, der die Streiks in anderen und weit entlegenen Teilen des Sowjetimperiums erzeugt hat. Die Gefangenen fühlten instinktiv die augenblickliche Schwäche des Regimes und zögerten nicht, die Gelegenheit zu nutzen. Gleichzeitig wurden diese Streiks selbst nun wieder Ursache für eine weitere Auflockerung.

Im Oktober 195 3 wurde Norilsk zu einer Stadtgemeinde gemacht. Die Einwanderung wurde von Einschränkungen befreit, die Kontakte mehrten sich; die Stadt erhielt eine Anzahl Sitze im Obersten Sowjet. Obwohl wie früher die freigelassenen Gefangenen ihren Wohnsitz im Norilsk-Gebiet nehmen mußten, also nicht freizügig waren/so brachte doch der Einstrom an freien Arbeitern unter Sonderverträgen Menschen aus allen Teilen der Sowjetunion nach Norilsk.

Viele der Streikforderungen wurden in der einen oder anderen Weise erfüllt, wenn auch nicht in der gleichen Weise und zur gleichen Zeit in allen Lagern und offiziell natürlich nie als Zugeständnisse der Regierung infolge der Streiks. Eine teilweise Amnestie für politische Gefangene schien schon einige Zeit in der Luft zu liegen. Sogar während des Streiks wurden Vorbereitungen zur Entlassung ausländischer Gefangener begonnen, und es zeigte sich später, daß entgegen dem Verdacht der Gefangenen diese Vorbereitungen keine Täuschungsmanöver waren. Berichte aus Norilsk, die aus der Zeit nach den Streiks stammen, lassen erkennen, daß tatsächlich die Lebens-und Arbeitsbedingungen wesentlich verbessert wurden. Die Bestimmungen werden genauer befolgt, und ein großer Teil der „Zwischen-Ausbeutung" durch die Lageryerwaltung und kleinere Beamte — Bestechung, Korruption, Begünstigung, Fälschung von Leistungsbüchern — wurde ausgeschaltet. Der Kommandant des Lagers 5 wurde in Übereinstimmung mit den Forderungen der Streikenden versetzt, allerdings, wie sich dann 'herausstellte, in das neue Lager (ohne Nummer), in dem die ausländischen Gefangenen auf der Höhe der Unruhen zusammengezogen worden waren. Die Summen, die vom Lohn des einzelnen als „Verwaltungskosten" abgezogen wurden, wurden herabgesetzt. Viele der besonders aufreizenden und peinlichen Seiten des Gefangenenlebens wie zum Beispiel die aufgemalten und eingenähten Nummern und das Schließen und Verriegeln der Baracken-türen bei Nacht verschwanden, jedenfalls in den meisten Lagern. Die kleinen Privilegien, für den Gefangenen so ungeheuer wichtig, mehrten sich. Kontakte mit Heimat und Familie wurden häufiger zugelassen. Größere Geldsummen konnten überwiesen oder in Empfang genommen werden. Die Löhne wurden erhöht. Während vor dem Streik der Durchschnittsmonatslohn 80— 90 Rubel gewesen war, stieg er nach dem Streik auf etwa 200 Rubel.

Dies alles zeigt, daß der Streik für das Leben der Gefangenen gewisse Verbesserungen zur Folge hatte. Und unsere Geschichte des Aufstandes von Norilsk muß hier enden — also im Herbst 1953 — weil unsere japanischen Berichterstatter alle in andere Lager oder in Hafenstädte Ostasiens zur Heimschiffung nach Japan übergeführt worden sind.

Um zu erfahren, was seither in den Zwangsarbeitslagern geschehen ist, müssen wir unser Augenmerk auf ein anderes Lagergebiet im Krasnoyarsk-Territorium richten, dem von Taischet. Dort finden wir sowohl weitere japanische Gefangene als auch Spuren der Ukrainer, die führend am Norilsk-Streik teilgenommen haben.

Taischet als Beispiel Die Kohlengrubenlager von Taischet im Territorium von Krasnoyarsk hatten nichts von den Unruhen in Norilsk oder sonst irgendwo in den sowjetischen Gebieten gehört. Im März 1949 waren die politischen Gefangenen von den Kriminellen getrennt und in eigene Spez-Lager untergebracht worden. Aber genau wie zur Zeit des Norilsk-Streiks waren in Taischet russische und ausländische Politische in den gleichen Lagern zusammen.

Genau wie in allen Zwangsarbeitslagern Sibiriens, so brachte auch in Taischet der Tod Stalins Unruhe und Erregung unter die Gefangenen. Die ersten Gerüchte, die umliefen, wollten wissen, daß politische Gefangene nun besser behandelt würden. Dann hieß es, Artikel 58 werde abgeschafft und alle Gefangenen, die auf Grund dieses Artikels verurteilt worden waren, würden freigelassen. Diese Gerüchte nahmen eine gewisse Glaubwürdigkeit an, da eben zu jener Zeit kleine Veränderungen zum Besseren spürbar wurden.

Obwohl es in anderen Lagern schon Jahre zuvor geschehen war, ging Taischet erst im Frühjahr 1953 zum Lohnsystem über. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Gefangenen ihre Bezahlung ausschließlich in Nahrungsmitteln erhalten — in Form von Brot und Kascha. Erfüllung der Norm brachte 100 Gramm Brot und 400 Gramm Kascha ein; 120 Prozent der Norm doppelt soviel von beidem. Aber nach den neuen Bestimmungen wurden die Löhne in bar-bezahlt. Bis zur vollen Wirksamkeit des neuen Systems wurde eine dreimonatliche Übergangszeit eingeführt, in der Gefangene auf Antrag bis zu 100 Rubel pro Monat abheben konten; weitere 100 Rubel konnten auf Sonderantrag entnommen werden. Nach dieser Übergangszeit sollten alle Löhne in bar bezahlt werden.

Genau wie in Norilsk brachte das plötzliche Erscheinen größerer Mengen von Bargeld eine Diebstahlepidemie hervor, und viele der Gefangenen begannen, ihre Ersparnisse bei der Lagerverwaltung gegen Quittung zu deponieren. Bis Ende 1954 hatten einige Gefangene sich Konten bis zu 1000 Rubel angelegt.

Etwa zur gleichen Zeit wurden auch die Essensrationen verbessert und ein recht gut mit Waren ausgestatteter Laden eröffnet. Alle diese Verbesserungen trugen ganz natürlich dazu bei, den Arbeitseifer der Gefangenen zu erhöhen. Denn jetzt konnten sie mit ihrem Geld etwas kaufen, und wenn sie mehr kaufen wollten, konnten sie sich das notwendige Geld verdienen, indem sie über die Norm arbeiteten. Ende 195 3 wurde den Gefangenen gestattet, Uhren und Radios zu besitzen, die im Lagerladen zum Verkauf angeboten wurden.

Im Jahre 1954 gingen die Veränderungen, die nach Stalins Tod eingesetzt hatten, im gleichen Tempo weiter. Im März des Jahres 1954 wurden die Stacheldrahtzäune innerhalb der Lager beseitigt. Gleichzeitig verschwanden die entwürdigenden Nummern auf den Kleidern. Im April wurde das sogenannte Satschott-System eingeführt: Durch Übererfüllung der Norm konnten sich die Gefangenen Herabsetzung ihrer Gefängniszeit verdienen.

Das geschah nach folgender Tabelle:

Zahl der Tage, um die die Gefängniszeit vermindert wurde Für einen Tag Übererfüllung der Norm um : Art der Arbeit: bis 5°/0 6— 10 ”/o 11— 20 °/o 21 ’/o u. Mehr Im Lager oder leichte Arbeit 0, 5 1, 0 1, 0 1, 0 Arbeit an Maschinen 0, 5 1, 0 1, 5 1, 5 Schwerarbeit Holzfällen etc. 0, 5 1, 0 1, 5 2, 0 Am 26. April schließlich wurde angekündigt, daß Gefangene unter 18 Jahren, die ein Drittel ihrer Zeit ohne Zwischenfall abgesessen hatten, freigelassen würden. All diese Veränderungen, die ohne Unterlaß nach Stalins Tod eintraten, schienen die Erwartungen der Gefangenen zu erfüllen.

Doch am 5. Mai 1954 geschah etwas Neues. Fünfzehn Ukrainer, die im Streik von Norilsk eine führende Rolle gespielt hatten, trafen in Taischet im Lager Nr. 13 ein. Ihre Verschickung nach Taischet war ein Teil der Politik, auf Grund deren die Streikführer über ganz Rußland zerstreut wurden. Nun hörten die Gefangenen von Taischet zum ersten Male von dem Streik, und zum ersten Male begegneten sie Mitgefangenen, die sich nicht fürchteten, gegen die Lagerverwaltung aufzustehen. Die Lagerbehörden schienen vor den Neuankömmlingen etwas bange zu sein, denn während der ersten Monate wurde ihnen keine schwere Arbeit zugewiesen.

Die Ukrainer begeisterten und erregten die Gefangenen mit ihren Geschichten über Norilsk. Die Moral ihrer Geschichte, die sie immer und immer wieder erzählten, war die, daß die Gefangenen durchaus in der Lage waren, zu handeln und für ihre Rechte einzutreten.

„Etwas ganz Neues geschieht in der Sowjetunion!“ so pflegten sie zu predigen. „Berijas Tage sind vorbei.“ Sie schrien die Wachen an:

„W i r sind nun diejenigen, die die Gesetze der Sowjetunion respektieren. Versucht nicht, uns zu täuschen.“

Es dauerte nicht lange, und sie hatten Lager 13 in der Hand. Bis dahin hatte ein Krimineller das Lager tyrannisiert, aber die Ukrainer organisierten die Gefangenen gegen ihn, und eines Nachts wurde er so verprügelt, daß er ins Hospital eingeliefert werden mußte. Er wurde in Taischet Nr. 13 nicht mehr gesehen.

Nachts pflegten die Ukrainer zusammenzusitzen und ukrainische Lieder zu singen. Ihr Vorbild von Selbstachtung und Kühnheit — und fast noch mehr, daß sie sie ungestraft zeigen konnten — erregte die Gefangenen des Lagers 13 aufs tiefste.

In den nächsten Monaten machten sich in Taischet, Lager 13, mancherlei Veränderungen bemerkbar. Sie waren von verschiedener Art. Da waren zunächst die tatsächlichen Veränderungen der Bestimmungen über Lebens-und Arbeitsbedingungen und das Abdienen der Strafen. Dann waren da Veränderungen in der Art und Weise, wie diese Bestimmungen in die Praxis umgesetzt wurden. Es hatte schon immer Regeln und Bestimmungen über den Schutz der Gefangenen gegeben, mindestens dem Buchstaben nach; aber die Lagerbeamten hatten sich wenig daran gehalten. Eine Bestimmung zum Beispiel setzte pro Woche einen Ruhetag fest; aber wenn die Lagerbehörde eine Arbeitsquote erfüllen wollte, dann wurde diese Bestimmung mißachtet und die Gefangenen mußten auch am Ruhetag arbeiten. Nach der Ankunft der Ukrainer im Lager 13 wurde diese Bestimmung genau beachtet.

Eine andere wichtige Veränderung war die Verringerung der „Zwischenausbeutung", die bei den Gefangenen besonders verhaßt war: Bestechung des Brigadechefs, um Kredit für Normerfüllung zu erhalten, Überforderung für „Verwaltungskosten" und so weiter.

Darüber hinaus scheint es aber auch so etwas wie eine wirkliche Veränderung in der Haltung der Lagerbehörden gegeben zu haben; sie zeigten weit mehr Respekt für die Rechte der Gefangenen und darüber hinaus auch für ihre Person. Die Gefangenen hatten größeres Selbstvertrauen und mehr Stolz, sie waren weniger geneigt, sich der offiziellen Arroganz zu beugen. Außerdem war es für die Gefangenen wichtig zu wissen, daß es möglich war, ohne Furcht vor Repressalien den Lagerbehörden gegenüberzutreten in der Überzeugung, daß sie sogar gezwungen werden konnten, einige ihrer berechtigten Forderungen zu akzeptieren.

Das zeigt auch ein Blick auf weitere Einzelheiten der Veränderungen, die nach der Ankunft der Ukrainer in Taischet Nr. 13 eintraten.

Lebensbedingungen Juni 1954. Den japanischen Gefangenen wurde zum ersten Male erlaubt, mit ihren Familien in Japan zu korrespondieren. Andere ausländische Gefangene hatten dieses Privileg schon früher erhalten.

Juli 1954. Die Herabsetzung von Essensrationen zur Bestrafung wurde abgeschafft. Bis dahin war die Ration für Gefangene, die weniger als 60 Prozent der Norm erfüllt hatten, auf 300 Gramm Brot pro Tag herabgesetzt worden.

Mitsommer 1954. Das Benehmen und Verhalten der Wachen machte einen deutlichen Wandel durch. Zuvor hatten sie beim Antreten der Arbeitsbrigaden zum Abmarsch eine Reihe von Warnungen mit scharfer Stimme gebrüllt: „Auf dem Marsch wird nicht gesprochen! Auf der Straßenmitte marschieren! Nicht auf die Seite schauen! Was herunterfällt, bleibt liegen! Nichts aufheben! In der Marschkolonne wird nicht gegessen! Ich schieße ohne Warnung!“ Eine Anzahl Flüche wurde als Dreingabe dazugelegt.

Jetzt aber wurde diese Litanei, ohne Fluchbegleitung, auf einen einzigen Satz reduziert: „Bei Fluchtversuch wird geschossen! Abteilung marsch!“

August 1954. Familienbesuche wurden erlaubt. Das betraf natürlich nicht die ausländischen Gefangenen, aber für die russischen Gefangenen, deren Familien sich die Reise leisten konnten, war es ein großer Vorteil. Neben der Torstube des Lagers 13 wurde ein Gästehaus gebaut, in dem die Gefangenen ihre Besucher sehen konnten.

Der erste, dem diese neue Bestimmung zugute kam, war ein Brigadeführer, mit guter Arbeitsführung, der von seiner Frau besucht wurde. Er erhielt drei Tage arbeitsfreien Urlaub und auf Antrag die Erlaubnis, fünf Tage lang seine Frau auch nach der Arbeitszeit zu sehen. So konnte er tatsächlich acht Tage mit seiner Frau verbringen. Und da zu jenem Zeitpunkt noch keine anderen Besucher gekommen waren, hatte der Brigadeführer mit seiner Frau das Gästehaus ganz für sich allein.

September 19 54. Es wurde angekündigt, daß Gefangene mit guter Arbeitsführung den Antrag stellen konnten, außerhalb des Lagers zu leben, eine Form, die sich von der „zeitweiligen Freilassung auf Wohl-verhalten“ durchaus unterscheidet. Auf Grund der neuen Bestimmung konnte der Lagerleiter nach eigenem Gutdünken einem Gefangenen mit guter Führung gestatten, außerhalb des Lagers zu leben, obwohl er auch weiterhin regelmäßig mit seiner Brigade die Lagerarbeit ausführte. Der Direktor mußte allerdings die Verantwortung für das Wohlverhalten des Gefangenen übernehmen. Und das ist wohl der Grund, warum bis zum Januar 195 5, zu welchem Zeitpunkt unser japanischer Berichterstatter Taischet verließ, kein einziger Fall des Wohnens außerhalb des Lagers bekannt wurde, obwohl die Bestimmung schon eine ganze Zeit lang in Kraft war.

Oktober 1954. Die Gefangenen durften sich die Haare wachsen lassen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren ihnen die Haare regelmäßig ganz kurz geschnitten worden.

Arbeitsbedingungen Juni 1954. Der Arbeitstag wurde von zehn auf acht Stunden herabgesetzt. Darüber hinaus wurde die Arbeitszeit genauer kontrolliert.

Zuvor war die Arbeitszeit-Buchführung sehr nachlässig gehandhabt worden, so daß der Zehnstundentag sich häufig auf 12 und 13 Stunden ausdehnte, ohne daß die Gefangenen den entsprechenden Mehrlohn oder Normkredit erhielt. Nach den neuen Bestimmungen war der Arbeitstag einschließlich des An-und Abmarsches nicht länger als zehn Stunden.

Juni 1954. Akkordlöhne wurden um 20 Prozent erhöht.

Juni 1954. Die Bewachung der Gefangenen wurde gelockert und das Bes-Konvoi-System, das System der unbewachten Konvois ausgedehnt. Bis dahin mußte eine Gruppe von Gefangenen, selbst wenn diese „Gruppe“ nur aus einem Mann bestand, stets von zwei bewaffneten Posten bewacht werden. Das war auch vom Standpunkt der Behörden aus eine verschwenderische Methode. Wenn ein einziger Gefangener bewacht von einer Arbeitsstätte weggeholt werden mußte, dann mußten zwei zusätzliche Wachen zur Begleitung gerufen werden, oder die ganze Arbeitsgruppe mußte in Bewegung gesetzt und bei Beendigung der Arbeit des einzelnen wieder zur eigentlichen Arbeitsstätte gebracht werden. Auf Grund der neuen Bestimmungen hatten die Beamten größere Vollmacht und konnten Gefangenen gestatten, ohne bewaffnete Wachen an einen Arbeitsplatz zu gehen.

Juni 1954. Das System der Bewachung von Arbeitsplätzen wurde vereinfacht. Bis Juni 19 54 war jeder Arbeitsplatz von einem doppelten Stacheldrahtzaun umgeben. Der innere Zaun war mit roten Flaggen gekennzeichnet. Die Wachen schossen ohne Warnung auf jedermann, der über die roten Flaggen hinaus in die sapretnaja sona, die verbotene Zone ging. Nadi dem neuen System wurde die Bewegungszone erweitert. Wenn ein Gefangener jetzt über die rote Flagge hinausging, rief ihm die Wache eine Warnung zu. Zehn Meter von der roten Flagge entfernt waren Warnungstafeln angebracht, auf denen geschrieben stand: „Halt! Oder es wird geschossen!“ Erst wenn der Gefangene diese schwarzen Tafeln überschritt, begann der Posten zu schießen.

Winter 1954. Die Arbeit wurde eingestellt, wenn die Temperatur unter 42 Grad Kälte sank. Diese Bestimmung hatte zwar schon immer bestanden, wurde aber nicht eingehalten, und so kam es vor, daß Gefangene bei minus 50 Grad arbeiteten. Von nun an wurde das anders. Bei 42 Grad arbeitete niemand mehr.

Strafbestimmungen Juni 1954. Gefangene, die arbeitsunfähig, lahm, verkrüppelt waren, wurde ohne Rücksicht auf die Höhe der Strafe entlassen, wenn ein amtsärztliches Zeugnis ihre Arbeitsunfähigkeit bestätigte.

Juni 1954. Jeder Gefangene mit guter Führung und hervorragender Arbeitsleistung konnte einen Antrag auf Freilassung stellen, sobald zwei Drittel seiner Strafzeit abgelaufen waren.

Etwa Juli 1954. Es wurde angekündigt, daß Urteile auf Grund von Artikel 58 auf Antrag überprüft werden. Gefangene, die auf Grund dieser Überprüfung des Urteils für unschuldig befunden wurden, konnten ohne Rücksicht auf die Länge ihrer verbüßten Zeit sofort entlassen werden. Bis Ende 1954 waren tatsächlich von den 1000 Gefangenen, die auf Grund des Artikels 58 verurteilt worden waren, 25 als „unschuldig“ entlassen. Sie waren alle zu 25 Jahren verurteilt worden.

August 1954. Es wurde bekanntgemacht, daß der Lagerdirektor auf Grund einer selbständigen Entscheidung sofortige Entlassung jedes Gefangenen mit ausgezeichneter Führung empfehlen könne. In diesen Fällen würde der Direktor eine Bitte um Wiederaufnahme oder Über-prüfung des Verfahrens an höhere Stellen weiterleiten. Die Prüfungsbehörde war in der Lage, das Urteil ohne Rücksicht auf die schon abgediente Zeit zu verändern. Die einzige Bedingung dabei war, daß der Direktor für die Führung des auf seine Empfehlung hin Freigelassenen verantwortlich blieb. Kein Wunder, daß bis zum Januar 1955 im Lager 13 in Taischet auf Grund dieser neuen Bestimmung keine einzige Freilassung gemeldet wurde.

November 1954. Russische und ausländische politische Gefangene werden getrennt und in verschiedenen Lagern untergebracht.

Lager 43 Als die Ausländer von den Russen getrennt wurden, brachte man die Japaner in die Lager 11 und 43. Als Erklärung für die Überführung wurde die Vereinfachung der Post-und Paketverteilung und die Vorbereitung für die Heimschickung genannt. In Nr. 11 gab es eine Anzahl Weißrüssen (politisch weiß), die als Ausländer behandelt wurden, außerdem Koreaner, Chinesen, Deutsche, Ungarn und Japaner.

Noch im Januar 1955 waren zwei Japaner im Lager 43, dessen ausländische Gefangene ähnlich zusammengesetzt waren wie die in Lager 11. Mitte Januar verlangten die Gefangenen des Lagers 43 eine Verbesserung ihrer Kleiderrationen. Die Antwort war unbefriedigend. Daher traten die Gefangenen am 10. Januar in den Streik und weigerten sich, die angeordneten Arbeiten in Angriff zu nehmen. Der Streik dauerte drei Tage und endete mit der Zusage der Behörden, die Beschwerde zu prüfen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dier hier gegebenen Zahlen basieren auf den Berichten der Japanischen Regierung und des Wohlfahrtsministeriums.

  2. Diese Schätzung beruht auf einer Zusammenfassung von Heimkehrerberichten. Aber die Japaner erklären, daß über 200 000 Gefangene nicht das geringste festzustellen sei, was wahrscheinlich bedeutet, daß sie umgekommen sind und daß ihr Tod von der Sowjetunion nicht registriert worden ist.

  3. Auf Grund eines Erlasses, datiert vom 26. luni 1946, wurden die Tschetschen und Krim-Tataren „in andere Gebiete überführt ‘ und ihre Autonomen Republiken beseitigt, weil viele von ihnen sich den deutschen Truppen gegen die Rote Armee angeschlossen hatten und die Mehrheit der Bevölkerung keine Opposition gegen die Deutschen gemacht hatte". Siehe Izvestia, luni 26., 1946, und UNO/ILO „Bericht des ad hoc Ausschusses über Zwangsarbeit“, E 2431, Genf, 1953, pp. 449, 505.

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