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Probleme der Emigration aus dem Dritten Reich | APuZ 32/1956 | bpb.de

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APuZ 32/1956 Probleme der Emigration aus dem Dritten Reich

Probleme der Emigration aus dem Dritten Reich

WALTER A. BERENDSOHN

Einleitung

Einleitung I. Schwierigkeiten der Emigration aus dem Dritten Reich II. Das geistige Leben der deutschen Emigration 1933 bis Kriegsausbruch 1939 Während des zweiten Weltkrieges Das Ende der humanistischen Front III. Produktivität der deutschen Emigration aus dem Dritten Reich Die Emigration aus dem Dritten Reich als Aufgabe der Forschung INHALT:

Motive der Auswanderung Zu allen Zeiten sind Menschen aus ihrer Heimat ausgewandert, getrieben von den verschiedensten Motiven; der eine zieht auf Abenteuer in die weite Welt hinaus, der andere versucht sein Glück in einem fernen Lande in Übersee, der dritte wird von seiner Familie in die Fremde geschickt, weiler daheim mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist, einem vierten wird der Boden zu heiß unter den Füßen aus persönlichen, sozialen oder politischen Gründen usw. Zeitweilig wächst die Auswanderung stark an, z. B. nach dem Edikt von Nantes 1681 die der Hugenotten aus religiösen, aus Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus politischen, in der zweiten aus Schweden vorwiegend aus wirtschaftlichen Gründen. An Umfang und Mannigfaltigkeit übertrifft die Emigration aus dem Dritten Reiche aber alle diese Wanderungen beträchtlich.

Sie ist ganz und gar auf Adolf Hitlers nationalsozialistische Schrekkensherrschaft zurückzuführen, die uneingeschränkte Gewalt über die Menschen erstrebte, die elementaren Menschenrechte aufhob und jeden wirklichen oder vermeintlichen Gegner wehrlos der Tortur und dem Tode auslieferte. Gibt es irgendeinen Sinn in diesem System?

Man versteht m. E. Wesen und Wirkung Adolf Hitlers nicht, wenn man nicht erkennt, daß er von einem fanatischen Glauben besessen war. Er glaubte allgemein an die Gewalt, an den Krieg als entscheidenden Faktor der Weltgeschichte und besonders an seine Sendung, Deutschland mit kriegerischen Mitteln zur Stellung einer Weltmacht vom Range des Britischen Commonwealth, der Sowjet-Union und der Vereinigten Staaten von Amerika zu „führen". Dies ist keine subjektive Deutung, keine Konstruktion, sondern ist zu lesen in seiner Schrift „Mein Kampf“

Dieses Buch wurde in der Zeit von 1925 bis 1942 in mehr als sieben Millionen Exemplaren verbreitet. In den letzten drei Kapiteln entwickelt er seine weltpolitischen Pläne. Sein Ziel ist, daß Groß-Deutschland nach hundert Jahren 250 Millionen Einwohner haben soll. Für diese Menschen will er ausreichendes und anbaufähiges Land in Europs gewinnen Da er es ohne Krieg nicht bekommen kann, bereitet er den notwendigen Krieg vor. Er hofft auf ein Bündnis mit England. Dann will er zuerst nach Westen vorstoßen und Frankreich niederwerfen, sich dann aber nach Osten wenden, um das erforderliche Land zu erobern. Wie König Friedrich II. von Preußen schreibt er ein „ewiges" politisches Testament für das deutsche Volk nieder. Wenn das gesteckte Ziel ereicht, wenn Deutschland die größte Landmacht auf dem europäisch-asiatischen Kontinent geworden ist, so ist es nicht nur das Recht, sondern die Pflicht des deutschen Volkes, jeden Versuch einer Staatsbildung, die seine Vorherrschaft bedrohen könnte, sofort gewaltsam zu zerschlagen

Man mag diese Idee Phantastik, Aberwitz, Wahnsinn nennen, man mag sie unzeitgemäß und barbarisch schelten, das ändert nichts an der Tatsache, daß sie in Adolf Hitler und in seinem Werk als zentraler Motor wirksam war. Sie ließ es ihm als selbstverständlich erscheinen, dem deutschen Generalstab Summen zur Verfügung zu stellen, die bis dahin unerhört waren und die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft weit überstiegen. Am 1. September 1939, als in der Frühe seine Heere die polnische Grenze überschritten, rühmte er sich selbst, daß er 90 Milliar-den für die Rüstung ausgegeben habe und sie nun auch anwenden wolle Lim des großen Zieles willen zerstörte er alle gewachsenen Organisationen und ersetzte sie durch Herrschaftsinstrumente, die Parlamente, die Parteien, die Gewerkschaften, die Gemeinden. An einer Stelle in „Mein Kampf“ spricht er es aus, daß der den Mut haben müsse, die Kultur fünf-zig Jahre zurückzustellen, der eine so große weltpolitische Aufgabe zu lösen unternehme

Und so organisierte der Propagandaminister Joseph Goebb 'seine Kulturkammer, um die gesamte Produktion auf allen Gebieten der Kultur in Führungsmittel der öffentlichen Meinung umzuwandela. Von dieser ideellen Voraussetzung aus ist es nur folgerichtig, daß für Adolf Hitler jeder, der seiner Herrschaft widerstrebt oder sie gefährdet, ein Volksverräter, ein Verbrecher, ein wertloser „Untermensch" ist, den zu erniedrigen, zu mißhandeln, zu vernichten nicht nur recht und billig, sondem höchstes Gebot ist. Nach der Machtübernahme hat Hitler daher auch in Deutschland wie in einem eroberten und besetzten Feindesgebiet gegen alle seine Gegner gehaust. Unter dem Sozialisten-Gesetz Bismarcks, das von 1878 bis 1890 galt, zwölf Jahre also, sind über einige hundert politisch tätige Männer rund 1000 Jahre Gefängnis verhängt worden, niemals Zuchthaus. Das Dritte Reich hat mehrere hunderttausend Volks-genossen zu einer ungeheuren Zahl von Jahren Gefängnis und (überwiegend) Zuchthaus verurteilen lassen, die 1939 von einer Million nicht mehr weit entfernt lag, d. h. zu tausendmal so viel (härterer) Strafe. Dabei sind die Konzentrationslager nicht mit eingerechnet, die, neben der Staatsjustiz, die staatlich anerkannte Parteijustiz darstellten. In ihr gab es weder Kläger noch Verteidiger noch Richter, und der Angeklagte kannte weder die Gründe seiner Verhaftung noch ihre Dauer. Auf die innenpolitische Bedeutung der Konzentrationslager zwischen 1933 und 1939 hat im Ausland zuerst Victor Gollancz hingewiesen in seiner Schrift What Buchenwald really weans (Was Buchenwald wirklich bedeutet), London, Mai 1945. Man schätzt die Zahl der Todesopfer unter den deutschen Gegnern der nationalsozialistischen Bewegung und Diktatur 1920 bis 1945. einschließlich der erschossenen deutschen Soldaten, auf etwa 200 000, eine Zahl, die eher zu niedrig als zu hoch erscheint.

Die Aktionen Jede neüe Aktion, die der Ausbreitung und Befestigung seiner Macht diente, trieb neue Gruppen in die Emigration.

Am 28. Februar 193 3 steckte Görings Leibwache das Reichsgebäude an. Man behauptete, es wäre das Fanal zu einem kommunistischen Aufstand; in der gleichen Nacht wurden zahlreiche Gegner verhaftet und in die neu geschaffenen Konzentrationslager gesteckt.

Am 1. Mai 1933 erfolgte der Vorstoß gegen die Gewerkschaften.

Am 10. Mai 1933 wurden in Berlin — statt der Schriftsteller selbst — ihre Bücher auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Das war der Beginn des Feldzuges gegen alle Bücher, die dem Regime nicht in den Kram paßten.

Am 30. Juni 1934 erfolgte die berüchtigte Aktion gegen die SA-Führer, bei der auch General Schleicher und Gregor Strasser, der den Sozialismus ernst nahm, ermordet wurden. Der Kampf gegen die Bekenntniskirche, der Feldzug gegen die katholischen Pfarrer, das Verbot der „ernsten Bibelforscher", die Unterdrückung der Freimaurerei, jeder neue Gewaltstreich forderte seine Opfer, verbreitete Furcht in neuen Kreisen und trieb Menschenscharen ins Ausland. Nie vorher hat es eine so bunt zusammengesetzte Auswanderung gegeben wie aus dem Dritten Reich, alle bekämpften Gruppen waren an ihr beteiligt. Der internationale Begriff für die Verfolgten wurde Flüchtling (englisch refugee).

Die Judenverfolgung Es gab Gründe genug, daß die Juden sich ihr in großem Umfang anschlossen, ja daß sie die Hauptmasse der Emigranten ausmachten. Schon am 1. April 193 3 veranstaltete Goebbels im ganzen Reich den ersten offiziellen Judenboykott, der nach einem einzigen Tage, wohl mit Rücksicht auf das Ausland, als verfrüht wieder abgebrochen wurde. Es gibt Zeugnisse, daß Hitler in kalter Überlegung den Antisemitismus als wirksames politisches Kampfmittel einsetzte. Zu Hermann Rauschning sagte er, daß der Jude erfunden werden müßte, wenn er nicht vorhanden wäre. Die Rassenlehre war einerseits eine Injektion, um das Selbstgefühl vieler Deutscher zu steigern andererseit war ihm klar, daß ein Volk kleinmütig werden kann, wenn es sich überall von Feinden umgeben sieht. Darum zeigte Hitler ihm einen Feind, „den internationalen Juden,“ und schreckte vor keiner Lüge und Verdrehung zurück, um ihn hinter allen nur erdenklichen Gegnern nachzuweisen. Das Aufpeitschen des Judenhasses, der fortschreitende Ausschluß der Juden aus der deutschen Volksgemeinschaft, schließlich ihre Vernichtung im gesamten Machtbereich der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft, alles war nur die schlimmste Frucht der zugrunde-liegenden machtpolitischen Idee. Schon im Herbst 1933 gab es eine ganze Reihe Judengesetze, die der jüdischen Jugend alle Bildungs-und Entwicklungsmöglichkeiten raubten. Daher wanderten die wachsten und regsten Juden, unter ihnen die Zionisten, schon in diesen ersten Jahren des Dritten Reichs aus, meist nach Palästina, so daß Hitler wider Willen zur Stärkung des jüdischen Gemeinwesens, ja zur Gründung des Staates Israel wesentlich beitrug. Die Mehrheit der Juden aber blieb in Deutschland. Sie hingen an ihrer deutschen Heimat und hofften, daß der Sturm vorübergehen werde. Erst als am 10. November 1938 die jüdischen Gotteshäuser in Brand gesteckt und die jüdischen Männer in die Konzentrationslager geholt wurden, zerbrachen die letzten Illusionen, und eine wilde Flucht der Juden aus Mitteleuropa setzte ein.

Noch immer gab es viele Alte, die lieber in der Heimat sterben wollten, als in die Fremde ziehen, aber es gab noch viel größere Scharen, die gern das Dritte Reich verlassen hätten, aber nicht auswandern konnten, weil sie keine Mittel hatten und weil kein Land sie aufnehmen wollte. So blieben allzu viel Juden übrig, die während des zweiten Weltkrieges in die Vernichtungslager und die Gasöfen geschickt werden konnten.

I. Schwierigkeiten der Emigration

Legale und illegale Emigration Mit Hilfe höherer Beamten, die in Hamburg nicht vom Nationalsozialismus infiziert waren, konnte ich am 15. Juli 1933 noch meinen Besitz, u. a. meine Bibliothek, mit nach Dänemark führen. Im allgemeinen war es anders, besondern in den folgenden Jahren. Wer auswandern wollte, mußte große Opfer bringen, seinen Grund und Boden, sein Geschäft, seinen Betrieb oder was er sonst sein eigen nannte, weit unter dem Wert verschleudern und sehr hohe Abgaben zahlen, ehe seine Ausreise genehmigt wurde, wenn er nicht gar alles im Stich lassen mußte, um bei Nacht und Nebel irgendwo über die Grenze zu fliehen. Es gab eine legale und eine illegale Emigration. Ohne die Hilfe einheimischer Gegner des Systems wären viele Emigranten nie aus dem Dritten Reich herausgekommen.

Bis 1938 ging die Auswanderung (abgesehen von Palästina) überwiegend in die Nahbarländer, nah der Tshehoslowakei, Österreich, der Shweiz und weiter nach Italien, Frankreih, Belgien und Niederlande (auh nah England), nach Dänemark, Shweden und Norwegen, nah Finnland, Polen und Sowjetrußland. Aber als die Lage der luden in Deutshland sih vershlimmerte und vor allem, als die Expansion des Dritten Reihs begann, änderte sih das Bild rash völlig. Bei jeder neuen außenpolitishen Aktion wiederholte sih in zusammengedrängter Form, was sih in Deutshland auf die Jahre 1933— 38 verteilt abgespielt hatte, und setzte einen bunt zusammengewürfelten Strom von Flühtlingen in Bewegung, unter ihnen auh Menshen, die nun zum zweiten Mal auf Wanderung gehen mußten. Nun aber schien es den meisten ganz sinnlos, nur in das nähst erreihbare Land zu fliehen und dort den nähsten Vorstoß Hitlers abzuwarten; es herrschte eine pani-sehe Angst, und die meisten wollten fort aus Europa. Schon von 1936 an wuchs die Zahl der Flüchtlinge nach Übersee, aber von 1938 an verbreiteten sich die Verfolgten und Vertriebenen über alle fünf Erdteile. In jedes aufnahmewillige Land kam ein Strom von Flüchtlingen. In Nord-, Mittel-und Südamerika, in Südafrika, in Australien, in Asien entstanden neue große und kleine Kolonien von Emigranten aus dem sich erweiternden Machtbereich Hitlers. Es begann mit Österreich und der Tschechoslowakei 1938 und 1939, am 1. September 1939 folgte der Einmarsch in Polen, am 9. April 1940 der Überfall auf Dänemark und Norwegen, im Mai/Juni 1940 der Vorstoß nach Frankreich hinein. Im Frühjahr 1941 drangen die deutschen Heere im Bunde mit Italien in den Balkan ein, im Juni 1941 begann Hitler planmäßig den großen entscheidenden Eroberungszug nach dem Osten. In allen eroberten Ländern fielen deutsche Emigranten in die Hände der Gestapo.

Aber auch die nichtdeutschen Einwohner lernten ihre Methoden kennen. Große Scharen Nichtdeutscher gerieten in Bewegung. So entstand eine europäische Emigration von größtem Ausmaß.

Nutznießer der Notlage Es waren nicht nur deutsche Nationalsozialisten, die sich an der Not der Verfolgten bereicherten, sondern dergleichen geschah auch im Aus-lande. Man verkaufte den Flüchtlingen für teures Geld falsche Pässe und Visa, die bei der Ankunft im fremden Hafen ungültig und wertlos waren. Es kam vor, daß man die Menschenware auf Schiffen verfrachtete, die nicht mehr seefähig waren, sie gegen gute Bezahlung schlecht ernährte oder gar die wehrlosen auf hoher See schlecht behandelte. Das Schiff „St. Louis''kam mit 700 Emigranten in Cuba an, die alle abgewiesen wurden. In der Fremde fanden sich geschäftstüchtige Unternehmer, die auch für qualifizierte Arbeit geringen Lohn zahlten, da am Arbeitsmarkt das Gesetz von Angebot und Nachfrage herrschte. Wo die Emigranten in einem Land lebten, das in die Hände Hitlers fiel, so daß sie bei Nacht und Nebel weiterfliehen mußten, da hat sich mancher ihrer wertvollen Habe angenommen, ohne sie je zurückzugeben.

Die Aufnahmebehörden der Gastländer Schon in friedlichen Zeiten ist die Auswanderung immer mit mancherlei Risiko verbunden und mißlingt nicht selten. Wenn aber in einer knappen Folge von Jahren so große Flüchtlingsscharen in Bewegung geraten, so wachsen die Schwierigkeiten gewaltig an. Welches Land will sich denn von einem fremden Gewaltherrscher Menschen in Massen aufbürden lassen, die er vorher ausgeraubt hat und von denen viele alt, krank, arbeitsunfähig oder hilfsbedürftige Kinder sind? Auch bei gutem Willen gibt es Grenzen der Aufnahmefähigkeit. Die Beschaffung der Einreise, die Aufenthalts-, die Arbeitserlaubnis sind die ersten brennenden Probleme der Emigration. Gestern vielleicht noch vollberechtigter Bürger im eigenen Lande, ist der Emigrant nun von der Fremden-politik des Gastlandes und dem guten Willen untergeordneter Polizeiorgane abhängig. Verschiedene Länder haben sich zu verschiedenen Zeiten sehr verschieden verhalten nach der jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Lage, keines konnte ohne gewisse Einschränkungen auskommen. Am aufnahmewilligsten zeigte sich Frankreich, sehr abweisend u. a. England bis 1937. Manche Emigranten haben viel erdulden müssen, ehe sie endlich ein dauerndes Asyl fanden. An einigen Grenzen wurden Menschen wie Pakete in den Nächten von den Grenzpolizisten zweier Staaten hin und her verschoben.

Der Wendepunkt 1938 Es hätten sehr wahrscheinlich viele Menschen mehr aus den Händen der nationalsozialistischen Henkersknechte, gerettet werden können bei größerem Entgegenkommen der Regierungen. Der Völkerbund richtete zwar 193 3 ein ständiges Büro für die Betreuung der Flüchtlinge aus dem Dritten Reich ein mit einem Hohen Kommissar an der Spitze, James G. Macdonald. Dieser human gesinnte Mann legte sein Amt Ende 193 5 nieder unter Hinweis auf die Gefahr, die den Juden und Nichtariern im Dritten Reidt drohte, um dadurch den Völkerbund zum politischen Einschreiten zu veranlassen. Aber es geschah nichts. Man erstrebte noch friedliche Verständigung mit Hitler! 1938 war der Wendepunkt. Auf Drängen der Vereinigten Staaten fand die Konferenz von Evian statt, die den Emigranten in den Gastländern Erleichterungen verschaffte, z. B.den Fremdenpaß. Auch öffneten einige Länder ihre Grenzen weitgehend, u. a. England und die Dominions, die Vereinigten Staaten, Argentinien, Brasilien. Aber für die Masse der bedrohten Juden war es zu spät.

In allen europäischen Ländern verschärfte sich die Haltung der alliierten europäischen Regierungen nach dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges. Ein großer Teil der deutschen Emigranten wurde sofort interniert. England verfrachtete viele von ihnen nach Australien und Canada.

Man befürchtete die Bildung von „fünften Kolonnen“. Erst nach Jahr und Tag begann man zu sichten und befreite die verfolgten Gegner Hitlers. Einmal ging ein Schiff, auf dem deutsche Internierte von Australien nach England zurückfuhren, mit Mann und Maus unter. Die Vichy-Regierung Petains internierte die deutsche Emigranten im unbesetzten Frankreich von neuem und lieferte manche auf Wunsch dem Dritten Reiche aus. Sogar in den neutralen Ländern wurde ein Teil der Emigranten zeitweilig interniert, in der Schweiz viele auf lange Zeit, in Schweden kleine Gruppen.

Die Aufenthaltserlaubnis war überall zeitlich begrenzt und die Verlängerung hing vom Verhalten der Emigranten ab. Im allgemeinen war ihnen politische Tätigkeit nicht erlaubt. Auch die Arbeitserlaubnis war nicht uneingeschränkt. Man hielt die fremden Eindringlinge im allgemeinen von den Berufen fern, in denen genügend einheimische Arbeitskräfte vorhanden waren. Wo Arbeitslosigkeit eintrat, wurden die Emigranten zuerst entlassen. Im übrigen ließ man die Fremden in den Berufen zu, die von den Leuten daheim am liebsten gemieden wurden, -z. B.dem der Hausangestellten. Leute mit ungewöhnlichen Fachkenntnissen und Facharbeiter waren meist willkommen, es sei denn, daß man ihre Konkurrenz allzu sehr fürchtete; dann konnten auch sie Abweisung erfahren. Schon die Haltung der Behörden konnte das Schicksal der Einwanderer auf mannigfaltige Weise bestimmen. Der außenpolitische Druck des Dritten Reichs wirkte manchmal mit. Der Akt des Dritten Reichs, alle Vertriebenen auch noch auszubürgern, machte sie zu Staatenlosen; aber das war nur die offizielle Bestätigung ihrer auf jeden Fall völlig rechtlosen Lage.

Der Erwerb der Staatsbürgerschaft war von mancherlei Bedingungen abhängig. Immer wurde der befriedigende mündliche und schriftliche Gebrauch der Landessprache gefordert. Meist konnte der Einwanderer erst nach längerem Aufenthalt sein Gesuch um das Bürgerrecht einreichen. Kleine Länder verlängerten diese Frist beträchtlich während der Hitlerzeit, Dänemark auf 15, Schweden zeitweilig auf 10 Jahre. Die Einbürgerung des Gastlandes gewährte wesentliche Erleichterung bei Reisen; denn gegen die Staatenlosen mit dem Fremdenpaß war man in manchen Ländern sehr mißtrauisch, weil man die Absicht dauernden Aufenthalts vermutete. In manchen Fällen erleichterte die erworbene Staatsbürgerschaft Anstellung oder Beschäftigung im Gastlande, auch im Staatsdienst. Doch darf man keineswegs annehmen, daß der eingebürgerte Fremde in jeder Beziehung allen Einheimischen als völlig gleichberechtigt galt, für viele blieb er immer der Ausländer.

Die zwiespältige Haltung der Aufnahmeländer In den Gastländern findet man vorwiegend zwei einander entgegengesetzte Haltungen gegenüber den Einwanderern, die humane Hilfsbereitschaft und die Ablehnung bis zum Fremdenhaß.

Es ist ein schönes, reiches Kapitel in der Geschichte der Emigration, von den Hilfeleistungen zahlreicher einzelner Menschen und vieler großer Organisationen zu erzählen. In jedem Lande bildeten sich Ausschüsse, die sich bestimmter Gruppen von Emigranten annahmen. Ausschüsse der politischen Parteien, der christlichen Kirchen, der Juden, für getaufte Juden, für Intellektuelle, für Kinder, für spezielle Berufe wie Schriftsteller, Musiker, Filmleute usw. Oft waren es Verwandte, die ihren Angehörigen halfen, oder Leute des praktischen Lebens ihren Geschäftsfreunden. Dazu kamen die großen internationalen Organisationen wie das Rote Kreuz, Rettet die Kinder, die Quäker, die jüdischen und christlichen Hilfsorganisationen u. a., die halfen, wo Hilfe nötig und möglich war. Ich will aus der Fülle nur die Aktionen Schwedens in der Zeit des Verfalls des Dritten Reichs hervorheben, weil so unerwartet noch etwa 30 000 Opfer aus den Konzentrationslagern gerettet werden konnten. Aber neben diesen Zeugnissen echter Menschlichkeit darf man das Gegenteil nicht übersehen. Über die massive Gleichgültigkeit weiter Kreise hinaus gab es auch in den aufnahmewilligen Ländern viel Gegnerschaft gegen die Fremden. Besonders in kleineren Ländern, wo die Möglichkeiten des Vorwärtskommens, die Plätze in den Hochschulen, die finanziellen Mittel begrenzt sind, ist diese Haltung zum mindesten verständlich. Man drängt sich rings um den nicht allzu großen Kuchen und sieht den neuen Esser, der etwas abhaben möchte, mit scheelen Augen an. Aber auch in großen Ländern werden Einwände erhoben. In manchen Fällen wenden sich die Gewerkschaften oder andere Berufsorganisationen entschieden gegen die Beschäftigung der Eindringlinge. Außerdem sind prinzipielle Gegner aus nationalen oder besonderen politischen Gründen vorhanden, ja, die Emigranten werden oft bespitzelt, sei es von einheimischen Gruppen oder von Beauftragten einer ausländischen Macht, z. B.des Dritten Reichs von 1933— 38. Die Sympathien gewisser Gruppen mit dem Dritten Reich spielten überall mit.

Produktive Emigration Eine völlig andere Auffassung wurde anfangs selten in der Öffentlichkeit erörtert. Volkswirtschaftlich gesehen, bedeutet ja jede Einwanderung einen Zuwachs an produktiver Arbeitskraft, wenn man sie zweckmäßig und sinnvoll einordnet, notfalls mit einigem Aufwand an Umschulung und Ausbildung z. B. in der Landessprache. Diese Assimilation geschieht ja fast überall langsam und stetig im Laufe von Jahren. Aber sie könnte, wenn die Einsicht in die Produktivität der Emigration von vornherein in den Mittelpunkt gerückt würde, systematisch gefördert werden zum Nutzen des eigenen Landes. Erst von 1939 an tritt diese positive Beurteilung in den Gastländern stärker hervor, besonders in den angelsächsischen.

Am stärksten hat sich diese Auffassung gegenüber der Emigration aus dem Dritten Reich in den Vereinigten Staaten von Amerika mit ihren reichen wirtschaftlichen Möglichkeiten geltend gemacht. Man sah in der Vertreibung so großer Scharen qualifizierter Menschen eine Chance, wertvolle Kräfte auf den verschiedensten Gebieten geistigen und praktischen Lebens für sich zu gewinnen. Roosevelt machte mehrmals darauf aufmerksam, daß die amerikanische Nation von Auswanderern aus der Alten Welt gegründet und aufgebaut sei, daß alle Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika von Emigranten abstammen, griff dadurch führend in die öffentliche Meinungsbildung ein und spornte zu Hilfsaktionen für die Flüchtlinge an. Wie sehr sich diese Losung gelohnt hat, will ich später beleuchten.

Schweden nahm während des zweiten Weltkrieges etwa 90 000 Flüchtlinge aus dem Baltikum, etwa 50 000 aus Norwegen und etwa 30 000 aus Dänemark auf. Es hatte schon vorher nach dem Vorbilde von Roosevelts New Deal seine auf schwedische Arbeitslosen-Fürsorge Intellektuelle ausgedehnt. Sie wurden in Archiven, Bibliotheken, Museen u. a. öffentlichen Instituten mit Arbeiten beschäftigt, die vom regulären Personal nicht bewältigt werden konnten. Man nannte diese sehr bescheiden bezahlten Posten Archivarbeiter-Stellungen. 1943 wurden solche Stellungen auch für ausländische Intellektuelle bewilligt, eine humanitäre Ausnahme, mit der Schweden, soweit ich sehe, in der Welt allein dasteht. Manche Archivarbeiter waren nicht bereit, sich für so geringen Lohn mit allen Kräften einzusetzen, andere betrachteten die Stellung als eine Chance zu zeigen, was sie konnten. 1947 gab es etwa 500 ausländische Archivarbeiter. Etwa 50 von ihnen wurden dann zu Staatsstipendiaten befördert, auf Grund ihrer qualifizierten, wissenschaftlichen Leistungen, mit etwäs erhöhtem Gehalt und unbeschränkter Möglichkeit zu Nebeneinkommen, die bei den Archiv-arbeitern begrenzt war. Die Gehälter für Archivarbeiter und Staats-stipendiaten wurden niedrig gehalten, weil sie aus Arbeitslosenfonds stammten. Manche Staatsstipendiaten wurden allmählich in besser bezahlte feste Stellungen überführt. Es erforderte aber immmer harte Arbeit und besondere qualifizierte Leistungen, um sich als Geistesarbeiter im fremden Lande durchzusetzen.

Auch bei den Emigranten selbst gibt es recht verschiedene Auffassungen über die eigene Auswanderung. Wer aus politischen Gründen die Heimat verläßt und mit einer Wandlung der politischen Verhältnisse rechnet, wird sie als Exil, als zeitweilige Verbannung auffasssen. Während des zweiten Weltkrieges siedelte die norwegische Regierung ganz nach England über und stärkte die Alliierten u. a. durch ihre große Handelsflotte, de Gaulle war anerkannter Führer der französischen Emigranten, wenn auch sein Verhalten stark umstritten war. Warum ist nie ein Versuch gemacht worden eine deutsche Exilregierung zu bilden, obwohl doch ein Mann wie Reichskanzler Brüning emigriert war? Dies ist ein Problem, wert einer historischen Untersuchung, die zur Charakteristik dieser Emigration Wesentliches beitragen kann.

Loslösung der Juden von Deutschland Für die überwiegende Mehrheit der Juden aber bedeutet die Auswanderung zugleich die endgültige politische Loslösung von Deutschland. Wenn sie nicht Zionisten sind, die in Palästina, dem Land der Väter, ihre ersehnte Heimat haben, werden sie mit allen Kräften die wirtschaftliche Assimilation in den Gastländern erstreben und die völlige An-und Einpassung ihrer Kinder mit allen Mitteln betreiben. Diese Menschen, früher einmal Deutsche mit Leib und Seele, gehen mit allen ihren Produktivkräften Deutschland und der deutschen Kultur für immer verloren. Die erste Generation hängt noch an der Muttersprache und pflegt sie und die vertraute deutsche Literatur und Kunst, sie liebt die Heimat und schließt sich sogar in der Fremde noch zu Landsmannschaften nach der engeren Herkunft zusammen. Aber die zweite Generation sieht ein wenig mitleidig und verächtlich auf die Eltern, die Sprache und Sitte des Gastlandes nicht ganz beherrschen, und haben für das sentimentale Verhältnis zur deutschen Heimat nicht mehr viel Verständnis. Wie Untersuchungen solcher Emigrationen festgestellt haben, schwankt ein Teil dieser Generation noch zwischen Sprache, Sitte und Wertsystem der Heimat und denen des Gastlandes. Aber es ist in den meisten Fällen sicher, daß die dritte Generation völlig assimiliert ist. Das gilt besonders von der jüdischen Emigration aus dem Dritten Reich, weil hier die Loslösung von Deutschland durch Hitlers Vernichtungsfeldzug gegen die Juden so leidenschaftlich verschärft wurde. Seit 1947 wächst unter ihnen das Interesse für die jüdische Staatsbildung in Palästina.

Emigranten-Psychologie Selbstverständlich spielt bei der Assimilation an die Umwelt die Emigranten-Psychologie eine große Rolle. Eridt Stern „Die Emigration als psydtologisdtes Problem“, Paris 1937, hat eine ganze Anzahl typischer Haltungen der Emigranten beschrieben, aber er hält sich meist bei denen auf, denen die Anpassung viel Schwierigkeiten bereitet. Es gibt zweifellos Flüchtlinge, welche die fremde Sprache niemals befriedigend lernen, an Heimweh leiden, alles kritisieren, was in der Fremde anders ist als zu Hause, die verbittern und frühzeitig altern. Wenn man das Elend unter fremdem so Himmel schildert, wählt man Beispiele aus ihrer Menge. Ebenso häufig aber ist der entgegengesetzte Fall, daß es durchaus keine Ungunst ist, wenn jemand aus den gewohnten Geleisen herausgerissen und in eine völlig neue Umgebung verpflanzt wird. Das ist Anreiz und Ansporn für ihn, vervielfältigt seine Energie und Erfindungsgabe und erweckt ganz neue, ungeahnte Fähigkeiten in ihm, die in der Heimat latent und unwirksam geblieben wären. Es ist erstaunlich, wie viele Emigranten auf allen Gebieten kulturellen und wirtschaft-liehen Lebens sich den Boden erst selbst schaffen, auf dem sie stehen, wie viele im fremden Land etwas ganz Neues aufbauen und in schöpferischem Sinne produktiv wirken. Von ihnen spricht Erich Stern überhaupt nicht. Zwischen diesen beiden extremen Typen stehen eine Unzahl anderer, die weder versagen noch große Erfolge, haben, aber sich doch erhalten und sich durchsetzen auf ihre bescheidene Art.

Verständnis für das fremde Land Beim Studium eines fremden Landes durchläuft man im allgemeinen drei Stadien. Im ersten fällt einem auf, was anders ist als im eigenen. Im zweiten dringt man durch diese fremden Erscheinungen hindurch und erkennt, daß sich hinter ihnen das menschlich-allzumerischliche Leben abspielt wie überall. Im dritten erst begreift man, daß das fremde Volk auf Grund einer jahrhundertelangen Geschichte zu einem andersartigen Organismus herangewachsen ist, dessen einzelne Äußerungen innerlich Zusammenhängen und der bis in die Sprache hinein allem sein eigenes Gepräge gibt. Erst im dritten Stadium beginnt man das Land wirklich zu verstehen und kommt an Stelle der generalisierenden Urteile zu differenzierteren. Wieviele der Flüchtlinge dies letze Stadium erreichen, ist schwer zu sagen. Wirtschaftlicher Erfolg allein beweist nicht viel.

Die Ostjuden (als historische Parallele)

Die Erhaltung des jüdischen Volkes durch fast zwei Jahrtausende nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahre 70 unserer Zeitrechnung ist ganz und gar der jüdischen Orthodoxie zu danken. Erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ist eine neue nationale politische Bewegung dazugekommen. 1896 gab Theodor Herzl seine Schrift „Der Judenstaat‘‘ heraus und 1897 fand in Basel der erste zionistische Kongreß statt. Den stärksten Widerhall fand Herzl nicht unter den Juden des Abendlandes, die in ihren demokratischen Ländern Bürgerrechte genossen und so weitgehend assimiliert waren, daß sie sich als Deutsche, Franzosen, Engländer usw. fühlten, sondern bei den Ost-juden, die z. B. in Polen, Estland und Litauen zehn Prozent der Bevölkerung ausmachten und das Gefühl, ein jüdisches Volk zu sein, nie verloren hatten; auch von der Umwelt nie als Polen, Esten oder Litauer betrachtet wurden.

Ostjuden begannen seit 1882 in Palästina zu siedeln, Ostjuden begleiteten zu Tausenden Theodor Herzl 1904 zur letzten Ruhestätte, Ostjuden bildeten im Staate Israel eine führende politisch-geistige Oberschicht, die für die Aufbauarbeit im Lande der Väter die entscheidenden Losungen ausgab. Das alles ist möglich geworden, weil die Juden in Osteuropa eine selbständige eigene Entwicklung durchgemacht und viel weniger von ihrer überlieferten jüdischen Substanz durch Assimilation an die Gastvölker verloren haben. Durch immer wiederkehrende Pogrome unter der russischen Zarenherrschaft sind auch sie zur Emigration genötigt worden, im 20. Jahrhundert haben sich in allen Erdteilen große ostjüdische Kolonien gebildet, die größten in den angelsächsischen Demokratien, England und den Vereinigten Staaten von Amerika.

Woran erkennt man diese Ostjuden? An ihrer nationalen Sprache, dem Jiddisch. Im 14. und 15. Jahrhundert wanderten diese Juden aus dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation auf Grund von Pogromen aus und bildeten im Osten zwischen Adel und Bauernschaft den städtischen Mittelstand der Handwerker und Händler. Sie nahmen ihren deutschen mittelfränkischen Dialekt mit und entwickelten aus ihm durch Zusätze aus dem Hebräischen und der Sprache der Gastländer eine selbständige jiddische Sprache und in ihr eine religiöse Kultur, den Chassidismus, und eine Literatur, die mit einigen Namen in die Weltliteratur hineinragt. Im europäischen Osten mit seinen zahlreichen Volkssprachen war das Jiddische jahrhundertelang eine Art „Volapük", eine Verkehrs-sprache zwischen den Ländern. Für die Ostjuden blieb die deutsche Kultur und Literatur immer zugänglich, sie waren oft Träger deutscher Bildung. Ein Deutschland, das kraft seiner Leistungen auf friedlichem Wege nach Weltgeltung strebte, durfte immer mit der sprachlichen Grundlage dieser ostjüdischen Welt als geistigem Faktor rechnen. Die antisemitische Bewegung seit den 1870er Jahren hat diese Möglichkeit schon sehr verringert, Adolf Hitlers Schreckensherrschaft hat sie für immer völlig zerstört. Er hat die ostjüdische Volkskultur mit ihren Wurzeln ausgetilgt und in den Gasöfen verbrannt. Das ist dem ostjüdischen Volksbewußtsein unvergeßlich und unverzeihlich eingeprägt!

Treue der deutschsprechenden Juden zur deutschen Sprache und Kultur Ich führe diese geschichtlichen Tatsachen an, weil es in der durch Hitler verursachten deutsch-jüdischen Emigration aus Mitteleuropa zur Treue der Ostjuden gegenüber ihrem mittelfränkischen Dialekt eine merkwürdige Parallele gibt, die Treue, mit der die Juden in allen fünf Erdteilen die deutsche Sprache, Literatur und Kultur pflegen und bewahren. Darin wirken sie mit allen anderen deutschen Gruppen der Emigration aus dem Dritten Reich zusammen, wie verschieden ihre Einstellung zum politischen Deutschland auch sein mag.

Gruppen-und Vereinsbildung Auch wenn man von der übrigen europäischen Emigration, die während des zweiten Weltkrieges einsetzte, ganz absieht, ist die Gruppen-und Vereinsbildung in der deutschen Emigration überaus buntscheckig. Die Herkunft aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei ergibt ja schon überall eine Dreiteilung. Aber die parteipolitische Bindung fördert in jedem Fall eine weitgehende Zersplitterung der Länder-gruppen. Dazu kommen dann die schon erwähnten „Landsmannschaften“. Die Juden bilden infolge ihrer großen Zahl überall besondere Zusammenschlüsse; aber auch unter ihnen gibt es Gegensätze nach der Herkunft aus den Ländern, nach religiösen Verschiedenheiten, nach ihrem Verhältnis zur zionistischen Idee. Es finden sich immer einzelne Menschen, die allen Organisationen fernbleiben, oder sich gar grundsätzlich von ihren Leidensgenossen, den Emigranten, fernhalten und sich ihren Weg in der Fremde selbständig bahnen. Oft sind es gerade die Begabtesten, Erfolgreichsten, denen die Assimilisation am besten und raschesten gelingt. Von ihnen sieht, hört und liest man viel. Weniger ist von den Zehntausenden die Rede, denen die Anpassung an die fremde Umwelt nie recht gelingen will und die im Elend altern und immer hilfs-und unterstützungsbedürftig bleiben. Für sie gibt es zahlreiche humanitäre Organisationen und Einrichtungen. In Stockholm z. B. gab es seit 1938 eine Emigranten-Selbsthilfe, die für alle Bedürfnisse und Probleme der alternden Emigranten Rat zu schaffen suchte u. a. auch zahlreiche kulturelle Abende veranstaltete. Die vielfältige Gruppen-und Vereinsbildung verhindert aber nicht, daß alle oder doch sehr viele in gewissen Fällen zusammenwirken zu gemeinsamen Unternehmen und Veranstaltungen.

Verhältnis der älteren deutschen Kolonien zu der neuen Emigration Ehe ich das deutsche geistige Leben der Emigration darstelle, will ich ein interessantes und schwieriges Problem anrühren: wie verhalten sich die älteren deutschen Kolonien zu dieser neuen Auswandererwelle aus dem Dritten Reich? Man wäre geneigt anzunehmen, daß sie im Ausland unter dem Einfluß der freien Presse der Gastländer sich eine selbständige Meinung über das Dritte Reich hätten bilden können, da ja weder der Terror noch die Propaganda sie in gleicher Weise unter Druck hielt, und auch der zweite Weltkrieg sie nicht in gleichem Maße in Mitleidenschaft zog.

Es bedarf sehr eindringlicher Untersuchungen über die politische Meinungsbildung in diesen Kreisen, um zu verstehen, daß sie sich mehr oder weniger nationalsozialistisch beeinflussen und organisieren ließen, wenn sie sich nicht ganz abseits hielten. In den Vereinigten Staaten von Amerika, sagt ein Kenner, Gerhart H. Seger, waren etwa 5 Prozent der Deutsch-Amerikaner nationalsozialistisch, 90 Prozent uninteressiert an der deutschen Politik und etwa 5 Prozent antinazistisch. In den südamerikanischen Staaten nahmen nur ganz vereinzelt Deutsche aus den älteren Kolonien an antinazistischen Gruppen oder Unternehmen teil. Das geistige Leben der deutschen Emigration aus dem Dritten Reich wurde durch das der älteren deutschen Kolonien nicht gestärkt, sondern stand zu ihm trotz der Sprachgemeinschaft in meist unüberbrückbarem Gegensatz, weil es zur Schreckensherrschaft Adolf Hitlers daheim im Gegensatz stand, die ihm den Lebens-und Arbeitskreis in der Heimat geraubt hatte. Die deutsch-und auch ein Teil der jiddischsprechenden Juden dagegen gaben durch ihre Masse dem deutschen geistigen Leben Breite und Fülle in allen fünf Erdteilen.

II. Das geistige Leben der deutschen Emigration

1933 — Kriegsausbruch 1939

Auf einer westeuropäischen Vortragsreise 1937 bekam ich in England die Anregung, das geistige Leben der Emigration aus dem Dritten Reich, besonders die deutsche Emigrantenliteratur, zu untersuchen und habe midi mehr als zwölf Jahre lang eindringlich damit beschäftigt. Das Ergebnis meiner Sammlungen und Studien habe ich knapp zusammenfassend dargcstellt in meiner Arbeit „Die humanistische Front, Einführung in die deutsche Einigrantenliteratur". Der erste Teil, 1933 — Kriegsausbruch 1939, ist im Europa Verlag, Zürich, 1947 erschienen. Durch eine Verkettung sehr eigentümlicher, ungünstiger Umstände ist der zweite Teil, Kriegsausbruch 1939 — 1946/47, seit Januar 1949 im Manuskript fertig, ungedruckt geblieben. Idi habe dieses Manuskript in der Deutschen Bibliothek, Frankfurt am Main, Professor H. W. Eppelsheimer, deponiert, zusammen mit meinen Sammlungen und über 170 zugehörigen eigenen Rezensionen und Aufsätzen, um alles der Forschung zugänglich zu machen. Es handelt sich in meiner Arbeit nicht um eine rein literaturgeschichtliche Darstellung, sondern das umfangreiche, widerspenstige Material ist geordnet und gestaltet unter einem kulturpolitischen Gesichtspunkt, der im Titel „Die humanistische Front“ wenigstens angedeutet ist: die geistig regen Zentren deutscher Emigration bilden eine gemeinsame Front um das Dritte Reich, das sie vertrieben hat, sie verfolgt, soweit seine Macht reicht, und zu dem sie im bewußten geistigen Gegensatz stehen. Dieses ist eines der Hauptprobleme der Emigration aus dem Dritten Reich und erfordert deshalb eine geistes-geschichtliche Begründung.

Das Zeitalter deutscher Humanität 1750— 1800 Ausgangspunkt muß hierbei die Zeit von 1750— 1800 sein, die man „das Zeitalter deutscher Humanität“ genannt hat. Deutschland gewinnt zum ersten Male Weltgeltung als „das Land der Dichter und Denket". In unserem Sprachgebrauch bedeutet Humanität „edle Menschlichkeit, hohe Gesittung, feine, innere Bildung" (Duden). Wendet man sich aber anderen Sprachen zu, findet man noch andere Bedeutungen. Im Französischen bedeutet humanite Menschlichkeit und Menschheit und der Plural humanites die Wissenschaft von der Antike; ganz ähnlich ist es im Englischen mit humanity und humanities. Dadurch wird man auf die lateinische Sprache als Quelle des Fremdworts hingewiesen, in der wir die gleichen beiden Bedeutungen wiedererkennen. Cicero legt seinen römischen Landsleuten ans Herz, die griechische Literatur zu studieren, weil sie höchste menschliche Bildung, humanitas, vermittle. Erst bei den Kirchenvätern des 4. Jahrhunderts taucht humanitas in der Bedeutung Menschheit auf, die also aus ganz anderem Ideenkreis, dem jüdisch-christlichen, stammt. Es zeigt sich, daß zur Bildung der Idee der Humanität die beiden großen Quellen europäischer geistiger Kultur, Griechenland und Palästina, gleichermaßen beigetragen haben.

Während der 1000jährigen Herrschaft der lateinischen Sprache und Literatur von 400— 1400 in allen europäischen Bildungsstätten überwog die christliche Prägung. Die humanistische Bewegung stärkte vom 15. Jahrhundert an den griechischen Einfluß. So geht die Idee der Humanität in die Geistesgeschichte der neueren Zeit entsprechend ihrer zwiefachen Herkunft mit einer starken inneren Spanung ein und wird in den verschiedenen Ländern verschieden ausgestaltet und gedeutet.

Die deutsche Kultur, manigfach gehemmt in ihrer Entwicklung, vor allem durch die Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges, entfaltete sich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer Blüte von Weltrang, wobei sie auf den Leistungen anderer Völker aufbauen konnte. Deutschland bestand bis 1803 aus über 300 staatlichen Gebilden, das Heilige Römische Reich deutscher Nation, seit langem machtlos, lag in den letzten Zügen. Die politischen Verhältnisse waren überaus kläglich. Da sammelten sich, über 300 Grenzen weg, alle empfänglichen Herzen im Reiche deutscher Dichtung, alle geistig regen Köpfe im Reiche deutscher Philosophie. Lessing und Wieland, Kant und Herder, Goethe und Schiller und Wilhelm von Humboldt, um nur dieses Siebengestirn deutscher Humanität zu nennen, wölbten in ihren Werken, hoch über der politischen Misere, den geistigen Raum deutscher Nation.

Die Weltanschauung der Humanität Was verstanden diese schöpferischen Männer unter Humanität? Sie errichteten einen Weltanschauungsbau, der in überaus glücklicher Weise Elemente aus den beiden Quellen europäischer Kultur, der griechischen und der jüdisch-christlichen, miteinander verband. Man kann diese Weltanschauung deutscher Humanität in der geometrischen Form einer Ellipse mit ihren zwei Brennpunkten darstellen. Stellt man in den einen die Idee menschlicher Persönlichkeit, in den anderen die Idee menschlicher Gemeinschaft und macht sich klar, daß beide — durch die Menschenliebe — fest miteinander verbunden sind, so ist die Weltanschauung der Humanität zureichend charakterisiert. Es handelt sich durchaus nicht nur um Menschlichkeit im Einzelmenschen und zwischen Einzelmenschen, sondern zugleich um ihre folgerichtige Anwendung auf die menschliche Gemeinschaft, auf das politische, rechtliche, soziale und wirtschaftliche Leben. Man versteht die Philosophie und Dichtung dieser Zeit im tiefsten nicht, wenn man nicht sieht, daß sie als Grundlage diese vielumspannende Idee der Humanität hat, diese feste Verknüpfung der Entwicklung der Menschen mit der Entwicklung der menschlichen Gemeinschaft. Das gibt dieser Weltanschauung ein glückliches Gleichgewicht zwischen Subjektivität und Objektivität. Im 19. Jahrhundert haben dann deutsche Rechtspolitiker die führenden Gestalten dieser Zeit als weltfremde, unpolitische „Idealisten" verhöhnt. Die jämmerlichen politischen Verhältnisse in der Kleinstaaterei des damaligen Deutschland waren der Grund, daß die deutsche Kulturblüte in Philosophie und Dichtung steckenblieb. Aber sie ist ihrem Wesen nach doch eine Parallelerscheinung zur Französischen Revolution. Die Träger der Humanität dachten auf allen Gebieten kühn bis zu Ende und schufen eine Weltanschauung, die auf alle Fragen des persönlichen und des öffentlichen Lebens zu antworten fähig und bereit ist. Man kann z. B. mit vielen Zeugnissen beweisen, daß all ihr Denken und Dichten von Politik durchsetzt war. Sie erst schufen das deutsche Gemeingefühl, aus dem im 19. Jahrhundert der Freiheitskampf gegen die französische Fremdherrschaft und dann die demokratische Freiheits-und Einheitsbewegung erwuchs, die in der Paulskirche zu Frankfurt am Main 1848 ihren Höhepunkt erreichte. Jahrzehnte hatte man der deutschen Jugend die Menschenwürde verkündigt. Aus dieser Saat ging die Ernte auf, als die Männer im politischen Leben Menschenrechte forderten.

Das Andere Deutschland 1918 knüpften die führenden Politiker bewußt an die große Zeit der deutschen Humanität an, als sie die Nationalversammlung nach Weimar beriefen, in die erste republikanische Verfassung viel humanes Gut, die Menschenrechte, einbauten und die Farben der demokratischen Freiheitsbewegung, schwarz-rot-gold, für die neue Nationalflagge wählten. Konservative Kreise verbanden sich jedoch mit der nationalsozialistischen Bewegung und hetzten die Weimarer Republik zu Tode. Adolf Hitler feierte seine Machtübernahme in Potsdam. Niemals vorher aber wurde so radikal mit dem Geiste von Weimar gebrochen, kehrte man sich so völlig ab von jeglicher Huminität, wurden die elementaren Menschenrechte so ganz ausgeschaltet, eine solch brutale Schreckensherrschaft errichtet, um die ganze Nation einzusetzen zur Eroberung der Weltmachstellung. Wenn der totalitäre Staat den totalitären Krieg vorbereitet, ist für Humanität kein Raum mehr.

Die romantische Bewegung Und das Andere Deutschland? War es nur eine Illusion einiger verträumter Schwärmer? Oder war es trotz allem noch Wirklichkeit? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, muß noch eine Entwicklungslinie der Geistesgeschichte in das Bild eingezeichnet werden. Zu Ende des 18. Jahrhunderts setzte die romantische Bewegung ein, die rasch großen Einfluß nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa gewann. In der europäischen Geistes-und Literaturgeschichte ist es sogar üblich, das Zeitalter der Humanität und die jüngere Bewegung unter dem Begriff „Romantik" zusammenzufassen. Es gibt zweifellos Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten. Aber es ist fruchtbarer für die Klärung der Geistesgeschichte, die Gegensätze hervorzuheben. Die Romantiker waren völlig andere Menschentypen. Sie fühlten sich nicht wohl in dem festen, klaren Gedankenbau der Humanität. Auch sie waren Intellektuelle, aber Gefühl und Phantasie waren stärker in ihnen als die Kraft des Geistes, mit der die Träger der Humanität die gesamte innere und äußere Welt zu gestalten unternahmen. In der Philosophie hoben die Romantiker das glückliche Gleichgewicht zwischen Subjektivität und Objektivität auf. Auf Kant folgte eine Reihe Philosophen, die ihre eigenen Gedankensysteme schufen; in jedem von ihnen ist das Überwiegen eines subjektiven Elements nachzuweisen. In Arthur Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“ z. B. ist es die Methaphysierung des Willens. Max Stirnes „Der Einzige und sein Eigentunt“ und der Existentialismus unserer Zeit sind Nachblüten romantischer Philosophie. Die gleiche Verschiebung ins Subjektive kennzeichnet di gesamte romantische Dichtung. Lyrik, Märchen, lyrisch getönte Romane, Aphorismen sind ihre Lieblingsformen. Die individuelle innere Welt mit Träumen, Phantasien, Vermischung der Sinnessphären (Synästhesien), ungewöhnlichem Erlebnisse in der Krankheit und gegenüber dem Tode, Rast-und Ruhelosigkeit, Sehnsucht in die Ferne und in die Vergangenheit, Abwendung von der Wirklichkeit, von jeglicher zweckgebundenen Arbeit, vom politischen Leben erfüllen die romantischen Werke. Die Poesie eröffnet den Zugang zu einem weltweiten inneren Reich des Geistes und der Liebe, das völlig abgesondert ist von der realen Umwelt, in der man und handelt, so meinen die Romantiker. arbeitet

Die Tragödie des Anderen Deutschland Es soll gewiß nicht bestritten werden, daß die romantische Bewegung die Literatur und Kultur stark bereichert hat. Aber ihre Nachwirkung ist verhängnisvoll, und in keinem anderen Lande so sehr wie in Deutschland. Während die russische und die französische, ja auch die skandinavische Literatur des 19. Jahrhunderts viel dazu beitrug den Menschen ihre gesellschaftliche Lage ins Bewußtsein zu heben und sie zur Politik hinzuführen, waren die Ansätze dazu in der deutschen Literatur schwach, und der romantische, wirklichkeitsfremde Zug setzte sich immer nachdrücklicher durch. Als Bismarck in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in drei Kriegen seine gewaltsame Lösung der deutschen Frage herbeiführte und das Deutsche Reich schuf, unter der Vorherrschaft seines Vaterlandes Preußen, da lenkte ein großer Teil des deutschen Bürgertums mit fliegenden Fahnen in seine neue nationale Linie ein; der andere Teil aber wurde unpolitisch, las Schopenhauer und baute seine geistige Kultur ganz außerhalb der politischen Geschichte in einem leeren Raume an. Hermann Hesse hat, ob gewollt oder ungewollt, die Abgesondertheit weiter Kreise des deutschen Bürgertums in seinem Roman „Das Glasperlenspiel" dargestellt. Die Neuromantik birgt die ganze Tragödie des Anderen Deutschland, das zwar wirklich vorhanden ist, aber bisher nie dauerhafte politische Wirklichkeit werden konnte. Der einzige Weg dazu war diesen Intellektuellen versperrt: es lag ganz außer dem Bereich ihres Denkens, sich mit der Arbeiterbewegung zu verbünden, die den Massen ein menschenwürdiges Dasein zu erringen suchte. Wenn die begabtesten, edelsten Kräfte sich von der humanen Gestaltung der politischen Wirklichkeit abwenden, bleibt sie den Anhängern der Gewalt, den macht-und habgierigen Menschen völlig überlassen! 50 000 bis 100 000 intellektuelle Träger der Humanität im Sinne des 18. Jahrhunderts mehr, die nicht nur die innere Freiheit gehegt, sondern die politische Freiheit, in der sie einzig und allein gedeihen kann, unter Einsatz aller ihrer Kräfte verteidigt hätten, dann hätte Adolf Hitler nicht so unumschränkte Gewalt über das deutsche Volk und sein Schicksal erobern können. Diese Darstellung der deutschen Geistesgeschichte ist selbstverständlich schematisch vereinfacht und unvollständig, aber sie zeigt einige klare Hauptlinien auf, die für die geistige Problematik der Emigration aus dem Dritten Reich entscheidend sind.

Es ist charakteristisch für diese Emigration, daß gerade die Intellektuellen, die auf den verschiedensten Gebieten des geistigen Lebens aktiv waren, Deutschland 1933 und in den folgenden Jahren in hellen Scharen verließen. Es ist natürlich, daß sie gern in ihren Berufen weiterarbeiten wollten. Das erklärt die erstaunliche Tatsache, daß sich überall, wo sich ein genügend großes deutsches Publikum zusammenfand, deutsches geistiges Leben so rasch und so reich'entwickeln konnte.

Zwei Perioden der Emigration Da sich die Verhältnisse für die Emigranten mit dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges 1939 so stark veränderten, ist es sachlich berechtigt, zwei Perioden getrennt zu behandeln, die von 193 3 bis zum Kriegsausbruch 1939 und die vom Kriegsausbruch 1939 bis etwa zurJahreswende 1946/47, als die humanistische Front um das Dritte Reich zerfiel, die Buchproduktion in Deutschland und Österreich in Gang kam und die Bücher der Emigranten und der Daheimgebliebenen wieder vereinigte.

Die Emigranten-Presse Schon im Herbst 193 3 ist das deutsche geistige Leben in all den europäischen Ländern, in die größere Scharen der Emigranten geflohen sind, in voller Blüte. In Paris gelang es Georg Bernhard die einzige Tageszeitung der Emigranten zu gründen, das Pariser Tageblatt, später Pariser Tageszeitung, die bis 1940 erschien. Es gab noch eine Tageszeitung, in der deutsche Emigranten aus aller Welt mitarbeiteten, das Argentinische Tageblatt in Buenos Aires, die einzige alte deutsche Tageszeitung, die nie vom antinazistischen Kurs abwich, wofür es eine Erklärung gibt, sie ist 1887 von einem Schweizer gegründet und befindet sich noch heute in den seiner Familie, so daß sie nie unter Händen nazistischen Einfluß geriet.

Im übrigen erschienen in Paris, in der Tschechoslowakei, in der Schweiz, in Holland, in Belgien, in England, in Spanien auf Seiten der legalen Regierung während des Bürgerkrieges, in der Vereinigten Staaten, in Argentinien Zeitschriften, meist wöchentlich, aus denen das damalige geistige Leben abzulesen ist. Alle deutschen Veranstaltungen werden in ihnen angekündigt und dann besprochen. Es gibt deutsche Vorträge, Vorlesungen der Schriftsteller aus ihren ungedruckten Werken, Kabaretts und Theater, Hochschulkurse, Arbeitsgemeinschaften und Diskussionsabende, leichtere Unterhaltungs-und gesellige Abende aller Art, ganz zu schweigen von parteipolitischen Zusammenkünften. Ohne die Presse ist dieses mannigfaltige geistige Leben kaum denkbar.

Hervorheben möchte ich Leopold Schwarzschilds „Das neue Tage-budt“ (seit 1. Juli 1933), dessen Bedeutung in diesen Jahren in einer sehr vorsichtigen, scharfsinnigen Analyse der Verhältnisse im Dritten Reih lag, besonders der wirtschaftlichen Autarkie, der Rohstoffversorgung, der Lebensmittelwirtshaft, der Ersatzstofferzeugung, der Aufrüstung, der Finanzwirtschaft, des Außenhandels, der Außenpolitik. Die Wochenschrift erwarb sih einen großen Leserkreis, auh in nicht deutshen, politish interessierten und einflußreihen Kreisen der europäishen Hauptstädte. Im großen und ganzen kamen seine Analysen und Prognosen der Wahrheit sehr nahe. Er errehnete z. B. die Rüstungsausgaben des Dritten Reihs auf etwa 15 Milliarden jährlih.

Ih erwähne noch:

! Die neue Weltbühne, seit Ostern 193 3, von Willi Schlamm in Prag. Der deutsche Weg, katholishe Wohenschrift, seit 1933 in Oldenzaal, Holland.

Die Sammlung, Herausgeber Klaus Mann, seit 1. September 1933 in Amsterdam.

Das Wort, Literarische Monatsshrift, Zweimonatsshrift, Willi Bredel, seit Juli 1936 bis 1939 in Moskau.

Maß und Wert, Herausgeber Thomas Mann, seit September 1937 in Zürih.

Das Andere Deutschland, Herausgeber August Siemsen, Buenos Aires, seit 1937.

Das wahre Deutsdtland, Auslandsblätter der deutshen Freiheitspartei, seit Januar 1938 in London. Die österreichische Post, das Blatt der österreichischen Monarchisten, mit Joseph Roth als Hauptmitarbeiter seit 1. Dezember 1938 in Paris.

Wenn man in diesen Zeitschriften liest, kann man nicht verkennen, daß in ihnen eine gemeinsame geistige Haltung trotz mancherlei Verschiedenheiten vorherrscht. Die nationalsozialistische Propaganda verbreitete die Behauptung, daß die Emigranten von Haß gegen Deutschland erfüllt seien. Es wäre durchaus verständlich, wenn viele der Vertriebenen zur generalisierenden Verurteilung aller Deutschen gekommen wären, aber in Wirklichkeit geschah es nur in seltenen Ausnahmen. Im Gegenteil. Verhaltene Liebe zur verlorenen deutschen Heimat verrät sich immer wieder. Diese Emigranten fühlen verhundertfacht die Verpflichtung, das große Erbe deutscher Humanität zu wahren und zu pflegen, weil es im Dritten Reich keine Heimat mehr hat. Sie fühlen, daß in ihrem Lager das wahre Deutschland ist, nun, da Adolf Hitler das Andere Deutschland mundtot gemacht hat. Schon die Artikel der Zeitschriften verraten es, mehr noch der Inhalt. Stellen aus älteren deutschen Werken, oft aus denselben in verschiedenen Zeitschriften, Aufsätze über die gleichen großen Gestalten deutscher Vergangenheit kehren in allen wieder, wenn Gedenktage oder ein eben erschienenes Buch dazu Anlaß geben. Vor allem aber sind sie alle einig im Kampf gegen die Usurpatoren der Heimat. Der innere Feind hält Deutschland als erste Eroberung besetzt und geknebelt. Das ist keine deutsche innerpolitische Angelegenheit. Hitler bedeutet Gefahr für ganz Europa. Er bereitet den Weltkrieg vor. Die Zeitschriften erheben ihre warnende Stimme. Aber man will auf die Emigranten nicht hören. Man verbietet den Emigranten jegliche politische Betätigung. Man sagt ihnen, sie sollten sich freuen, ein Asyl gefunden zu haben. Man schlägt ihre Warnung in den Wind. Nur wenige sind hellhörig und aufmerksam, unter ihnen Winston Churchill.

Verleger Von Herbst 1933 an erscheinen auch Bücher der Emigranten in deutscher Sprache in einigen der Gastländer. In Östererich und der Schweiz nehmen sich manche Verleger einzelner emigrierter Schriftsteller an, Dr. Emil Oprecht in Zürich bietet einer großen Gruppe in seinem Europa-Verlag und anderen Verlagsunternehmen Unterkunft. In Holland gliedern sich die Verleger Querido und Allbert de . Lauge deutsche Abteilungen unter Leitung von emigrierten Fachleuten, Fritz Landshoff und Walter Landauer, an. Der Bermauu-Fiscl'ter-Verlag zweigt sich 1936 aus dem S. Fischer-Verlag ab und wandert zuerst nach Wien aus, 1938 nach Stockholm. Der Malik-Verlag emigriert erst nach Prag, dann 1938 nach London. Überall entstehen neue Verlagsanstalten verschiedenster Richtung. In der Zeit vom Herbst 1933 bis Herbst 1939 erscheinen etwa 600 Bücher in Europa, nur ganz wenige in außereuropäischen Ländern.

Ein sehr großer Teil dieser Literatur dient der Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich. Da gibt es Dokument-und Materialsammlungen wie „Das Braunbuch über den Reichstagsbrand“, Basel 1933, dann Paris 1933, das in 33 Ländern in Übersetzungen bis 1935 in einer Auflage von 600 000 Exemplaren erschien, auch in 20 000 getarnten im Dritten Reich verbreitet wurde.

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Das Schwarzbuch, Tatsachen und Dokumente, die Lage der Juden in Deutschland 193 3, Paris 1934.

Weissbuch über die Erschießungen des 30. Juni, Paris 193 5.

Adolf Hitler, Deine Opfer klagen an, Karlsbad 1934.

Hirne hinter Stacheldraht! Basel 1934.

Das braune Netz, deutsche Organisation im Ausland, Paris 1935.

Der gelbe Fleck, die Behandlung der Juden in Deutscltland, Paris 1935. W., Das stumme Deutschland redet, Zürich 1935. Konzentrationslager, 14 Berichte aus 12 Lagern, Karlsbad 193 5. Berthold Jakob, Das neue deutsche Heer und seine Führer, Paris 1936.

Schwarz-Rot-Buch, Dokumente über den Hitler-Imperialismus in Spanien, Barcelona 1937.

Deutsche Frauen, Schicltsale, Stimmen und Dokumente, London 1937. Strafvollzug im Dritten Reich, London 1938.

Der Pogrom, Dokumente der braunen Barbarei, Paris 1939.

Bruno Grimm, Gau Schweiz, Dokumente über die nationalsozialistischen Umtriebe in der Schweiz, Luzern 1939.

Erlebnisbücher und Gegenwartsdichtungen Eine starke Gruppe sind die Erlebnisbücher und Gegenwartsdichtungen, von denen ich nur einige Beispiele nenne:

Bernhard von Brentano, Prozeß ohne Richter, Amsterdam und Zürich 1937.

Bruno Frank, Der Reisepaß, Amsterdam 1937.

Ernst Glaeser, Der letzte Zivilist, Zürich 1935.

Maria Gleit, Du hast kein Bett, mein Kind, Zürich 1938. Martin Gumpert, Hölle im Paradies, Stockholm 1939. Ödön von Horvath, Jugend ohne Gott, Amsterdam 1938. Ödön von Horvath, Ein Kind unserer Zeit, Amsterdam 1938. Irmgard Keun, Nach Mitternacht, Amsterdam 1937.

Klaus Mann, Mephisto, Roman einer Karriere, Amsterdam 1936.

Die meisten dieser Schrittsteller leiden an Heimweh wie Heine in Paris, als er sein Gefühl in die zwei Zeilen preßte:

Denk ich an Deutschland in der Nacht So bin ich um den Schlaf gebracht . . .

In ihren Büchern wird die Hitlerzeit gründlich durchleuchret, in allen Schichten des Volkes, von den verschiedensten politischen und unpolitischen Gesichtspunkten. Selbstverständlich werden die nationalsozialistischen Terror-und Propagandamethoden angeprangert. Die Schriftsteller erfassen das ganze deutsche Leben aus nächster Nähe, ihre Menschen-schilderung ist wirklichkeitsgetreu, es wird Kritik geübt an Parteien und auch an Menschen aller Richtungen, die lebendig mit ihren Schwächen dargestellt werden. Sie versuchen die sozialen Grundlagen der gegnerischen Bewegung zu verstehen und zeichnen sogar ihre idealistischen Anhänger mit ihrem tragischen Ende. Nicht alle dieser Bücher sind gut geschrieben, aber durch alle geht ein Zug von Menschlichkeit und Wahrhaftigkeit, es sind wesentliche Dokumente der Zeit, noch heute brauchbar, um sich ein Bild von ihr zu machen, das nicht nur aus Zahlen und Tatsachen besteht, sondern Menschen mitten im Leben und Wirken zeigt. Über Konzentrationslager In den Büchern der Freiheitskämper, die von unterirdischer Arbeit erzählen, blüht eine neue Romantik auf, ein Heldentum, namenloser noch als das der unbekanten Soldaten in den Schützengräben. Das tritt am stärksten hervor in den Büchern über die Konzentrationslager, von denen zwischen 1933 und 1936 sechs erschienen, alle mit schlichten Titeln, meist klar und sachlich geschrieben; die Leidenschaft der Verfasser ist ganz umgesetzt in die erschütternde Darstellung des ungeheuerlichen Geschehens, sie wird durch Auslese, Variation, Kontrast und Steigerung künstlerisch geformt.

Karl Billinger, Schutzhäftling 880, Paris 1935.

Willi Bredel, Die Prüfung, Prag 1935.

Klaus Hinrichs, Staatliches Konzentrationslager VIII, London 1936.

Walter Hornung, Dachau, Zürich 1935.

Wolfgang Langhoff, Die Moorsoldaten, Zürich 1935. Gerhard Seger, Oranienburg, Prag 1934.

Willi Bredel, Die Prüfung, das sich schon durch den Titel heraushebt, scheint mir das stärkste dieser Bücher zu sein. Er betrachtet die schwere Zeit als eine Prüfung seines Glaubens und seiner Widerstandskraft. Das jüdische Schicksal findet besondere Darstellung z. B.

Lion Feuchtwanger, Geschwister Oppenheim, Amsterdam 1934.

Lili Koerber, Eine Jüdin erlebt das neue Deutschland, Wien 1933.

Stefan Wendt, Insel im Vaterland, Zürich 1938. Georg Mannheimer, Ein ]ude kehrt kein, Roman in Versen, Prag 1939.

Die Heimkehr ist die Auswanderung nach Palästina.

Anklage-und Streitschiiften Ebenso stark ist die Gruppe der Anklage-und Streitschriften, an denen sich Dichter, Journalisten, Politiker, Praktiker und Wissenschaftler verschiedenster Gebiete beteiligten. Die Schriften, verschieden in ihrer Form, von leidenschaftlicher Kampfschrift über das feierliche Manifest und die gründliche sachliche Analyse bis zur geistvollen Satire, erörtern alle Seiten der inneren Entwicklung im Dritten Reich und begleiten jeden Schritt seiner Außenpolitik. Es steckt eine ungeheure, angespannte Arbeit in diesen Büchern. Man fühlt sich den Freunden in Gefängnissen, Zuchthäusern und Konzentrationslagern verbunden, man fühlt sich verpflichtet, in der Freiheit zu wirken. Ganz machtlos ist der Geist nicht, wenn ihn heiße Liebe treibt. Diese Auseinandersetzung mit den Ereignissen im Dritten Reich ist von Liebe zum Anderen Deutschland und vom lauteren Willen zur Wahrhaftigkeit geprägt.

Ich führe eine Anzahl Beispiele an:

Max Beer, Die auswärtige Politik des Dritten Reidts, Zürich 1934. Eduard Bri stier, Die Völkerrechtslehre des Nationalsozialismus, Zürich 1938.

St. Erkner, Exerzierplatz Deutschland, Paris 1933.

Peter Forster, Wohin steuert die deutsdte Wirtsdiaft?

Straßburg 1937.

Leopold Franz, Die Gewerkschaften in der Demokratie und unter der Diktatur, Karlsruhe 1935.

Bruno Frei, Hanussen, der Wunderrabbi des Dritten Reidtes, Straßburg 1934.

E. Hörnle, Deutsdte Bauern unterm Hackenkreuz, Paris 1939. Alferd Kerr, Die Diktatur des Hausknechts, Brüssel 1934. Landgerichtsdirektor “ *(Der Faschismus und die Intellektuellen, der Untergang des deutschen Geistes, Karlsbad 1934. Prinz Hubertus zu Löwenstein, Die Tragödie eines Volkes, Amsterdam 1934.

Erika. Mann, Zehn Millionen Kinder, Amsterdam 1939. Norbert Mühlen, Der Zauberer, Leben und Anleihen des Dr.

Hjalmar, Horace, Greeley Sdtadtt, Zürich 1938. Maximilian Scheer, Blut und Ehre, Paris 1937.

Anna Siemsen, Diktaturen oder europäische Demokratie, Paris 1936.

Manes Sperber, Analyse der Tyrannis, Paris 1938.

Europa \ Auffällig ist, wie oft in den Titeln dieser Schriften der Name Europa vorkommt.

Georg Bienenstock, Europa und die Weltpolitik. Die Zonen der Kriegsgefahr, Karlsbad 1936.

R. N. Coudenhove-Kalergi, Europa erwacht, Wien 1934. Julius Deutsch, Kontinent in Gährung, Bratislava 1937.

F. W. Förster, Europa und die deutsdte Frage, Luzern 1937. Thomas Mann, Aditung Europa, Stockholm 1938.

Max Seydewitz, Hakenkreuz über Europa, Paris 1939. Fritz von Unruh, Europa erwache, Basel 1936.

Bücher wie Zeitschriften sind greifbare Beweise einer Warnung der Welt vor dem Weltkrieg Hitlers.

Eine besondere Untergruppe bilden die zahlreichen Streitschriften über den deutschen Kirchenkampf, unter denen die der deutschen Emigranten schwer zu sondern sind.

Zur Juden-und Rassenfrage erschienen eine ganze Anzahl Bücher u. a.

Max B r o d , Das Diesseitswunder oder die jüdische Idee und ihre Verwirklidiuitg, Tel Aviv 1939.

Martin Buber, Brief an Gandhi, Zürich 1939.

Alfred Döblin, Jüdische Erneuerung, Amsterdam 193 3. Alfred Döblin, Flucht und Sammlung des Judentums, Amsterdam 1936.

Julius Epstein und Kurt Weisskopf, Weltgeridit über den Judenhaß, Prag 1934.

Lion Feuchtwanger und Arnold Zweig, Die Aufgaben des Judentums, Paris 1933.

Erich Kahler, Israel unter den Völkern, Zürich 1936.

Else Lasker-Schüler, Das Hebräerland, Zürich 1937, An ton von Miller, Deutsche und Juden, Mähr. Ostrau 1936. E. R a a s und G. Brunschvig, Vernichtung einer Fälschung. Der Prozeß um die erfundenen Weisen von Zion, Zürich 1938. Hermann Steinhausen, Die Judenfrage — eine Christenfrage, Luzern 1939.

Oskar Wolfsberg, Zur Zeit-und Geistesgeschichte des Judentums, Zürich 1939.

v. Zuckerkandl, Die Weltgemeinschaft der Juden, Zürich 1936.

Nur ein Teil dieser Schriften ist noch dem Dritten Reich zugewandt, die übrigen beschäftigen sich schon mit den Problemen der Juden selbst, die sich von Deutschland loslösen.

Zeitgeschichtliche Darstellungen Eine kleine gewichtige Gruppe sind die zeitgeschichtlichen Darstellungen. Georg Bernhard, Die deutsche Tragödie, Prag 1933.

Otto Braun, Von Weimar zu Hitler, Zürich 1939.

Konrad Heiden, Geschichte der nationalsozialistischen Bewegung, Berlin 193 3, später Zürich.

—Die Geburt des Dritten Reiches, Zürich 1934.

—Adolf Hitler, das Leben eines Diktators, Zürich 193 5.

—Ein Mann gegen Europa, Zürich 1937.

Emil Ludwig, Hindenburg und die Sage von der deutschen Republik, Amsterdam 1934.

—Führer Europas, Amsterdam 1934.

* —Gespräche mit Masaryk, Amsterdam 1935.

—Roosevelt, Studie über Glück und Macht, Amsterdam 1938.

Rudolf Olden, Hitler der Eroberer, Prag 193 3.

—Hindenburg oder der Geist der preußischen Armee, Amsterdam 1935.

—Hitler, Amsterdam 1936.

Arthur Rosenberg, Geschichte der deutschen Republik, Karlsbad 193 5.

Friedrich Stampfer, 14 Jahre deutsche Republik, Karlsbad 1937.

Theodor Wolff, Der Marsch durch zwei Jahrzehnte, Zürich 1935.

Diese Bücher traten der Geschichtsverfälschung im Dritten Reich entgegen. Bewahrung des deutschen Erbes Eine umfangreiche Gruppe dient der Bewahrung des deutschen Erbes, das im Reich der Bücherverbrennungen aufs höchste gefährdet ist. Dazu kommen Bücher, die in Folge der Ereignisse im Dritten Reich im Ausland erscheinen, aber sich über den Anlaß hinaus zu allgemeiner grundsätzlicher Betrachtung erheben, keine Streitschriften, sondern selbständige Abhandlungen und Werke.

Kurt Baschwitz, Du und die Masse, Amsterdam 1938. Ernst Bloch, Geist der Utopie, Zürich 1936. —Erbschaft dieser Zeit, Zürich 1937.

Friedrich Hertz, Nationalgeist und Politik, Zürich 1937. Fritz Jellinek, Die Krise der Bürgers, Zürich 1936. Arthur Liebert, Die Krise des Idealismus, Zürich 1936. Thomas Mann, Das Problem der Freiheit, Stockholm 1939. Karl Mannheim, Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, Leiden 1935.

Siegfried Marek, Der Humanismus als politische Philosophie, Zürich 1938.

Friedrich Muckermann, Revolution der Herzen, Colmar 1937.

Hans Ritter (Wilhelm Högner), Politik und Moral, Zürich 1937. Arthur Rosenberg, Demokratie und Sozialismus, Amsterdam 1938.

Hugo Sinzheimer, Das Problem des Menschen im Recht, Groningen 1933.

Hans Spahn, Geist und Gewalt in der Völkerpolitik, Zürich 1936. Hermann Steinhausen, Die Zukunft der Freiheit, Zürich 1937.

—Die Rolle des Bösen in der Weltgeschichte, Stockholm 1939. Paul Tillich, Religion und Weltpolitik, Amsterdam 1939. Veit Valentin, Weltgeschichte 1 — 11, Amsterdam 1938— 39.

Es ist bei diesen Büchern oft schon im Titel zu erkennen, daß sie um die Problematik der Humanität kreisen.

Das Judentum hatte ein eigenes großes Erbe gegen die maßlosen Angriffe des Nationalsozialismus zu verteidigen und tat es z. B. in: Oskar Baum, Das Volk des harten Schlafs, Wien 1937. Walter A. Berendsohn, Der lebendige Heine im germanischen Norden, Kopenhagen 193 5.

Otto Friedrich, Weise von Zion, Juden als Baumeister der Welt, Prag 1935.

Fritz Heymann, Der Chevalier van Geldern, Jüdische Helden und Abenteurer, Amsterdam 1937.

Franz Köbler, Juden und Judentum in deutschen Briefen aus drei Jahrhunderten, Wien 1935.

—Das Zeitalter der Emanzipation, Wien 1937.

Hugo Sinzheimer, Jüdische Klassiker der deutschen Rechts-

wissenschaft, Amsterdam 1937.

Sentimentalität ist Luxus In der ersten Periode der deutschen Emigration spielt wider Erwarten das eigene Schicksal der Vertriebenen eine geringe Rolle in der entstehenden Literatur. Sentimentalität ist für die, welche sich in der Emigration durchsetzen und bewähren wollen, ein Luxus, den man sich nur in homöopathischen Dosen gestatten darf.

Auch die neue Umwelt wird nicht sehr stark als Motiv behandelt. Es gibt vereinzelte Ausnahmen, z. B. in der Sowjetunion.

Aus dem spanischen Bürgerkrieg In Spanien haben deutsche Freiwillige auf Seiten der republikanischen Regierung mitgekämpft. Daraus entstand eine ansehnliche Literatur. Ich nenne Hermann Kesten, Die Kinder von Gernika, Amsterdam 1939. Arthur Köstler, Blut und Schrecken, Paris 1936. —Mensd'ienopfer unerhört, Paris 1937.

—Ein spanisches Testament, Zürich 1938.

Hubertus, Prinz zu Löwenstein, Als Katholik im republikanischen Spanien, Zürich 1938.

Karl Otten, Torquemadas Schatten, Stockholm 1938.

Anna Siemsen, Spanisches Bilderbuch, Paris 1937.

Flucht in die Vergangenheit?

Auffällig viele Emigranten-Schriftsteller wandten sich in ihren Werken der geschichtlichen Vergangenheit zu. Anscheinend entfernen wir uns mit diesen Werken nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich vom Dritten Reich. Diese historischen Romane, Novellen, Biographien, Dramen, Hörspiele und Filmbücher erregten eine lebhafte Diskussion. Ein besonders heftiger Angriff findet sich z. B. in K u r t Hiller, Profile, Paris 1938. Er greift die Verfasser als Geschäftemacher und gefällige feile Lieferanten eines sensationsgierigen Emigrantentums und eines allzu bürgerlichen Publikums an und fordert entschiedenen Einsatz im Kampf gegen das Dritte Reich und um die Gegenwartsprobleme. Gegenüber manchen Büchern ist er gewiß im Recht. Er übersieht aber, daß die meisten Verfasser solcher Werke ihre historischen Motive als Parallelen zu den erregenden geschichtlichen Ereignissen der Gegenwart wählen. Napoleon I. und III., Peter der Große, Philipp II. von Spanien, Ignatius von Loyola, der „Diktator der Seelen“, werden m Vergleich mit dem nationalsozialistischen Führer dargestellt, „die grosse Revolution“, „Die Stimme Victor Hugos“ gegen Napoleon III, Talleyrand, Struensee, der Bauernkrieg, Guiseppe Mazzini, die Marseillaise, das sind Motive aus den Freiheitskämpfen der Weltgeschicht, in Maria Theresia wird Friedrich II. und der Geist von Potsdam gegeißelt, in „Erasmus von Rotterdam“ wird der freie Geist gefeiert und „Casteilio gegen Calvin“ ist eine Parallele zum Kirchenkampf. Der wachsende Antisemitismus im Dritten Reich gibt Lion Feuchtwanger den Anstoß zu seinen drei Büchern vom römischen Juden Flavius Josephus, Mela Hartwig zu ihrer Novelle „Die Hexe von Ulm“, Wilhelm Herzog zu seiner Schilderung, wie die französische Republik mit der Dreyfus-Affäre fertig wurde, Valeriu Marcu zur „Vertreibung der Juden aus Spanien“, und niemand liest Franz Werfels Meisterwerk, Die 40 Tage des Musa Dagh, ohne das Massenschicksal der christlichen Armenier mit dem der Juden zu vergleichen. Heinrich Mann flüchtet nicht aus der Gegenwart, wenn er uns das Leben Heinrich IV. von Frankreich beschreibt, er schildert uns den Weg des kleinen Prinzen von Navarra durch Not, Kampf und Leid zum Herrscher über Frankreich, das er aus den erbittersten Religionskriegen befreit und eint, und zum Gegner des spanischen Weltreichs, gegen das er — noch vergeblich — einen Völkerbund plant, als den königlichen Weg eines Humanisten über religiöse, feudale und nationale Beschränkung zur politischen, sozialen und geistigen Menschlichkeit. In den haßerfüllten brutalen Gegnern gibt er ein Konterfei der Nationalsozialisten. Er selbst, Heinrich Mann, fühlt sich seinem Namensvetter verwandt, der über die Liebe zu den Frauen zur Liebe zum ganzen Volk, zur Menschenliebe reift und, dem Diesseits heiter zugewandt, trotz schwerer Schicksalsschläge und feindlicher Mächte, die ihn oft zum Gegenteil dessen zwingen, was er im Herzen will, immer das Gleichgewicht und die Freiheit des Geistes bewahrt, ein tapferes Vorbild allen Kämpfern für Freiheit, Frieden und Menschlichkeit, für Humanität.

Der tiefere Sinn dieser historischen Dichtungen wird in diesen Vergleichen sichtbar, nach dem Willen der Verfasser. Sie haben das Recht, den Abstand von der Gegenwart zu wählen, der ihnen für ihr Schaffen notwendig scheint. Kann man es ihnen verdenken, daß sie ihr Werk nicht mit all den bis zum Überdruß bekannten widerlichen Einzelheiten der politischen Gegenwart belasten? Ist nicht dieser Umweg, dieser indirekte Angriff gegen die verhaßte Barbarei wirksamer als der frontale, direkt mit dem Kopf gegen die Wand? Die Mehrzahl dieser Bücher gilt im historischen Gewand der Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich und vertritt ihm gegenüber die Humanität des Anderen Deutschland Immerhin ist es beachtenswert, daß die Hochblüte der Erscheinungen dieser Art zwischen 193 5 und 1937 fiel, und daß sich mehrere namhafte Autoren um 1939 wieder der Gegenwart zuwandten.

Fortsetzung der literarischen Arbeit Aber es ist nicht zu leugnen, daß viele der emigrierten Schriftsteller im Ausland einfach ihre literarische Arbeit fortsetzten, manche sogar buchstäblich, indem sie ein begonnenes Werk weiterführten und ab-schlossen. Thomas Mann begann seinen biblischen Roman Joseph und seine Brüder mit den „Geschichten Jakobs“ Berlin 1933, „Der junge Joseph“ erschien 1934 noch in Berlin, „Joseph in Ägypten“ 1936 schon in Wien und der vierte Band „Joseph der Ernährer“ 1943 in Stockholm. Jacob Wassermann schloß vor seinem Tode (1. Januar 1934) seine Romanreihe „Der Fall Mauritius“ und „Etzel Andergast“ mit „Joseph Kerckhovens dritte Existenz“ ab. Der dritte Band von Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ erschien nach seinem Tode in Genf. Arnold Zw: ig setzte seinen großen Zyklus aus dem ersten Weltkriege mit zwei Bänden „Erziehung vor Verdun“ und „Einsetzung eines Königs" fort. Mit der Aufzählung solcher Fortsetzungen könnte man noch mehrere Seiten füllen.

Viele andere schreiben weiter, meist ohne sich um das Dritte Reich und die Politik zu kümmern, ganz wie sie es in der Heimat taten, literarische Kunstwerke oder Unterhaltungsbücher. Namen und Titel füllen seitenlange Listen. Sie finden alle Leser, es herrscht völlige Freiheit des Schaffens.

Mannigfaltigkeit der deutschen Emigranten-Literatur Diese deutsche Emigranten-Literatur zwischen 1933 und 1939 ist ein gutbesetzes Orchester mit sehr viel verschiedenartigen Instrumenten. Sie umspannt ein gewaltiges Stück Wirklichkeit, sie handelt von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es wimmelt in ihr von Menschen aller Schichten und Stände und mannigfacher seelischer Art. Die Schriftsteller bemühen sich hingebend um unzählige Probleme, sowohl des persönlichen wie aller Gebiete des öffentlichen Lebens.

In der Dichtung sind alle Formen reichlich vertreten, nicht nur Erzählungen, Novellen und Romane aller Art, sondern auch viel Lyrik und eine Fülle von Dramen, die ihre dramatische Kraft vorwiegend aus den ungeheuren politischen Spannungen der Zeit holen.

Diskussion über die Aufgabe des Schriftstellers in der Emigration Selbstverständlich gab es innerhalb dieser Emigrantenwelt Gegensätze und Spannungen, die auch zu lebhaften Diskussionen über die Aufgaben des Schriftstellers in der Zeit des Dritten Reiches führten.

Ein namenloser Kritiker der illegalen Arbeit, der den gefährlichen Weg ins Ausland und zurück immer wieder zurücklegte, ein „Toter auf Urlaub“, sagte einmal: „Ich muß mir bei jedem Buch, das in der Emigration erscheint, die Frage vorlegen, ob es sich lohnt, den Kopf dafür zu wagen, d. h. es ins Dritte Reich einzuschmuggeln.“ Das ist ein aus den Zeitumständen erwachsener, ein durchaus politischer, ein ganz unkünstlerischer Maßstab.

Hier ist aber der geeignete Platz, die umfangreiche Literatur zu erwähnen, die wirklich im Dritten Reich vom Ausland her verbreitet wurde, Miniaturhefte, in kleinstem Druck auf hauchdünnem Papier, in camouflierten Umschlägen, die viel Erfindungsgabe verraten.

Die gleiche politische Forderung wird auch von manchen Schriftstellern erhoben, aber von anderen ebenso entschieden zurückgewiesen, die mit Recht auf Freiheit des Schaffens bestehen. Aber die freie Auseinandersetzung über dieses Problem gehört in das Bild der Emigranten-Literatur hinein. Auf Freiheit beruht ihr Reiz und ihr Reichtum.

Zwang zur Politik Es ist jedoch zu beachten, daß manche Schriftsteller von Rang und Ruf, die ursprünglich der Politik in ihrem Schaffen ganz fernstanden, sich durch den gewaltigen Anschauungsunterricht der Weltgeschichte gezwungen sahen, sich ihr zuzuwenden und sie in ihre Dichtung einzubeziehen. Ich führe drei Beispiele an:

Thomas Mann schrieb noch 1918 seine „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Dann wandte er sich einem jahrzehntelangem Studium Goethes zu, das ihm die Humanität des 18. Jahrhunderts immer näher führte. Schon 1922 trat er für die deutsche Republik ein und fuhr 1926 als „außerordentlicher Gesandter deutschen Geistes“ nach Paris, gewiß keine ganz unpolitische Mission. Er trat schon früher dem neu gegründeten PEN-Klub bei und nahm eifrig an seinen internationalen Kongressen teil. Als er 1929 den Nobelpreis der Schwedischen Akademie entgegennahm, bestätigte diese Auszeichnung, daß er ein guter Europäer geworden war. 1933 kehrte er von einer Vortragsreise im Ausland nicht ins Dritte Reich zurück, er wurde Emigrant. Bis 193 5 schwieg er und nahm nicht an der Zeitschrift seines Sohnes Klaus Mann „Die Sammlung“ teil, weil er noch Einfluß auf seine Leser in der Heimat auszuüben hoffte. Aber 1936 brach er sein Schweigen. Zum Jahreswechsel 1936/37 erschien dann seine Schrift, „Ein Briefwechsel“ mit der philosophischen Fakultät in Bonn (die . ihm den früher verliehenen Ehrendoktor absprach), dies mächtige document humain, das in alle Kultursprachen übersetzt und in zehntausend getarnten Exemplaren ins Dritte Reich eingeschmuggelt wurde. Es folgten immer neue Manifeste. 1938 faßte Thomas Mann in „Achtung, Europa“ zusammen, was er seit 1930 gegen den Nationalsozialismus ausgesprochen und geschrieben hatte. Er reihte sich damit der humanistischen Front völlig ein und schuf ihr im Anschluß an ecclesia militans die Losung „militanter Humanismus“. Wenn alle Menschenrechte bedroht sind, liegt Zwang zur Politik auch für den schaffenden Künstler vor.

Ähnlich wie er erlebte es z. B. Hermann Kesten, der ursprünglich die Emigration als Zufall betrachtete und die Unabhängigkeit des individuellen künstlerischen Schaffens von ihr behauptete. Aber der Überfall auf das wehrlose Gernica in Spanien erschütterte ihn so, daß er sein Buch „Die Kinder von Gernica“ schrieb. Auch Joseph Roth erklärte schon im Dezember 1934, daß man gegen Adolf Hitler kämpfen müßte. Wenn auch durchaus nicht alle Schriftsteller an diesem Kampf teilnahmen, ist die humanistische Front, wie ich sie schildere, keine Konstruktion, sondern die wichtigste Tatsache im geistigen Leben der Emigration, aus dem Dritten Reich.

Die „innere Emigration“

Frank Thiess hat schon 1933 das sehr verführerische Wort von der „inneren Emigration“ geprägt, das bis heute immer wieder angeführt wird, um die Haltung der daheimgebliebenen Träger der deutschen Humanität zu kennzeichnen. Ich gehöre nicht zu denen, welche die Existenz dieses Anderen Deutschland leugnen, aber ich halte trotzdem diese Begriffsbildung für unglücklich, weil sie die Wirklichkeit nicht klärt, sondern verschleiert. 1933 ist eine Spaltung der deutschen Literatur eingetreten zwischen dem Schaffen der emigrierten deutschen Schriftsteller und dem der Daheimgebliebenen. Von der im engeren Sinne nationalsozialistischen Literatur schweigt man in diesem Zusammenhänge am besten völlig; nur von human gesinnten Schriftstellern soll hier die Rede sein. Sie konnten im Dritten Reich nicht nach innen emigrieren, es sei denn, daß sie wirtschaftlich völlig unabhängig waren, also nicht von ihrem Berufe zu leben brauchten. Die Kultur-kammer ließ keinen Abstand und kein Ausweichen, am liebsten nicht einmal Schweigen zu, sondern zerrte alle in den Dienst des Dritten Reichs und scheute nicht einmal vor .dem Mißbrauch guter Namen zurück. Man konnte vielleicht eine Zeit lang die Kunst der Camouflage, des Schreibens zwischen den Zeilen, der Verkleidung ins historische Gewand treiben, man mochte sich ungestört mit irgendeinem abgelegenen Gebiet beschäftigen und darüber sogar etwas publizieren. Man konnte sich die innere Freiheit wahren. Aber die meisten wurden doch auch im Innern gelähmt und konnten nicht schaffen. Denn was sie erlebten und erlitten, eingefügt zu sein in dieses Dritte Reich, gekettet an den Triumphwagen dieses „Führers“, ihn dem Abgrund zurollen, schließlich die Vernichtung der deutschen Städte zu sehen, das auszusprechen und zu gestalten, war unmöglich. Völlig ausgeschlossen war der Kampf für die politische Freiheit. Schon wer Kritik übte, wanderte ins Konzentrationslager wie Ernst Wiechert. Wer revoltierte, fiel in Henkershand wie die Geschwister Scholl und die Männer und Frauen des 20. Juli.

Die Leiden der Emigranten Man will in Deutschland nicht gern von den Leiden der Emigranten hören und meint, sie hätten draußen gut gelebt und sich dem schweren Schicksal der Heimat entzogen. Die Wendung „innere Emigration" will vergleichen zu Gunsten der daheimgebliebenen Schriftsteller. Das ist ungerecht. Die Erlebnisse der Emigranten im Elend der Fremde sind anderer, aber nicht geringerer Art. Sie werden aus der Heimat herausgerissen, getrennt von der geliebten Landschaft, in der sie lebten, aus ihrem Freundes-und Arbeitskreis, aus der Sprach-und Lebensgemeinschaft, die ihr Werk nährt, abgesondert von den Büchern, die ihnen vertraut und ein Teil ihres Werkzeugs sind. Die Schwierigkeiten des Daseins unter fremdem Himmel, der ständige Kampf um Aufenthalts-und Arbeitserlaubnis und um das tägliche Brot, die fast unlösbare Aufgabe der Publikation; das alles habe ich schon berührt, auch die schweren Sorgen um die unterdrückte Heimat und die Freunde und Angehörigen in ihr. Im zweiten Weltkriege kamen die Schrecken der Bombardements und die Überfälle der Hitlerschen Armeen hinzu.

Nur eines hatten sie den daheimgebliebenen Schriftstellern voraus. Sie konnten nicht nur ihre innere Freiheit bewahren, sie konnten in Freiheit schaffen, sie konnten, wenn sie wollten, für die politische Freiheit kämpfen, für die Humanität ihrem ganzen Umfange nach im Sinne der großen Zeit von 1750— 1800. Viele haben es getan. Das verleiht dieser Emigrantenliteratur ihren geistigen Adel.

Solche Freiheitsliebe stand im Dritten Reiche unter Todesstrafe!

Die repräsentative deutsche Literatur Die politische Weltgeschichte ist von gewaltigen Kämpfen um Macht und Reichtum erfüllt. Es soll hier nicht behauptet werden, daß das geistige Wort in ihr viel ausrichten kann. Aber völlig wehr-und machtlos sind die Träger echter Humanität nicht. Draußen auf dem Weltmarkt außerhalb des Dritten Reichs begann 1933 ein Wettbewerb zwischen der Literatur der Emigranten und der der Daheimgebliebenen. Schon vor dem Kriegsausbruch 1939 war er entschieden. Vergeblich setzte das Dritte Reich alle seine gewaltigen Propagandamittel ein, um die eigene nationalsozialistische Literatur zu verbreiten. Niemand wollten sie lesen. Immer häufiger ertönten die Klagen, daß der deutsche Bücherexport zurückgehe, daß die bösen Emigranten überall gelesen würden, sogar in den verbündeten Ländern Italien und Ungarn. Selbst im eigenen Lande muß man die Massenproduktion parteiamtlich empfohlener Werke den Leuten aufdrängen. Das Niveau ist gar zu niedrig, die Verhunzung der deutschen Sprache allzu greifbar. Die Bücher der Emigranten dagegen werden in allen Kulturländern als die repräsentative deutsche Literatur anerkannt, von den Gebildeten deutsch gelesen und sehr viel übersetzt.

Es ist möglich, dies zu beweisen an Hand des Index translationum, der in Paris von einem Institut des Völkerbundes seit dem 1. Juli 1932 herausgegeben wurde. Er enthielt damals die Übersetzungen aus fremden Sprachen, anfangs von 12, 1937 von 15 Ländern. Ich habe die Übersetzungen vom 1. Januar 1933 bis 31. Dezember 1938 geprüft. An erster Stelle steht eine beliebte Schriftstellerin aus Deutschland; Hedwig C o u r t h s -M a h 1 e r, die ja in unübertrefflicher Weise für die Unterhaltung naiver Frauenseelen in aller Welt sorgt, mit 134 Über-setzungen in diesen sechs Jahren. Es folgen die Emigranten Stefan Zweig mit 111, Vicki Baum mit 87, Lion Feuchtwanger mit 80, Thomas Mann mit 74, Emil Ludwig mit 60, Jakob Wassermann mit 57, Franz Werfel mit 40, Gina Kaus mit 30, J o s e p h Roth und Arnold Zweig mit je 28 Übersetzungen. Erich Kästner blieb daheim, aber seine Bücher erschienen nicht im Dritten Reich, sondern im Ausland; sie erreichten 59 Übersetzungen. Hans Fallada, dessen Bücher im Dritten Reich nicht gerade als „staatspolitisch wertvoll“ galten, erzielte 49 und Ernst Wiechert 20 Übersetzungen. An den fast 600 Übersetzungen der Emigrantenbücher waren Italien und Ungarn je mit etwa 10 Prozent beteiligt. Diese Zahlen sind sehr beredt, obwohl in ihnen ja nur ein Teil des Erfolgs erfaßt ist, weil die Übersetzungen von vielen Ländern im Index translationum fehlen. Es ist der Geist freier Menschlichkeit, der über den Fanatismus des Nationalsozialismus gesiegt hat.

Während des zweiten Weltkrieges

Der Ausbruch des Weltkrieges am 1. September 19 39 griff tief in das Leben der deutschen Emigranten ein. Die Intervention des Dritten Reiches im spanischen Bürgerkrieg zu Gunsten Francos gegen die republikanische Regierung, der Einmarsch in Österreich und die Besetzung der Tschechoslowakei waren Vorspiele. Nun aber verwandelte sich das gesamte Schicksal der Emigranten auf dem hochdramatischen Hintergründe der weltgeschichtlichen Ereignisse.

Frankreich als Beispiel An einem Beispiel möchte ich zeigen, welchen Einfluß die kriegerischen Ereignisse auf die Emigrantenliteratur ausübten, an der Katastrophe Frankreichs im Frühjahr 1940. Niemand hatte den raschen Zusammenbruch der französischen Armee erwartet. Die französischen Soldaten warfen sich mit ihrer veralteten Ausrüstung vergeblich den eindringenden Panzerkolonnen entgegen, die jede Front durchbrachen und umfaßten. Mit dem Vorstoß entlang der Nord-und Westküste, der schon im Mai eingeleitet wurde, umspannten sie ganz Frankreich. Der phantastische Erfolg führte dem Dritten Reich einen Bundesgenossen zu: am 10. Juni erklärte Italien dem schon überwundenen Frankreich den Krieg, griff von Süden in den Kampf ein und band viele Divisionen an dieser Grenze. Viel schlimmer noch als in allen bis dahin eroberten Ländern war die Verwirrung hier über den plötzlich im Lande stehenden Feind. Das halbe Volk begab sich in heillosem Schrecken auf die Flucht und füllte die Landstraßen mit seinem Wirrwarr von Fahrzeugen und Menschen. Am 14. Juni wurde, um wenigstens Südfrankreich als unbesetztes Hoheitsgebiet zu retten, im Wald von Compiegne der Waffenstillstand von der neuen Regierung Petain-Weygand unterzeichnet, im gleichen Eisenbahnwagen, in dem Marschall Foch 1918 die Deutschen sein Diktat unterzeichnen ließ: Hitler konnte sich rühmen, daß er die alte Schmach getilgt habe!

Für die ganze Welt, vor allem für jeden, der das Andere Deutschland, das unterdrückte und verstummte, liebte, brachte der Juni 1940 die düstersten, niederdrückendsten Tage der ganzen Hitlerzeit. Das Dritte Reich schien unüberwindlich und das europäische Festland seiner Gewalt ausgeliefert. Frankreich war das Asyl für ungezählte Flüchtlings-scharen aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei, unter ihnen besonders zahlreiche Menschen aus dem geistigen Leben, die schon immer Beziehungen zur französischen Kultur gepflegt hatten. Sie gerieten nun hinein in das Tohuwabohu des Zusammenbruchs. Sie waren dabei in den überfüllten Eisenbahnzügen und unter den wandernden und fahrenden Menschenmassen auf den Landstraßen, sie verließen in schwerbelasteten Fahrzeugen die französischen Küsten, sie flohen nach der Schweiz, über die Pyrenäen und weiter nach Portugal, um dort eine Fahrtgelegenheit nach Übersee zu erreichen oder abzuwarten. In Marseille im unbesetzten Frankreich und in Lissabon stauten sich die Flüchtlinge und lagen da monatelang wie Waren, die dem Verderben anheimfallen. Die Vichy-Regierung spertte die meisten in Internierungslager, lieferte manche der deutschen Regierung aus; andere brachen aus oder wurden von der französischen Widerstandsbewegung befreit und versteckt gehalten.

Ich will nur einige Einzelschicksale der deutschen Schriftsteller herausheben. Der Essayist Walter Benjamin und der Dichter Walter Hasenclever nahmen sich das Leben. Hans Habe trat schon 1939 als Kriegsfreiwilliger in die französische Armee ein, wurde 1940 als Kriegsgefangener in ein deutsches Durchgangslager eingeliefert, entkam aber und erschien 1944 wieder als amerikanischer Offizier an der Front. Wilhelm Herzog entfloh aus dem französischen Internierungslager und gelangte nach Trinidad. Hans Arno Joachim wurde 1943 von der Gestapo in Südfrankreich ergriffen und ermordet. Annette Kolb floh 1940 aus Paris und entkam glücklich in die Schweiz, Werner Kraft gelangte nach Palästina. Rudolf Leonhard brach aus einem französischen Internierungslager aus, wurde von französischen Widerstandskämpfern ausgenommen und versteckt gehalten bis zur Befreiung des Landes. Alfred Mombers saß 1940 in einem Lager in Südfrankreich, wurde von der. Gestapo verschleppt, aber durch Hans Reinhard nach Winterthur geholt. Friedrich Muckermann, vorher in Holland, floh nach Süden, lebte verkleidet als Bauer und gelangte schließlich in die Schweiz. Anna Seghers lebte von 1933 bis 1940 in Paris, sie konnte sich nach Mexico retten. Ludwig Turek wurde bei Kriegsausbruch in ein französisches Lager gesteckt, kehrte unerkannt von der Gestapo mit anderen deutschen Internierten ins Dritte Reich zurück und arbeitete viereinhalb Jahre als Fräser in einer Fabrik in Berlin-Tempelhof. Auch Fritz von Unruh wurde in einem Lager in Frankreich gefangen-gehalten, entwich aber und am 18. August 1940 konnte der „Aufbau“ in New New York seine Ankunft melden. Franz Werfel berichtet im Vorwort zu seinem Buch „Das Lied vou Bernadette“, daß er mit seiner Frau über die spanische Grenze fliehen wollte, aber kein Visum erhielt und dann in Lourdes eine Zuflucht fand. Er erhielt auf persönliche Initiative des Präsidenten Roosevelt (zusammen mit Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Leonhard Frank, Heinrich Mann, Walter Mehring, Alfred Neumann, Wilhelm Speyer, Friedrich Torberg) ein Notvisum und konnte sich von Lissabon nach den Vereinigten Staaten einschiffen, während der 70jährige Heinrich Mann von Nizza zu Fuß über die Pyrenäen flüchten mußte. Der Kunsthistoriker Paul Wertheim lebte seit 1933 in Paris, wurde 1939 interniert, landete aber glücklich in Mexiko. Audi Theodor Wolff emigrierte schon 1933 nach Frankreich, wartete im November 1942 in Nizza auf das amerikahische Visum, erlebte dort noch seinen 75. Geburtstag, wurde von der Gestapo ins Dritte Reich verschleppt, erst nach Dachau, dann nach Oranienburg und starb im November 1943 im jüdischen Krankenhaus in Berlin. Hans vonZwehl wurde in Paris verhaftet, 1943 vom Volksgericht zum Tode verurteilt, ist aber am Tag des Urteils . plötzlich verstorben“.

Eine Anzahl deutscher Schriftsteller überstanden die Zeit der nationalsozialistischen Besetzung in Frankreich, u. a. Robert Blum, Salomon Friedländer, Pierre Kamnitzer, Rudolf Leonhard, David Luschnat, Ernst Erich Noth und Alfred Wolfenstein (der im Januar 1945 im Rotschild-Hospital in Paris starb).

Die Erlebnisse zur Zeit des Zusammenbruchs in Frankreich haben in der deutschen Emigrantenliteratur sehr tiefe Spuren hinterlassen, wofür ich eine Anzahl Beispiele anführe: Alfred Döblin schrieb eine „Schicksalsreise in Frankreid^ 1940/41“, die zu seiner Bekehrung zum Katholizismus führte. Lion Feuchtwanger veröffentlichte in Mexico 1942 den Bericht über seine Internierung „Unholdes Frankreich“, ließ die Erzählung „Simone“, Stockholm 1945, und den zweibändigen Beaumarchais-Roman „Waffen für Amerika“, Amsterdam 1947/48, folgen. Iwan Heilbuts schöner Lyrikband „Meine Wanderungen“, New York 1943, schließt Gedichte aus Frankreich ein. Gertrud Isolani-Sternbergs Roman „Stadt ohne Männer“ schildert das Leben im Frauenlager zu Gurs, Rudolf Leonhard hat ein viel aufgeführtes Stück „Geiseln“ geschrieben auf Grund seiner Erlebnisse in dieser Zeit. ErichMariaRemarques Emigrantenroman „Liebe Deinen Näclcsten“ spielt teilweise, der zweite „Arc de Triomphe" ganz in Paris. Anna Seghers Buch „Transit" stellt die Emigrantenmassen dar, die im letzten freien franzöischen Hafen Marseille auf Papiere und Ausreise warten. Fritz von Unruh vollendete in Amerika einen Roman vom Geigenbauer Matthias Westermann, der im besetzten Paris spielt. Franz Werfel schrieb gemäß einem Gelübde, das er in Lourdes ablegte, sein Buch „Das Lied von Bernadette", dem jungen Mädchen, das die Visionen der Jungfrau Maria in der Nähe von 'Lourdes erlebte, und die Komödie „Jakobowsky und der Oberst“, eines der besten Lustspiele unserer Zeit, das sich auf dem düsteren Hintergründe der französischen Tragödie abspielt. Friedrich Wolf wählte den französischen Widerstand zum Motiv seines Dramas „Patrioten“.

Dieser Überblick über eine Anzahl Werke, die aus dem tragischen Wirrwarr in Frankreich 1940 hervorgewachsen sind, setzt die mannigfaltige literarische Leistung der deutschen Emigranten in hellste Beleuchtung. Diesen Umständen literarische Motive abzugewinnen, in ihnen geistige Überlegenheit zur Planung literarischer Arbeiten zu bewahren, sie nach überstandener Gefahr im fremden Lande ohne Sicherheit der Lebenslage auszuführen, das heißt wahrhaftig Schöpferkraft heißt beweisen und sich bewähren, das Wasser aus dem Stein schlagen, Dichtung fließen machen, wo andere Elend und Verzweiflung nur ernten.

Emigranten-Zentren in Europa Die Expansion Hitlers zerstörte eine Anzahl der Zentren geistigen Lebens, die Emigranten in Europa aufgebaut hatten, in der Tschechoslowakei, in Österreich, in Dänemark und Norwegen, in Holland, Belgien und Luxemburg, in Frankreich. Der Krieg schränkte auch das geistige Leben der deutschen Emigranten in den. neutralen Ländern, der Schweiz und Schweden, ein, ohne es ganz zu drosseln. In der Sowjet-Union drängte der Krieg es etwas zurück. In England blühte es stärker als vorher. Aber das Hauptkennzeichen dieser Periode ist doch, daß es sich nach Übersee verlagerte.

Neue Zentren außerhalb Europas In allen Erdteilen, wo sich Scharen der Flüchtlinge aus Mitteleuropa niederließen, bildeten sich bald neue Zentren deutschen geistigen Lebens u. a. in New York und Los Angeles, in Buenos Aires, Montevideo, Rio de Janeiro und Santiago de Chile, in Johannisburg und Shanghai, um nur die regsten zu nennen. Wieder kam es zu Vereins-und Gruppenbildungen aller Art, zu Vorträgen, Vorlesungen der Schriftsteller, Kabarett-und Theatervorstellungen, Diskussionsabenden, Arbeitsgemeinschaften, in Nord-und Südamerika auch zu deutschen Rundfunk-sendungen. Das alles ist aus der deutschen Presse abzulesen.

Die Presse In London erschien „Die Zeitung“ im Frühjahr 1941, zuerst als Tageszeitung, dann als 12seitige Wochenschrift mit Zustimmung der englischen Regierung, aber ohne Eingriffe ihrerseits in die redaktionelle Leitung. Die Auflage war etwa 20 000, wovon etwa ein Drittel auf dünnem Papier per Flugzeug nach Südamerika ging, um dort der Nazi-propaganda entgegenzuwirken. In Buenos Aires gewann das Argentinische Tageblatt an Bedeutung als einzige antinazistische Tageszeitung, an der alle Emigranten mitarbeiten konnten. In Santiago de Chile erschienen von Januar 1943 bis Ende 1946 die Deutschen Blätter, zuerst als Monats-, später als Zweimonatsschrift, eine der qualitativ besten Publikationen der ganzen deutschen Emigration, in stattlichem Umfang und geschmackvoller Ausstattung, von Dr. Udo Rukser und Albert Theile unter großen persönlichen Opfern geleitet und herausgegeben. Ihr Motto war „Für ein europäisches Deutschland, gegen ein deutsches Europa,“ ferner ein Satz Pestalozzis „Wir wollen keine Verstaatlichung des Menschen, sondern eine Vermenschlichung des Staates.“ Das Gesicht des Blattes war ganz Deutschland zugewandt, es gab schon früh Stimmen der Daheimgebliebenen Raum. Im Gegensatz zu dem sozialdemokratischen Blatt August Siemsens „Das andere Deutschland“ war diese Zeitschrift bürgerlich mit katholischem und konservativem Einschlag. In Mexico erschien die „Demokratische Post“ ab 1. August 1943. In New York entwickelte sich unter der Leitung Manfred Georges die Wochenschrift „Aufbau“ in Folge der wachsenden deutsch-jüdischen Einwanderung zu einem Hauptorgan der gesamten mitteleuropäischen Emigration. Sie hatte 1944 eine Auflage von etwa 30 000, später von 50 000 und wurde von den deutschsprechenden Juden in allen fünf Erdteilen gelesen, u. a. weil sie Suchlisten veröffentlichte und die Beziehungen zwischen auseinandergerissenen Verwandten und Freunden herstellte. Politisch vollzog sie die Loslösung von Deutschland, sie förderte die Assimilation der Juden in Amerika, sie pflegte alle Interessen des Judentums, aber bewahrte der deutschen Kultur die Treue und pflegte die deutsche Sprache und Literatur. Für das Studium des geistigen Lebens der deutschen Emigration ist sie eine der ergiebigsten Quellen, da ihr kaum wesentliche Ereignisse entgehen. Es gibt einige jüdische Blätter von mehr lokaler Bedeutung, z. B. die „Jüdische Wochenschau“ in Buenos Aires. In Palästina, wohin bis 1948 über 200 000 Juden aus Mitteleuropa einwanderten, gibt es eine Anzahl deutscher Blätter.

Deutsche Bücher Die Zahl der nach dem Kriegsausbruch 1939 und bis zur Jahreswende 1946/47 veröffentlichten deutschen Bücher von einiger Bedeutung ist wohl etwas kleiner als in der ersten Periode. Die Bücherproduktion hat sich nach Übersee verlagert. Während vor dem Kriege nur vereinzelte Publikationen außerhalb Europas vorkamen, erscheint jetzt etwa ein Drittel in nichteuropäischen Ländern, vor allem in den Vereinigten Staaten, Mexiko, Argentinien und Palästina. Aber es ist charakteristisch für die veränderte Lage, für die Schrumpfung des Absatzmarktes der deutschen Bücher, daß nirgends außerhalb Europas ein neuer deutscher Verlag von der Art und Größe des Europa-Verlags in Zürich, der beiden Querido und Allbert de Lange in Amsterdam und Bermann-Fischer in Stockholm gebildet wurde. Einzelne einheimische Verleger gaben einige deutsche Bücher heraus. Kleinere deutsche Unternehmen entstanden da und dort, u. a. in Palästina. Einige Schriftsteller versuchten es mit dem Selbstverlag. Gruppen schlossen sich zusammen und gründeten einen genossenschaftlichen Verlag, z. B. Das Freie Buch in Mexiko, der Aurora-Verlag in Boston, USA.

Aufklärung über das Dritte Reich überflüssig Es wäre sinnlos, die Werke dieser Periode in gleicher Weise zu gruppieren, wie in der ersten, unter dem Gesichtspunkt der Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich. Diese Periode hatte ja letzten Endes den Sinn gehabt, Europa und die Welt über das Dritte Reidt aufzuklären und vor dem drohenden Weltkrieg zu warnen. Nun waren alle Masken gefallen und Adolf Hitlers uneingeschränkter Wille zur Anwendung der Gewalt im Kampfe um die Weltmacht offenbat. Analysen, Streitschriften, Aufklärungsarbeit im Vorkriegssinn kamen nicht mehr in Frage, da auch der illegale Verkehr über die Grenzen sehr erschwert war. Die Motivwahl der Dichter ändert sich. Viele wurden mehr auf sich selbst zurügewiesen.

Lyrik Nach mannigfachen Äußerungen u. a.der Redakteure der Zeitschriften ist in diesen Jahren ungewöhnlich viel gute Lyrik entstanden und teilweise in Zeitschriften, teilweise in Gedichtbänden veröffentlicht, teilweise auch ungedruckt geblieben. Die Menschen, die aus ihrer heimatlichen Umgebung gerissen sind und die lebendige deutsche Gemeinschaft mit ihrem Widerhall entbehren, fühlen sich einsam und retten ihre Seele ins Gedicht.

Anhänger Stefan Georges Stefan George, der kurz vor seinem Tode aus dem Dritten Reich in die Schweiz emigrierte und gemäß seinem letzten Willen in Minusio bei Locarno die letzte Ruhestätte fand, wirkt nach unter den deutschen Lyrikern; seine Anhänger sind in dieser Zeit über den Erdball verstreut, u. a. Karl Böhringer lebt und wirkt in der Schweiz, Wolfgang Cordan in Holland, Fred Marnau in London, Heinz Politzer und Walter Jablonski in Jerusalem, Karl Wolfskehl in Auckland, Neu-Seeland. Übersetzung fremder Lyrik Viele deutsche Dichter sitzen, während der Weltkriege zwischen den Völkern tobt, gebeugt über der Lyrik anderer Völker und bemühen sich, sie in ihre Muttersprache zu übertragen.

Der neugriechische Dichter K. P. Kavaphis, der 1868 — 1935 in Alexandria lebte, wurde zuerst von Walter Jablonski übersetzt und in zwei Heften in bescheidener Vervielfältigung, Jerusalem 1942— 1943, herausgegeben. Eine zweite sorgfältigere, ausdrucksvollere Übertragung schuf WolfgangCordan und veröffentlichte sie Maastrich 1947 in einem Liebhaberdruck unter dem Titel „Der Wein der Götter.“

Gedichte von Swinburne publizierte Otto Blumenthal in kleiner Auflage Jerusalem 1946.

Eine Anthologie englischer Lyrik „Ewiges England“ gab Hans Feist 1945 in der Schweiz heraus, 288 Übertragungen von Chaucer bis Eliot.

NellySachs übersetzte eine repräsentative Auswahl schwedischer Lyriker des 20. Jahrhunderts unter dem Titel „Von Welle und Granit“, die in Berlin 1947 erschien.

In den Vereinigten Staaten übertrug Ferdinand Bruckner Lieder der Neger und in Südamerika Paul Zech Gedichte und Erzählungen der Indianer

Da das Exil schon so lange währte und das Heimweh wuchs, da die Erlebnisse der Emigranten durch die Kriegsereignisse, durch die Flucht von Land zu Land und in eine außereuropäische Umwelt sich mehrten und steigerten, nahmen die Bücher, die das Emigranten-Dasein selbst schilderten einen viel breiteren Raum ein als in der Vorkriegszeit, und die neue Umgebung mit ihren Motiven drang stärker in die deutsche Emigranten-Literatur ein.

Manche Emigranten kamen in diesen Jahren in das Alter, in dem man dazu neigt, auf den eigenen Lebenslauf zurückzublicken und seine Erinnerungen zu einem persönlichen Buch zusammenzufassen. So schrieb z. B. Th. Th. H e i n e in Stockholm seinen ersten Roman „Idt warte auf Wunder,“ autobiographisch, Heinrich Mann in Los Angeles „Ein Zeitalter wird besichtigt“, Max Osborn in New York seine Erinnerungen „Der bunte Spiegel“, Stefan Zweig in Petropolis bei Rio de Janeiro sein wehmütiges Buch „Die Welt von gestern“, ehe er sich im Februar 1942 das Leben nahm.

Gegenwartsbücher Geschichtliche Motive zogen nach wie vor vereinzelte Dichter an, wenn sie geeignet schienen, ein Problem der eigenen Zeit oder des eigenen Lebens darzustellen, aber sie standen nicht mehr so auffällig und breit im Vordergrund. Die meisten Schriftsteller wurden mehr und mehr von der eigenen Zeit angezogen, die ihre Phantasie so stark erregte und fesselte, daß sie ihnen zum Motiv wurde in lyrischen Gedichten, Erzählungen und Dramen aller Art.

Vicky B a u m, die glänzende Unterhaltungsschriftstellerin, schrieb „Marion lebt“, wohl stark autobiographisch, das größtenteils in Deutschland spielt.

Alfred Döblin schuf ein vierbändiges Werk, das 1918 beginnt und uns tief in die deutschen Ereignisse um 1933 hineinführt.

Hermann Kesten siedelte seinen Roman „Die Zwillinge von Nürnberg“ in der Zeit des Nationalsozialismus an.

Walter Kolbenhoff gestaltete in seinem Roman „Von unserem Fleisch und Blut" eine einzige Nacht eines jungen „Werwolf“ im Trümmerfeld einer deutschen Stadt.

Auch T ho m a s Mann ist aus der Zeit der Patriarchen und der Mythen, aus der Welt Schopenhauers und der indischen Legende und aus dem Zeitalter Goethes heimgekehrt in die Gegenwart und hat in Doktor Faustus ein tragisches deutsches Musikerschicksal erschütternd dargestellt, das er einen Freund erzählen läßt; durch seinen Mund nimmt er Stellung zu den geschichtlichen Ereignissen in der Heimat, zu 1914, 1933 und 1945.

Alfred Neumann hat im Anschluß an den hochnotpeinlichen Prozeß gegen die Geschwister Scholl und ihre Freunde seinen Roman „Es waren ihrer sechs“ gedichtet, den ich für die beste künstlerische Arbeit über die inneren Verhältnisse des Dritten Reichs halte.

Arnold Zweig hat in „Das Beil von Wandsbek“ eine Kleinbürgertragödie im Dritten Reich geschrieben, ein kühner Vorstoß in die Seelenkunde der nationalsozialistischen Anhängerschaft.

Aus etwas größerem zeitlichen Abstand gelingen vertiefte künstlerisch gestaltete Schilderungen des Dritten Reichs.

Stefan Zweigs Selbstmord In der Nacht vom 22. -23. Februar 1942 nahm sich in Petropolis bei Rio de Janeiro Stefan Zweig mit seiner zweiten Frau Lotte Altmann das Leben. In allen Zentren literarisdien Lebens der deutschen Emigranten, in Zürich, Stockholm, London, New York, Los Angeles, Buenos Aires, Montevideo, Mexico, Johannesburg u. a. m. wurden Gedächtnisfeiern veranstaltet. Eine Welle leidenschaftlicher Erregung ging durch alle Kreise der Emigranten, wie u. a. aus dem „Aufbau," New York, abzulesen ist. Er veröffentlichte den Bericht Ernst Feders „Stefan Zweigs letzte Tage", den Abschiedsbrief des Schriftstellers an den Präsidenten des brasilianischen PEN-Klubs, das letzte Gedicht des Toten, einen Beitrag Carl Zuckmayers „Aufruf zum Leben“, Lion Feuchtwangers „Psalm vom Mut“, einen Brief der ersten Frau Friderike Zweig an Emil Ludwig und dessen Brief an Stefan Zweig, der ihn nicht mehr erreichte. Man fürchtete offenbar eine Selbstmord-epidemie unter den älteren und alten Intellektuellen. Im Februar 1942 stand Adolf Hitler auf dem Gipfel seiner Macht, seine Armeen tief in der Sowjetunion vor Stalingrad, fast der ganze Kontinent Europa unter seinem Einfluß. Stefan Zweigs freiwilliger Tod war wahrlich nicht der erste unter den Schriftstellern der deutschen Emigration. Um nur die bekanntesten zu nennen: Kurt Tucholsky hatte sich 1935 in Schweden das Leben genommen, Ernst Toller 1939, als Franco in Spanien gesiegt hatte, Walter Benjamin und Walter Hasenclever in Frankreich. Aber Stefan Zweig? Wenn man von irgend jemand sagen konnte, daß sein Leben vom Schicksal begünstigt war, so von ihm. 1881 in Wien als Sohn sehr wohlhabender Eltern geboren, hatte er in Wien, Berlin und Paris nach freier Wahl Romanistik studiert, und dann weite Reisen unternommen, nie genötigt, um des Broterwerbs willen zu arbeiten. Mit seinen Gedichten, Novellen, Dramen und Essays fand er sehr früh Anerkennung der Besten und Aufnahme im hochangesehenen Insel-Verlag. Die Begegnung mit Emile Verhaeren führte ihn über die österreichische Kulturtradition und über Fart pour Fart hinaus, hinein in den Dienst an der Humanität. Er wurde zum guten Europäer. Mitten im ersten Weltkrieg schrieb er in Wien sein pazifistisches Drama „Jerewias“ und arbeitete dann in der Schweiz eng mit Romain Rolland zusammen. Von der Dichtung ging er mehr und mehr zur Essayistik über und in ihr von literarischen zu geistes-und kulturpolitischen, ja vereinzelt sogar zu politischen Themen. Ob er Vorträge hielt, Gedichte, Dramen, Novellen, Legenden, Essays schrieb oder die Werke anderer übersetzte, mit allem, was er anfaßte, erntete er Erfolg und Ruhm. Er war zweifellos einer der beliebtesten und gelesensten deutschen Schriftsteller gerade unter den Intellektuellen dieser Zeit. In der Einleitung zu seinem letzten vollendeten Buch „Die Welt von gestern" stellt er es so dar, als ob er das allerschwerste erlebt habe unter den Zeitgenossen. Aber das ist eine superlativische Übertreibung. Er war immer sehr wohlhabend, litt nie Not. Er hatte eben seine zweite Frau nach eigener freier Wahl geheiratet. Er wählte Brasilien als Aufenthalt, das ihn sehr ehrenvoll aufnahm. Er bewohnte im hochgelegenen Petropolis ein schönes Haus. Es gab tausende von Schicksals-und Leidensgenossen, die es unendlich viel schwerer hatten als er. Gewiß, er hielt im Februar 1942 nicht nur sein Vaterland Österreich, sondern auch die geliebte geistige Heimat Europa für verloren. Man grübelte überall viel über seine Tat und versuchte verschiedene Deutungen. Man sagt, daß seine Frau sehr krank gewesen sei und ihn überredet habe, mit ihr das Leben zu verlassen. Er selbst führt außer dem Verlust der Heimat und der Freiheit Müdigkeit an. Aber es kommt m. E. hinzu, daß er nicht mehr recht an den Sinn und Wert seiner literarischen, erfolgreichen Arbeit glaubte. Für diese Auffassung gibt es zwei Dokumente. Emil Ludwig schreibt im schon erwähnten Briefe:

„Sie waren doch selbst ein homo literaticus .. . und wollten nie etwas anderes sein. Wie oft haben Sie mich ausgelächelt, weil mir die ganze Schreiberei nicht genügt hat! Sie glaubten wirklich, daß uns irgend ein Einfluß, sogar ein tiefer gegeben wäre; Sie glaubten wirklich an die Macht des Wortes, des Schreibens, des Buches, die mir in unserer Epoche so problematisch erscheinen. Jetzt, im letzten Augen-blidt sind Sie enttäuscht ..."

Stefan Zweig selbst aber schrieb am 18. Februar 1942 im letzten Brief an seine erste Frau Friderike:

There will be neuer return to all by gone things and what is expec-ting us will neuer giue more what those times had to afford us. 1 am continuing my work but with a quarter of my strength; it is more continuing an old habit than really creating. One must be convinced to convince, haue enthusiasm to stimulate the others and how to find this now!

Vieles mag beigetragen haben zu Stefan Zweigs Entschluß, dies war entscheidend. Es läßt sich durch viele Zeugnisse erhärten, daß er ein im Grunde völlig unpolitischer Mensch war, der über die Triebkräfte der Weltgeschichte nie nachgedacht hatte. Der Zusammenbruch des Glaubens an den Sinn all seines Erfolges und Ruhmes, an die Macht des reinen Geistes in der Weltgeschichte, raubte ihm den inneren Halt und den letzten Antrieb zum Schaffen. Er war ein arbeitsfroher Mensch, die Arbeit war der eigentliche Gehalt seines Lebens. Nun machte er seinem arbeitsreichen Leben ein Ende. Sein Freitod ist ein Teil der Tragödie des unpolitischen deutschen Bürgertums.

Pessimismus in der Dichtung Das ungeheuerliche Weltgeschehen dieser Zeit mit dem Dritten Reich als Anstifter des zweiten Weltkrieges im Mittelpunkt der Welterregung und Feindschaft, der grauenvolle moralische Absturz der Schreckensherrschaft Adolf Hitlers in der Heimat, in der die führenden Schriftsteller doch ihren verantwortungsvollen Dienst am Wort lange geübt hatten, erzeugte bei ihnen nun einen schwermütigen Pessimismus, der ihre bedeutendsten Werke stark beherrscht.

Der große Musikerroman Thomas Manns „Doktor Faustas" ist im tiefsten Schlagschatten des zweiten Weltkriegs aus dunkler Schwermut geboren. Der Dichter kehrte in ihr nicht nur heim in seine unglückselige deutsche Heimat, sondern auch zurück zur Welt-und Lebensanschauung seiner Jugend, zum Pessimismus Schopenhauers und zugleich zum Hauptmotiv seiner frühen Dichtung, der Fragwürdigkeit des Künstlertums. Während er im Roman „Joseph und seine Brüd e r“, seiner Goethe-nahesten Dichtung, den glückhaften Aufstieg eines Menschen zu höchsten Ehren darstellte — Joseph der Ernährer ist eine Art Gegenbild des Zerstörers Adolf Hitler —, gilt es hier, ein tragisches Leben bis zum Zusammenbruch in Wahnsinn zu schildern. Er läßt im Anschluß an Friedrich Nietzsches Lebenslauf und -werk die gesteigerte musikalische Kunstschöpfung Adrian Leverkühns aus dem Morast einer bösartigen Krankheit aufblühen und dem Teufelspakt, in den die Phantasie des Komponisten sich früh einspinnt, zuletzt die Geistesumnachtung (ein Ersatz für die Hölle des Volksbuches) folgen. Das ist eine zwar ironisch gedämpfte, aber doch eine abgründige Dämonie des künstlerischen Schaffens, wie er sie nie vorher zu gestalten gewagt hatte. Diese kühne dichterische Leistung rückt hintendrein in eine grelle Beleuchtung durch das überaus harte Urteil, das der Dichter selbst in seinem Aufsatz „Friedrich Nietzsche im Lichte unserer Erfahrung“ über „Also sprach Zarathustra“ fällt, also über das Werk, das der letzten als grandios gepriesenen Komposition „Dr. Fausti Weheklag“ im Rahmen des tragischen Lebenslaufes entspricht. Die pessimistische Haltung kommt aber noch stärker darin zum Ausdruck, daß er diesen Menschen, der sich um der Musik willen dem Teufel verschreibt und die ewige Seligkeit verlieren muß, wenn ihn nicht die Gnade Gottes um seines Werkes willen erlöst, daß er ihn mit dem deutschen Volk identifiziert, das sich Adolf Hitler verschrieben hat. Diese Identifikation eines politisch handelnden Staates mit einem einzelnen Künstler ist eine echt künstlerische Vermenschlichung, „Doktor Faustas“ ist Symbol der romantischen, musikalischen, deutschen Seele, die um jeden Preis zum Höchsten strebt. Aber die Identifikation verrät doch auch wie völlig unpolitisch der schaffende Künstler Thomas Mann denkt, sie ist ungerecht gegenüber der historischen Wirklichkeit, in der kleine mächtige Schichten ein teils verleitetes, teils widerstrebendes Volk einer Gruppe von verbrecherischen Gewaltmenschen auslieferte, die dann ihre Schrekkensherrschaft errichtete.

Franz Werfel entwickelt in seinem utopischen Reiseroman in die ferne Zukunft um das Jahr 100 000 „Stern der Eingeborenen" eine quellstarke Phantasie, der er ein erkleckliches Quantum grotesken Humors beimengt. Aber die überraschende Fülle gestalteten Lebens darf nicht über den abgrundtiefen Pessimismus hinwegtäuschen, der dies Werk beherrscht. Die bis in alle Einzelheiten dargestellte Kultur des astralmentalen Zeitalters ist gottlos wie die Gegenwart, ähnelt mehr Nietzsches Vorstellung vom verächtlichen letzten Menschen im „Zarathustra“ als irgendeinem Ideal und wird wieder durch einen Krieg zerstört, wie es inzwischen schon vieltausendmal geschehen ist. Es ist durchaus kein Zufall, daß die schöpferische Phantasie Werfels ihren grausigsten Triumph feiert in der Darstellung des unterirdischen Reichs, in dem den verwöhnten Erdbewohnern dieses Zeitalters das Sterben angenehm gemacht, die Idee der Euthanasie mit grotesken Einzelheiten durchgeführt wird. Irgendwelche vitaminreiche Nahrung für die Gestaltung der Gegenwart (wie aus anderen LItopien) ist aus dieser letzten Dichtung Franz Werfels gewiß nicht zu holen, es ist ein pessimistisches, beklemmendes Spiel mit den letzten Menschheitsfragen.

Hermann Hesse, den ich hier mit anführe, obwohl er nicht zur Emigration aus dem Dritten Reich gehört, aber mit ihr us dem gleichen geistigen Raume deutscher Humanität stammt und durch hundert Beziehungen mit ihr verbunden ist, gestaltet in seinem zweibändigen Roman „Das Glasperlenspiel“, der einige hundert Jahre nach unserer Gegenwart spielt, eine pädagogische Provinz, in der auserlesene Menschen sorgfältig zu Trägern der höchsten geistigen Überlieferungen der Menschheit herangebildet werden, ein erdichtetes Reich, das seinem Herzen nahesteht, ein wundervolles Wunschbild seines Hirns. Das Glasperlenspiel ist ihre jährliche gemeinsame Feier, in der, wenn es glückt, der innere Zusammenhang aller geistigen Bemühungen, die geistige Harmonie, leuchtend, stärkend, anspornend erlebt wird, das weltweite Innenreich der Romantik in abgewandelter Form. Aber er schildert auch eindringlich die Grenzen dieser geistigen Welt. Die Mitglieder des Ordens sind ohne Besitz und unverheiratet, ohne irdische Interessen und Leidenschaften. Schopenhauers Lehre von der Verneinung des Willens wirkt nach. Die pädagogische Provinz ist insbesondere völlig abgesondert von der politischen und wirtschaftlichen Welt, deren Geschichte nicht in den Kreis des Glasperlenspiels einbezogen ist. Sie ist auch durchaus getrennt von der Religion, deren Pflege in den Händen der katholischen Kirche liegt. Das Zeitalter ist nicht mehr schöpferisch, sein Schwerpunkt liegt in Kultur-und Geistesgeschichte, mit Musik und Mathematik als Kern. Das Ende eines Musikmeisters, der innerlich ganz zu Musik geworden ist, so daß sein Wesen schweigend Harmonie ausstrahlt, verkörpert das Ideal. Der Roman handelt von dem Meister des Glasperlenspiels Knecht, der ein begabter Dichter gleich Hermann Hesse ist, wie seine beigefügten Erzählungen und Gedichte erweisen, und stetig zur höchsten Würde im Orden aufsteigt. Am Schluß des Werkes bricht der tiefe Pessimismus Hermann Hesses hervor. Knecht ist, besonders durch Gespräche mit dem Benediktinerpater Jakobus (der Name zielt auf Jakob Burckhardt) zur Überzeugung gekommen, daß dieser ganze herrliche geistige Überbau, eben weil er sein Spiel außerhalb der Geschichte ansiedelt, zum Untergang verurteilt ist. Er wendet sich dem praktischen Leben zu und — stirbt, ehe sein Versuch der Verschmelzung der Lehren des Ordens mit dem wirklichen Leben angestellt ist. Es eröffnet sich keine Perspektive in die Zukunft. In diesem Werk sehe ich die künstlerische Darstellung der Tragödie des unpolitischen intellektuellen deutschen Bürgertums.

Einen Dichter der Vergangenheit, mit dem er sich weitgehend identifiziert, hat Hermann Broch zum Motiv seiner großen Versdichtung Der Tod des Vergil gewählt. Er ist nicht pessimistisch; denn der religiöse Ausgang, die erlebte Vision der Seelenwanderung in die Gefilde der Ewigkeit verhütet es. Lim so stärker tritt die Fragwürdigkeit des künstlerischen Werks in den Mittelpunkt, ganz anders aufgefaßt als bei Thomas Mann. Abend, Nacht und Morgen, die letzten Vergils, werden geschildert in vier Abschnitten, die nach den vier Elementen der Antike „Wasser", „Feuer“, „Erde“ und „Luft" benannt sind, dazu als Untertitel „Ankunft", „Abstieg", „Erwartung" und „Heimkehr“.

Allein, in der Tiefe der Nacht, steigt Vergil in die Tiefe seiner Seele hinab, zu einer letzten Lebensanalyse und Selbstprüfung, und taucht wieder auf mit dem Entschluß, sein Werk, die Äneis, die Rom verherrlicht und dem Kaiser zugeeignet ist, zu vernichten; es erscheint ihm im Verhältnis zur Gesamtexistenz des Menschen im All äußerst fragwürdig, ja unzulänglich und deshalb verwerflich. Um der Schönheit, um des Sinnbildes willen, ist er eidbrüchig geworden wie die ganze Zeit, ist abgefallen vom LIrgrund der Seele, die sich darum immer in unruhiger Flucht abmühte, ohne Erfüllung zu finden.

Die Dichtung ist zwar mit Notwendigkeit so geworden, wie die Zeit sie kennt und ehrt, aber in der Erkenntnis der letzten Stunden erscheint sie unecht, ein nichtsnutziges Oberflächenspiel. Es fehlt in ihr im Kern die Liebe, die hilfreiche Tat, der Wille zur Gemeinschaft, die Allverbundenheit. Im Abschnitt „Erde“ zerbricht dieser Entschluß am tag-hellen, wirklichkeitsnahen Willen des kaiserlichen Freundes Octavian.

Auch hier begegnen sich politisch-geschichtliche Welt und Geistigkeit.

Aber im Gespräch zwischen ihnen stellt Vergil doch der Macht-und Ruhmwelt des Cäsars seine Idee einer künftigen, religiös verbundenen, menschlichen Gemeinschaft auf der Erde entgegen.

Auch im Werke Thomas Manns tritt Religiosität in der Zeit der Emigration stärker hervor als früher. Die Anregung dazu ging aus von einem Aufsatz Karl Kerznys über „religio", wie in seiner Schrift Romandichtuiig und Mythologie, Zürich 1945, nachzulesen ist. Thomas Mann schreibt am 7. Oktober 1936 aus Küßnacht-Zürich:

„Was in mir dabei hauptsächlidt auf seine Kosten kommt, ist eine gewisse Neigung zur „Säkularisierung“ des religiösen Begriffs, zu seiner psychologischen Überführung ins profan Sittliche und Seelische. Religion als Gegenteil der Nadtlässigkeit und Vernadtlässigung, als aditgeben, beadtten, bedenken, Gewissenhaftigkeit als ein behutsames Verhalten . . . und sdtließlidi als sorgend adttsame Empfindlichkeit gegenüber den Regungen des Weltgeistes, — was will ich mehr? Auf einmal bin ich legitimiert, mich einen religiösen Mensdien zu nennen, eine Selbst-einsdiätzung, deren idt mich, eben aus „Vorsidtt“, sonst kaum getraut.“

In den Aufsätzen, aber auch in den letzten Büchern des Romans „Joseph und seine Brüder“ ist nun immer wieder von Gottessorge, von Gottesklugheit und -dummheit die Rede. Wie Goethe erscheint auch Thomas Mann die jüdisch-christliche Überlieferung als wichtige geistige Grundlage der europäischen sittlichen Kultur; auf sie zurückzugreifen ist ein Gebot der Stunde — gegenüber dem unerhörten Verfall der geistigen Welt im Dritten Reich.

Einen vorsichtigen Optimismus auf lange Sicht findet man dagegen z. B. bei Lion Feuchtwanger. Er knüpft in seinem Zukunftsglauben an die Propheten des Alten Testaments an, besonders an Jesaja, der der Menschheit zum ersten Mal ein künftiges Reich des Friedens auf Erden unter Gottes Leitung verkündigte. Er verweltlicht diese Idee und ordnet ihr seine gesamte Schriftstellerei unter. Schon im Roman „Erfolg oder der Jahrmarkt der Gerechtigkeit“, 1930, sagt Tüverlin, ein Selbstporträt des Verfassers, zum Justizminister:

Idt für meine Person glaube, das einzige Mittel, die Welt zu ändern, ist sie zu erklären. Erklärt man sie plausibel, so ändert man sie auf stille Art, durdt fortwirkende Vernunft. Sie mit Gewalt zu ändern, ver-suchen nur diejenigen, die sie nidit plausibel erklären können. Diese lauten Versudte halten nidit vor, idt glaube mehr an die leisen. Große Reidie vergehen, ein gutes Budi bleibt. Idt glaube an gutbesdtriebenes Papier mehr als an Masdiinengewehre.

Am Schluß des Vorworts des Romans „Waffen für Amerika“ heißt es:

„Des weiteren sagt der Roman vom Kampf der Männer, der Worte und der Ideen rings um eine ökonomisdte Umwälzung. — Und nidit vergißt dieses Budt zu beridtten von der Blindheit der Mensdien vor dem Fortsdtreiten der Geschidite. Und von der unlöslichen, doch von wenigen erkannten Verbundenheit aller mit allen — und von dem Glauben an ein langsames, langsames, doch sicheres Wachsen mensch-lidier Vernunft . . .“

Sehr persönlich heißt es im Buch „Unholdes Frankreich“ von 1942 am Ende:

„Idt stehe auf der Schwelle zum Alter. Mein Zorn beginnt seine Schlagkraft zu verlieren, meine Wut ihre Zähne, mein Enthusiasmus seine Glut. Ich bin Gott in vielen Formen begegnet, aber audi dem Teufel in ganz ebenso vielen. Meine Freude an Gott hat nicht abgenommen, aber meine Furcht vor dem Teufel. Ich habe gelernt, daß die Dummheit und die Bosheit der Mensdien ebenso gefährlidi und so bodenlos sind wie die sieben Meere. Aber es ist mir auch vergönnt gewesen wahrzunehmen, wie der Damm, den die Minderheit der Guten und Klugen gegen sie aufzubauen sich bemühen, mit jedem Tage höher und stärker aufwädist.“

Statt nur Büchertitel anzuführen, habe ich zum Abschluß dieses Überblickes über die deutsche Emigranten-Literatur in der Zeit des zweiten Weltkrieges versucht, einige wenige bedeutende Werke und ferner die Strömungen des Pessimismus, der Religiosität und des Optimismus kurz zu charakterisieren.

(Fortsetzung in der nächsten Ausgabe)

Fussnoten

Fußnoten

  1. „Nur ein genügend großer Raum auf dieser Erde sichert einem Volke die Freiheit des Daseins.“ -„DeutsMaud ist keine Weltmacht.“ -„Wenn die nationalsozialistische Bewegung wirklidt die Weihe einer großen Mission für unser \olk vor der Geschichte erhalten will, muß sie . . . kühn und zielbewußt den Kampf aufnehmen gegen die Ziellosigkeit und Unfähigkeit, die bisher unser deutsches Volk auf seinen außenpoliitschen Wegen leitete. Sie muß dann den Mut finden, unser Volk und seine Kiaft zu sammeln zum Vormarsch auf jener Straße, die aus der heutigen Beengtheit des Lebensraumes dieses Volkes hinausführt zu neuem Grund und Boden . . — „Deutschland wird eine Weltmacht oder überhaupt nicht sein.“ (Adolf Hitler, Mein Kampf, 2. Buch, Mündten 1927, 14. Kapitel (S, 301 ff.fr

  2. Im 15. Kapitel „Notwehr als Recht" steht (II, 339): Heute zählen wir 80 Millionen Deutsdte in Europal Erst dann aber wird jene Außenpolitik als richtig anerkannt werden, wenn nadt kaum 100 Jahren 250 Millionen Deutsdte auf diesem Kontinent leben werden, und zwar nidtt zusammengepreßt als Fabrikkulis der anderen Welt, sondern: als Bauern und Arbeiter, die sidt durch ihr Sdtaffen gegenseitig das Leben gewähren.

  3. „Das politisdte Testament der deulsdten Nation für ihr Handeln nadt außen aber soll und muß für immer sinngemäß lauten. Duldet niemals das Entstehen zweier Kontinentalmächte in Europa. Seht in jeglichem Versudt. an den deutsdten Grenzen eine zweite Militärmacht zu organisieren, und sei es auch in Form der Bildung eines zur Militärmacht fähigen Staates, einen Angriff gegen Detitsddand und erblickt darin nidir nur das Redit, sondern die Pftidtt, mit allen Mitteln bis zur Anwendung von Waffengewalt, die Entstehung eines soldten Staates zu verhindern, beziehungsweise einen soldten, wenn er sdton entstanden, wieder zu zerschlagen. - Sorgt dafür, daß die Stärke unseres Volkes ihre Grundlage nicht in Kolonien, sondern im Boden der Heimat in Europa erhält. Haltet das Reidt nie für gesidtert, wenn es nidtt auf Jahrhunderte hinaus jedem Sprossen unseres Volkes sein eigenes Stüde Grund und Boden zu geben vermag. Vergeßt nie, daß das heiligste Recht auf dieser Welt das Redtt auf Erde ist, die man selbst bebauen will, und das heiligste Opfer das Blut, das man für diese Erde vergießt.“ (Adolf Hitler, Mein Kampf, 2. Band, München 1927, S. 327 f.).

  4. „Idi habe nun über sechs Jah’e am Aufbau der deutschen Wehrmacht gearbeitet. Es sind in dieser Zeit über 90 Milliarden für den Aufbau dieser Wehrmacht aufgewendet worden. Sie ist heute die bestausgerüstete, und sie steht weit über jedem Vergleich mit der des Jahres 1914. Mein Vertrauen auf sie ist unersihütteiliih.“ (Der großdeutsche Freiheitskampf, Reden Adolf Hitlers vom 1. September 1940 bis 10. März 1941, Mündien 1941, S. 25).

  5. „Der riditige Weg wäre sdion damals (vor dem ersten Weltkriege) der dritte gewesen: Stärkung der Kontinentalmadtt durch Gewinnung neuen Grund und Bodens in Europa, wobei gerade dadurdt eine Ergänzung durch spätere koloniale Gebiete in den Bereich des natürlich Möglichen gerückt ersdiien. Diese Politik wäre allerdings nur durdtführbar gewesen im Bunde mit England, oder unter einer so abnormen Förderung der militärisdien Maditmittel. daß auf vierzig bis fünfzig Jahre kulturelle Aufgaben vollständig in den Hindergrund gedrängt wenden wären. Dies hätte sich sehr wohl Verantworten lassen.“ (Adolf Hitler, Mein Kampf, 2. Buch, München 1927, S. 266).

  6. . Gerade unser deutsches Volk . . . braucht lene suggestive Kraft, die im Selbstvertrauen liegt. Dieses Selbstvertrauen aber muß schon von Kindheit auf dem jungen Volksgenossen anerzogen werden Seine gesamte Erziehung und Ausbildung muß darauf angelegt sein, ihm die Überzeugung zu geben, anderen unbedingt überlegen zu sein. Er muß in seiner körperlichen Kraft und Gewandtheit den Glauben an die Unbesiegbarkeit seines ganzen Volkstums wiedergewinnen . . . * (Adolf Hitler, Mein Kampf, 2. Buch. München 1927, II S. 451).

  7. Idi habe den Vorschlag gemacht, eine Anthologie der deutsdien Emigranten-Lyrik (als Gegenstück der Anthologie De profundis, die Gunter Groll 1946 im Verlag Kurt Desch, München, herausgegeben hat) zusammenzustellen. Otto Czierski, selbst ein Lyriker, der 22 Jahre in Argentinien gelebt hat und jetzt in Frankfurt am Main lebt, will diese Aufgabe lösen an Hand des Materials in der Deutschen Bibliothek. Eine solche Sammlung Gedichte könnte auf knappem Raum einen ersten Überblidt über die geistige Welt der deutschen Emigration gewähren.

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