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Politische Entspannung in Polen | APuZ 37/1956 | bpb.de

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APuZ 37/1956 Politische Entspannung in Polen

Politische Entspannung in Polen

Alfred Burmeister

Der Aufstand in Posen

Am Freitag, den 29. Juni 1956, meldeten die Zeitungen der ganzen Welt, daß es in Posen, wo gerade die Internationale Messe stattfand, tags zuvor zu einem Geheralstreik gekommen sei. Ab 11 Uhr vormittags wäre in der Stadt jeglicher Verkehr zum Erliegen gekommen, Eisenbahn, Telephon und Telegraphenverbindung seien unterbrochen. Die zunächst friedlichen Arbeiterdemonstrationen in den Straßen hätten sich im Laufe des Tages in einen Aufstand gegen das kommunistische Regime verwandelt-Die Masse, die „Brot“, „Fort mit den hohen Arbeitsnormen!“ forderte, habe Partei-und Regierungsgebäude gestürmt, das Gefängnis geöffnet und die dort befindlichen Gefangenen befreit sowie die Akten verbrannt. Die Regierung setzte gegen die aufgebrachte Menge Panzer und Düsenflugzeuge ein. Die Zahl der Opfer sei noch nicht ermittelt.

Am selben Tag verbreitete die polnische Telegraphenagentur PAP ein amtliches Kommunique, in dem die Schuld an den Posener Unruhen »feindlichen Agenten" zugeschrieben und mitgeteilt wurde, daß Ministerpräsident Cyrankiewicz mit anderen Partei-und Regierungsvertretern von Warschau nach Posen abgereist sei und dort in einer Rede erklärt habe, die Schuldigen an den Zwischenfällen würden mit aller Härte revolutionärer Gesetzlichkeit bestraft werden. Im übrigen herrsche in der Stadt wieder Ruhe und Ordnung.

Aus Posen in den Westen zurückkehrende Messebesucher berichteten in den folgenden Tagen Einzelheiten über den Aufstand, aus denen hervorging, daß es sich bei den Ereignissen keinesfalls um eine von „Provokateuren" und noch viel weniger von „ausländischen Provokateuren" inspirierte Revolte gehandelt habe, sondern um eine Aktion der Arbeiter, die zum Ziel hatte, die schlechten materiellen Bedingungen, unter denen sie zu leben gezwungen sind, zu verbessern. Daß sich der Streik in einen Aufstand verwandelte und es zu blutigen Ausschreitungen gekommen war, sei eine Folge der Unbeliebtheit des Regimes im Land. Es bedurfte keiner ausländischen Einmischung, um bei der ersten sich bietenden Gelegenheit diese Haßgefühle zu einer Explosion zu bringen. Bezeichnend sei übrigens, daß es vor allem Jugendliche, junge Arbeiter und Studenten gewesen sind, die den Sturm auf die öffentlichen Gebäude anführten. Menschen also, die unter dem unmittelbaren Einfluß des kommunistischen Regimes erzogen wurden. Die Polizei hatte Befehl, nur im äußersten Fall einzugreifen, aber auch ohne diesen Befehl stand sie sichtlich auf der Seite der Streikenden, und die Besatzung einiger Panzer sympathisierte so weit mit der Bevölkerung, daß sie nach kurzen Verhandlungen die Panzer verließ und sie den Aufständischen übergab.

Opfer waren auf beiden Seiten zu verzeichnen. Nach amtlichen polnischen Meldungen hat es in Posen am 28. Juni 49 Tote und 300 Verwundete gegeben. Die Bestattung der Opfer fand einige Tage später unter Beteiligung der Regierungsvertreter statt. Nach zwe: standrechtlichen Erschießungen jugendlicher „Rädelsführer“ begannen in der Stadt Verhaftungen unter den Teilnehmern des Aufstandes. Es wurde eine besondere Kommission zur Untersuchung der Ereignisse eingesetzt.

Die Vorgeschichte Erst am vierten Tage nach dem Generalstreik wurde in allen Betrieben Posens die Arbeit wieder ausgenommen. Etwa zur gleichen Zeit erfuhr man im Ausland die Vorgeschichte des Aufstands.

Bereits einige Wochen vor Ausbruch des Generalstreiks in Posen hatte die Unzufriedenheit der Arbeiter in den Cegielski-(heute „Stalin'-) Werken ihren Höhepunkt erreicht. Zusammenstöße mit der Betriebsverwaltung waren nicht mehr zu verhindern. Die Ursache für diese Unzufriedenheit lag in einer Reihe von Umständen, die in den letzten Monaten das ohnehin nicht leichte Leben der Arbeiter weiter verschlechtert hatten. Die schlechte Organisierung der Produktion in den staatlichen Waggon-und Lokomotivwerken „Cegielski“ sowie die unzureichende Belieferung der Fabrik mit Material hatte im Zusammenhang mit gewissen Entlohnungsreformen dazu geführt, daß die Arbeiter ihnen zustehende Gelder nicht erhielten und ihre Löhne noch weiter unter das Existenzminimum sanken.

Gesetzlich steht es in Polen den Arbeitern, die ihre Normen überbieten, zu, dreißig Prozent der Steuern, die sie von ihrem Lohn gezahlt haben, zurückzuerhalten. Die meisten Arbeiter arbeiten im Akkord, die Normen sind sehr hoch, ihre „Überbietung" kann nur so erfolgen, daß die Arbeiter statt acht Stunden elf und vierzehn Stunden im Betrieb bleiben. Da der Lohn für acht Stunden Arbeit weit unter dem Existenzminimum der Arbeiter liegt, sind sie immer bereit, ihn auf solche Art zu erhöhen. Die Überstunden machten sich bisher bezahlt. Nun aber hatten die Cegielski-Werke seit Monaten nicht für die Rückzahlung der Steuergelder gesorgt. Außerdem entfiel durch das Verbot der Überstundenarbeit die Sonderbezahlung für Überstunden. Der Betrieb hatte Schwierigkeiten. Rußland, für das die Lokomotiv-und Waggonwerke sonst lieferten, hatte einen Teil der Aufträge zurückgezogen, es fehlte an Material und neuen Aufträgen. Obwohl die Arbeiter also im einzelnen ihre Arbeitsnormen übererfüllt hatten, war das Werk insgesamt in der Planerfüllung zurück. Ein Widerspruch, der sich in der „Planwirtschaft" oft antreffen läßt und zumeist zu Lasten der Arbeiter und Ingenieure der Werke geht. Diejenigen Posener Arbeiter, die nicht in Akkord, sondern auf Zeitlohn arbeiteten, waren durch die bevorstehende Abschaffung des Prämiensystems beunruhigt. Schon jetzt hatten sie ca. die Hälfte ihres Einkommens dadurch eingebüßt, daß der Betrieb den Plan nicht erfüllte. Die Prämie wird nur bei einer Gesamt-Planerfüllung ausbezahlt, beträgt aber bei vielen Kategorien der Arbeiter und Ingenieure soviel, wie der recht niedrige Grundsatz des Monatslohns.

Während die Regierung eine Lohnerhöhung für eine ganze Reihe von Industriezweigen angekündigt und zum Teil auch durchgeführt hatte, blieben die Metallarbeiter bisher unberücksichtigt. Sie hatten allerdings im Verhältnis zu anderen Arbeitern ohnehin höhere Löhne. Das und eine ganze Reihe kleinerer Mißhelligkeiten — wie z. B. die unzureichende Zuweisung von Neubauwohnungen usw. — hatte die Belegschaft der Cegielski-Werke immer mehr aufgebracht.

In den einzelnen Abteilungen des Werkes fanden Belegschaftsversammlungen statt und die Betriebsräte erhielten die Anweisung, die Forderungen der Arbeiter zu formulieren und der Betriebsleitung vorzulegen. Als weder die Verhandlungen mit der Betriebsleitung noch mit eigens zu diesen aus Warschau gekommenen Vertretern des Ministeriums für Maschinenbau fruchteten, fand in den Cegielski-Werken am 22. Juni ein kurzer Warnstreik statt. Auch er führte zu nichts. Da traten die Arbeiter in den Abteilungen noch einmal zusammen und wählten eine Delegation, die ihre Forderungen in Warschau dem Zentralrat der Gewerkschaften und dem Maschinenbauministerium vorlegen sollte.

Am Montag, den 25. Juni,, reiste die 27köpfige Delegation nach Warschau ab. In der Hauptstadt verhandelte sie zunächst im Gewerkschaftsrat, wo man ihr alle Unterstützung versprach, jedoch sachlich nichts ausrichtete.

Sieben Stunden dauerten die Verhandlungen der Posener Arbeiter-delegation dann mit dem Maschinenbauministerium, aber sie brachten den Arbeitern keinen Erfolg. Das Lohnproblem wurde nur ganz allgemein behandelt — man verwies die Delegation auf entsprechende Beschlüsse des Zentralkomitees der Partei und ging nicht auf die direkten Vorschläge der Cegielski-Arbeiter ein. Eine ganze Reihe von Forderungen beantwortete man im Ministerium mit dem Versprechen, sie „bald zu erfüllen“ oder „im Verlauf der Arbeit auf sie zurüdezukommen“. Es gab auch Forderungen, die sofort ohne Diskussion abgelehnt wurden, wie z. B. die Prämiennachzahlung.

Nadi Schluß der Verhandlungen fuhr die Delegation in Gruppen und zu verschiedenen Zeiten nach Posen zurück. Die meisten der Delegierten waren am Mittwoch abend schon zurück, aber das unbefriedigende Resultat, das sie mitbrachten, war nicht dazu angetan, die Stimmung der Arbeiter zu verbessern. Dazu kam, daß der Minister für Maschinenbau, Fidelski, der mit den Delegierten nach Posen kam und in einer Abteilung des Werkes zu den versammelten Arbeitern sprach, ihre Fragen schroff und grob zurückwies. Die Belegschaft verlor daraufhin vollends die Hoffnung, auf dem Verhandlungswege noch etwas zu erreichen. Die Arbeiter waren empört und da am Mittwoch abend noch ein Teil der Delegation nicht zurückgekehrt war, verbreitete sich schnell das Gerücht, die anderen Delegierten wären in Warschau verhaftet worden. Das gab dann den äußeren Anstoß zum Ausbrudi des Streiks, mit dessen Möglichkeit unter der Arbeiterschaft schon seit langem gerechnet worden war.

Es ist schwer zu sagen, wer die Organisatoren dieses Streiks gewesen sind, wer die Verbindung zu den anderen Posener Betrieben, zu den Eisenbahnern, städtischen Arbeitern, Ladenangestellten usw. hergestellt hat. Der pünktliche Ausbruch eines Generalstreiks, die Teilnahme absolut aller Arbeiter in Posen an der Aktion und die glänzende Organisierung der Bewegung, die z. B. die in der Stadt weilenden Auslands-besucher vom Boykott ausschloß — weist darauf hin, daß es hier, im Gegensatz zum 17. Juni in Ostberlin, keine spontane Streikbewegung war. Schon die Entsendung einer Delegation und die langwierigen Verhandlungen mit der Betriebsleitung und mit dem Ministerium zeugen davon, daß die Gewerkschaften, die sonst in kommunistischen Ländern nie die Interessen der Arbeiter vertreten, in Posen aus ihrer Lethargie aufgewacht waren. Unter dem Druck der Arbeiter hatten sie wohl auch zum Streik aufgerufen, dessen geschlossene Durchführung jedoch der zu allem entschlossenen und regimefeindlichen Einstellung der Arbeiter zu verdanken war. Zu diesen hartnäckig um ihre Rechte kämpfenden Arbeitern gehörten in gleichem Maße Parteilose wie Mitglieder der „Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei"; ebenso wie andererseits zu den Gegnern der Arbeiter, jenen, die ihnen die Erfüllung ihrer Forderungen versagten und die rechtmäßige Auszahlung der Gelder hintertrieben, auch sowohl Parteimitglieder wie Parteilose gehörten. Allen aber war klar, daß das gesamte System im Land, das zu so katastrophal schweren Lebensbedingungen für die Bevölkerung geführt hatte, von der Partei geschaffen und angeführt worden war. Sie trug die Schuld für das Elend und die Härte des Lebens, und ihre Diktatur hatte deshalb im Lauf der elf Jahre ihres Bestehens das Gros der Bevölkerung gegen sich aufgebracht. Denn, wie sehen diese Lebensbedingungen der Bevölkerung, nicht nur Posens, sondern ganz Polens aus?

Die wirtschaftliche Lage der polnischen Arbeiter Die polnischen Arbeiter bezahlen mit ihrer Lebenshaltung den enormen industriellen Aufbau Polens, das sich im Verlauf der letzten zehn Jahre aus einem Agrarland in ein Industrieland verwandelt hat. Sie bezahlen überdies die militärische Aufrüstung ihrer Heimat und die „brüderliche Freundschaft" der Sowjetunion, die ihre Industrieerzeugnisse für ein Butterbrot bekommt. Dazu kommt noch, daß der Zwang zur Kollektivierung, den die Regierung, getreu ihrem kommunistischen Programm, durchführen muß, und die Verfolgung der sogenannten „Großbauern" die landwirtschaftliche Produktion hemmt und eine geradezu katastrophale Landflucht der jungen, kräftigen Bauernsöhne zur Folge -hat. Die großen landwirtschaftlichen Staatsgüter aber arbeiten schlecht und machen den Ausfall im privaten landwirtschaftlichen Sektor nicht wett, wie man immer gehofft hatte.

So kommt es, daß die polnischen Arbeiter elf Jahre nach dem Krieg für ihren Lohn weniger kaufen können als vor dem Krieg, und daß dieser Lohn immer noch unter dem Existenzminimum einer Arbeiter-familie liegt. Die Behauptung der polnischen Regierung im Februar dieses Jahres, die Reallöhne der Arbeiter seien nach dem Krieg um 27 Prozent gestiegen, hatte im ganzen Land einen Proteststurm zur Folge.

Der Durchschnittslohn eines polnischen Arbeiters beträgt — laut offiziellen polnischen Angaben — 900 Zloty. Jeder dritte Arbeiter aber erhält noch unter 500 Zloty. Im Verlauf des letzten Sechsjahresplanes sind die Preise in Polen um rund 76 Prozent gestiegen und die Kaufkraft dieser Löhne ist daher äußerst gering. Einige Beispiele mögen das beweisen:

Ein Kilo Butter kostet in Polen 60 Zloty, ein Kilo Speck 35 Zloty, Wurst 20— 40 Zloty. Kartoffeln der Zentner 60— 120 Zloty, Brot pro Kilo 3, 6 Zloty, Fleisch pro Kilo 30 Zloty usw.

Noch schlimmer ist es bei den Textilien und Schuhen. Ein Paar einfacher Schuhe kosten 500 Zloty und ein Herrenhemd billigster Sorte 200 Zloty. Für einen Anzug muß ein Arbeiter über einen Monat arbeiten, ja, wenn er wirklich was taugen soll, zwei Monate.

Die Wohnungen sind zwar billiger, aber hier gibt es ein anderes Problem: infolge der überstürzten Industrialisierung fehlt es in den Städten und in der Nähe der Fabriken immer an Wohnraum. Der Wohnungsbau hinkt, wie überall im Ostblock, weit hinter dem Fabrikbau zurück und die Arbeiter wohnen in provisorischen Baracken, Gemeinschaftsräumen und sogenannten „Arbeiterhotels“, deren hygienische Verhältnisse primitiv sind und die das Leben der jungen Arbeiter, da sie ausschließlich auf diese Unterkünfte angewiesen sind, sehr erschweren.

Die Metallarbeiter der Schwerindustrie genießen gegenüber ihren Kameraden in der Leichtindustrie eine Reihe von Privilegien und ihre Löhne sind höher. Dennoch reichen sie nicht aus. Ein Posener Arbeiter, der einen Lohn von 900 Zloty erhält, rechnete aus, daß er für seinen Zwei-Personen-Haushalt 1327 Zloty monatlich braucht. Ein anderer Posener Arbeiter, der 650 Zloty verdient, berechnete, daß er mindestens 1150 Zloty im Monat für sich und seine Familie benötigt. Um erträglicher leben zu können, muß ein polnischer Arbeiter daher, wie es im Volksmund heißt, „kombinieren". D. h. er muß irgend etwas „nebenbei" oder „schwarz" arbeiten, muß illegale „Geschäfte" tätigen oder wenigstens Kleinvieh halten. Die Mädchen werden oft zur Prostitution getrieben und die Burschen geraten leicht auf die kriminelle Bahn. Der Wunsch endlich, nicht mehr von der Hand in den Mund zu leben und sich besser zu kleiden, wurde in letzter Zeit, da man in Warschau so viel von einer Änderung des Kurses zu sprechen begann, besonders brennend. Das prunkvolle Bild der Messe, auf der es plötzlich auch an den polnischen Ständen soviel zu kaufen gab, mag auf die Posener Arbeiter noch besonders provozierend gewirkt haben. Insofern könnte man vielleicht wirklich von einer „Provokation“ beim Posener Aufstand sprechen.

Die Liquidierung des Aufstands Aber nur so. Denn sonst war die Erklärung „Provokateure“ für den Posener Aufstand durchaus fehl am Platz. Im übrigen ging auch die polnische Regierung sehr bald von dieser Erklärung ab. Die Reaktion der Partei und der Regierung in Polen auf den Posener Aufstand ist charakteristisch für den grundlegenden Unterschied zwischen ihn. und dem 17. Juni. Sie ist auch kennzeichnend für die Veränderungen, die in den letzten Jahren im Machtbereich Moskaus eingetreten sind.

In Ostberlin und in Posen traten, empört über die sich ständig verschlechternden materiellen Bedingungen, die Arbeiter in den Streik. Hier und dort verwandelte sich eine geordnete, disziplinierte Arbeiterdemonstration in einen verzweifelten Volksaufstand. Hier und dort erklang zuerst die Forderung nach mehr Brot und gerechtem Lohn und folgte dann der Angriff auf Polizei-und Parteigebäude. Und hier und dort setzten die Behörden nach anfänglichem Zögern schließlich Militär ein. Ja, es waren sogar in Ostberlin und in Posen Panzer vom gleichen Typ T 34, die den Ausgang des Aufstandes entschieden. Und daß in Ostberlin sowjetische Soldaten, in Posen aber polnische Soldaten in diesen Panzern saßen, war auch nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Obwohl der Einsatz sowjetischer Truppen in Polen wahrscheinlich zu einem gesamtpolnischen Aufstand und damit zu einer weit größeren Tragödie geführt hätte.

Von ausschlaggebender Bedeutung war das, was nach dem Einsatz der Truppen geschah. Die Reaktion der Regierung Ulbricht war kurz und bündig: die angeblichen „anglo-amerikanischen, faschistischen Provokateure“ wurden öffentlich verdammt, Massenverhaftungen, Verurteilungen und Erschießungen folgten. Die Ursachen des Streiks und die Vorgänge selbst wurden verschwiegen oder verfälscht. Die Forderungen der Arbeiter blieben unerfüllt und Ulbricht benutzte die Aktion der Arbeiter zu einer Stärkung seiner Position in der Partei und zu einer Verschärfung des Terrors im Land.

Auch die polnische Regierung sprach in ihrer allerersten Erklärung von „ausländischen Proyokateuren". Diese Erklärung wurde sofort von Moskau und Belgrad übernommen. Bereits in den folgenden Veröffentlichungen fiel jedoch die Bezeichnung „ausländisch" auch in den offiziellen Verlautbarungen fort und gleichzeitig begann in Rundrunk und Presse eine breite „Aufklärungskampagne“ über die Posener Ereignisse. Partei und Regierung waren bemüht, einen scharfen Trennungsstrich zwischen den Arbeitern zu ziehen, „die um die Erfüllung ihrer gerechten Forderungen gekämpft“ hatten und den „Rowdies und dunklen Elementen. die sich diesen Kampf zunutze gemacht hatten, um Zwischenfälle zu organisieren“. Selbst die anfängliche Theorie von „Untergrundbanden“ fiel nach und nach fort. Dagegen wurde sehr ausführlich über die „Fehler“ der Betriebsleitung und die ungenügende Beachtung der Arbeiterforderungen durch die Ministeriumsangestellten gesprochen. Man kritisierte einerseits die bürokratische Art, die Wünsche der Arbeiter zu erledigen und betonte andererseits, die Arbeiter hätten sich aber doch nicht zu einem Streik hinreißen lassen sollen.

Knapp zwei Wochen nach dem Posener Aufstand wurden die Ministerien für Maschinenbau und Motorenbau zusammengelegt, wobei der in Posen so verhaßte Minister für Maschinenbau, Fidelski, seinen Ministersessel verlor und zu einem Unterstaatssekretär degradiert wurde.

Noch einige Tage später wurde die Rückzahlung von 30 Prozent der Steuern an die Arbeiter bekanntgegeben.

Auch andere Forderungen der Posener Arbeiter scheinen erfüllt worden zu sein und die Telegraphenagentur PAP meldete kürzlich von neuen großen Aufträgen an das Cegielski-Werk. Das Werk soll neue Waggon-typen für Vorortbahnen bauen.

All das geschah nicht ganz freiwillig. Auf die erste Regierungserklärung von den „ausländischen Provokateuren" hin erhielten Zeitungen und Radiostationen eine Fülle von Zuschriften. „Wozu das Gerede“, schrieben die Hörer an den Warschauer Rundfunk, „es waren keine Agenten, sondern Arbeiter, Polen, die Hunger hatten!“ „Habt Ihr keine andere Antwort für das Volk als Panzer und Salven?!" Der Warschauer Rundfunkt hatte den Mut, diese Briefe zu senden und versuchte gleichzeitig auf sie zu antworten: „Sicher waren es Arbeiter, natürlich sind die materiellen Bedingungen, unter denen unsere Arbeiter leben müssen, immer noch sehr schlecht, aber wir sind ja dabei, die Fehler zu verbessern. Die Posener Ereignisse können noch zu einer Verzögerung der Verbesserungsaktion führen!“

Das war ein ernstes Argument. „Verbesserungsaktion“ — „Tauwetter“ — „Entspannung“ oder „Demokratisierung“ — wie immer man es nennen will, was seit Stalins Tod in Polen im Gange ist und seit dem 20. Parteitag an einen Frühlingssturm dort erinnert, durfte durch die Posener Ereignisse nicht zum Stoppen gebracht werden. Niemand sollte diese Ereignisse dazu benützen können, in Polen wieder eine Verschärfung des Terrors, ein Zurück zur Stalin-Ära einzuleiten. Im Gegenteil: Die Ereignisse mußten die Demokratisierung weitertreiben. Das dachten wohl die meisten im Lande und auch in der Parteiführung.

Aber es war nicht einfach, denn es gab auch Tendenzen innerhalb dieser Führung, die nach den Posener Ereignissen doch für einen schärferen Kurs eintraten. Sie waren es, die zuerst nach altem stalinistischen Muster die Version von den „ausländischen Provokateuren“ in Umlauf setzten. Kurze Zeit sah es so aus, als ob sie die Oberhand gewinnen würden. Eine Nummer der Zeitung „Nowa Kuitura", die zu eigenwillig zu den Posener Ereignissen Stellung genommen hatte, wurde zensiert, und angeblich sollen einige Redakteure der „Nowa Kuitura“, der Studenten-zeitung „Po prostu“ und zwei anderen Zeitungen, die nicht darauf eingingen, der Regierung und Partei genehme Berichte über Posen zu bringen, aus den Redaktionen entfernt worden sein. Aber die Zeitungen unterwarfen sich nicht. Sie antworteten auf den Drude damit, daß sie zunächst überhaupt keine Artikel zu Posen brachten und dann kam es zu einem Kompromiß. Die Partei ging von der Erklärung „es waren ausländische Provokateure“ ab und begann zu beschwichtigen, zu erklären, gerade zu biegen. Man holte Mitglieder der Delegation der Posener Arbeiter vor das Mikrophon des Warschauer Rundfunks, die über die damaligen Verhandlungen im Ministerium berichteten. Es war kein Bericht, der die Angestellten im Ministerium ins Recht und die Arbeiter ins Unrecht setzte: man ersah aus ihm nur die Schwierigkeiten, keinen bösen Willen.

Man holte Jugendliche vor das Mikrophon, die die Grausamkeiten von Halbstarken schilderten, die in Posen während des Aufstandes gemordet, gestohlen und vergewaltigt hätten. Die Hörer sollten glauben, die Aufständischen seien keine politischen Gegner, sondern Gangster gewesen, die sich den berechtigten — wie man zugab — Kampf der Arbeiter zunutze gemacht hatten. Man wollte den Eindruck verwischen, als gäbe es in Polen irgendwo idealistische Gegner des Regimes unter der Jugend.

Gleichzeitig aber wurde der Wille der jungen Arbeiter, ihren Staat, wenn nötig mit den energischsten Mitteln zu verbessern, ihr Wunsch, die Verhältnisse für die Bevölkerung erträglicher zu machen, keineswegs verurteilt. Im Gegenteil: man stachelte ihn weiter an. Man zitierte sogar einen vergessenen Lenin-Ausspruch aus dem Jahre 1922, wo Lenin in einer Rede vor Gewerkschaftlern einmal einen Streik auch in sowjetischen Staatsbetrieben für zulässig erklärte, wenn durch die Schuld der Gewerkschaften und der Bürokraten die Arbeiter in ihnen zu kurz kämen. Die Bedeutung dieser Reaktion auf den Streik in Posen ist groß, wenn man sich vergegenwärtigt, daß der Streik über zwanzig Jahre lang in Rußland als „Sabotage“ galt und mit dem Tode oder zumindest mit langen Jahren Zwangsarbeit bestraft wurde. Noch 1953 ist der ostzonale Minister für Justizwesen, Max Fechner, nach dem 17. Juni nur deshalb seines Postens enthoben und ins Gefängnis gebracht worden, weil er die Meinung vertrat, die Arbeiter hätten in der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik das Recht zu streiken.

Es ist kein Wunder, daß die kommunistische Parteispitze die größte Angst vor einer solchen Entwicklung haben muß. Bulganin und Schukow, die zum polnischen Nationalfeiertag am 22. Juli nach Warschau kamen, werden nicht verfehlt haben, es den Polen genügend klar zu machen;

denn nach Chruschtschow und Bulganin begannen auch die polnischen KP-Führer wieder von'„feindlichen Provokateuren“ zu sprechen, und der neue erste Sekretär der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei, Edwar Ochab, der seit dem Tode Bieruts im April dieses Jahres die Partei leitet, versuchte auf dem Ende Juli stattfindenden Plenum des Zentralkomitees, die Legalisierung des Streiks in Polen wieder rückgängig zu machen. „Die Parteikomitees der Stadt und des Bezirks Posen haben es nicht verstanden“ — erklärte Ochab — „die Arbeiter davon zu überzeugen, daß der Streik in einem Volksstaat und unter den Bedingungen des sozialistischen Aufbaus kein Kampfmittel der Arbeiterklasse sein kann, daß er den Interessen des Proletariats schadet und nur dem Feind von Nutzen ist.“ Aber auch diese Feststellung des in der Partei und im Lande allgemein als „Stalinist“ bezeichneten Parteisekretärs änderte nichts mehr daran, daß mit dem Streik der Posener Arbeiter ein Präzedenzfall geschaffen worden ist:

Zum erstenmal in der Geschichte der kommunistischen Staaten haben Arbeiter einen siegreichen Kampf um die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen gegen die Verwaltung der staatlichen Betriebe geführt.

Nach allen offiziellen Erklärungen polnischer Behörden wird in Posen niemand dafür vor Gericht gebracht, daß er gestreikt hat. Der Unterschied zwischen Streikenden und solchen, die an Angriffen auf öffentliche Gebäude oder Partei-und Staatsbeamte beteiligt waren, wird immer wieder unterstrichen. Schon das allein ist ein großer Sieg.

Darüber hinaus und abgesehen von der Erfüllung fast aller unmittelbaren Forderungen der Arbeiter aus den Cegielski-Werken — hat der Streik auch auf die Gesamtlage in Polen einen großen Einfluß. Dieselbe Rede Ochabs, die den Streik als ein Mittel kennzeichnet, das in einem „Volksstaat“ nicht angewendet werden sollte, zeigt, wie sehr der Posener Streik die künftigen Maßnahmen der Partei beeinflußt und zwar in einem für die Arbeiter durchaus günstigen Sinn beeinflußt. Zum erstenmal haben die Arbeiter auf diese Weise ihre auf dem Papier niedergelegten Rechte auf Teilnahme an der Betriebsverwaltung (und Staatsverwaltung) geltend zu machen begonnen, zum erstenmal die Sache ihrer Lebensbedingungen selber in die Hand genommen. Daß es in derselben Form geschah, wie seit Jahrzehnten in den Betrieben des kapitalistischen Auslands, beweist, wie wenig die „Vergesellschaftung der Produktionsmittel" den eigentlichen Produzenten — also den Arbeitern — bisher gebracht hat.

Es ist eine Erfahrung, die sich aus dem Bewußtsein der Bevölkerung in den kommunistischen Ländern nicht mehr ausradieren lassen wird. Eine Erfahrung, die die polnische „kollektive Führung“ ebenso beherzigen muß wie die „kollektive Führung“ im Kreml und wo immer in den Ländern des Ostblocks. Die Streiks der Zwangsarbeiter in der UdSSR kosteten viele Opfer, aber sie führten letzten Endes zur Auflösung der Lager. Der Posener Streik eröffnete den Kampf der nichtgefangenen Arbeiter unter dem Kommunismus. Posen bedeutet den Beginn einer neuen Epoche in der Geschichte der kommunistisch gelenkten Staaten: der Epoche, in der auch der Arbeiter unter der kommunistischen Diktatur erfolgreich für seine Rechte kämpfen kann.

Aus der Geschichte des polnischen Kommunismus

Es ist kein Zufall, daß die Reaktion auf die Entstalinisierung von allen Ländern des Ostblocks in Polen am schärfsten war. Ebenso, wie es kein Zufall war, daß man hier zuerst wieder vom „eigenen Weg“ der einzelnen Länder zum Sozialismus zu reden begann und hier zuerst mit der Rehabilitierung der unter Stalin umgekommenen Altkommunisten begann. Die polnischen Kommunisten hatten unter Stalin am meisten gelitten, sie waren dem Diktator immer ein Dorn im Auge und hatten sich ihm auch am allerwenigsten gefügig gezeigt.

Das liegt nur zum Teil am polnischen Volkscharakter. Mehr noch ist es durch die ganze Geschichte des polnischen Kommunismus bedingt, den wir daher kurz streifen müssen.

Die Polnische Kommunistische Partei — „KPP“ — entstand 1919 aus der Zusammenlegung der „Sozialdemokratie Polens und Litauens" — „SDKPiL“ — und der Linken der Polnischen Sozialistischen Partei — „PPS" Lewica. Die SDKPiL, deren Führerin, neben Adolf Warski, Marchlewski-Karski, Dzerzinski u. a. Rosa Luxemburg war, stand Lenin schon vorher sehr nahe. Auf dem Parteitag der Russischen Sozialdemokratie im Jahre 1903, auf dem die Spaltung der Partei in Bolschewiki und Menschewiki erfolgte, hatte der Vertreter der Partei Rosa Luxemburgs mit Lenin gestimmt. Es war Adolf Warski.

Die PPS-Linke, unter ihren Führern befanden sich Vera Kostrzewa und Waletzki, unterschied sich von der Sozialdemokratie Polens und Litauens vor allem in der Beurteilung der nationalen Frage und das ist d i e Frage, die für die ganze Geschichte der polnischen Kommunisten immer von allergrößter Bedeutung geblieben ist.

Die gesamte revolutionäre polnische Arbeiterbewegung entstand auf dem Boden des nationalen polnischen Widerstandes gegen die zaristische Unterdrückung. Die sozialen Kämpfe der polnischen Arbeiter verbanden sich immer mit dem Kampf um die Befreiung Polens. Jede Theorie von einer gesellschaftlichen Neuordnung war unlöslich mit dem Gedanken an die Beseitigung der russischen Vormundschaft verknüpft. Daher hatte die polnische Sozialdemokratie das nationale Moment in ihrem Programm stets auf den ersten Platz gerückt. Auch die sich später von ihr abgespaltene Linke war letzten Endes national und ihre Mitglieder behielten diesen nationalpolnischen Zug immer bei.

Die Partei Rosa Luxemburgs hingegen war betont international. So sehr international, daß sogar Lenin sie für ihren Mangel an nationalem Gefühl kritisierte. Offiziell wurde in der Partei beim „Luxemburgismus" von einer „Unterschätzung der Rolle der Nationalfrage" gesprochen und es galt später als eine „Abweichung von der Parteilinie" ein „Luxemburgist" zu sein.

Trotz dieser betont internationalen Einstellung der SDKPiL aber, waren auch die Mitglieder dieser Partei sehr gegen die Russifizierung ihres Vaterlandes und sahen in ihrem Kampf ein Mittel, die Unabhängigkeit Polens von Rußland zu erringen. Nur vertraten sie die Meinung, diese Unabhängigkeit würde nach einer Revolution in Rußland in Polen automatisch erfolgen.

Die Abhängigkeit in die die Polnische Kommunistische Partei von Moskau geriet, als die Revolution in Rußland gesiegt und Polen zu einem unabhängigen Staat geworden war, wurde von den polnischen Kommunisten daher recht schwer verdaut. Kostrzewa und Walecki, die ehemals linken PPS-Leute bäumten sich ebenso dagegen auf, wie Adolf Warski, der ehemalige Luxemburgianer.

Rosa Luxemburg selbst hatte noch kurz vor ihrer Ermordung 1919 die verhängnisvolle Entwicklung der russischen Revolution angegriffen, die sich allzusehr auf den Terror stützte und allzuwenig auf die Arbeiterräte.

Aber Rosa war tot, Lenin starb und Dzierzynski hatte keine Gelegenheit mehr zu erleben, wie aus der Tscheka, die er geschaffen hatte, das raffinierteste Instrument einer totalitären Macht wurde, das es je gegeben hat und der Terror, den er gegen politische Feinde der Revolution angewandt hatte, sich bis zum Wahnsinn steigerte und Freund und Feind gleichermaßen grausam und sinnlos vernichtete. Wie seine nächsten Freunde und Nachfolger wären sie wohl alle Opfer dieses Terrors geworden.

Bevor er aber einsetzte, fand die friedliche Unterordnung der kommunistischen Parteien aller Länder unter die russischen Bolschewiki und ihr Zentralkomitee statt. Es gab in den Jahren zwischen 1919, da die Komintern gegründet wurde und 1937, da sie faktisch schon zerschlagen war, eine unendliche Reihe von Sitzungen, Kongressen und Konferenzen-in denen diese Unterordnung schrittweise vollzogen wurde. Es gab Protokolle und Beschlüsse, in denen die Parteilinie der jeweiligen Partei ununterbrochen von einer „linken“ Abweichung in eine „rechte“ umschwenkte, und es gab eine ebenso permanente Kette von „Erklärungen“, in denen die jeweiligen Führer dieser Parteien ihre „Fehler“ bekannten. Die polnischen Kommunisten unterschieden sich dabei von den deutschen oder ungarischen dadurch, daß sie, zu Anfang wenigstens, recht scharfe Worte gegen Moskaus Herrschaftsanspruch fanden, Vera Kostrzewa, die diesen Angriff führte, hatte noch Ende der zwanziger Jahre nicht wie andere Kommunistenführer eine „selbstkritische“ Erklärung abgegeben. Sie schied dafür ganz aus dem politischen Leben aus und bekleidete in der sowjetischen Emigration einen kleinen administrativen Posten. Auch Adolf Warski war unter Stalin, genauer seit Ende der zwanziger Jahre, kaum mehr politisch tätig. Die übrigen „rechten Abweichler“ der KPP, beinahe ein Jahrzehnt an der Spitze der Partei, bekleideten nun untergeordnete Posten. Die neue Parteiführung unter Lenski versprach größere Linientreue.

Aber Stalin mißtraute auch ihr. „Er hat die Polen überhaupt nicht gern", flüsterte man in Parteikreisen. Und so wurde 1937, als die große Stalin-sehe Säuberung einsetzte, die polnische Kommunistische Partei restlos in die NKWD-Gefängnisse überführt. Waren von den deutschen kommunistischen Emigranten doch noch 30 Prozent übriggeblieben, hatte man Pieck geschont und Ulbricht für spätere Aufgaben aufgehoben — so wurden die polnischen Genossen vollkommen aufgerieben. Man holte sie eigens zu dem Zwecke der Verhaftung und Aburteilung durch Parteibefehl aus dem Ausland nach Moskau und nur die blieben verschont, die in einem anderen Land oder gar in der Heimat schon im Gefängnis saßen und dem Zugriff der NKWD dadurch nicht zugänglich waren. Im Frühjahr 1938 war die polnische Sektion der Komintern leer und im Herbst wurde sie dann offiziell von einer Kommission aufgelöst. Als Grund für die Liquidierung der KPP durch diese Kominternkommission wurde angegeben „es hätten sich ausländische Agenten in ihre Führung eingeschlichen“. Es war ein Schock für die polnischen Kommunisten, von dem sie sich nie erholen konnten, aber Stalin glaubte wohl damals, er würde sie nie mehr brauchen.

Die Entstehung des kommunistischen Polen Er brauchte keine polnischen Kommunisten, als er sich mit Hitler 1939 Polen teilte. Damals wurden in den an Rußland gefallenen Gebieten des polnischen Staates von der NKWD noch die letzten polnischen kommunistischen Funktionäre verhaftet oder auch zusammen in entlegene Gebiete Rußlands verbannt. Nur ganz wenige, darunter Boleslaw Bierut, blieben im europäischen Teil Rußlands und auf — wenn auch bedeutungslosen — kleinen Parteipöstchen. Die meisten der heute regierenden polnischen Kommunisten aber waren direkt aus den polnischen Gefängnissen, aus denen sie 1939 bei Kriegsanfang geflüchtet waren, in russische Verbannung gekommen. Wenn sie dort auf Fragen nach ihrer Herkunft in der NKWD oder Miliz etwa „aus Polen" antworteten, grinsten die Russen höhnisch: „Sie wollen wohl sagen aus dem nicht mehr existierenden Polen“. Auch das blieb in ihrem Bewußtsein haften.

Dann aber kam der Krieg mit Hitler und angesichts der vorrückenden deutschen Divisionen mobilisierte Stalin alle Kräfte, die er dem Feind entgegenwerfen konnte. Dabei erinnerte er sich an den polnischen Widerstand gegen die Deutschen. Reste der polnischen Einheiten, die gegen Hitler gekämpft hatten, lebten noch irgendwo in den Lagern Sibiriens. Man ließ sie zusammenkratzen, ausrüsten, bewaffnen und unter dem Oberbefehl des polnischen Generals Anders sollten sie auf russischer Seite kämpfen. Moskau vergaß, daß die Polen zwar die Deutschen haßten, aber auch die Russen, und daß dieser Haß in den russischen Zwangs-arbeitslagern nicht kleiner geworden war. Die Geschichte der Anders-Armee ist bekannt. Sie kämpfte zwar gegen Hitler, aber nicht unter russischem, sondern unter englischem Oberkommando.

Inzwischen war Stalingrad gewesen und die Deutschen befanden sich auf dem Rüdezug. Vor dem Kreml entstand die Frage, was mit den Gebieten zu machen sei, die man außerhalb der alten russischen Grenzen besetzen würde. Lim diese Zeit — Ende 1942 — entstand in Rußland der Verein Polnischer Patrioten. Eine kommunistische Gründung unter dem Vorsitz der kommunistischen polnischen Schriftstellerin Wanda Wasilewska und unter Beteiligung der polnischen Kommunisten, die man zu diesem Zweck aus der Verbannung und von ihren kleinen Pöstchen holte und leicht entstaubt wieder für eine große Aufgabe einsetzte. Die Militärs unter ihnen gingen — diesmal unter dem Kommando russischer Offiziere — an die Bildung einer zweiten polnischen Armee gegen Hitler.

Etwa zu gleicher Zeit entstand, ohne jegliche Verbindung mit Moskau, in Polen wieder eine neue kommunistische Partei. Nicht alle der alten Kommunisten, die 1939 aus den polnischen Gefängnissen herausgekommen waren, hatten sich damals nach Rußland geflüchtet. Viele hatten es vorgezogen im Lande unterzutauchen. Nun zogen sie eine kommunistische Untergrundorganisation gegen Hitler auf. Unter den Führern dieser Organisation war, neben Novotko und Finder, die später umkamen, Wladyslaw Gomulka.

Erst 1944 kam der Kontakt mit Moskau zustande. Bierut, von Ruß-land herübergeschickt, bewerkstelligte ihn und so wurde offiziell die neue KP Polens aufgezogen, die diesmal den unverfänglichen Namen „Polnische Arbeiter-Partei“ erhielt.

Es waren wieder zwei psychologisch sehr verschiedene Menschengruppen, die der neuen Partei angehörten. Der eine Teil, die Illegalen, die sich im Widerstand gegen Hitler zusammengefunden hatten und in Waffengemeinschaft mit den anderen polnischen Widerstandskämpfern, den Sozialisten standen, waren in ihrem Denken unabhängig und stark national. Die anderen, die aus Rußland kamen, hatten die Schule des Stalinismus absolviert, sie hatten die Macht der russischen Partei und der NKWD kennen und fürchten gelernt. Sie waren am Leben geblieben, weil sie gehorchen konnten. Ihre nationalen Gefühle hatten sie an die Leine der Zweckmäßigkeit gelegt.

Denn das war das Neue an der Politik, die der Kreml in der ersten Zeit für Polen dekretierte: man solle sich polnisch national tragen. Die alte polnische Fahne wurde gehißt, die alten Nationallieder zu Hymnen erklärt. Statt des Sowjetsterns galt der weiße Adler als Symbol und vom Kommunismus durfte nur geflüstert werden. Die polnischen Kommunisten, die aus Rußland kamen, wußten daß es eine Finte war, die im Lande jedoch nahmen es ernst und das Volk war verwirrt. Es war verwirrt, als es neben den russischen Truppen polnische Soldaten in Uniform sah, die den alten polnischen Uniformen aufs Haar glichen, die polnische Soldatenlieder sangen und unter den rot-weißen Fahnen der ,, Rzeczpospolita“ marschierten.

Es konnte einen Widerstand geben, das wußte man in Moskau. Es mußte ihn geben, wenn man nicht geschickt war. Dieser Widerstand würde von jenen Untergrundorganisationen kommen, die nicht kommunistisch waren und diese waren in Polen in der Überzahl. Vor allem war es die unter sozialistischem Einfluß stehende größte illegale Untergrundorganisation AK — die „Arnija Krajowa“ (Volksarmee), die dem Kommunismus in Polen tödlich gefährlich werden konnte.

Die Sowjettruppen hatten die polnischen Grenzen bereits passiert, in Lublin war die polnische kommunistische Regierung gebildet worden und die „Befreier“ näherten sich Warschau. Das Problem aber war immer noch nicht gelöst. Da brach der Warschauer Aufstand aus. Die Geschichte dieses monatelangen Widerstandes einer offenen Stadt gegen eine mit allen modernen Kriegsmitteln ausgerüsteten Macht, ist bekannt. Audi die unbegreifliche Passivität der Sowjettruppen, die Gewehr bei Fuß auf dem anderen Weichselufer abwarteten bis die Deutschen mit den polnischen Aufständischen fertigt wurden, ist bekannt. Sie hat in der ganzen westlichen Welt, mit Ausnahme des Dritten Reiches natürlich, die größte Empörung hervorgerufen. Erst später wurde es klar, warum die Sowjets den Polen nicht gegen die Deutschen halfen. Der Aufstand kam ihnen sehr gelegen, aber aus einem anderen Grund. Sie erhofften sich von ihm keine militärischen, sondern politischen Vorteile.

Und sie errangen sie. Die aktivsten Kräfte der nichtkommunistischen polnischen Widerstandsbewegung, die Blüte der polnischen Jugend fand ihren Tod in dem ungleichen Kampf, der das Ende des Warschauer Auf-standes besiegelte. Diejenigen Kräfte, die fähig gewesen wären, auch das kommunistische Regime zu gefährden, wurden zerrieben, und den Rest besorgte die Rote Armee, die nach der Niederlage des Warschauer Aufstands ihren Marsch nach Westen fortsetzte und im „befreiten“ Polen Tausende von „A-K“ -Mitgliedern verhaftete und nach Sibirien schickte. So bereitete man der kommunistischen Regierung einen leichten Start.

Aber außer der Ausschaltung der Nichtkommunisten bedurfte es noch des Vorhandenseins von Kommunisten. Diese aber hatte man unkluger-weise 1937 selbst liquidiert. Bierut wandte sich verzweifelt an Stalin und erbat von ihm die Wiedergabe wenigstens derjenigen seiner Genossen, die noch irgendwo in den NKWD-Lagern am Leben geblieben waren. Stalin und Berija gingen darauf ein, und so kamen 1946 und 1947 ca. 100 alte Kommunisten aus den sowjetischen Zwangsarbeitslagern zum Einsatz in die Parteiarbeit in Polen.

Man wird verstehen, daß diese Partei sich von anderen kommunistischen Parteien unterschied. Kaum jemand ihrer führenden Männer war nicht in irgend einer Form mit der NKWD in Berührung gekommen. Die Organisationen der Partei, ihre einstigen Führer und wichtigsten Funktionäre waren in Rußland umgekommen, man durfte ihre Namen nicht nennen, und obwohl alle wußten, daß sie unschuldig erschossen worden waren, mußte man so tun, als wären sie „faschistische Provokateure" gewesen. Die Partei durfte sich auf niemand berufen, sie hatte keine Geschichte und mußte überdies diesen Mann, der ihr die größte Schmach angetan hatte, öffentlich preisen und mit Dankbarkeitsbezeugungen überschütten. Ist das schon ohnehin nicht jedermanns Sache, so steht es dem stolzen Volkscharakter der Polen diametral entgegen. Außerdem waren die nicht in Rußland geschulten Parteifunktionäre, die aus der in der polnischen Untergrundbewegung neu entstandenen Arbeiterpartei stammten, von vornherein antirussisch und sehr national eingestellt. Es war nicht leicht, sie zu „stalinisieren".

Die „Stalinisierung" Polens War die Machtübernahme durch die Kommunisten in Polen recht diplomatisch erfolgt und hatte man in der ersten Zeit weder vom Kommunismus noch von Kollektivwirtschaften laut zu sprechen gewagt, so wurde das sehr bald nach der 1947 erpreßten und gefälschten Wahl *), die den Kommunisten die Mehrheit sicherte, anders. Wie in den anderen Ländern, die nach dem Krieg unter Sowjetherrschaft geraten waren, wurden die zuerst locker gelassenen Zügel 1948 angezogen. Mit der Verdammung Titos war es mit dem „polnischen Weg“ zu Ende. Gomulka, der eifrigste Verfechter dieses Weges, wurde entfernt und die Verwandlung der Polnischen Arbeiterpartei in eine „Partei neuen, d. h. stalinistischen Types“ begann.

Einer der ersten Schritte dazu war die Liquidierung der Polnischen Sozialistischen Partei, der PPS, die allerdings vorher schon sehr stark gleichgeschaltet worden war. Nun wurde sie mit der PPR zur „Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei“ (der „PZPR“) zusammengelegt. Es war Wladyslaw Gomulka, der seinerzeit den Führer dieser Partei, den heutigen Ministerpräsidenten Polens Joseph Cyrankiewicz entscheidend kommunistisch beeinflußt hatte, der jetzt stark gegen diese Vereinigung auftrat. Er hielt sie für verfrüht und für schädlich und man mußte erst Gomulka aus der Parteiführung entfernen, ehe man an der Jahreswende 1948/49 die von Moskau befohlene Vereinigung durchführen konnte. Ebenso auf Befehl Moskaus und gegen den erbitterten Widerstand Gomulkas beschloß das Zentralkomitee energische Maßnahmen zur „sozialistischen Umgestaltung des Dorfes". Die Zwangskollektivierung begann.

In den nun folgenden Jahren gab es in Polen all jene Kennzeichen der Stalin-Ära, die man jetzt als Fehler und Folgen des Personenkults Stalins verurteilt. Es gab die gleichgeschaltete Kunst und Literatur, die Verherrlichung der „großen" Sowjetunion und ihres „genialen Führers“, die Verdammung der jungen Menschen, die bis ins Soldatische exerzierte Parteidisziplin und .. .den Terror.

Zehntausende von Menschen wurden in Polen in der Zeit von 1948 bis 1952 verhaftet und wegen nichts und wieder nichts verurteilt. Und dennoch unterschied sich der Terror in Polen etwas von dem Terror in Ungarn, der Tschechoslowakei und der Ostzone Deutschlands. Es gelang den Polen, um die Durchführung eines Prozesses von der Art eines Rajikoder Slanskyprozesses herumzukommen. Sie sperrten zwar Gomulka, Spychalski und andere „nationalistische und Rechts-Abweichler" ein, aber sie folterten sie nicht und machten ihnen keinen Prozeß. Es gab in Polen auch sonst verhältnismäßig weit weniger Todesurteile und Erschießungen als anderswo.

Daß auch die Kollektivisierung in Polen trotz des entsprechenden Parteibeschlusses weniger scharf durchgeführt wurde, als in den anderen sogenannten „Volksdemokratien“, war unter anderem die Folge des hartnäckigen Widerstandes, den die polnischen Bauern leisteten. Aber es fanden sich immerhin in der polnischen Parteiführung Leute, die diesen Widerstand in Moskau überzeugend genug zu schildern vermochten. Mit zwölf Prozent kollektivisierter Bodenfläche steht Polen an letzter Stelle unter den Satelliten. Umsichtiger als anderswo wurde in Polen die Industrialisierung des Landes durchgeführt. Dennoch hat der forcierte Aufbau der Schwerindustrie dazu geführt, daß selbst in Polen, wo unmittelbar nach dem Krieg genügend zu essen war, der Hunger begann. Wohl konnte die Regierung ihre Bürger begeistern, als es um den Wiederaufbau der zerstörten Städte, vor allem Warschaus, ging; aber auch die begeisterten Anhänger der Industrialisierung empörten sich, als sie feststellten, wie sehr die industrielle Entwicklung Polens den wirtschaftlichen Interessen Rußlands angepaßt wurde und wieviel jetzt schon an Rußland geliefert werden mußte.

Hatte man noch während der „Befreiung" und kurz nach dem Krieg erbittert beobachtet, wie die russischen Truppen ganze Fabrikeinrichtungen demontierten und ihren polnischen Freunden oft nur die nackten Mauern der Fabrikgebäude übrig ließen, so war man später entrüstet über die ständigen Kohlenlieferungen an Rußland, über die billige Versorgung des großen Nachbarn mit polnischen Textilien und anderen Waren des täglichen Bedarfs, die in Polen selbst so bitter notwendig* waren, und zum Schluß über die Entnahmen aus der Maschinenbauindustrie, die man mit solcher übermenschlichen Anstrengung aus dem Boden hatte stampfen müssen.

Es war neben dem Polizeidruck, der stalinistischen Ausrichtung des geistigen Lebens, diese ständige russische Ausbeutung, die der Bevölkerung vor allem an den kommunistischen Machthabern mißfiel. Gleichzeitig aber darf man nicht vergessen, daß der Aufbau des industriellen Potentials Polens, der Wiederaufbau seiner Städte und nicht zuletzt die Schaffung einer gut ausgerüsteten Armee einen gewissen Teil der polnischen Bürger für dieses System gewonnen hat. Die Enteignung des bankrotten Grundbesitzes zugunsten der vorher in größtem Elend lebenden polnischen Zwergbauern, kulturelle Errungenschaften wie z. B. die Einführung der Schulpflicht und ungeheure erweiterte Bildungsmöglichkeiten sind sicher nicht mehr rückgängig zu machen. Auf die Feststellung: Moskau ist schlecht, folgte deshalb immer die Frage: und was bietet uns der Westen? Die Haßgefühle gegen das kommunistische Regime bedeuten also nicht — und man muß sich vor einer solchen Auffassung hüten — die Sehrsucht nach jenem System, das in Polen zwischen den Kriegen an der Macht war und das sich in größter Abhängigkeit vom Ausland befand. Sie bedeuten vor allem den Wunsch nach Revidierung dieses Systems, nach seiner Demokratisierung und nach einer Selbständigkeit Polens gegenüber Moskau.

Es sind Wünsche und Sehnsüchte, wie sie im Grunde auch die meisten unter den polnischen Kommunisten hegen. Denn, wie ich vorhin darlegte, sind diese Kommunisten ihrer ganzen Geschichte wegen immer zu einem guten Teil Patrioten und Gegner Moskaus gewesen. Sie haben unmittelbar oder doch mittelbar das Paradies der sowjetischen Arbeiter kennen-gelernt und kennen außerdem auch den Westen weit besser als die russischen Genossen, wissen also, daß man die Freiheit und das bessere Leben auf dem sowjetischen Weg nicht erreichen kann. Stalin hat nicht vermocht, alle denkenden Menschen aus der polnischen kommunistischen Partei zu eleminieren. Es sind im Gegensatz zu anderen Parteien erstaunlich viele fähige Köpfe unter den polnischen Kommunisten.

Das „Tauwetter” in Polen

Es läge in Polen kein Grund vor, einen „neuen Kurs" einzuschlagen, äußerte einmal Boleslaw Bierut, als nach Stalins Tod in der Tschechoslowakei und in Ungarn sofort einschneidende Veränderungen beschlossen wurden. Tatsächlich veränderte sich unmittelbar nach dem Tod des Diktators in Polen so gut wie nichts. Wie überall im sowjetischen Machtbereich verschwanden nun auch hier nach und nach Stalinzitate und Stalin-bilder aus den Spalten der Zeitungen und der „große Führer" geriet in Vergessenheit. (Allerdings heißt die Stadt Kattowitz, die gleich nach Stalins Tod zu seinem Gedenken in „Stalinograd" umbenannt wurde, auch heute noch so.) Aber das war zunächst alles.

Erst 1954 begann sich die große Wendung abzuzeichnen, die in Polen stattfinden sollte. Sie begann auf kulturellem Gebiet. Schriftsteller, Kritiker und Professoren wagten es, immer schärfere Kritik an dem Leben unter dem Kommunismus zu üben. Die Ärmlichkeit und die Härte des polnischen Alltagslebens wurde verurteilt und schließlich wurden sogar gewisse marxistische Prinzipien in Frage gestellt. Die Parteidogmen entsprächen nicht der polnischen Wirklichkeit und genügten nicht, um die Verhältnisse in der westlichen Welt zu deuten. Namhafte Intellektuelle brachten die vorher unartikulierte Empörung des polnischen Volkes jetzt deutlich zum Ausdruck. Zwar erschien zu gleicher Zeit in Rußland Ehrenburgs „Tauwetter" und somit kam das Signal zu diesen Diskussionen aus Moskau, aber die polnische Aussprache ging weit über das hinaus, was man in Rußland zuließ, wo bekanntlich auch Ehrenburgs Roman, kaum erschienen, schon von offizieller Seite in Grund und Boden verdammt wurde.

Ehe ich auf die Einzelheiten der „Tauwetterdiskussion" in Polen eingehe und die oft recht weitgehenden Überlegungen zitiere, die in der Presse Polens noch vor dem 20. Parteitag erschienen, möchte ich aber auf eine andere Erscheinung der Entstalinisierung hinweisen, die parallel zur Diskussion verlief und wohl entscheidend für deren Entwicklung gewesen ist. Ich meine das Nachlassen des politischen Terrors. Der Angriff auf den geistigen Terror und die Lockerung der Fesseln der freien Meinungsbildung wäre ohne Angriff auf den Staatssicherheitsdienst unmöglich gewesen. Auch dieser Angriff erfolgte in unmittelbarem Zusammenhang mit den Veränderungen, die auf diesem Gebiet in der Sowjetunion vor sich gingen und stand in engem Kontakt mit dem Sturz Berijas. Und dennoch war die Absage an den Terror in Polen tiefgreifender und von unmittelbarer Folge auf die Stimmung des Volkes, als in Rußland, wo sich die Veränderungen erst nach und nach spürbar machen werden.

Der Abbau des Polizeiterrors Wie man erst in diesem Jahr aus einer Rede des neuen Parteisekretärs Edward Ockab erfuhr, der nach Bieruts Tod, Ende März dieses Jahres an die Spitze der politischen Kommunisten trat (er wurde erster Sekretär der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei) — sind in Polen bereits im Laufe des Jahres 1954 eine ganze Reihe von Personen aus den Gefängnissen entlassen und rehabilitiert worden. Die „Bespieka“ oder „LI. B.“ — der polnische Sicherheitsdienst wurde von allzueifrigen Beamten, den „Berija-Leuten" wie es nun hieß — gesäubert.

Ende 1953 war ein Oberst dieses Sicherheitsdienstes, Josef Swiatlo, über Ost-Berlin in den Westen geflüchtet und hatte, in Amerika angekommen, interessante Enthüllungen über die Tätigkeit des polnischen Sicherheitsdienstes und seine Abhängigkeit von Moskau gemacht. Die Aussagen von Swiatlo in polnischer Sprache, durch ausländische Radiostationen nach Polen gesendet, haben den Prozeß der Säuberung im U. B. — wie in Polen ganz offen zugegeben wird — beschleunigt. Die belastenden Enthüllungen über die Terrormaßnahmen und die Erpressung falscher Geständnisse, die Tag für Tag aus den Lautsprechern drangen, versetzten die Bevölkerung in helle Empörung und die Regierung war gezwungen die angegriffenen Sicherheitsbeamten zu entfernen. Es fiel ihr umso leichter, da gewisse Veränderungen ohnehin von Moskau vorexerziert worden waren.

So wurde im Januar 1955 der polnische Sicherheitsdienst umorganisiert. Statt eines Ministeriums für Sicherheit wurde ein Ministerium für Inneres unter Minister Wicha und ein „Komitee für öffentliche Sicherheit“ unter der Leitung von Dworakowski geschaffen. Gleichzeitig wurde eine Reihe der bisherigen Funktionäre des Sicherheitsdienstes, vornehmlich solcher, die durch Swiatlo belastet waren, ihrer Posten enthoben, aus der Partei ausgeschlossen und sogar, wie z. B. Rozanski, verhaftet. Die Partei beschuldigte den Sicherheitsdienst sich „unerlaubter Methoden bedient zu haben um Geständnisse zu erlangen".

Seit dieser Umorganisierung haben politische Verhaftungen in Polen so gut wie aufgehört. Die Beschuldigungen gegen die Sicherheitsbeamten und die Tatsache, daß sie sich nun selbst vor Gericht zu verantworten hatten, führte zu einer merklichen politischen Entspannung im Land. Die Angst ließ nach, das Spitzelwesen nahm ab.

Aber all dies war erst der Anfang. Noch lastete auf Polen der Drude der NKWD und die Erschießung Berijas konnte hier keinen richtigen Widerhall finden, wenn Tausende von polnischen Bürgern noch in Ruß-land in den Lagern saßen und Dutzende von alten polnischen Kommunisten, die in diesen Lagern umgekommen waren, nicht genannt werden durften.

Es war am 1. Mai 195 5, da erlebte Polen eine Sensation. Auf der ersten Seite des Parteiorgans „Trybuna Ludu“ erschienen unter einer •Reihe anderer Bilder von kommunistischen Führern unter der gemeinsamen Überschrift: „Diejenigen, die uns im Kampf vorangingen" die Bilder von 6 Personen, die bisher im kommunistischen Polen nicht erwähnt worden waren. Es waren die Bilder von Altkommunisten, die in Moskau 1937 liquidiert worden waren. Adolf Warski war darunter, Vera Kostrzewa, Lenski, Pruchniak u. a. Keine Bemerkung über ihren Verbleib stand neben den Bildern, keine Erklärung dafür, warum man diese Führer erst jetzt erwähne und warum nur diese und nicht auch eine Reihe anderer, die für die Entwicklung Polens der KP ebenso wichtig waren und die ebenso in Rußland umgekommen waren. Aber die Wirkung dieser Veröffentlichung, die ja noch lange vor den Ausführungen Mikojans und Chruschtschows auf dem 20. Parteitag und den Rehabilitierungen in Moskau erfolgte, war ungeheuer.

Weitere Maßnahmen, die sicher ebenso wie die Veröffentlichung der sechs Bilder, auf das Betreiben der polnischen Parteiführung zurüdezuführen waren, folgten. Der Mitte 1955 erschienene 34. Band der neuen Auflage der sowjetischen Encyklopädie brachte eine neue Formulierung in der Beurteilung der Kommunistischen Partei Polens vor dem Kriege. Sie wurde in einem Prawda-Artikel, der am 3. September 195 5 erschien und von dem Sohn Felix Dzierzynskis verfaßt worden war, wiederholt.

„Im Jahre 1938 hat die Exekutive der Komintern infolge von Verdächtigungen, nach denen sich in das führende Aktiv der Partei feindliche Agenten eingescltlichen hätten — die Polnische Kommunistische Partei aufgelöst. Diese Verdächtigungen erwiesen sich später als unbegründet." Es ging, wie man sieht, Schritt um Schritt. Und jeder Schritt fand in Polen seinen Widerhall.

Aber als der Rehabilitierung von toter. Kommunisten die Haftentlassung und Rückkehr aus Rußland von lebenden Mitbürgern folgte, begann die Entspannung zu überzeugen. Es war kurz nachdem in Deutschland die ersten Heimkehrertransporte eintrafen, die auf Grund von Adenauers Abmachungen in Moskau von den Sowjets zusammengestellt wurden, da kamen auch in Polen die ersten Rückkehrer aus sowjetischen Lagern an. Man nannte sie nicht „heimkehrende Gefangene" sondern „Repatrianten" und wollte sie so jenen sehnsüchtig aus dem westlichen Ausland nach Polen zurückersehnten polnischen Emigranten gleichsetzen. Aber niemand in Polen zweifelte daran, daß diese Heimkehrer nicht freiwillig solange fortgebliebcn und auch nicht aus freien Stücken nach Sibirien oder Karaganda gefahren waren. Im übrigen, machte man auch bald kein allzugroßes Geheimnis daraus. In Sendungen über die Repatrianten und in gelegentlichen Interviews, die man mit ihnen veranstaltete, wurde offen darüber gesprochen, daß der Heimkehrer in Rußland zu 8 oder 10 Jahren verurteilt worden war und im Lager gesessen hat. Auch, daß sie sich sofort begeistert für die Heimreise gemeldet hatten, als es möglich geworden war, wurde nicht verheimlicht.

Nach dem ersten Fiasko, daß die offiziellen Redner erlebten, als sie von einer „Schuld" der heimkehrenden Gefangenen zu sprechen begonnen hatten, wurde dieses Problem nicht mehr erwähnt. „Ihr könnt glücklich sein,“ so hatte dieser polnische Redner beim Empfang des Transportes an der polnisch-russischen Grenze gesagt, „daß die Sowjetregierung Euch Eure Schuld verziehen hat." „Wieso unsere Schuld?“ fragten die Heimkehrer „eben hat uns der NKWD-Offizier, der uns drüben verabschiedete, gebeten alles zu vergessen, es sei alles die Schuld des Verbrechers Berija gewesen!"

Einige Tausend Heimkehrer waren Ende 195 5 und Anfang 1956 in Polen eingetroffen. Man zahlte ihnen Überbrückungsgelder und ließ ihnen jede Sorge angedeihen. Sie erhielten bevorzugte Stellungen und Wohnungen und die Älteren und Kranken kamen kostenlos in ärztliche Behandlung.

Die Justizreform und der 20. Parteitag So näherte man sich dem 20. Parteitag, der in Polen die schnellste und stärkste Reaktion hervorrief. Im Lande brach ein wahrer „Frühlingssturm'aus. „Der Maßstab für die Aufrichtigkeit der Veränderungen in unserer ideologischen Welt“, so schrieb Zbigniew Florczak in der Warschauer Zeitschrift „Nowo Kultura“ bald nach dem 20. Parteitag „werden die Taten und Ereignisse sein, die nun eintreten. Auf allen Gebieten unseres Lebens sollten jetzt Menschen auftaudten, deren Namen eine Garantie dafür bieten, daß dieser Säuberungsprozeß, der jetzt beginnt, so tief und erfolgreich vor sich gehen wird, wie nur möglich. Jeder von uns wartet heute auf öffentliche sichtbare Anzeichen dafür, daß die Partei und die Regierung das Problem auf diese praktische Weise verstehen werden".

Es schien, als wollte die Partei diesen Erwartungen entsprechen. Bereits einige Tage nach Beendigung des 20. Parteitages hatte Parteisekretär Edward Ochab in einer großen Rede eine weitere Säuberung der politischen Polizei in Aussicht gestellt. Er teilte offiziell mit, daß im Verlaufe des letzten Jahres einige Dutzend unschuldig Verhaftete und Verurteilte aus den Gefängnissen Polens entlassen worden sind. Zugleich wurden 36 Personen die aus der Partei ausgeschlossen und verhaftet gewesen waren wieder in die Partei ausgenommen. Andere Rehabilitierungsprozesse — sowohl gerichtliche, wie Parteirehabilitierungen — liefen noch. Ochab machte deutliche Unterschiede: Wladyslaw Gomulka sei aus dem Gefängnis entlassen und das Verfahren, das man gegen ihn eröffnet hatte, sei als verleumderisch und unzulässig erklärt worden. Dennoch sei die politische Konzeption, die Gomulka 1948/49 vertreten habe, falsch gewesen. Die Entlassung General Spychalskis aus dem Gefängnis wurde noch anders begründet: man habe ihm zwar parteifeindliche, nicht aber staatsfeindliche Tätigkeit nachgewiesen und das genüge nicht zur gerichtlichen Ahndung. Die ehemaligen Offiziere des Vorkriegspolen, darunter Kirchmayer, seien nur begnadigt, nicht aber rehabilitiert worden.

Diese Differenzierung und der nachdrückliche Hinweis des neuen Parteisekretärs darauf, man solle bei dem „Tauwetter" nicht in Hysterie verfallen und so weit gehen, daß schließlich der Feind den Vorteil daraus habe, sollte den Polen die Grenzen der Entspannung in Erinnerung rufen. Grenzen, die gewahrt werden mußten, auch wenn die weiteren Regierungsmaßnahmen große Hoffnungen in der Bevölkerung hervorrufen mußten.

Am 16. März hatte der polnische Ministerrat einen Gesetzentwurf für eine große Amnestie ausgearbeitet, die sich zum ersten Mal auch auf politische Gefangene erstrecken sollte. Der Sejm, der im Mai seine Sitzung abhielt, nahm den Gesetzentwurf an. Die Amnestie, die anschließend durchgeführt wurde, hatte sofortige Haftentlassung von etwa 36 000 vorwiegend politischer Gefangener und Strafverkürzung für weitere 40 000 Gefangene zur Folge. Gefängnisstrafen für staatsfeindliches Vergehen, darunter Spionage, Terrorakte bis zu fünf Jahren, wurden völlig aufgehoben, Strafen von 5 bis 10 Jahren auf ein Drittel gesenkt, lebenslängliche Strafen auf 12 Jahre beschränkt und die Todesstrafe durch 15 Jahre ersetzt. Der Sejm bestätigte auch eine Anzahl personeller Veränderungen im polnischen Justizwesen. Der Generalstaatsanwalt, der Justizminister, der höchste militärische Staatsanwalt und eine ganze Reihe anderer höherer Justizbeamten und Angestellten des Sicherheitsdienstes wurden ausgewechselt. Die seinerzeit ihrer Posten enthoben und aus der Partei ausgeschlossen resp, verhafteten Sicherheitsbeamten wurden jetzt unter Anklage gestellt. Die Verfahren der noch in Haft befindlichen polnischen Bürger werden samt und sonders überprüft.

All dies geschah in Polen unter dem unmittelbaren Druck der Öffentlichkeit. Seit dem 20. Parteitag sind Presse und Rundfunk ununterbrochen damit beschäftigt, Anfragen und Vorschläge der Bevölkerung zu publizieren, auf brennende Fragen des. täglichen Lebens zu reagieren und über alles in der Öffentlichkeit zu diskutieren. „Noch nie waren unsere Zeitungen so interessant“, stellen polnische Journalisten fest. Und tatsächlich, die offene Sprache, die in ihnen heute geführt wird, hat die polnischen kommunistischen Zeitungen zu einem lebendigen Abbild der Wirklichkeit werden lassen, das dem langweiligen Schema der „Stalin-Ära“ kaum mehr gleicht. Besonders ist es die Jugendzeitung „Po prostu“ und die Zeitschrift „Nowa Kultura“, die als Sprachrohr der Vorhut der polnischen Intelligenz wunde Punkte des öffentlichen Lebens in breiten Diskussionen berühren.

Die nichtkommunistischen Widerstandskämpfer Einer der „wunden Punkte" war die Frage der seit 1944 verfemten nichtkommunistischen Widerstandskämpfer gegen die deutsche Besatzung. Wie bereits erwähnt, mußten diese Widerstandskämpfer ausgeschaltet werden, damit die Kommunisten in Polen siegten. Seit 11 Jahren nun galten sie in Polen als Menschen zweiter Klasse, wurden bei Einstellungen oder Beförderungen übergangen, bei den geringsten Verdachtsmomenten bestraft und so in prinzipielle Gegner des Regimes verwandelt. Ihr Kampf, der sonst ein leuchtendes Beispiel für die nationale polnische Jugend gewesen wäre, wurde verheimlicht, aus der Geschichte radiert, verfälscht. Die Jugendzeitschrift „Po prostu" eröffnete kurz nach dem 20. Parteitag die Kampagne zur „Rehabilitierung der Soldaten der A. K. — der nicht kommunistischen Widerstandsarmee „Armja krajowa“ — und Rundfunk sowie andere Zeitungen und Zeitschriften griffen diese Kampagne auf. Noch wurde dabei der Verrat der Sowjettruppen, die dem Warschauer Aufstand von dem anderen Weichselufer aus tatenlos zugesehen, in die-der Kampagne nicht erwähnt. Aber wer in Polen kennt die Geschichte dieses Verrates nicht? Er steht deutlich zwischen den Zeilen der Artikel, die heute „ein Anknüpfen an die heroischen Traditionen der polnischen Widerstandskämpfe" fordern. Die Verdammung des Terrors der „Stalinära,“ deren Erwähnung in Polen schon in dem Ton erfolgt, wie man von der „Hitlerzeit“ spricht, hat zu einer solchen offen zur Schau gestellten Verachtung für alle Sicherheitsbeamten geführt, daß sich Parteiorganisationen und Partei-presse jetzt genötigt sehen für diese Beamten um Nachsicht zu bitten. Man solle sie doch „gerecht beurteilen" bittet das Parteiorgan „Trybuna ludu“ die Genossen Anfang August, es ginge nicht an, daß man jeden, der einmal im Sicherheitsdienst gearbeitet habe als jemanden ansehe, der „schmutzige Hände“ habe. Schließlich gäbe es doch auch ehrliche Leute unter ihnen. Die Zeitung führt Fälle an, in denen aus dem Sicherdienst entlassene Personen vergeblich irgend eine andere Anstellung suchen. Ein Mann, der übrigens nur infolge der Einschränkung des Sicherheitsapparats aus dem Sicherheitsdienst ausschied, hatte zwölfmal eine abschlägige Antwort erhalten, als er eine andere Arbeit suchte. Schließlich verschwieg er, wo er vorher gearbeitet hatte und gab an, er sei auf Grund der Amnestie aus dem Gefängnis entlassen worden, da wurde er sofort eingestellt.

Der Staat brauche eine Sicherheitskomission und wenn man die Methoden der Berija-Polizei ablehne, so könne man doch nicht ganz auf eine solche Institution verzichten, die Genossen und Bürger sollten das doch einsehen und nicht durch ihren Haß, der ja in der Vergangenheit verständlich war, die Arbeit der Sicherheitsbeamten erschweren.

Ein kommunistischer Staat kann natürlich nicht ganz auf die „Leute mit den schmutzigen Händen“ verzichten und die Entspannung darf auch niemals der Kontrolle dieses Staates entgleiten. Auch wenn diese Entspannung in Polen sehr weit geht, hat man doch immer wieder den Eindruck, daß hier bewußt eine Diskussionsfreiheit zugelassen wurde, nicht nur um ein Ventil für die Unzufriedenheit zu schaffen, sondern auch aus außenpolitischen Erwägungen heraus. Die Handelsoffensive des Ostblocks sieht weitere Kontakte zum Westen vor und Polen hat dabei große Aufgaben. Die Bevölkerung, die auf Grund solcher Kontakte viel mit Ausländern in Berührung kommen wird, soll darauf vorbereitet werden. Die bisherige starre irdeologische Ausrichtung konnte dem nur abträglich sein. War aber eine solche Befreiung von der Ausrichtung vorgesehen, wie sie in Polen dann durchbrach? Wohl kaum!

Die ideologische Auseinandersetzung Es ist unmöglich im Rahmen dieses Artikels alle Gesichtspunkte und Auffassungen zu erwähnen, die während der literarischen Auseinandersetzungen in Polen zum Ausdruck gekommen sind. Auch die oft in ihrer Schärfe und Treffsicherheit ausgezeichneten Formulierungen, die von den polnischen Schriftstellern und Publizisten zur Charakterisierung der verhängnisvollen Stalinzeit und ihrer Auswirkung auf das polnische Geistesleben angewandt wurden, würden eine besondere Würdigung verdienen. Ich kann nur versuchen, -einen Eindruck von diesen Diskussionen zu vermitteln, die die polnische Geisteswelt im Verlauf der letzten Jahre erschütterte und die nach dem 20. Parteitag ihren Höhepunkt erreicht haben.

Ich erwähnte bereits, daß 1954 polnische Schriftsteller marxistische Prinzipien in Frage stellten. Der schon vor dem Kriege bekannte Soziologe Professor ]osef Chalasiuski hatte damals in den Zeitschriften „Nauka Polska" und „Pamietnik Literacki“ die „ketzerische" Auffassung vertreten, daß ein Anhänger des Historischen Materialismus nicht verpflichtet sei, kritiklos jede These der sogenannten Klassiker des Marxismus anzunehmen. Ein Gelehrter, der überzeugt von der Richtigkeit der Grundbehauptung des Historischen Materialismus sei, daß das Sein das Bewußtsein bestimme, könne sie doch entsprechend den Anforderungen entwikkeln, die ihm das untersuchte Gebiet der kulturellen Erscheinungen auferlegt. Über die Richtigkeit zusätzlicher Hypothesen entscheiden nur die Tatsachen und nicht die Übereinstimmung mit der einen oder anderen Behauptung der Klassiker des Marxismus. Der Historische Materialismus erfordert ergänzende Hypothesen, wenn er ein nützliches Werkzeug in den Händen des Humanisten sein und die Grundlage für eine vollständige Theorie bilden soll, die alle Gebiete des menschlichen Lebens umfaßt und eine erschöpfende Weltanschauung gibt, die dem einzelnen eine Lebensorientierung vermittelt. Eine solche Weltanschauung muß Werte umfassen, die man weder aus der Naturwissenschaft noch aus dem Marxismus-Leninismus ableiten kann. Die Wahrheiten schöpfe man aus der historischen Erfahrung und den Erfahrungen der ganzen Menschheit, von denen sich der Marxismus-Leninismus lossagt und zu denen man zurückkehren muß, wenn der Marxismus-Leninismus die Rolle erfüllen soll, die er sich zu spielen vorgenommen hat.

In einem Artikel unter dem Titel „Aufgaben der heutigen Kultur in der polnischen Huwanistik“ — „Nauka Polska" Nr. 2 195 5 — hat Chalasinski zu den zwei Thesen noch eine dritte hinzugefügt. Die zentrale Aufgabe der Epoche des Sozialismus sei die Aussöhnung der Leitung Kultur und Wissenschaft mit der Entwicklung der Individualität des Gelehrten und Kulturschaffenden. Der eine Teil dieser Aufgabe sei positiv gelöst worden. Die Leitung werde nun im Sinne der Gesellschaft ausgeübt und sei unlöslich mit dem Gesetz der Planung und der sozialen Funktion von Wissenschaft und Kunst verbunden. Aber der zweite Teil des grundlegenden Problems — die Entwicklung der Individualität des Forschers — sei nicht gelöst. Eine Planung ist in diesem Falle zwecklos, denn die Individualität läßt sich nicht planen. Wenn man die Bilanz der humanistischen Wissenschaften im Jahrzehnt 1944 bis 1954 betrachte, so sehe man deutlich einen höchst unbefriedigenden Sachverhalt. Mangel an Erfolgen, „Einmütigkeit und Übereinstimmung der Auffassungen", Unpersönlichkeit, völlige Leere an Stelle moralischer und intellektueller Werte charakterisieren diese Zeit und die Überzeugung, daß die „bürgerliche“ Humanistik von Dummköpfen, die „marxistische“ Humanistik jedoch Menschen der Wissenschaft betreiben. Die Individualität des Forschers erwächst unter den Bedingungen der Freiheit des Denkens, der Verschiedenartigkeit der Auffassungen und Stellungnahmen, der Vielfalt an Schulen und Grundsätzen, unter denen der Forscher entsprechend seinem Gefühl für die Richtigkeit und gemäß seiner Überzeugung wählen kann.

Solche Bedingungen aber gibt es in Polen nicht. Daraus entspringe die wissenschaftliche Inkompetenz, das Unverständnis für die Probleme, um die es geht oder sogar die Fälschung des wirklichen Bildes der bürgerlichen Wissenschaft. Der Niedergang der humanistischen Wissenschaft sei mit dem Feigenblatt der Werbeslogans von der „marxistischen Humanistik“ bedeckt, einem ungedeckten Scheck.

An der Diskussion mit Chalasinski nahmen rund ein Dutzend der führenden Theoretiker und Schriftsteller Polens teil und diese Diskussion ging durch alle Zeitschriften-.

Damals, 1954 und 195 5 waren die meisten von ihnen noch vorsichtig und nahmen gegen Prof. Chalasinski Stellung. Erst nach und nach wurde der Angriff gegen den Dogmatismus nichts Außergewöhnliches mehr. Im Verlauf dieser Diskussionen wurde für jene allzu eifrigen Verteidiger der theoretischen Begrenztheit die Bezeichnung „Terroretiker“ geprägt. Und tatsächlich ließ ihre Linientreue in dem Maße nach, wie der Terror im Lande nachließ. Nun waren die Zeitungen und Zeitschriften überfüllt mit Beschreibungen jener verheerenden Folgen, die die ideologische Gleichschaltung und die kommunistische Phraseologie besonders auf die Jugend in Polen gehabt hatte, die nun bar jeden Glaubens sei und sich in einer unvorstellbaren ideologischen Verwirrung befinde.

„Plötzlich hat sich herausgestellt, daß „Nowa Huta" nicht nur ein Industriegigant ist, sondern auch eine, von den verschiedensten Leidenschaften beherrschte Gemeinschaft junger Menschen, die in ihr neues selbständiges Leben nur ihre arbeitsfähigen Hände witbrachten, nicht aber die Fähigkeit das Gute vom Bösen zu unterscheiden“ — so stellte, noch vor dem 20. Parteitag in Moskau, der Warschauer Rundfunk in einer Sendung unter dem Titel „Der Lack platzt ab“ fest.

„Jahrelang glich die Wirklichkeit in unserer Vorstellung einem billigen Öldrud^ auf dem vor dem Hintergrund mächtiger Gerüste braun-gebrannte junge Leute in den Uniformen unseres Jugendverbandes uns forsch zulächelten. Dieses Bild, daß wir heute als „lackiert“ bezeichnen, wurde serienweise in den Betrieben hergestellt, in denen ein einziger kommandierte, produziert von den Bürokraten und retouchiert von jenen müden Jugenderziehern, die sich unter den Stößen von Rundschreiben bogen." Inzwischen aber sei in diesen Betrieben eine Jugend herangewachsen, die „außer engen Fachkenntnissen keinerlei Kenntnisse von der Welt besitzt und in der weder Haß noch Liebe lebendig ist. Die Annahme und kritiklose Wiederholung normalisierter Wahrheiten stellte sich für viele als leicht und bequem heraus und als Resultat erhielten wir dann diese Jugend, die ausgezeichnet in der Arbeit, aber erstaunlich arm an Charakter, Moral und innerem Widerstand gegenüber dem Leben ist."

Um den Bann dieser „normisierten Wahrheit“ zu durchbrechen, begann schon Ende 195 5 in der Jugendzeitung „Sztandar Mlodych" eine große öffentliche Diskussion über das Thema „Gewissen und Ehrlichkeit". „Es ist eben leichter eine sozialistische Stadt zu bauen, als Menschen zu erziehen, die unserer Zeit würdig wären“, schrieb in der gleichen Zeit zum Thema der ideelen Armut der Jugend die regime-treue katholische Zeitschrift „Dzis i Jutro“: „Der Bankrott der soge-nannten bürgerlichen Moral zeugt vorläufig in Polen von einem Bankrott der Moral überhaupt. Tausende junger Leute aus der tiefsten Provinz sind nicht nur in eine völlig fremde Umgebung geraten, sondern audi in eine moralisdie Leere. Zweifellos rekrutiert sidt der Großteil dieser Jugend aus Leuten, die ihren religiösen Glauben verloren und an seine Stelle kein neues Moralsystem gesetzt haben.“

Woher sollte sie dieses Moralsystem haben, da sie doch in einer Atmosphäre von Lüge und Heuchelei ausgewachsen ist? Das allerdings wird vor dem 20. Parteitag noch nicht mit aller Offenheit ausgesprochen, wenn auch z. B. die bekannte Publizistin Irena Krzywicka schon feststellen kann, daß sie in einer jugendlichen Diskussionsversammlung „keine audi nur irgendwie selbständige Meinung, keinen mutigen Gedanken — nur nidttssagende Phrasen und ein völliges Chaos unverdauter Auffassungen, ein Gemisch von kirchlichen Dogmen, viktorianischen Vorurteilen und kommunistischen Losungen“, zu hören bekommen hat.

„Nach einer langen Zeit, da wir in fertigen Sätzen sprachen und in fertigen Formeln daditen, nadt einer Zeit, da die Verlogenheit allgemein verbreitet war, erfaßt jetzt die Wahrheit und Aufridttigkeit den Geist des Menschen," schrieb am 1. April dieselbe Frau Krzywicka in einem Feuilleton, das durch den Warschauer Rundfunk übertragen wurde, und die Literarische Zeitschrift „Nowa Kultura" begann nun zu untersuchen, wie es zu einer solchen Verlogenheit hatte kommen können. ; Heute behauptet man oft, daß die Entwicklung der Literatur in der befohlenen Richtung das Resultat einer Anweisung , von oben war", schrieb in einem Artikel in der „Nowa Kultura" vom 8. April Andrzej Kijowski: „Das stimmt nicht! Vergessen wir nicht, daß die Partei der Literatur 1948 nicht nur konkrete Aufträge verschaffte, ihr nicht nur Preise und Stipendien stiftete und sie nicht nur administrativ zu betreuen begann. Sie gab ihr auch ein Programm, das ihr bisher, und eine Hoffnung, die ihr seit 100 Jahren fehlte, die Hoffnung nämlich, das Goldene Zeitalter zu erleben. Und welches Mädchen, dem der Geliebte Brillanten schenkt und das Glück verspricht, sagt nicht schließlich ja?

. .. Wenn die Schriftsteller selbst gegen ihre Überzeugung die Gestalt des idealen Helden zeichneten, wurde ihre Feder nicltt nur von dem komformistischen Bestreben gelenkt, sich den vorgezeichneten Ridttsätzen anzupassen, sondern auch von der Sehnsucht nach jenem idealen Menschen selbst, von dem die Literatur immer geträumt hatte. Wenn die Schriftsteller entgegen den Tatsachen die dunklen Seiten unserer Wirklichkeit unterschlugen und entgegen ihren Erfahrungen die befohlene Wirklichkeit malten, so taten sie das nur teilweise darum, weil sie der Zensur entgehen wollten. In vielen Fällen war es die Folge ihrer Überzeugung, daß die Entwiddung in dieser befohlenen Riditung unvermeidlidi ist. Diese Sehnsucht nach einer rationalisierten Wirklidtkeit auf deren Nähe man mit Hilfe logischer Operationen deduktiv sdtloß, diese rationalistische Täuschung also, und nicht nur Opportunismus und Konformismus, war der Inhalt der Literatur der vergangenen Zeitspanne. Und daher kann das Paradoxon einer umfangreichen, aber wertlosen literarisdten Produktion. Umfangreidt — weil die Freude am Mitsdiaffen an einer idealen Wirklichkeit, die den Direktiven entsprach, reizte, Wertlos, weil nichts Wertvolles im Gegensatz zu der Wirklidikeit stehen darf. ... Nicht der Optimismus hat unsere Literatur vernichtet, sondern die Lüge. Eine Lüge besonderer Art, deren ideeler Grundsatz die Über-zeugung von der Notwendigkeit und der Vernunft alles dessen war, was im Land gesdtieht, die Überzeugung, daß seine Entwicklung durch eine wissenschaftliche Interpretation geschichtlicher Prozesse bestimmt wird — selbst die Lüge sdtien notwendig und vernünftig. 1953 zerfiel der Mythos von dem notwendigen und vernünftigen Charakter unserer sozialen Wirklichkeit! Es stellte sich heraus, daß die geschichtlichen Prozesse nicht nur von Komponenten abhängen, die jenseits der moralischen und merytorisclten Wertung stehen. Außer durch sie werden die geschichtlichen Ereignisse auch von Fehlern, Böswilligkeit, Eigensinn, Lüge und Entartung — also von menschlichen Faktoren — bestimmt. Die Literatur hatte eine weit wichtigere Rolle zu spielen, als sie dachte. Das war ein freudiges Ereignis. Alles was in den Jahren 1953— 56 geschehen ist, ist ein freudiges Ereignis. Die Literatur hätte jetzt alle Ursache aktiv und optimistisch zu sein. Aber es ist umgekehrt. Die Literatur hat das Vertrauen zur Wirklichkeit verloren. Während alle Welt sich freut, ist sie allein traurig, gleich dem empfindsamen Kind, das von Liebesbezeugungen nicht mehr ergriffen wird, weil es den Glauben an den Storch verloren hat."

Diese Erklärung ist sicher nur zu einem Teil richtig. Die Ursache dafür, daß das „Tauwetter“ noch keine neuen Werke hervorgebracht hat, wird außer in der geistigen Verwirrung auch an dem Zweifel an der Beständigkeit der Entspannung liegen. Immerhin begeistert in Polen auch schon die Möglichkeit, Fragen zu stellen. „Früher fragte man ganz anders und die Antworten mußten sich reimen,“ schreibt ein anderer kommunistischer Literat, Alexander Jackiewicz: „Sie mußten sofort gegeben werden. Was ist das? Eine Nase. Und das? Eine Lampe. Nein, eine Nase — du liegst schief! Die Kraft des Tauwetters liegt darin, daß man lebendige Menschen für die aktuellen Dinge verantwortlich machen kann. Der Schriftsteller, Künstler, Gelehrte fühlt plötzlich, daß man ihn braucht wie er ist, mit seinem intellektuellen und schöpferisdten Gepädt. Es war früher nicht nur deshalb so sdiwer, weil die Redakteure und Herausgeber unsere Bücher und Artikel ablehnten oder präparierten, sondern weil niemand unser wirkliches Denken, unsre wirklichen Erfahrungen brauchte, weil man für uns sehen und denken wollte . . .“

Zu Wort kam in dieser Diskussion auch der bekannte polnische Schriftsteller Slonimski, der auf der stürmischen XIX. Session des Rats für Kultur und Kunst die empfindlichste Stelle der Diskussion berührte. Er kritisierte, daß verschiedene philosophische Leuchten der Stalinschen Epoche jetzt versuchten, die Schuld für die Fehler der vergangenen Zeit auf den Personenkult abzuwälzen und wies dabei mit dem Finger auf den Parteitheoretiker Adam Schaff. „Durchdenken wir diese Formulierung bis zu Ende," sagte Slonimski. „Es geht nicht um den Personen-kult, sondern um die Person. Und dann audi nidct um die Person allein, sondern um das System, das eine so sdtädliche Tätigkeit einer Einzelperson ermöglidit.“

Die Feststellung, daß es nicht um Stalin, sondern um das System geht, wird natürlich nicht oft so laut getroffen werden können, wie von Slonimski, der eine Sonderstellung in Polen genießt. Aber es gab unzählige Variationen des Themas, wie ein neuer Ausbruch des Personenkultes verhindert werden könnte und auch der Angriff, den Adam Schaff gegen die Theorie von der Unfehlbarkeit der Partei im theoretischen Parteiorgan „Nowe Drogi“ im Mai führte, war bemerkenswert. „Niemand ist unfehlbar, audt nicht die Partei oder ihre einzelnen Führungsgremien.“ Das klingt doch wesentlich anders, als der kurze Zeit später in der „Prawda" veröffentlichte redaktionelle Artikel, in der die Partei trotz aller Fehler und Verbrechen Stalins als rein und unschuldsvoll und immer auf dem richtigen Weg befindlich, gepriesen wurde. „Woran sollen wir jetzt glauben?“, fragten verzweifelte Jungkommunisten nach der Zerstörung der Stalinlegende den Warschauer Rundfunk. Und dieser erteilte den sicher für kommunistische Institutionen nicht alltäglichen Rat: „Glauben sollt ihr an gar nichts — ihr sollt zwei- fein!“ Und auf die Frage der Jugendlichen nach einer Garantie gegen die Wiedererstehung des Personenkultes, erklärte der Warschauer Rundfunk: „Dafür gibt es keine Garantie. Paßt auf — auf euch und auf uns!“

Mit dem Aufpassen auf die Führung und die Bürokratie wollen sich aber anscheinend viele nicht begnügen, für die die ganze Schicht dieser Führer und Bürokraten das Hauptübel ist. In der „Nowa Kultura" vom 29. April spricht der Journalist Kat sehr scharf über das „System des sozialistischen Bürokratismus“, das einen „entarteten Apparat mit eigenen Gesetzen und Ridttlinien“ geschaffen habe, „einer Kaste mit eigener Polizei, die mehr die Interessen dieser Kaste von Bürokraten verteidigte als die der Massen, und die eine eigene Mythologie besaß mit dem Glauben an einen unfehlbaren Führer und eigene Klassen-bindungen mit anderen Schichten der Bevölkerung“.

. Jemand sagte sdterzhaft,“ fährt Kat fort, „es fehle zur völligen Konstituierung dieser Kaste als Klasse nur die Erblichkeit des Besitzes und der Titel . . . Für niemanden ist es ein Geheimnis geblieben, daß die Interessen dieser Kaste den Interessen der Werktätigen entgegengesetzt waren.“

Der zwanzigste Parteitag hätte das Ende dieses Zustandes gebracht, meint Kat. „Die letzten politischen Ereignisse nach dem 20. Parteitag werden verschieden benannt. Man spricht von einem Umschwung, von einer Revision von einem , Erdbeben . Es scheint jedoch, daß die politische Sprache des Marxismus eine präzisere Terminologie zur Beschreibung solcher Ereignisse besitzt. Es gibt doch in dieser Sprache den Ausdruck Revolution. Was jetzt geschieht ist eine Revolution. Es ist die Revolution der werktätigen Massen gegen das System der Verbürokratisierung, das den Sozialismus mit einer immer dickeren, immer härteren Schale umgibt. Diese Revolution findet auf der Grundlage der schon errungenen wirtschaftlichen und sozialen Erfolge des Sozialismus statt, was ihren Verlauf erleichtert. Sie findet bei einer steigenden Aktivität der Arbeiterklasse, der revolutionären Intelligenz und der arbeitenden Bauern statt. Die Tatsache, daß diese Klassen sich bereits von der kapitalistischen Ausbeutung befreit haben, verwandelt sie mehr in einen zweiten Akt jener Bewegung, die in Rußland 1917, bei uns 1944 begann, aber das verändert den grundlegend revolutionären Charakter des Umsturzes nicht.“

Auch der früher in Polen führende Marxist Wladyslaw Bienkowski hatte bereits auf einer Tagung des Kultur-und Kunstrates Ende März von einer zweiten Revolution gesprochen. „Wir müssen uns im klaren sein, daß wir Zeugen der Erscheinungen sind, die man als eine Revolution von gewaltigem Umfang bezeichnen muß, eine Revolution, die in dieser Skala das erste Ereignis nadt dem großen Oktober ist. Diese Revolution hat eine ganze Reihe von neuen Merkmalen . . . Seit der Zeit, als der letzte große Fortsetzer der Idee von Marx seine Bemerkungen über die internationale Situation schrieb, haben sich in der Welt gewaltige Umwälzungen vollzogen, die sogar der genialste Marxist nicht vorausahnen konnte. Denn Marxismus ist keine hellseherisdre Institution, sondern nur eine Betrachtungsweise der Wirklichkeit und eine Methode der Voraussage der aus der Wirklidtkeit resultierenden Konsequenzen . . . Die Gesellsdiaftsform des Kriegskommunismus wurde zu einem Hindernis der gewaltigen Kräfte, die durch den Sozialismus befreit wurden. Und daher ist in einem Augenblick der Geschichte die Revolution eine absolute Notwendigkeit geworden. Auch die dogmatischen, oft sinnlosen und schädlidten Parolen, die als angeblich leninistische bezeichnet wurden, waren ein Hindernis auf dem Wege der Völker zur sozialen und nationalen Befreiung und das war der zweite Moment, warum die gegenwärtige Revolution eine Notwendigkeit geworden ist. . . Der Marxismus wurde ... in einer unzulässigen Weise kompromittiert. Und ich denke, daß die Perspektive der Freilassung des Marxismus aus dem Käfig mit den eisernen Gittern im Augenblick das widctigste ist. Ich fürchte aber, daß sich Menschen finden werden, die die Revolution wieder hinter Gittern einzusperren versuchen. Aber wir intellektuellen Menschen müssen auf die Barrikaden gehen und die Revolution verteidigen ... Es wäre leichtsinnig zu meinen, daß diese Revolution das Politbüro oder das Zentralkomitee für uns machen wird. Und wenn wir nicht wachsam genug sind, werden wir in der Philosophie, in der Kunst wieder Anweisungen erhalten ..."

Ist es erstaunlich, daß die Revolution dann auch zu einem Streik geführt hat? Daß den starken Worten auch starke Taten folgten? Vergeblich versuchten Gegner der stürmischen Entspannung im Zentralkomitee künstlich einen Gegensatz zwischen den Intellektuellen und den Arbeitern zu konstruieren. In einer Arbeiterversammlung in Lodz, Ende Mai, erhielt ein Vertreter des Zentralkomitees, der den Versammelten klar machen wollte, die „Tauwetter-Intellektuellen" sprächen nicht im Namen der Arbeiterklasse, eine gründliche Abfuhr, und in Posen dokumentierten die Arbeiter ihre enge Verbundenheit mit der „revolutionären Intelligenz.“ Ochab und den Stalinisten bleibt es nun vorbehalten, alle Mittel in Bewegung zu setzen, um die Kaste der Bürokraten vor den werktätigen Massen zu schützen und die zweite Revolution zum Stoppen zu bringen.

Die große Wirtschaftsdiskussion

Der neue „polnische Weg“

Kurz nach dem 20. Parteitag forderte das zentrale Parteiorgan der „Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei“, die „Trybuna Ludu“, Wirtschaftler, Parteifunktionäre, Beamte, Arbeiter, Ingenieure und Fabrik-direktoren auf, sich an einer großen öffentlichen Diskussion darüber zu beteiligen, „wie man die Verwaltung der Volkswirtschaft besser organisieren könne“. Seit Wochen bringt die Zeitung die verschiedensten Vorschläge und Theorien zu diesem Thema und die Diskussion hat längst von den Spalten des Parteiorgans auf Sitzungssäle, Ministerbesprechungen, Universitätsvorlesungen und Betriebsversammlungen übergegriffen.

Ausgangspunkt der großen Diskussion ist die Feststellung, daß die Art, in der in der polnischen Volksrepublik die vergesellschafteten Produktionsmittel verwaltet und eingesetzt würden und die gesamte Handhabung der Volkswirtschaft überhaupt, äußerst mangelhaft sei. Sie entspräche nicht den an sie gestellten Forderungen, beeinträchtige die Produktivität und diene daher dem Volk, für welches sie doch da sei, sehr schlecht. Als wichtigste Ursachen für dieses schlechte Funktionieren der Volkswirtschaft wurden bisher folgende wesentlichen Fragenkomplexe festgestellt:

Die Überzentralisierung, die Mißachtung des Wertgesetzes, das schlechte Lohnsystem, der mangelnde Einfluß der Arbeiter auf die Betriebsleitung, die Unrentabilität der Betriebe.

Alle diese Fragen sind auch in Rußland und in den anderen Ostblockstaaten aufgetaucht. Dort und hier handelt es sich darum, die Rentabilität der Betriebe zu erhöhen, die Produktivität in ihnen zu steigern. Dort und hier weiß man, daß dies nur durch eine größere materielle Interessiertheit der Arbeiter erreicht werden kann. Das Problem des „Anreizes“ ist schon lange eines der wichtigsten in der „sozialistischen" Wirtschaft. Auch das Problem der Dezentralisation wird in Rußland ebenso gestellt, wie in Polen. Interessant ist nur die Form und die Aspekte der polnischen Diskussion. „Halbe Mittel helfen nicht" heißt z. B. ein Diskussionsbeitrag in der „Trybuna". (Die Redaktion hat fürsorglich vermerkt, daß „die Ausführungen des Gen. Jesionowski natürlich nur den Charakter eines solchen Diskussionsbeitrages haben“, Jerzy Jesionowski, der Autor, ist Ingenieur.)

„Das Übel liegt in dem System der Verwaltung der Wirtsdtaft selbst," schreibt Ing. Jesionowski, „die Gesundung muß daher von oben und nicht von unten begonnen werden ... Eine zentrale Planung ist in einem sozialistischen Staat natürlich notwendig. Aber ihre Tätigkeit

gen des Staates entspredienden Entwicklung der einzelnen Volkswirtschaftszweige beschränken. Die Betriebe aber müssen selbständige Wirtschaftsorganismen sein.“

Während der Verfasser der Staatlichen Kommission für Wirtschaftsplanung das Recht zugesteht, einen allgemeinen Rahmen für den einzelnen Wirtschaftszweige festzulegen, sollen die Betriebe innerhalb dieses Rahmens völlige Freiheit des Handelns besitzen. Sie sollen also frei über die allgemeine Summe der geplanten Kosten verfügen, die Löhne und Normen (in den Grenzen des bestätigten globalen Lohnfonds) bestimmen und über die Einstellung von Arbeitskräften verfügen. Sie sollen sich sowohl ihre Lieferanten, wie ihre Abnehmer selbst auswählen und über die überplanmäßigen Profite eigenmächtig verfügen können. Auch soll ihnen die Aufnahme einer überplanmäßigen Produktion gestattet sein. „Die Staatliche Kommission für Wirtschaftsplanung darf nicht regieren!“ stellte selbstkritisch auch ein Direktor dieser Kommission fest. Die Folge dieses Regierens sei es, daß die Produktion den Anforderungen der Volksversorgung nicht genügt hätte. Die Rolle dieser staatlichen Institution müsse darin bestehen Wirtschaftsprojekte auszuarbeiten, nicht aber unmittelbar Anweisungen an die Betriebe zu erteilen.

Die Kritik, die im Verlauf der Diskussion im Parteiorgan an der Planungskommission geübt wurde, hat inzwischen schon zu einer Reihe von Verordnungen geführt, die der Ministerrat über „die Veränderung der Methoden der Wirtschaftsplanung“ erließ. Zu diesen neuen Maßnahmen gehörtu. a., daß eine Reihe von Planziffern nicht mehr von oben durch die Ministerien bestimmt werden, sondern an Ort und Stelle in den Betrieben. Das ganze System der Planung wurde vereinfacht und über die geplanten Investitionen kann nun in den unteren Wirtschaftseinheiten viel freizügiger bestimmt werden.

Offensichtlich hängt auch der Wechsel in der Führung der Staatlichen Kommission für Wirtschaftsplanung mit der Kritik an ihr zusammen. Am 14. Juli wurde der bisherige Vorsitzende der Kommission, Eugenius Szyr, abberufen und der stellvertretende Vorsitzende des Minister-rats von Polen, Stefan Jendrychowski, mit diesem Posten betraut.

Um die größere Selbständigkeit der Betriebe gegenüber den zentralen Wirtschaftsorganen zu dokumentieren, wurden in Polen, ebenso wie in Rußland, die Rechte der Fabrikdirektoren bedeutend erweitert. Waren sie vorher beinahe in jeder Kleinigkeit vom Ministerium des gegebenen Industriezweiges abhängig, so können sie jetzt eine Reihe von Entscheidungen selbst fällen. Bei der Diskussion über die größere Selbständigkeit der Betriebe gegenüber dem Zentrum tauchte jedoch in Polen immer wieder eine andere, für einen angeblich sozialistischen Staat, wesentliche Frage auf, die Frage der Mitbestimmung der Arbeiter an der Verwaltung der Betriebe. Während diese Frage in Rußland immer nur ganz schematisch behandelt worden ist, fielen in Polen dazu harte Worte.

Die Herren der Fabriken „Die Losung — die Arbeiter sollen die Herren der Fabriken sein! — für die die besten Söhne von vier Generationen des polnischen Proletariats ihr Leben ließen, muß, einen neuen Inhalt bekommen, sie darf keine verblaßte leere Phrase sein," schreibt in einem Diskussionsbeitrag der Setzer Lipski aus Breslau. Wie kommt es, daß die Arbeiter in der Frühstückspause sich nur vor den Tafeln versammeln, an denen die individuellen Leistungen verzeichnet sind, nicht aber vor denen, wo die allgemeinen Produktionsergebnisse des Betriebes bekanntgegeben werden? Wie kommt es, daß sie die Betriebsversammlungen, in denen die Direktion ihnen die allgemeinen Betriebsprobleme nahebringt, so ungern besuchen? Die Erfolge des Betriebes im Ganzen sind für die Arbeiter so wenig von Interesse, weil sie von ihnen keinen direkten materiellen Vorteil haben, stellt Lipski fest, geht aber nicht näher darauf ein, wie sich dieser direkte Vorteil erreichen läßt.

Drei Studenten der Warschauer Universität sehen die Lösung für dieses Problem darin, daß der sogenannte Betriebsfonds vergrößert wird. Er müsse mindestens 7— 8 Prozent des Lohnfonds betragen und gleichzeitig müsse die Art, wie man ihn ausnütze, wesentlich verbessert werden. So müsse die Belegschaft selbst darüber entscheiden, wie diese Mittel verteilt würden und die Kontrolle darüber haben, ob sie auch wirklich im Interesse der Arbeiter Anwendung finden.

Der Betriebsfonds — so unterstreicht „Trybuna Ludu" — ist nicht die einzige Art, den Profit, den ein Betrieb erzielt, auszunützen, aber es ist bisher die einzige, bei der der Anreiz zur größeren Produktivität mit dem Profit verbunden werden kann.

Nun, es gibt noch andere Möglichkeiten, den Profit des Betriebes den Arbeitern zugänglich zu machen. „Ich meine, daß die Belegschaft einen Teil des Profits, den der Betrieb erzielt, zur direkten Verfügung erhalten sollte,“ schreibt kurz und bündig Ingenieur Akerman in seinem Beitrag. Und er erinnert daran, daß die Betriebsräte diese Geldmittel verwalten und verteilen sollten. „Die bestehenden, aber nicht durchgeführten Verordnungen über die Betriebsräte müßten aktualisiert und eingehalten werden,“ schreibt in einem großen grundsätzlichen Artikel zur Wirtschaftsdiskussion der neue Vorsitzende der Planungskommission Stefan Jendrychowski. Allerdings geht er nicht so weit, daß er die Arbeiter an dem Profit des Betriebes unmittelbar beteiligen will. Er schränkt deutlich ein, daß das Recht der Entscheidung von unten nur dann in Erscheinung treten darf „wenn es möglich ist!“

Es sei „unverantwortlich und unpräzise,“ wenn einige Wirtschaftler statt einer schrittweisen Dezentralisation eine grundlegende „Veränderung des ganzen Wirtschaftsmodells" anstrebten, meint Jendrychowski. In vielen Polemiken über die Ausnützung des materiellen Anreizes und des Wertgesetzes fühle man den versteckten Gedanken, daß auch in der sozialistischen Gesellschaft der Profit — ebenso wie unter dem Kapitalismus die Rolle eines mächtigen Anreizes bilden könne. Das sei falsch, denn es gäbe ja in dieser Gesellschaft keine Ausbeutung, keine Möglichkeit der Kapitalanlage und keine kapitalistische Akkumulation. Den Nachdruck auf die Rentabilität des sozialistischen Betriebes zu legen sei richtig, die Erfolge des Betriebes müßten der Maßstab für die Entlohnung sein, dann würden alle: Arbeiter, Ingenieure und Direktoren an diesem Erfolg gleichermaßen interessiert sein. Aber wie weit könne man dabei gehen? Die jugoslawische Erfahrung gäbe darauf noch keine befriedigende Antwort.

Jendrychowski zweifelt nicht daran, daß der Staat den Hauptanteil an dem gewonnenen Mehrwert erhalten müsse. Er sei die Hauptquelle für die Ausgaben der Volkswirtschaft, für die Verwaltung, Verteidigung, den Gesundheitsschutz. Nur könne dieser Anteil verschieden eingebracht werden. Entweder unmittelbar oder durch die Umsatz-und Einkommensteuer.

Jendrychowski wendet sich scharf dagegen, daß die Betriebe selbst die Preisbildung bestimmen. Das würde Anarchie des Marktes, Konkurrenz und eine der Planwirtschaft widersprechende Regelung bedeuten. Angebot und Nachfrage dürften nur begrenzt auf die Preisbildung Einfluß nehmen. Auch die Löhne dürften nicht von den Betrieben festgesetzt werden. Überhaupt sei die Auffassung, man müsse den Betrieben soviel Handlungsfreiheit zugestehen, daß die zentrale Verwaltung der Industriezweige überflüssig werde und liquidiert werden könne, zu weitgehend. „Man muß sich klar darüber sein, daß die Notwendigkeit der unmittelbaren Verwaltung der Industriezweige aus der Vergesellschaftung der Produktionsmittel entspringt,“ schreibt Jendrychowski, „aus dem hohen Niveau der modernen Technik, aus der Konzentration der Mittel für neue Investitionen, aus der schwierigen Problematik der Spezialisierung und Kooperierung der Produktion.“

Es sei unmöglich, daß sich nun in den sozialistischen Betrieben Verhältnisse durchsetzten, wie sie in der vormonopolistischen Zeit in den einzelnen kapitalistischen Betrieben herrschten. Der Kapitalismus habe die Form der gemeinsamen Verwaltung vieler Betriebe geschaffen, die manchmal zu einem, manchmal sogar zu mehreren Industriezweigen gehören, die in Konzernen, Trusts usw. vereinigt seien. Der Versuch, eine ähnliche Entwicklung in der sozialistischen Wirtschaft Polens rückgängig zu machen und zur Entwicklungsstufe der vormonopolistischen Zeit zurückzukehren, sei zum Fehlschlag verurteilt. Der jugoslawische Weg und Polen Während Jendrychowski solcherart im wesentlichen gegen die jugoslawischen Erfahrungen Stellung nahm (sein Artikel war in dem theoretischen Parteiorgan „Nowe Drogi", Juniheft, abgedruckt), sprach sich der Publizist Artur Hajnicz in der Zeitschrift „Nowa Kultura" am 1. Juli weitgehend für die jugoslawische Lösung aus. Vor allem aber greift er unmißverständlich das in der Sowjetunion herrschende System des Staatskapitalismus an. „Man kann heute sagen,“ schreibt Hajnicz, „daß der sozialistische Aufbau in gewissem Sinne ein Rahntenbegriff ist. In diesem allgemeinen Rahmen haben nicht nur verschiedene historische Wege Platz, sondern auch verschiedene theoretische Konzeptionen und sozial-ökonomisdte Auffassungen." Es sei ein grundlegender Unterschied, ob der Staat oder die Arbeiter direkt über die vergesellschafteten Produktionsmittel disponierten. Es gäbe jetzt zwei verschiedene theoretische Antworten darauf, wer disponieren solle und beide seien in der Praxis realisiert. Die erste Antwort beruhe darauf, daß im Namen der Gesellschaft ein zentralisierter und von oben bis unten durchorganisierter Staatsapparat über die Produktionsmittel verfüge. Stalin habe diese Art von Verfügung über die Produktionsmittel als für alle Zeiten, also auch für den Kommunismus, für gültig gehalten. Wenn der Staat absterbe, so solle ein „zentrales wirtschaftliches Verwaltungsorgan" das Volkseigentum übernehmen. Stalin hätte sogar deutlich nicht von der Verfügungsgewalt, sondern von der „Übernahme des Volkseigentums" gesprochen. „Der Besitz an Produktionsmitteln aber ist," wie Hajnicz ganz marxistisch feststellt, „immer in der Geschichte mit der Gewalt über die Menschen verbunden gewesen.“ Es sei diese von Stalin bekanntlich gut genützte Gewalt über die Menschen, die ihn so verhaßt gemacht habe.

Es gäbe auf die Frage, wer über die Produktionsmittel bestimmen solle auch die jugoslawische Antwort, wonach nicht der Staat im Auftrage der Gesellschaft, sondern die Arbeiter selbst diese Verwaltung handhabten, sagt der Autor des Artikels in der „Nowa Kultura“ und zitiert dann Kardelji, den jugoslawischen Theoretiker, der der absoluten Staatsmacht nur in der ersten Phase des Sozialismus eine fortschrittliche Rolle zuschreibt. „Dann aber erweist sie sich als ein Hemmschuh für die sozialistische Gesellschaft und führt dazu, daß der Arbeiter in gewissem Sinn überhaupt aufhört der Besitzer der Produktionsmittel zu sein.“ Und tatsächlich, sagt Hajnicz, ist der Eigentumsbegriff, wenn bei der Vergesellschaftung der Produktionsmittel die reale Verfügungsgewalt fehlt, nur ein illusorisches Symbol.

Meines Wissens zum ersten Mal in einem kommunistischen Staat nimmt der Artikel in der „Nowa Kultura" positiv zu jenen zwei sowjetischen Wirtschaftlern Stellung, die seinerzeit von Stalin dafür angegriffen wurden, weil sie vorschlugen, den Kolchosen die Maschinen aus den Maschinen-Traktoren-Stationen als Eigentum zu überlassen, zu Ssanin und Wensherowa. Stalin habe sich dieser Konzeption deshalb entgegengestellt, weil sie einen Schritt zurück auf dem Wege zur absoluten Kontrolle einer „Wirtschaftszentrale" über die Produktionsmittel im Lande bedeuten würde. Die Jugoslawen aber fänden, es sei ein Schritt vorwärts auf dem Weg zur direkten Inbesitznahme der Produktionsmittel durch die Produzenten und damit ein Schritt vorwärts zu einer besseren Produktion. „Ist es nun ein Schritt vorwärts oder ein Schritt rückwärts?“ fragt rethorisch Hajnicz und antwortet diplomatisch: „Das hängt davon ab, was man für eine höhere Stufe der gesellschaftlichen Beziehungen ansieht." Welche Stufe er für . die höhere ansieht, ersieht man aus seinen weiteren Ausführungen.

Die jetzt in Rußland und Polen begonnene Einschränkung des Verwaltungsapparates genüge nicht, die Lage in der Volkswirtschaft grundlegend zu verbessern, meint Hajnicz. „Die Entstehung eines verzweigten, vielstöckigen Verwaltungslabyrinths ist die logische Konsequenz des Systems der zentralen Wirtschaftsleitung. Die Verringerung der Zahl dieser Institutionen bedeutet eine Schwächung dieses Systems, ver- ändert es aber nicht, solange die allgemeinen Voraussetzungen bestehen bleiben.“

Die zentrale Wirtschaftsverwaltung untergrabe und zersetze das Wertgesetz. Statt sich im Angebot nach einer wirklich vorhandenen Nachfrage zu richten, ersetze man alles durch einen Plan. Das richte sich nicht gegen das Planen an sich, nur gegen ein Planen, das das Wertgesetz und seine Bedeutung als automatischen Regulator des Wirtschaftssystems nicht berücksichtige.

Um die vorgebrachten Gedanken, die so ausgesprochen im Gegensatz zu der sowjetischen Praxis stehen, welche sich ja noch immer auf Stalins Pfaden bewegt, gewissermaßen zu entschuldigen, beruft sich Hajnicz zum Schluß seines Artikels auf Lenin, der seinerzeit auch gesagt habe, man könne nur dann erfolgreich gegen den Bürokratismus kämpfen, wenn die ganze Bevölkerung an der Verwaltung der Produktionsmittel teilnehme, wenn man also die Verwaltung nicht für die Massen sondern durch die Massen ausübe.

Im übrigen beruft sich Hajnicz auch darauf, daß jetzt nach dem 20. Parteitag alle kommunistischen Parteien das Recht hätten, ihre verschiedenen Ansichten und Auffassungen frei und gleichberechtigt miteinander auszutauschen.

Da sich der Artikel in der „Nowa Kultura“ am Anfang sehr bemüht, den Unterschied in den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und geographischen Bedingungen zwischen dem Jugoslawien von 1948 und dem heutigen Polen zu unterstreichen, dann aber offensichtlich die jugoslawische Konzeption in den sozial-ökonomischen Grundfragen als die richtige gegenüber der sowjetischen hervorhebt, kann man als sicher annehmen, daß der Verfasser der Meinung ist, Polen solle zwar nicht den langwierigen und umständlichen Weg Jugoslawiens gehen, wohl aber auf kurzem und radikalem Weg die absolute Staatsmacht einschränken. Diese Meinung dürfte auch in Polen weitaus mehr Befürworter haben, als die parteiamtliche, vorsichtigere Konzeption Jendrychowskis.

Auf die Frage ob Polen den jugoslawischen Weg gehen würde, antwortete kürzlich ein polnischer Kommunist: „Den jugoslawischen? Nein! Wir werden den polnischen gehen. Der jugoslawische ist schon veraltet.“

Das 7. ZK-Plenum Wie aber wird dieser „polnische Weg zum Sozialismus“ aussehen? Und wie weit wird der russische Einfluß auf ihn eingeschränkt werden können? Der Eindruck, daß manches, was in Polen geschieht, den Russen aus der Hand gleitet, ist nach dem Posener Aufstand noch verstärkt worden. Aber andererseits waren die Beschlüsse des 7. Plenums des polnischen Zentralkomitees der Partei eine einzige Kette von Kompromissen. Sie bewiesen zwar, daß innerhalb der Parteiführung unter dem Druck der Bevölkerung die größten Kämpfe stattfinden, aber doch auch, daß der Kreml durchaus noch ein Wort mitzureden hat. An ein „Ausbrechen“ Polens aus dem Ostblock ist also vorläufig nicht zu denken.

Sehr scharf verwarf der Erste Parteisekretär die Auffassung, man müßte das wirtschaftliche „Modell“ verändern, das in Polen herrsche und veraltet sei. Ochab, der sich überhaupt wiederholt in scharfen Worten gegen „gewisse Presseleute“ wandte, die „die Freiheit der Kritik dazu benutzen, feindliche und antimarxistische Theorien zu verbreiten oder Utopien nadtzuhängen“ ließ keinen Zweifel darüber bestehen, daß die Kommunisten in Polen keinerlei Veränderung grundsätzlicher Art an dem Wirtschaftssystem zulassen würden, das zur Zeit in Polen herrscht. Es ginge nur darum, dieses System zu verbessern und nicht es zu brechen, unterstrich er.

Allerdings sind diese „Verbesserungen“, von denen Ochab in seinem großen Referat vor dem Zentralkomitee sprach und die nachher in den Resolutionen ihren Niederschlag fanden, ebenfalls nicht zu verachten. In vielen Punkten erinnern sie nur zu genau daran, was seinerzeit die „rechts-nationalistische" Gruppe um Wladyslaw Gomulka gewollt hatte. So zum Beispiel muß die Erklärung Ochabs, die Partei habe einen Plan vorgesehen und die Politik gegenüber den reichen Bauern (den sogenannten „Kulaken") wäre eine „Abenteurerpolitik" gewesen, vollauf befriedigen, denn genau das hatte Gomulka vorausgesehen, als er 1948 gegen eine überstürzte Kollektivierung eintrat. Jetzt verlangen die Resolutionen des ZK-Plenums, daß man mit allen „Abenteuern“ gegenüber den Kulaken Schluß mache. Verfolgung der Großbauern, ungesetzliche Maßnahmen gegen sie und eine Benachteiligung der großbäuerlichen Wirtschaften darf es nicht mehr geben.

Seit dem Juli dieses Jahres erhalten auch sogenannte „Kulakenwirtschaften“ staatliche Kredite, es ist ihnen erlaubt in Kollektivwirtschaften einzutreten und wenn sie nicht eintreten wollen, dürfen sie weiter Großbauern bleiben — so heißt es jetzt offiziell. Statt, wie bisher auch mittlere Bauernwirtschaften für Großbauernwirtschaften zu erklären, soll man den Großbauern ermöglichen, ihren Besitz durch Aufteilung an die einzelnen Familienmitglieder etwa, in „Mittelbauernwirtschaften" zu verwandeln und man soll sie überhaupt möglichst schonen, denn schließlich geben auch sie dem Land Getreide und Fleisch und gerade sie nicht wenig und das sei jetzt das wichtigste.

Im Zuge der Unterstützung der Landwirtschaft wurde jetzt ein Gesetz des Ministerrats veröffentlicht, nach dem ab 1. Januar 1957 die obligatorische Milchablieferung an den Staat aufgehoben wird.

Immer noch betont die Partei natürlich die Notwendigkeit der Schaffung von Kollektivwirtschaften, deren es jetzt laut den letzten Angaben in Polen 10 600 gibt. Jedoch lehnt man es ab, daß Kolchosen mit Gewalt zusammengehalten werden, daß man die Bauern zwingt diese Form der Wirtschaft beizubehalten und oft auch dann noch Staatsgelder in sie pumpt, wenn sie nachweislich mit LInlust und unproduktiv arbeiten. Um die Kolchosbauern zur Arbeit anzuregen, will man die Selbständigkeit der Kolchose und ihre Unabhängigkeit von den Gebiets-behörden steigern. Es gibt, im Gegensatz zu der Sowjetunion übrigens, in Polen schon seit einiger Zeit bäuerliche Maschinengenossenschaften, also Kolchosen, die über eigene landwirtschaftliche Maschinen verfügen und nicht auf die staatlichen Maschinen-Traktoren-Stationen angewiesen sind, respektive Gruppen von Bauern, die — auf Kredit — vom Staat Zugmaschinen und anderes landwirtschaftliches Inventar kaufen.

Die Industrie Das Plenum, das den vorigen Fünfjahres-Plan der Wirtschaft Polens kritisierte, stellte als wichtigste Aufgabe des nun anlaufenden Sechs-jahres-Planes die Erhöhung des Lebensstandards der Bevölkerung heraus. 1960 soll der Reallohn pro Kopf der Bevölkerung um durchschnittlich 30 Prozent ansteigen. Die staatlichen Investitionen sollen sich etwas von der Schwerindustrie auf die Landwirtschaft und Leichtindustrie verschieben und neben der immer im Vordergrund stehenden Kohlengewinnung steht diesmal auch der Wohnungsbau im Vordergrund. Was den Neubau von Fabriken anbelangt, so soll er zugunsten des Ausbaus alter Fabriken etwas zurückgestellt werden. Das alles, wie z. B. auch die Abschaffung der Sonntagsarbeit, oder doch ihre Beschränkung im Bergbau, sind zweifellos Erfolge der Posener Streikbewegung und der ungeteilten Sympathie, der sich diese Bewegung — entgegen der Behauptung Ochabs — unter den Arbeitern erfreute. Die Maßnahmen sollen helfen, „die Partei wieder in Kontakt mit den Massen zu bringen, denn sie hat diesen Kontakt anscheinend zum Teil in den letzten Jahren verloren,“ wurde in den Reden auf dem Plenum mehrmals gesagt.

Der Erste Sekretär der Partei ging auch auf die Rolle der Betriebsräte ein und fand hier ebenfalls eine Kompromißlösung. Die Erweiterung der Rechte der Betriebsleiter, die erste „demokratische“ Maßnahme, die die Entstalinisierung in Polen mit sich brachte und die „Dezentralisation“ der staatlichen Leitung und Planung nehmen in den Beschlüssen des ZK-Plenums einen großen Raum ein. Man verspricht sich von ihnen sehr viel. Was hingegen die Rechte der Betriebsräte anbelangt, so spricht Ochab zwar in seiner Rede auch davon und unterstreicht, daß die Räte nicht nur eine formale Funktion hätten, sondern wirklich für materielle Vorteile der Arbeiter sorgen müßten, aber er schränkt diese Sorge sofort ein, indem er sagt, „das bedeutet natürlich keinesfalls, daß der Grundsatz der persönlichen Leitung des Betriebes (durch den Direktor) irgendwie gebrochen werden kann, den einige Demagogen als bezeichnend für die Periode des Personenkultes dar-, stellen. . .!“ Die Arbeiterräte und die Gewerkschaften dürften zwar ihre Rechte wahrnehmen, müßten aber vor allem für Arbeitsdisziplin und Arbeitsproduktivität sorgen, das liege im Interesse der ganzen Arbeiterklasse.

Die anderen Parteien Nun, das Lied ist alt und nicht das war es, was man vom „polnischen Weg“ erwartet hat, wie die vorher angeführten Überlegungen von Hajnicz zeigten. Aber Ochab kann nicht über seinen Schatten springen und wenn er den Versuch macht, den Glauben zu erwecken, er meine es ernst, wenn er davon spricht, die Arbeiterpartei dürfe die anderen zwei Parteien im Land nicht bevormunden, so glaubt es ihm in Polen sicher kein Mensch. Um so mehr, da Cyrankiewicz fast gleichzeitig in einem Interview mit dem Vertreter der Telegraphenagentur United Press ganz eindeutig erklärte, daß auch im Rahmen der jetzigen Demokratisierung Polens die Schaffung einer neuen sozialdemokratischen Partei nicht erwogen würde.

Von den Parteiführern nicht. Aber ganz offensichtlich gibt es innerhalb der Bevölkerung und besonders unter der Jugend nicht wenige, die diese Frage durchaus erwägen. Nur im Wettstreit verschiedener Meinungen kann sich eine Weltanschauung herausbilden, das wurde in der ungehorsamen polnischen Presse in letzter Zeit mehr als einmal betont. Und wenn verschieden Meinungen, warum nicht auch verschiedene Organisationen, die sie verfechten?

Wird Gomulka, der einst u. a. auch dafür ausgeschlossen wurde, weil er die Gleichschaltung nicht. wollte, und der nun wieder in die Partei ausgenommen worden ist, wirksame Mittel gegen die Gleichschaltung der Parteien durchsetzen? Wird er es wollen und wird er es können?

Rehabilitierung Gomulkas Die Hoffnungen vieler Polen sind auf diesen Mann gerichtet, der zwar Kommunist, aber nicht moskauhörig ist. Die Volkslegende hat sich seiner bemächtigt in den Jahren, da er eingekerkert war. Seine Popularität hat ihm aber bei den anderen Führern eher geschadet als genützt. „Wir werden dasselbe machen, was Gomulka wollte, aber ohne ihn,“ soll Cyrankiewicz noch vor kurzem erklärt haben. Nun aber macht man es doch mit ihm. Will man dem Volk zeigen, daß auch er nicht weiter gehen kann, oder mußte man nach Posen auf diese Konzession eingehen?

Noch weiß man nicht, wie sich die Dinge weiter entwickeln werden, aber Gomulka, der nicht in Moskau geschult wurde und auch mit Franz Dahlem nicht zu vergleichen ist, der auch ohne Moskauschulung stalinistisch genug war, ist dennoch ein überzeugter Kommunist und, was man besonders in Deutschland nicht vergessen darf, sein Patriotismus hat ihn nicht nur gegen Moskau gefeit gemacht, er war auch die Grundlage seiner Untergrundarbeit gegen die Deutschen. Seine Auffassung vom „eigenen Weg zum Sozialismus“ ist von einem starken polnischen Patriotismus getragen, der von Natur aus antirussisch -aber auch antideutsch ist. Die Ausrichtung des neuen eigenen polnischen Weges zum Sozialismus wird daher nicht zum geringen Teil auch von der Geschicklichkeit der deutschen Politik gegenüber Polen abhängen.

Politik und Zeitgeschichte

AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN:

Ossip K. Flechtheim: „Großrussischer Imperialismus und weltrevolutionärer Bolschewismus"

Johannes Gaitanides: „Europa — *Luzifer unter den Kulturen"

Jakob Hommes: „Koexistenz — philosophisch beleuchtet"

Danielle Hunebelle: „Ein neuer Führer für England"

Roland Klaus: „Nicht gestern, Freund, morgen!“

Wolfgang Leonhard: „Der 20. Parteitag in Moskau — eine Analyse" „Die Parteischulung der SED (1945— 1956)"

Hans Rothfels: „Das Baltikum als Problem der internationalen Politik"

Otto Schiller: „Das Agrarproblem Asiens und der Kommunismus"

Franz Schnabel: „Das humanistische Bildungsgut im Wandel von Staat und Gesellschaft" „Urkunden zur Judenpolitik des Dritten Reiches"

Fussnoten

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