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Europa -Luzifer unter den Kulturen | APuZ 38/1956 | bpb.de

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APuZ 38/1956 Europa -Luzifer unter den Kulturen

Europa -Luzifer unter den Kulturen

JOHANNES GAITANIDES

Ein Essai

Dies Wort „Europa“! Moi wirft es uns zu wie dem Bettler die Kupfermünze. Abgegriffen vom allzu häufigen Gebrauch und Mißbrauch, läßt sich sein Prägewert kaum noch ablesen. Trotz des alltglichen Umgangs mit diesem Wort — halten wir einen Augenblick inne und fragen: „Was ist Europa?“, dann ist die laute Phrase oder verlegenes Schweigen die Antwort. Und als Zeitgenossen zweier Amokläufe steht es uns kaum zu, Bismarcks Urteil zu widersprechen: „Qui parle Europe, a tort — wer Europa sagt, hat unrecht!"

Hat unrecht, denn Wort und Wirklichkeit Europas scheinen kaum je zur Deckung zu kommen. Stets im Widerspruch zu sich selber, Feind dem Dauernden und unablässig dem immer Neuen nachjagend, kristallisiert es nicht zu festen Konturen gleich den anderen Kulturen, deren geschichtliche Amplituden weit weniger ausschwingen und die ihr Antlitz fast unverändert durch die Jahrtausende tragen; auch sie zwar heimgesucht von Hunger und Seuchen, vom Krieg und gewaltsamen Wechsel der Machthaber, und hineingezogen in den Wechselreigen von Blüte und Verfall — dies aber wie im festwurzelnden Baum die Säfte steigen und fallen.

Daneben verfließen die Züge des Abendlandes, das sich nicht Zeit läßt, „Gesicht" zu werden. Proteisch schlüpft es aus einer Gestalt in die andere, springt von Satz zu Gegensatz und bewegt sich unablässig von sich weg. Seine Geschichte läuft einer Kette von Revolutionen entlang die mit jeweils tieferem Ansatz immer breitere Schichten aufgreifen und nach oben werfen: der Kaiser wider den Papst, die Territorialfürsten gegen den Kaiser, die Nationen gegen das Reich; dann steht das Parlament der Commons gegen die adeligen Herren auf, befreit sich der dritte Stand in der französischen Revolution, bis schließlich das „Proletariat" die rote Fahne in die Faust nimmt. Diese vulkanischen Ausbrüche formen die europäische Geschichtslandschaft. Zwischen sie schieben sich, nur Anlauf und Auslauf, die revolutionslosen Jahrhunderte ein, das Geschehen über die Oberfläche breitend, während sich in den Gründen schon neue Energien zu neuem Aufbruch speichern. In den Kulturen des Ostens aber lagern sich die Sedimente der Zeit gleichmäßig über ihre Urform, deren Profil sie in getreuen Parallelen Schicht um Schicht erhöhen, ohne Bruch und ohne Verwerfung.

Nicht anders in der Kunst. Nichts scheint die unsere mehr zu scheuen als die eigene Vergangenheit; Tradition nennt sie Epigonentum, und Vollendung ist ihr ein Grund, mit der Entwicklung zu brechen und in neue Richtungen vorzustoßen — als sei ihr der Weg mehr als das Ziel. So hetzt unsere Kunst von Stil zu Stil, immer schneller mit der Annäherung zur Gegenwart Dauert das romanische Zeitalter fünf Jahrhunderte, die Gotik drei, die Renaissance anderthalb und das Barock ein Jahrhundert, bemessen sich Klassizismus, Romantik, Biedermeier, Naturalismus, Impressionismus und Expressionismus in ihrem Nacheinander noch nach Jahrzehnten, so schießen heute die Stile mit modischer Kurzatmigkeit gleichzeitig, neben-und gegeneinander empor — die stilistische Mutation wird sich Selbstzweck, wie bei Picasso oder Strawinsky, die mit den Formen experimentieren wie der Physiker mit den Atomen. Schließlich hat die Kunst kein Gesetz mehr, der Künstler selber setzt sich zum Gesetz.

Auch darin sind wir die Antipoden aller anderen Kultur. Der östliche Künstler weiß die ganze Wahrheit im Ursprung geborgen, von dem die Zeit nur wegführt; zu ihm heimzukehren, die Tradition rein und leuchtend zu erhalten, darin erschöpft sich sein Ehrgeiz. So haben sie nicht, wie wir, Zeitstile — es gibt nur den indischen, den chinesischen, den japanischen Stil, der wohl einmal von seiner Bahn abweicht, doch nur wie der Seitenarm bald wieder in das Mutterbett zurückeilt, in dessen Strom die individuellen Züge verschwimmen. Diese Kunst verhält sich zu der unsern wie das Originale zum Originellen, wie das objektive Gesetz zur einmaligen Persönlichkeit.

Revolution in Permanenz ist endlich das Stigma unseres Denkens. Die gesamte Geschichte unserer Wissenschaften ist ein unaufhörlicher Prozeß der Selbstwiderlegung: sie sitzen ständig zu Gericht über sich und verurteilen sich stets von neuem. Ihre Natur ist Kritik, Zweifel und Mißtrauen. Jedes Ergebnis dient ihnen nur als Sprungbrett zu neuem Forschen, dem sich jeder Fund sogleich zu neuer Frage verwandelt. Kein Tabu, keine Autorität setzt ihnen Schranken, unablässig dehnen sie ihre Grenzen aus, stoßen in die Tiefen der Erde und der Meere vor und in die fernsten Weiten des Kosmos, während sie das Seiende bis zur Auflösung seiner selbst zerfasern und mit ihrem Griff die natürliche Einheit der Wirklichkeit zerbröckeln. So atomisiert sich „die" Wissenschaft zu „den“ Wissenschaften, die von sich selber kein Ende wissen — käme es doch ihrem Tode gleich. Da sie vom Verzicht auf die End-Gültigkeit leben, vermögen sich ihre Wahrheiten nicht zu „der“ Wahrheit zu verdichten; das Provisorium ist ihre Heimat.

Von Hegel haben wir das Wort: „Die Zerrissenheit liegt im Wesen der Kultur.“ So wenig es die anderen Kulturen trifft, die unsere ist damit gültig definiert. Denn jene verharrten die Jahrhunderte hindurch in der Geborgenheit einer sakralen Hierarchie, deren pyramidischies Ordnungsprinzip die gesamte menschliche Daseinsbreite durchdrang und zusammenschloß. Nur die abendländische Revolution in Permanenz sprengte die ursprüngliche Einheit, indem sie die ursprünglich vertikale Ordnung umstürzte und zu einer horizontalen Reihe autonomer Wirklichkeitsbereiche auseinanderbrach. Während in Asien alles Denken, Tun und Gestalten von oben nach unten geschah und von unten nach oben auf die religiöse Spitze zurückzielt, verselbständigten sich bei uns die einzelnen Tätigkeitsfelder im unaufhörlichen Spaltungsprozeß der Spezialisierung: beginnend im Mittelalter, als sich vom offenbarten Glauben die wissenschaftliche Theologie absetzte und von dieser, gemäß der Lehre von den zwei Wahrheiten, die Philosophie, von der sich wiederum in der Renaissance die Wissenschaften und Künste emanzipierten. Parallel dazu trennte sich die Moral von der Religion, an der Moral das Recht, von dem wiederum Politik, Wirtschaft und Technik zur Selbst-herrlichkeit abspringen. Selbst die katholische Kirche hat, nach langem

Widerstreben, diesen Tatbestand hingenommen. Während sie noch auf dem Konzil von Orange Kultur und Ethik mit augustinischer Konsequenz religiös determiniert, anerkennt sie diese in ihrer Eigenständigkeit auf dem Trienter Konzil (und noch ausgeprägter im gesamten Corpus der Bestimmungen gegen Baianismus und Jansenismus). So definiert der Jesuit Erich Przywara — heute: „Es besteht — innerhalb der unerschüttert bleibenden letzten religiösen Wurzel — eine wahre (relative) Eigengesetzlichkeit von Religion gegenüber Ethik und Kultur. Weder sind Ethik und Kultur formal Religion, noch ist Religion formal Ethik und Kultur."

Die Sünde als Fundament der Kultur

Anfang und Ende dieses Weges gegenübergestellt: er führt immer weiter weg von Gott. Unser Kulturwille versinnbildlicht sich für die Antike in Prometheus, der den Göttern das Feuer stiehlt, um des Menschen Notdurft zu lindern, und für die Neuzeit in Doctor Faustus, der im Protest gegen die gottgesetzten Schranken der Menschennatur mit dem Teufel paktiert. Dies aber ist einmalig in der Geschichte der Kulturen, daß sich ein unheiliges, in der Selbsterhöhung gegen Gott rebellierendes Menschentum nicht nur erklärt und rechtfertigt, sondern idealisiert und heroisiert! Allein wir haben solches Streben als menschliche Größe gepriesen, wir allein sind die Erfinder der Kultur ohne Gott!

Mehr noch: wir haben — selbst noch in unserm Glaubensrahmen — die Erhebung wider Gott der Entstehung unserer Kultur gleichgesetzt. Der Diebstahl des Prometheus, Luzifers Empörung, des Urmenschen-paares Sündenfall — sie begründen, nach dem Wissen unsrer Mythen, die Kultur der Menschheit, deren Geschichte mit der Vertreibung aus dem Paradies anhebt. Der Anfang des Abendlandes geschieht als Aufstand gegen Gott, ist Folge des Abfalls und macht den Menschen zum Menschen erst durch die Sünde. Keine andere Kultur hat die Sünde als das Fundament ihrer selbst erkannt. So ist Europa wahrhaftig Luzifer unter den Kulturen. Aber ist nicht Luzifer selbst in seiner Sturze noch ein Engel, der Gottes unendlicher Reichweite nicht entrinnt? Kein Zufall, wenn von allen Kulturen allein das Abendland die Gnade als letzte Chance der Rettung gedacht hat.

Bestürzend folgerichtig mündet alle Bewegung unserer Geschichte in ein tragisches Ende. Das Mittelalter hat dem Heiligen, dem Mönch und dem Ritter zum Trotz den Gottesstaat nicht verwirklicht. Es ist gescheitert. Der Traum der Renaissance von der autonomen Persönlichkeit verebbte in der Vermassung des Menschen. Sie ist gescheitert. Der Glaube der Aufklärung an den Fortschritt der Menschbeit wich dem Zynismus des Relativismus oder dem Sichwegwerfen an die irrationalen Mächte. Die Französische Revolution, die auszog für Freiheit, Glechheit und Brüderlichkeit, gipfelte in der kaiserlichen Diktatur Napoleons. Die Technik, die das Menschenglück zu mehren verhieß, zeugte Proletarisierung, totalen Staat und totalen Krieg. Statt in die Gleichheit der Freiheit führte der Kommunismus die Menschen in die Gleichheit des Sklaventums. Sie alle sind gescheitert, ohne Ausnahme.

Doch darin erschöpft sich unsere Rechnung nicht. Denn jedes Scheitern'verwandelte sich in eine Auferstehung. Die Asche des Hellenismus düngte den Boden für das Christentum, das Beben, das über die Hochebenen des Mittelalters ging, faltete das Gebirge der Renaissance, die Aufklärung zeugte die Romantik, und die moderne Physik ebnet einer neuen Metaphysik den Weg. Mochten jeweils Absicht und Ergebnis, Idee und Verwirklichung noch so weit auseinanderfallen, mögen sich unsere Leistungen als Kinder unseres Versagens darstellen — es mindert weder ihre Größe noch ihren Sinn, daß sie nicht Produkte unseres bewußten Wollens sind.

Dach contra Kontrapunkt

So geschieht das Abendland im Widerspruch zu Gott, aber auch im Widerspruch zu sich selbst. Weder dem einen noch dem anderen überließen sich die Kulturen Asiens. Sie bleiben in der Ordnung Gottes, die sich an der Vertikalen orientiert. Wir finden diesen Ordnungsstil etwa in der von oben nach unten führenden Schreibweise der fernöstlichen Völker, während unsere Systeme in der Wagrechten fortschreiten. Oder in dem uralten, von China entlehnten japanischen Begriff des hakko ichi-u, das „acht Ecken, ein Dach“ besagt und die theokratische Organisation des irdischen Daseinsgefüges veranschaulicht — mit dieser Formel propagierte Japan übrigens auch seine „großasiatische“ Politik im zweiten Weltkrieg. Noch klarer versinnbildlicht sich dieses Bewußtsein in der Bauweise. Während unsere Architektur aus dem Grundriß erwächst — oder, in den schlechten Zeiten, von der Fassade her, konzentriert sich der indische, chinesische und japanische Bauwille auf das Dach. Von seiner Spitze her fällt es in zwei bis sechs immer ausladen-deren Wellen abwärts und hängt nach allen Seiten weit über das Mauer-werk. So scheint sich dieser Bau in der Funktion des Dachträgers zu erschöpfen, darin er seine ganze Phantasie verschwendet. Das Dach ist nicht, wie bei uns, natürlicher Abschluß, sondern der sämtliche Teile in sich fassende, krönende Zusammenschluß, von dem das Bauganze seinen Charakter erhält. Trotz seiner Mächtigkeit präsentiert es sich durch die Ruhe und Leichtigkeit seiner Linienführung im Zustand des Schwebens; der weiträumige Himmel selbst scheint sich mit ihm auf die kleine Irdischheit herabgelassen zu haben und sie von oben her schützend zu umfangen. Es ist, als ob der ganze Baukörper sich klein mache unter dem königlichen Dach, um die Unterordnung des Diesseits unter das Himmel-gewölbe zu bezeugen.

Nicht zufällig orientieren wir uns zur Veranschaulichung des östlichen Kulturgefüges an der ausgeprägtest statischen Kunst, an der Architektur. Zur Bezeichnung unserer Seinsart aber müssen wir unsere Zuflucht bei der extrem dynamischen Kunst suchen, bei der Musik.

Allein das Abendland — und das ist wiederum kein Zufall — hat polyphone, vielstimmige Musik entwickelt; sämtliche anderen Kulturen verharrten in der Monodie, in der Einstimmigkeit. In der Tat ist die Polyphonie das vollkommene Abbild der europäischen Kultur. Ein Ton-satz ist polyphon, wenn er mehrere in sich selbständige, einander gleichberechtigte, frei nebeneinanderlaufende Melodien zusammenfügt. Die sublime Steigerung dieses Harmonieprinzips ist die Kunst des Kontrapunkts, dessen Anfänge bis in unser 12. Jahrhundert zurückreichen. Im Kontrapunkt verknüpfen sich auf ein gegebenes Thema hin mehrere autonome Melodien zu einer zwischen ihnen und durch sie hindurch waltenden Harmonie, die sich entfaltet wie ein Gewebe, darin sich die auseinanderlaufenden Fäden schließlich doch zu einem Muster verschlingen. Die Einheit spricht hier nicht unmittelbar, nicht mit eigner Stimme, sie ertönt vielmehr allein in und zwischen ihren Gliedern. Der abendländischen Vielstimmigkeit gegenüber verhält sich alle nichteuropäische Musik monodisch; sie überträgt die Führung des melodischen Ganges einer einzigen Hauptstimme, welche die Nebenstimmen akkordführend oder im Parallellauf begleiten; sie sind unselbständiges, 'dienendes Gefolge, das der Hauptstimme die Schleppe trägt und von ihr sein Daseinsrecht und seinen Unterhalt bezieht. Hier also bleibt alle Besonderung mit der Nabelschnur an das Ganze gebunden; dies Ganze selber füllt den gesamten Raum und macht sich in seiner reinen Unmittelbarkeit sichtbar.

Die umgestürzte Pyramide

Wir verstehen nun: ist die einstimmige, vertikale Pyramide umgestürzt zur horizontalen Reihe ebenbürtiger, autonomer Hauptstimmen, dann sind diese nur polyphon, durch die Kunst des Kontrapunktes, zum Zusammenklingen zu bringen. Wir können auch sagen: die östliche wie jede andere Kultur ist singulär strukturiert — aus der einen Haupt-stimme (sei sie nun spirituell wie in Indien, oder wie in China und Japan moralisch bestimmt) emanieren alle anderen Stimmen, die sie auf die verschiedenen Tonlagen nur wiederholend übertragen. Allein unsere Kultur ist polyphon, oder, um es allgemeiner zu fassen: pluralistisch.

Unsere Wertphilosophie unterscheidet vier Idealgattungen — die spirituellen, moralischen, ästhetischen und intellektuellen Imperative. Sie alle zur Geltung zu bringen, macht die Kultur aus. Aber jede Kultur ordnet sie — und darin prägt sich ihr Charakter, ihr Stil — einem bestimmten, allein ihr zugehörigen Bezugssystem ein. Und zwar vertrauen sie sich auf ihrem Geschichtswege regelmäßig der Führung eines dieser Prinzipien an, das sie den anderen — kausal und final — dauernd überordnen. Die herrschende Idealkategorie ist der Stamm der Kultur, von dem das Geäst der Nebenstimmen seine Nährsäfte und Wachstums-kräfte empfängt — sie übersetzen gleichsam den Urtext aus der Hochsprache in die Dialekte. So leitet sich in China und Japan das religiöse, gesellschaftliche und wissenschaftliche Bemühen vom ethischen Primat ab und läuft auf ihn zurück. In Indien hingegen erhalten das Schöne, die gedankliche Überlegung und die moralische Lehre Wert und Rang vom spirituellen Gehalt, den sie verkörpern. Die Stabilität dieser autoritären Wertordnung in der außereuropäischen Kultur begründet deren „vertikalen“, „pyramidischen“ und „monodischen“ Charakter.

Unserer pluralistischen Kultur blieb es vorbehalten, diese vier Seins-und Wertkategorien voneinander zu emanzipieren und im Neben-und Nacheinander zu differenzieren. Die stete Bewegung ihres wechselseitigen Verhältnisses löst die Dynamik unserer Geschichte aus, ihre Labilität und ihren permanenten revolutionären Rhythmus. Kam während einer Epoche eine der Idealgattungen zur Vorherrschaft, so vermochte sie sich doch nie dauernd in ihr zu behaupten. So wechselte im höchsten Rangwert beispielsweise das spirituelle Ideal des Mittelalters mit dem ästhetischen der Renaissance, dies mit dem intellektuellen der Aufklärung, das seinerseits dem ethischen Idealismus der Klassik wich. Aber selbst innerhalb eines Zeitalters vermochte eine Wertschicht ihren Führungsanspruch meist nicht unangefochten durchzusetzen, in der Regel mußte sie sich mit der bescheideneren Position des primus inter pares begnügen, einer Tendenz gehorchend, die offenkundig auf die — niemals erreichte — Herstellung eines Gleichgewichts der vier Wertantriebe gerichtet ist. Diese Labilität ist wohl auf den nationalen Individualismus der europäischen Völker zurüdezuführen. Die Hinneigung zur ästhetischen Bestimmtheit in Italien, zur spirituellen in Spanien und Deutschland, zur intellektuellen in Frankreich, zur moralischen in England und Deutschland — sie trotzt in diesen Nationen jeweils dem gesamteuropäischen Vorherrschaftswandel der einzelnen Idealgattungen. Es hat somit einen tiefen Grund, wenn in den einzelnen Geschichtsphasen jeweils dasjenige Volk zur europäischen Vormacht aufrückt, dessen nationalcharakteristische Wertbestimmtheit mit der Herrschaft der gleichen Idealkategorie über das gesamteuropäische „Konzert“ zusammenfällt. Die deutschen Kaiser sind die Herren im spirituellen Mittelalter, Italien ist in der Renaissance führend, Spanien in der Gegenreformation, in der Aufklärung ist es Frankreich, im 19. Jahrhundert England und zu dessen Ausklang abermals Deutschland.

In dieses Auf und Ab der imperativen Wertvorstellungen mischt sich nun noch eine andere Bewegung, die von dem Ideen-Pluralismus unserer Kultur angestoßen ist. Diese Ideen, absolut gedacht, schlagen einander tot oder schließen sich zumindest wechselseitig aus. Freiheit, absolut gefordert, läßt Gleichheit nicht zu, da ja die Menschen an Kraft und Fähigkeit verschieden begabt sind; Gleichheit, im absoluten Maß, schlägt aus eben diesem Grunde in Unfreiheit um.

So in der Theorie. Im realen Raum aber ist die einzelne Idee lebensfähig allein in der Gemeinschaft mit allen Ideen. Freiheit ist in der Praxis nicht zu haben ohne Gleichheit (denn ohne sie ist die Freiheit der wenigen die Unfreiheit der vielen); und ohne Freiheit gibt es keine Gleichheit (es sei denn die Gleichheit in der Unfreiheit — mit der die kommunistische Gleichheit folgerichtig sich selber widerlegt). Die Gerechtigkeit ihrerseits ist das Kind aus der Ehe von Freiheit und Gleichheit; im Frieden übertragen sich die Ideen Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit von den Einzelnen auf die Völker. Gleichzeitig verzahnen sie sich in der entgegengesetzten Folge: der Friede ist der Gerechtigkeit, diese der Gleichheit und der Freiheit vorausgesetzt. Wo aber eine einzelne Idee aus dieser Kette willkürlich herausgebrochen und in die Alleinherrschaft über die anderen eingesetzt wird, ist ihr Blutkreislauf abgeschnitten, sie wird impotent und schlägt schließlich in die eigene Verneinung um. Denn die Ideen sind nach allen Dimensionen hin eine in ihrer Vielheit unteilbare Einheit, sie bedingen einander.

Nun fehlt es dem polyphonen Orchester Europa wahrlich nicht an virtuosen Solisten. Aber es ist nicht Sache des Solisten, sich ans Dirigentenpult zu stellen. Das kann er nicht, das dulden seine Mitspieler nicht, auch darf ja sein Solistenpart nicht ausfallen. Das Dirigieren kommt einer anderen Hand zu — dem Humanismus.

Was ist Humanismus?

Wir sind gewohnt, geistige Geschichtsströme von ihrem Inhalt her zu begreifen. Dies Verfahren versagt vor dem Humanismus. Er ist weder „Idee" noch „Lehre", weder „Glaube" noch „Weltanschauung“. Ständig im Fluß, gerinnt er nicht zu dauernder Gestalt. Im ausgehenden Mittelalter entläßt er Wissenschaften und Künste, Moral und Recht, die bisherigen „ancillae theologiae", aus dem alten Dienstverhältnis, macht sie selbständig und zerbricht damit die theonome Ordnung. Er vor allem war es, der — indem er die Antike dem Christentum einschmolz — die vertikale Achse unsrer Kultur in die Horizontale und die mittelalterliche Monodie in die polyphone Neuzeit überführte. Wenn aber seine Vertreter während der Renaissance im weltlichen Lager standen, so beziehen sie heute, da die Religion an einer Mangelkrankheit leidet, ihre Kraft meist aus der konfessionellen Bindung. Im Zeitalter des überstaatlichen Absolutismus verhilft er dem nationalen Gedanken zum Durchbruch in die politische und kulturelle Wirklichkeit, um in den Epochen des völkischen Chauvinismus die Fahne der übernationalen Idee zu ergreifen. Ist das Zeitalter konservativ, betätigt er sich als liberaler Sprengstoff, in den revolutionären Phasen hingegen amtet er als der sakrale Hüter der Tradition. Was er gestern verfocht, bekämpft er heute, da es triumphiert hat, und verbündet sich nun dem eben unterlegenen Gegner. Inhaltlich lassen sich also allenfalls „die“ einzelnen, epochal begrenzten Humanismen fixieren, deren widerspruchisvolle Vielheit sich jedoch nicht in eine Formel „des“ Humanismus pressen läßt. Das verkennen seine Kritiker, die in der Regel „einen“ Humanismus meinen, wo sie „der“ Humanismus sagen.

Doch selbst diese Einschränkung ist noch unerlaubt optimistisch. Nehmen wir nur die Humanisten eines Zeitalters unter die Lupe, beispielsweise des unsern. Da gibt es katholische, protestantische, reformierte, jüdische, atheistische Humanisten, deren Glaubenstreue unantastbar ist. Und jede Nation variiert das humanistische Thema auf ihre Weise; konservative, liberale, klerikale und sozialistische Parteien bekennen sich zu ihm, ja selbst die Kommunisten etikettieren sich mit ihm — kein Stand, kein Beruf, kein Traum, der sich nicht auf ihn beruft. Diese Humanisten aller Richtungen, Konfessionen, Parteien, aller Tätigkeits-und Lebensweisen sind Fürsprecher von Ideologien, Programmen, Interessen, die einander widersprechen, ja sogar ausschließen und beim besten Willen nicht unter einen Hut zu bringen sind. Gemeinsam ist ihnen allen nur die liebenswürdige Schwäche, Recht und Richtigkeit ihrer Standpunkte jeweils mit Zitaten aus klassischen Autoren zu erhärten. Angesichts solcher Widerspenstigkeit, mit der sich „der" Humanismus jeglicher substanziellen Begriffsbestimmung entzieht, scheint er sich selber als zeitloses, als geschichtsdurchgängiges Phänomen in Frage zu stellen, wenn er sich nicht gar dem Vorwurf der Charakter-Losigkeit aussetzt. Was bleibt also und berechtigt, diese unter der Flagge des Humanismus segelnde bunte und in sich gegensätzliche Vielfalt als Wesens-Einheit anzusprechen? Verausgabt der Humanismus nicht jegliche Identität in seiner ausschweifend proteischen Wandelbarkeit?

In der Tat haben aber die Humanismen aller Zeiten eine charakteristische Konstante gemeinsam, die sie alle einer zeitlosen Einheit zuordnet. Zu allen Zeiten will der Humanismus — und darauf beruht seine unsterbliche Aktualität — die Universalität des Lebens in seiner unbeschränkten Weite und Fülle. Stets ist der Humanismus der Anwalt des Ganzen. Er erfaßt den einzelnen Menschen, das Volk, die Kultur, die Menschheit, das Leben schlechthin als einen Knotenpunkt vielfältiger Impulse und Energien, die er kontrapunktisch in einer coincidentia oppositorum geordnet wissen will. Daher identifiziert er sich nicht mit einer Lebens-macht, sondern mit allen — und eben damit stellt er das Humane, das schlechthin „Menschliche“ her. Da es nun aber jedem Zeitalter eigen ist, zu übertreiben, d. h. eine bestimmte Lebensmacht auf Kosten aller anderen zu erhöhen, worauf die folgende Epoche sie stürzt, um an ihre Stelle eine andere in die Herrschaft einzusetzen und so fort, angesichts dieses dialektischen Spiels der Geschichte ergreift der dem Ganzen dienende Humanist die Partei des jeweils Bedrohten und Unterlegenen und wechselt daher mit ihm seine Position. So kommt er denn aus der Rolle des Verteidigers nicht heraus, gerät aus einer Opposition in die andere, von dieser Minderheit in jene. Stets Repräsentant dessen, was einer Zeit zum „Ganzen" fehlt, ist der Humanismus niemals modern, niemals Zeitgeist. Da seine Funktion die Wahrung des Ganzen ist, begleitet er den ständigen Konstellationswandel der Zeitmächte mit dem steten Wechsel seiner Standpunkte, Gehalte und Formen. Solche Elastizität der Anpassung (an die jeweilige Minderheit) ist das genaue Gegenteil von Opportunismus (der sich ja der jeweiligen Mehrheit kopuliert): der Humanismus ist der Opportunismus des Inopportunismus — nicht aus Opposition als Selbstzweck, sondern als Diener des Ganzen. Kurz: „der" Humanismus vermag sich nur durch „die“ Humanismen zu realisieren, da ihm jede Epoche eine andersartige inhaltliche Aufgabe zuweist — gleich hingegen bleibt in allen Epochen seine Aufgabe, durch die verschiedenartigen Zeit-Humanismen hindurch die Lebensganzheit in ihrem Pluralismus zu erhalten. Die geschichtliche Identität des Humanismus ist demnach funktionaler Natur, und gerade diese Bestimmung verlangt von ihm die ständige Variation seiner Inhalte — notfalls bis zum inhaltlichen Selbstwiderspruch

Den Humanismus mißversteht, wer ihn für die Majorität propagiert und zum „Zeitgeist" zu machen trachtet — ihm selber wie dem betreffenden Zeitalter leistet er damit nur schlechte Dienste: in der Herrschaft, in der Konjunktur verdorrt er zur Unfruchtbarkeit — wie etwa im Humanismus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, das ihn zur Karika-tur seiner selbst verzerrte. Der Humanismus ist ja kein „Satz", keine „Thesis" — tritt er einer Minorität bei, so meint er letztlich nicht diese selbst, sondern das Ganze, das mit dem Verlust dieses seines Teiles selber verginge. Darin liegt sein Sinn, sein Wert, seine Chance. Ihn allgemein machen wollen, heißt ihn negieren. Seiner vollen Enfaltung ist vielmehr die nichthumanistische Mehrheit vorausgesetzt: je weiter sich die Zeitströmung von seinem Geist entfernt, um so reicher, schöner und höher treibt er seine Blüten. Man kann unsrer Zeit nicht vorwerfen, daß sie ihm diese Voraussetzung schuldig bliebe.

Im Dienste des Ganzen erstrebt der Humanismus jedoch den Ausgleich der Gegensätze nicht durch deren Mischung oder Aufhebung. Da er unter dem Ganzen nicht die Ausschließlichkeit der Einheit versteht (sie wäre totalitär), sondern die Einheit durch den Kontrapunkt (also die Universalität), führt sein Weg in das Individuelle hinein, nicht darüber hinweg; führt sein Weg zu einer Harmonisierung der Individualitäten, die sich nicht als synthetisches Schmelzprodukt darstellt, sondern als Spannungsintegration selbständiger Glieder.

Die Umsetzung der universalen Forderung in die Geschichte hat eine eminent praktische, ja politische Bedeutung. Jede einseitige Übersteigerung einer einzelnen Idee oder Energie endet zwangsläufig in einer Katastrophe — im Leben der einzelnen nicht anders wie in dem der Völker. Immer hat die Despotie einer Lebensmacht, mochte sie vorübergehend ihre Gegenspieler zum Schweigen bringen, eine verheerende Revolte der unterdrückten Kräfte heraufbeschworen. So konnte sich der Humanismus nicht dem Nationalsozialismus und kann er sich nicht dem Kommunismus legieren. Wenn sich dem Humanismus eine zeitlose Tendenz zuschreiben läßt, so diese: sich gegen jede Hypertrophie zu stellen. Wenn er eines Hasses fähig ist, dann gegen jeglichen Fanatismus. Er ist radikaler Antiradikalismus: im Wissen, daß das stillgelegte Organ erkrankt, zu einem geheimen Geschwür auswuchert, das schließlich den gesamten Organismus vergiftet, will er die Gesamtheit der Kräfte in frei bewegter Tätigkeit halten. In diesem Sinne steuert der Humanismus die hormonale Selbstregulierung im europäischen Körper.

Den Ausgleich im Kräftehaushalt betreibt der Humanismus nicht allein durch die inopportune Parteinahme für die jeweilige Minorität, er muß seine Vertreter auch in den Majoritäten haben, um sie zur Selbstkontrolle und Selbstzügelung gegenüber den Minderheiten anzuhalten. Daher denn auch findet sich der Humanist in allen Lagern-zur Erfüllung seiner Funktion braucht er sowohl Erasmus wie Melanchthon. Und ohne Zweifel, über Angelegenheiten, die das Recht und den Ausgleich der Interessen in der Wahrung ihres legitimen Pluralismus betreffen, gelangen der humanistische Deutsche, Franzose und Engländer, ein humanistischer Katholik und Protestant, ein humanistischer Konservativer und Sozialist eher zu einer tragfähigen Verständigung als die Nichthumanisten. Über alles Trennende hinweg verfügen die Humanisten aller Lager, Parteien und Konfessionen über mehr Gemeinsames, über mehr Willen zum Gemeinsamen, über mehr Elastizität, Konzilianz und Toleranz als ihre nichthumanistischen Gesinnungsgenossen. Der Humanist ist befugt zu sagen: nachdem das Sacrum Imperium der Römischen Kirche gescheitert ist, nachdem die Reformation das Christentum gespalten hat, nachdem die auf Gewalt gegründeten Einheitslösungen ihre Vergeblichkeit mit nur allzu überzeugender Schmerzhaftigkeit demonstriert haben, nachdem die Säkularisierung die Wirklichkeit zu einer Reihe autonomer Wirklichkeiten atomisiert hat, verbleibt der Humanismus als das einzig geistig-seelische Band, das Europa umschlingt und zusammenhält und seine Zerrissenheit auf eine coincidentia oppositorum hinlenkt. Wenn es auf die Frage: Was ist Europa?, überhaupt eine Antwort gibt, dann diese: der Humanismus, das ist Europa. Oder ein wenig bescheidener: Europa ist nicht und nichts ohne der Humanismus.

Darin begründet sich auch sein Liebesverhältnis zur Antike. Im Humanismus spricht das mütterliche Gewissen des Ursprungs — ein Gewissen, das der Entwicklung keineswegs feind ist, aber doch über sie das Richteramt der Unterscheidung zwischen richtig und falsch ausübt, und das eingreift, wo der Weg zur Sackgasse, zum Verrat und zur Verfälschung des Eigenen abzuirren droht. Er verehrt in der Antike jene Epoche, die das Gleichgewicht zwischen Individualität und Gemeinschaft, zwischen Vielfalt und Einheit am vollkommensten verwirklicht und die das Gleis gelegt hat, auf dem unsere Geschichte fährt. Es ist seine Sorge, daß der Bau an den Stockwerken nicht in beliebiger Willkür das Fundament verläßt. Nicht aber ist die nachahmende Wiederherstellung der Antike das Ziel der humanistischen Aktivität, wie ihr eine dumme Hartnäckigkeit der Kritik immer wieder unterstellt. Vor solch naiver Illusion bewahrt ihn sein zeitnaher Realismus. Die Antike ist ihm vielmehr Maßstab und magnetischer Pol, daneben er sich und seine Zeit stellt, um deren Höhe, Bewegungswinkel und Echtheitsgehalt zu messen; er gebraucht sie als Spiegel und Medium der Selbsterkenntnis, nicht aber als nachzueiferndes Formmuster. Nicht um ihn anzusteuern, orientiert man sich am Magnetpol, sondern um mit seiner Hilfe den eigenen Kurs zu finden.

Der Humanismus bezieht ja keineswegs die Antike allein in seinen Haushalt ein, sondern die großen Leistungen aller Geschichtsepochen, auch der fremden Kulturen. Der Humanismus ist in Wahrheit der Erbverwahrer unserer Kultur, dessen pflegende Sorgfalt und liebevoller Geiz sich nicht minder des Mittelalters, der Gotik, der Mystik und der Romantik bemächtigen. Nicht zufällig hatte der letzte große Humanist, Huizinga, seinen Ausgangspunkt im späten Mittelalter.

Dieser Schatzhüter wird oft der „Reaktion" geziehen, er sei dem „Neuen“ abhold. Auch dieses Urteil trifft daneben. Zwar begehrt er das Moderne nicht um seiner selbst willen, er filtert es auf seinen Gehalt hin an Eigenem und Bedeutendem, um es — wo es der Probe standgehalten hat — mit gleicher Dankbarkeit aus der Hand des Heute entgegenzunehmen. Er repräsentiert nicht das Gestrige, sondern das Bleibende. Es ist ihm nicht gestattet, etwas zu vergessen oder zu verlieren: alles Erreichbare sucht er aus der Vergangenheit in den Raum der Gegenwart hereinzuholen und für sie lebendig zu erhalten, denn er verteidigt die Werte gegen den Tod. Der Humanismus ist also nicht nur Brücke über die Gegensätze einer Zeit, sondern auch über d i e Zeiten. Er ist der dauernde, sich immer neu gebärende Kontrapunkt der abendländischen Geschichtssymphonie. So wahrt er die Kontinuität, realisiert die LInteilbarkeit der Zeit und festigt damit das statische Gerüst auch für die Zukunft unserer Kultur.

Aber man lebt nicht auf einer Brücke, die ja nur die Elfer verbindet; allein auf dem Elfer selber kann man das Haus bauen und den Acker bestellen. Lind der Dirigent ist das einzige Mitglied des Orchesters, das kein Instrument spielt, das keine Note, keinen Ton von sich gibt. Der Humanismus ist keine autonome Realität, er hat kein unmittelbares Sein aus sich selber — weshalb er sich denn auch nicht inhaltlich bestimmen läßt. Er ist keine Wesenheit in sich, sondern das „Zwischen“ der Wesenheiten, deren wechselseitigen Verkehr er sowohl in ihrer Abgrenzung wie in ihrem Zusammenklingen kontrolliert und reguliert. Überall dort auch, wo die Arbeit eines Scharniers, eines Gelenkes zu leisten ist, liegt seine Berufung. Lind seine Grenze. Wer sie überschreitet, nennt sich\zu Unrecht „Humanist“.

Was alles bisher gesagt war vom polyphonen und kontrapunktisehen Gefüge unsrer Kultur, von der Emanzipation ihrer einzelnen Lebensbereiche und deren Reihung entlang der Horizontalachse der Gleichberechtigung — diese Ordnung, projiziert auf Gesellschaft, Staat und Politik, heißt Demokratie. Dies ist die Demokratie: Polyphonie der Vielheit und Kontrapunkt der Freiheit. Das heißt aber: die Demokratie, die sich, wie jede andere Staatsform auch, nur mit dem Recht der Notwendigkeit verwirklicht und erhält, ist nicht ein nur-politisches Prinzip, sie ist der gesellschaftliche Ausdruck und die politische Form der europäischen Kultur, sie ist das ihr allein gemäße Gefäß. Sie kommt also nicht aus dem Luftleeren auf die Erde herab — sie ist ein Gewächs unseres Bodens. Da es aber immer die Funktion ist, die das Organ schafft, kann sie nur im Klima der Vielheit in der Freiheit gedeihen. Diese Voraussetzung erfüllt allein das abendländische Kultur-feld — sie erfüllen nicht die östlichen Kulturen. Das müssen wir auch politisch zur Kenntnis nehmen.

Die beiden Räusche

Wir müssen nun eine Schicht tiefer graben: Warum haben allein wir den größenwahnsinnigen Versuch einer Kultur ohne Sklaverei unternommen? Warum verlangen allein wir nach Vielheit in der Freiheit?

Lassen Sie mich eine erste Auskunft beim Rausch holen, da ja in vino veritas sein soll. Da fällt zunächst auf, daß den Menschen des Orients ein andrer Rausch begehrenswert erscheint als jener, den uns die Firma Wein & Co. liefert. Was uns der Alkohol, ist ihnen das Opium. Die Reiche, in die diese Vehikel des Trostes und des Traumes, der Flucht und der Erhebung entführen, liegen voneinander noch weiter entfernt als Orient und Okzident in ihrer Nüchternheit.

Der Alkoholrausch produziert in seiner aufsteigenden Kurve — und sie ist ja gemeint — „Stimmung“, er steigert unser Daseinsgefühl, die Kraft der Muskeln und die Geschwindigkeit des Blutkreislaufs, er macht die Nerven prickeln, setzt die Bremsstärke der Hemmungen und Unlustgefühle herab, öffnet uns nach außen und verringert den Widerstand gegen die Umweltreize; er erhöht das Selbstbewußtsein und macht uns zugleich geselliger, dem Gespräch, der Freundschaft, der Liebe (und gelegentlich auch der Rauferei) geneigter. Wir trinken also, auf daß uns das Leben leichter, voller, blühender, liebenswerter erscheine — und nicht nur „das" Leben, auch wir uns selber!

Der Opiumrausch schlägt den entgegengesetzten Weg ein-er bewirkt den fortschreitenden Bewußtseinsabbau bis zur Ausschaltung des Körper-empfindens, bis zum Vergessen der Umwelt, ja des Selbst. Er steigert nicht das Ich noch das Daseinsgefühl, er dämpft sie und löscht sie schließlich aus. Im Opiumrausch debattiert und singt man nicht, schlägt sich nicht, tanzt und liebt man nicht; man gibt sich ihm allein hin, in der Ruhelage. Er ist wahrhaft asozial — asozial sogar gegen das eigene Ich, ja gegen d i e Wirklichkeit und das Leben schlechthin. Anstelle gesteigerter Sinnlichkeit ersehnt der Orientale gesteigerten Traum, anstelle geschärften Bewußtseins den bewußtseinsentrückenden Schlaf, Empfindungslosigkeit anstelle von „Gefühl“, und statt Überhöhung und Verdichtung der Realität die möglichste Verdünnung, ja die Aufhebung der Wirklichkeit. Suchen wir im Rausch uns selber im künstlich gesteigerten Umsatz unserer Vitalität, suchen wir das Leben in seiner ungehemmtesten Entfaltung, so bewegt sich in ihm der östliche Mensch von sich selber und vom Leben weg, gleichsam in eine Vorwegnahme des Todes hinein.

Der Rausch ist seiner Herkunft nach der verweltlichte und illegitime Bruder des mystischen Aktes (auf primitiver Stufe sind sie sogar Zwillinge); er ist zugleich weniger — sein Surrogat. Über ein Surrogat befragt man am besten das Original..

Verzückung und Versenkung

Die visionären Erlebnisse der östlichen Mystik entbehren der Formen und Farben, der linearen Umrisse und Perspektiven, denn ihre Schauungen sind im Lichtlosen beheimatet. Solcher östlichen „Nachtmystik des Entwerdens“ gegenüber hat sich das Abendland in eine „Lichtmystik des Innewerdens" begeben, sie verzeichnet wundersame Farbwahrnehmungen, klar konturierte Bilder, über die lauteres Licht gegossen ist, aus dessen Strahlen Maria und Jesus, als Kindlein oder als Gekreuzigter, in persona hervorgehen. Nicht selten überträgt sich das Erlebnis in Wundmalen auf den Leib des Mystikers; die mit-leidenden Empfindungen des Hungers und Dürstens, leidenschaftliche Liebes-vorstellungen sind die immer wiederkehrenden Merkmale in der Selbst-aussage der abendländischen Mystik. Sie erfährt sich als erhöhende Verdichtung des realen Seins: das Ich nimmt im vollen Bewußtsein seiner selbst an der unio mystica, an der Begegnung mit dem Göttlichen teil, gesteigert in der Fassungsweite und in der Subtilität seiner Wahrnehmung. Und wenn sich die abendländische „Verzückung“, die das Ich beibehält und erhöht, durch Sinneskonzentration und Bewußtseinssteigerung mitteilt, so realisiert sich die östliche „Versenkung", in der das Ich „versinkt“, durch die schrittweise Ausschaltung der Sinne und des Bewußtseins. Noch schärfer gefaßt: der westliche Weg der Mystik zielt auf den Einbezug, auf die Einverleibung des Makrokosmos Gott in den Mikrokosmos Ich — der östliche auf die Auflösung des Mikrokosmos Ich, auf sein Versinken, sein Untersinken in das Nichtfaßbare und Nichtsagbare, das jenseits ist des universalen Makrokosmos und alles Seienden. Während also der westliche Mystiker zu seiner Gottesbegegnung den gefährlichen Gebirgspfad der Selbststeigerung emporklettert (weshalb ihm übrigens die Kirche so oft mißtraut), läßt sich sein östlicher Bruder im Geiste in die Auflösung der Persönlichkeit, in die Lebensleere fallen.

Kultur schafft, wem die Natur nicht genug ist, wer sich mit ihr nicht abfindet. Das Ungenügen an der Natur ist die eigentlich kulturzeugende Energie. Sie kann sich in zwei Richtungen aktualisieren: durch die Überwindung der Natur im Sinne ihrer Nutzbarmachung, Veränderung, Unterwerfung — das ist der abendländische Weg: seine Fahrzeuge heißen Naturwissenschaft und Technik. Der Osten ist den anderen Weg gegangen: er überwindet die Natur, indem er sie von sich streift wie ein lästiges Kleid. Wollen wir über die Natur gelangen, nach vorn, einem künftigen Sein zu, das als Ergebnis des Werdens hinter diesem Werden liegt, so wendet sich der östliche Weg rückwärts, auf das Sein, das unter der Natur und vor dem Werden liegt. So steht dann die östliche Vorstellung vom Nirwana — von der absoluten Leere, in der Natur, Leben, Geist und sogar Gott ausgelöscht sind — unserm Bild des Paradieses gegenüber, der unendlichen und vollkommenen Fülle, in welcher der Raum zum All und die Zeit zur Ewigkeit geweitet sind. Daß wir Unsterblichkeit wollen — auch hier schon, auf Erden, durch den Ruhm — darin bezeugt sich die Unerschöpflichkeit unserer Liebe und unseres Willens zum Leben. Selbst noch das Fleisch soll auferstehen! Das Absolute erstreben also beide: jener das absolute Nichtsein — wir das absolute Sein. So zielt der östliche Weg auf die Erlösung vom Leben, der unsere auf die Erfüllung des Lebens — auch auf die religiöse Erfüllung: durch die Nachfolge, die imitatio Christi.

Das Nichts — Freund oder Feind des Lebens?

So nimmt es nicht wunder, daß — außer in der jüngsten Phase unseres Philosophierens — die Vorstellung des Nichts zu keiner Zeit das abendländische Denken bewegt hat. Im Osten aber kreist das Denken aller Epochen um das Nichts. Es läßt in ihm nicht nur das Sein anfangen, sondern auch die Götter. Unsere Antike jedoch dekretiert das Sein im Seienden, den Kosmos im Chaos, und die Bibel setzt Gott an den Anfang aller Dinge. Nicht anders verwehrt d e christliche Lehre vom „ewigen Leben" und von der „ewigen Verdammnis“, vom Jüngsten Gericht und der Auferstehung dem Nichts jeglichen Ansatz. Welche Liebe zum Sein, welcher Lebenswille muß uns innewohnen, daß wir den Begriff des Lebens sogar in das Jenseits hinein verlängern? Der Christ weiß um die Gottesähnlichkeit des Menschen, um seine Gottesebenbildhaftigkeit und Gotteskindschaft, die der göttliche Wille selber offenbarte: „Lasset uns den Menschen schaffen nach unserm Bild und uns zum Gleichnis", „und er bließ in sein Antlitz den Hauch des Lebens und der Mensch — nur er — ward zu lebendigen Seele“ (während der indische Glaube aller Kreatur — wenn auch in unterschiedlicher Dosierung — die Seelenhaftigkeit zuspricht). Auch Lukas bezeugt es: „Das Reich Gottes ist in euch“. Selbst Jesus, den Vater vergebens anflehend, den bitteren Kelch vorbeigehen zu lassen, selbst er stirbt eines schweren leiblichen Todes, und die Gewißheit der Auferstehung erspart ihm nicht die Klage der letzten Worte (nach Markus und Matthäus): „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen!"

Keine andere Kultur hat gleich der unseren dieses Leben als den höchsten aller Werte, als das schlechthin Unwiederbringliche und Einmalige gelebt und verteidigt. Und wo wir die Jenseitsgewißheit einbüßen, da klammern wir uns nur noch heftiger an unser diesseitiges Dasein. Im Maße des Glaubensschwundes steigern wir unsere Anstrengungen, dies Leben durch die Künste der Hygiene und Medizin zu verlängern — nirgendwo anders hat der Mensch einen solch verbissenen (und erfolgreichen) Kampf wider den Tod geführt wie im Abendland. Sapphos Klage ist uns nicht fremd geworden: „Wäre der Tod etwas Gutes, dann hätten die Götter, die alles wissen, ihn anstatt des Lebens gewählt.“ Noch in seiner physischen Unvermeidlichkeit suchen wir ihn zu überlisten, suchen wir das Leben zu „konservieren“ durch Geschichtsschreibung und Ruhm: durch Memoiren und Biographien, durch Porträts und Denkmale — sie sind außerhalb unserer Kulturgrenzen kaum anzutreffen. Dieser Ruhm ist „Wachstum im Grabe“, ein Fortleben, das sich in lebenszeugender Wirkung manifestiert: sein Träger wird geliebt und verehrt wie ein Lebender, wie mit dem Freund oder Feind setzt man sich mit ihm auseinander, er kann Haß entflammen, so daß man ihn ein zweites Mal zu töten sucht, indem man seine Werke verbrennt und sein Denkmal stürzt, um sein Dasein auch in der Erinnerung auszurotten. Dieses festgehaltene, über alle Grenzen ausgedehnte Leben läßt der Leere und dem Nichts keinen Platz. Selbst unsere Wissenschaft negiert das Nichts, mit den Sätzen von der Erhaltung der Energie und der Materie, und sogar das Unendliche füllt sie mit diesem Seienden aus.

So ist uns der Tod die äußerste Möglichkeit des Opfers, wie denn Jesus den Tod auf sich nahm, um dem Menschen zum ewigen Leben zu verhelfen; der Gläubige der Reinkarnation aber rechnet es Buddha als den schwersten Verzicht an, daß er zum Heile seiner Mitmenschen freiwillig im samsara, in der Kreiskette der Wiedergeburten ausharrte anstatt ins Nirwana einzugehen, das ihm offenstand.

Dem Christen aber ist nur ein einziges Leben beschieden, eine winzige Frist, die darüber befindet, ob ihm das ewige Leben oder die ewige Verdammnis zuteil wird. Dieser Christ sieht sich wahrhaftig vor die Notwendigkeit gestellt, jetzt und sofort seine ganzen Kräfte daran-zusetzen, denn einen Augenblick später ist es vielleicht schon zu spät; und der gewesene Christ weiß es nicht anders. Daher also die gejagte Unrast und geballte Intensität des abendländischen Lebens, die ihm die eigenen Kräfte nicht genug sein lassen; zu ihrer Vervielfachung schuf er sich die Technik. In einem einzigen Leben muß er ja schaffen, wofür dem östlichen Menschen mehrere Leben gegeben sind. Da wir diese Möglichkeit der Wiedergutmachung nicht haben, verläuft unser Leben viel entscheidender. Und eben darum lieben wir es umso leidenschaftlicher, dies unser einziges Leben.

Arbeit -Lust und Leid

Wem die Kultur ein Weg zur Erlösung ist, wer sie als Lebensform und Lebensformung zelebriert, der sucht sie in der Muße, in der meditativen Entspannung der vita contemplativa, die sich vom Werk, vom Tun und Leisten abwendet und der Arbeit nur den Rang eines notwendigen Übels zuweist. In beherzigenswerter Einsicht hat Salomon und von Goch in seiner klassischen „Historie des türkischen Reiches“ (1. Band, 1748) der orientalischen Abwertung der Arbeit das rechte Verständnis abgewonnen: „Also scheinen die Türken unseres Heilands Mahnung . Wenn wir Kleidung und Nahrung haben, so lasset uns begnügen'besser zu beachten als die meisten, die sich Christen nennen, bei welchen des Laufens und Rennens, Eselns und Arbeitens, Trachtens und Strebens nach Reichtum und Ehren kein Ende ist. Man macht den Türken ständig den Vorwurf, daß sie faule Kerle und Sorte sua contenti wären. Allein der ist nicht faul, der so viel arbeitet als er bedarf, sondern der ist faul, der lieber darben will als arbeiten . . . Die Begnügsamkeit ist ja zu loben, aus dem Gegenteil gehen die blutigen Kriege hervor, die unendlichen Prozesse und die Verkürzung des Lebens vor der Zeit.“ Aber dieser Ritter wider unsere Kultur des Eselns ist ein einsamer Rufer in der abendländischen Arbeitswüste. Zwar verweist die Etymologie auch der europäischen Sprachen auf die ursprüngliche Gleichsetzung der Arbeit mit Mühsal und Beschwerde, mit Not und Leid, mit der Tätigkeit der Knechte und Sklaven; wie denn gleichfalls der Gott des Alten Testamentes dem sündigen Urmenschenpaar bei der Vertreibung aus dem Paradies die Arbeit als Fluch und Verhängnis auf den künftigen Erdenweg nachschickte. Und die frühen Griechen nannten „banausos" („Arbeiter am Ofen"), wer von seiner Hände Arbeit leben mußte, im Gegensatz zum begüterten Edlen, der sich ausschließlich der Bildung und dem Staate widmen konnte. Doch schon bei Hesiod — weit vor der griechischen Säkularisation — heißt es zum ersten Male „Arbeit schändet nicht". Wenig später akzentuiert Euripides ihre Aufwertung: „Kein fauler Mensch ist vortrefflich. Aber die Arbeit adelt.“ Im gleichen Sinne läßt sich Platon vernehmen, wenn er d e n Menschen glücklich heißt, der sich unbehindert der Tätigkeit hingeben kann, die seiner Neigung am meisten entgegenkommt. Der Römer Vergil empfiehlt sie gar als Universalheilmittel gegen alles Leid: „Labor vincit omnia — die Arbeit überwindet alles.“

In ähnlicher Weise erhob das Christentum die Arbeit. Wie auch nicht, da es doch den Gottvater selbst als einen Arbeiter begriff, der das Weltenwerden als sein schöpferisches Werk vollbringt! Und die gläubigste Epoche unserer Geschichte, das frühe Mittelalter, machte aus der Arbeit fast ein Evangelium, als es sich der Benedektinerregel verschrieb: „Oremus et laboremus — laßt uns beten und arbeiten!“ Sogar die spätmittelalterliche Mystik, dem Irdischen, abgewandt wie keine andere Geistesströmung Europas, preist (vor allem im Munde Taulers) die Gottgefälligkeit des werktätigen Lebens, die dann Luther — obwohl er doch den guten Werken den Erlösungscharakter absprach — noch unterstreicht. Noch über ihn hinaus geht die kalvinistisch-puritanische Reformation, die den Arbeitsgedanken zum Zentralthema ihrer Ethik steigert und im irdischen Leistungserfolg die göttliche Gnade verbürgt glaubt. Welchem Ideenfluß immer wir auch nadispüren, alle Jahrhunderte unsrer Geschichte singen das Lob der Arbeit. Angefangen vom Staufer Friedrich II., der — im krassen Widerspruch zur östlichen Denkweise — den Herrscher als den ersten Diener des Reiches definiert, von Eckehart, der das „wesentliche Innewohnen Gottes“ in „innerlich lebendiger Geistigkeit“ erblickt, „die ohne Warum auf Tätigkeit drängt“, über Kants Pflichtenlehre, über Goethe, dessen Faust und Wilhelm Meister den Sinn des Lebens schließlich im leistenden Tun finden, und über Schillers Lebenserfahrung, die in das Fazit mündet: „Es ist nichts als Tätigkeit nach einem bestimmten Ziele, was das Leben erträglich macht!“, bis zu Rodin, der Rilke das Geheimnis des künstlerischen Schaffens aus der Arbeit deutet, und zu Baudelaire, der bezeugt: „L'inspiration est sans doute la soeur du travail journalier — die Inspiration ist zweifellos die Schwester der täglichen Arbeit“ — der Chor der Großen, die unsere Kultur hervorgebracht hat und die unsere Kultur hervorgebracht haben, hört nicht auf, die Arbeit als Pflicht, als Medium und Voraussetzung des sinn-und werterfüllten Lebens zu verstehen. Und der Volksmund meint nichts anderes, wenn er sagt „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ und seine Kinder singen läßt „Arbeit macht das Leben süß". Daß sie im Übermaß bitter schmeckt — auch davon freilich sprechen nicht wenige Stimmen. Der Protest von Marx jedoch richtet sich nicht gegen die Arbeit an sich, sondern gegen ihre Unterbewertung, gegen die Entmenschlichung ihrer Formen und ihre Trennung vom Eigentum.

So eindeutig sich unsere Kultur zur Arbeit bekennt, ihre Bejahung stuft sich mit den Jahrhunderten, und zwar zur Gegenwart hin mit wachsender Lautstärke. Im Übergang von der sakralen Bestimmtheit (des Mittelalters) über den absolutistischen Feudalstaat und den wissenschaftlich-künstlerischen Bildungsgedanken (des Idealismus) bis zum wirtschaftlich bestimmten Erwerbs-und Besitzbürgertum (der modernen Demokratie) steigert sich die Einschätzung der Arbeit von der Notwendigkeit über die Pflicht zum Recht. Das Recht auf Arbeit, der abendländischen Forderung auf Freiheit und Gleichheit unmittelbar benachbart, ist zu einem Fundamentalsatz unserer Gesellschaft geworden. Nichts könnte ihren kulturellen Rang in unseren Augen treffender bezeichnen als die Tatsache, daß wir ihr Rechtscharakter verliehen.

Solchen Wert, solchen Sinn hat keine andere Kultur der Arbeit zuerkannt. Dient sie dem Westen als Medium der Wesensentfaltung und Selbstverwirklichung, der östliche Mensch sieht in ihr den Zwang der Notdurft, und im positiven Fall ein Schicksal, ein Verhängnis, das es abzusühnen gilt, um auf der Leiter der Wiedergeburten eine Sprosse höher zu gelangen. Wo aber der östliche Mensch, wie nicht selten in China und Japan, sich dem Fleiß geradezu ausschweifend hingibt, da tut er es in der Tretmühle der Notwendigkeit oder unter dem Antrieb eines höchst handfesten Erwerbsverlangens oder in spielerischer Bastelfreude — nicht aber im Bewußtsein der Selbstverwirklichung noch im Dienste eines ethischen Postulats. Während wir „Kultur" als Produkt der Arbeit begreifen, fängt sie für den Osten erst an, wo die Arbeit aufhört. Arbeit ist ein Weg der Erfüllung — von der Erlösung führt sie weg.

Erfüllung und Erlösung — diese beiden Grund-und Schöpferworte sind die Wegweiser, denen das Leben hier und dort gefolgt ist. Dies einzige Leben aber, das ist das Leben des einzelnen. Und nun verstehen wir, warum allein Europa zur Heimat der individualistischen Kultur geworden ist. In keiner anderen Kultur ist der Mensch sich selber so sehr Problem wie in der unsern; im Osten versteht er sich als schicksalsunterworfene und nichtige Gegebenheit, die — jenseits der Freiheit und Einmaligkeit — kaum den Wert der Frage hat. Jene Entdeckung aber, die Heraklit sagen ließ: „Ich suchte mich selbst" und die in der delphischen Forderung „Erkenne dich selbst“ kulminierte, war etwas völlig Neues, das erst die griechische Antike aus dem orientalischen Kulturkreis herausschnitt. Es setzte sich fort in dem christlichen Satz Augustins: „Ich bin mir selbst zur Frage geworden!“ Diese Frage kam durch unsere Jahrhunderte hindurch nicht zum Schweigen. In unsern Tagen ließ sie Thomas Mann bekennen, „daß alles was mir gut und edel erscheint — Geist, Kunst, Moral, menschlichem Sichwichtignehmen entstammt“. Wie auch nicht? Denn nur wir sind ja so vermessen, den Mensch als Maß aller Dinge zu sehen, als Krone der Schöpfung und als Ebenbild Gottes, den allein wir „Vater" zu nennen wagen.

Perspektive, Linie, Farbe

Und so erblicht dieser abendländische Mensch auch die Welt im Bezug auf sich. Es ist kein Zufall, wenn nur der europäische Künstler auf die Perspektive verfiel — die Perspektive, die ja nicht dem abgebildeten Gegenstand als Eigenschaft anhaftet; auch der Raum hat keine Perspektive, nur das subjektive Auge hat sie, das sich mit einem bestimmten Standpunkt im Raume identifiziert. Perspektive ist Egozentrizität. Diese aber sucht der östliche Künstler gerade zu überwinden, da er sich ja von sich selber distanzieren will. So meidet er die Perspektive, oder er unterlegt — was auf dasselbe hinausläuft — seinen landschaftlichen Kompositionen mehrere Horizonte. Auch verschmäht er die Farbenperspektive, die mit rötlichen Tönungen Vordergrund und mit bläulichen Tönungen Tiefenwirkungen erzielt, die Skiagraphie, die Schattenmalerei, die mit dem Spiel von Licht und Schatten die Körperlichkeit in die dritte Dimension lodet — er verzichtet also auf alle jene Mittel, mit denen unsere Malerei, aber auch unsere Architektur (im Barode vor allem) dem Raum eine subjektive Tiefenordnung aufdrückt.

Doch der Unterschied zwischen westlicher und östlicher Kunst erschöpft sich nicht im Ja und Nein zum individuellen Auge, er spricht sich schärfer noch aus im Ja und Nein zur Gestalt überhaupt. Für den östlichen Maler hat die Linie einen völlig anderen Sinn; da ihm der Gegenstand nicht entgegen und nicht gegenüber steht, gebraucht er die Linie nicht, um den Körper nach innen abzuschließen, um ihn von seiner Umwelt abzugrenzen und in ihr zu isolieren; da der Gegenstand sein Sein aus dem Kosmos hat und in ihm eingebettet bleibt, da der Körper nur der vergängliche Schatten ist, den ein Jenseits von Raum und Zeit herüberwirft, geschieht alle Umgrenzung in verschwimmender Kontur, ohne Anfang und ohne Ende im konkreten Raum. Das Unterlassene und Nichtgezeigte hat in seinem Bild gleichermaßen Anteil am Ausdruck wie das Gezeigte und Ausgefüllte. Diese Linie schafft nicht die Gestalt, sondern erschließt die Beziehung der Dinge untereinander; sie verfließt, und versinnlicht damit das „Zwischen“ der Dinge; sie grenzt die Dinge nicht ab, sie ist das Feld ihrer Begegnung.

Nicht anders gebraucht der Osten die Farbe. Sie hat keine Wahrheit für ihn, denn den Dingen selbst ist sie ja nicht eigen. Farbe erscheint vielmehr als der vergängliche Reflex eines Augenblicks, einer vorbeiziehenden Konstellation, die wiederum nicht dem Gegenstand, sondern dem menschlichen Auge verhaftet ist. Farbe also spiegelt ihm das vergänglich Individuelle, auf dessen Überwindung es ihm gerade ankommt. Nur uns Menschen erscheinen ja die Dinge in Licht und Farbe und mit Schatten behangen, vom Kosmos her sind sie nichts als Schein, die das Wesen trüben und fälschen. So kommt es auch, daß der ostasiatische Maler die Ölfarben nur zaghaft verwendet, fast nur — wie auch die höchst entwickelten Lackfarben — zum Geräteschmuck. Die noch härtere Tempera-und Alfrescomalerei setzte sich im Fernen Osten überhaupt nicht durch. Nicht um das Pointieren, um das Nuancieren geht es ihm. So gehört seine ganze Liebe den zarten Wasserfarben, die mehr andeuten als aussprechen, und vor allem den Tuschfarben, die nur zwischen Weiß und Schwarz spielen und weite Flächen und die Tiefe des Bildes weiß lassen; ja diese leergelassene Fläche wird durch einen geheimnisvollen Einbezug in die Komposition selbst unmittelbarer Ausdruck. Solch kosmisch inspirierte Kunst, welche die Bestimmtheit, die Gestalt, die Individualität verneint, bedarf weder der Farbe noch der Linie noch der Perspektive. Sie bedarf für ihr Bild auch nicht des Rahmens, der das Bild nach innen zusammen-und nach außen abschließt, der es aus seinem Raume heraushebt und individualisiert. Das umrahmte Bild betont so ausgesprochen dessen Fürsichsein, daß es notwendig ein Gegenüber fordert, ein bewußt betrachtendes, gleichfalls im Raum isoliertes Subjekt. Der Rahmen begrenzt das Land des Kunstwerkes gleichsam zu einer ästhetischen Insel. Das Bild des Ostens jedoch will nicht für sich sein; wie es schon das unausgefüllte Weiß seiner Randflächen andeutet, ist es offen und fließt in seine architektonische Umgebung hinein. Es gibt nicht das Ding selber, sondern dessen Zeichen, nicht die Gestalt, sondern das Wesen, nicht das Ebenbild, sondern das Gleichnis.

Dies alles aber will unser Bild: das Ding im Ebenbild seiner Gestalt. Darin manifestiert sich ein weiterer Gegensatz. Das abendländische Bildwerk gefällt sich in der Fülle des Inhaltlichen und in körperhafter Dichtigkeit; die Fläche des Ölbildes ist ganz und gar mit Farbe zugedeckt, sein Raum ist bis in den letzten Winkel hinein angehäuft mit Atmosphäre, mit Dingen und Körpern, völlig eingenommen von sinnenhafter Erscheinung, die keinen Spalt offen läßt für das Nichtsagbare. Dies Bild ist durch und durch Form — es ist, als führe die Hand seines Künstlers die Angst vor der Leere, als treibe ihn der Schauder vor dem Nichts, der horror vacui, den Raum mit Gestalten auszufüllen und zu erfüllen. Den östlichen Maler hingegen bestimmt der a m o r vacui, die Liebe zum Leeren; sein Bild begnügt sich mit einem Minimum an Gegenständlichem, es ist voll von Leere, vom Offengelassenen; es ist, ob mit ihm das Unendliche das Endliche einhülle und in sich ziehe, als ob es dem vereinzelt Dinghaften über eine Brücke zum Wesenhaften, zum Kosmischen geleite. So spricht sich eine Sehnsucht aus, die auf die Aufhebung der Vereinzelung, und das heißt auf die Auflösung, auf die Erlösung der Gestalt gerichtet ist. Sucht unser Künstler selbst noch das Unsichtbare in die Sichtbarkeit einzufangen, der östliche deutet das Sinnenhafte auf das Nichts hin. Was uns schaudern macht und in die Fülle der körperhaften Wirklichkeit flüchten heißt, begehrt dieser als höchstes Ziel. Der horror vacui und der amor vacui, die wir schon das Denken und Fühlen von West und Ost bestimmen sahen, prägen also auch die Gestaltungstendenzen beider Kulturen, die hier vom Erfüllungsstreben, dort von der Erlösungssehnsucht gesteuert sind.

Lob der Leibesfülle

Doch hat diese Diagnose vor einer buddhistischen Plastik Bestand, in deren Leibesfülle das vitale Leben überzuborden scheint?

Zumal wenn wir sie der hochgezogenen Vergeistigung unserer gotischen Figuren gegenüberstellen, oder wenn wir daran denken, daß eh und je die Korpulenz ein Stiefkind unserer Kunst ist. Keiner ihrer häufigen Stilwechsel, die nacheinander doch den verschiedensten Körper-typen Gerechtigkeit widerfahren ließen, hat zur Entdeckung ihrer ästhetischen Reize geführt — wenngleich Rubens für die Ausnahme von der Regel sorgte; und so flatterhaft sich in seiner Geschichte der abendländische Geschmack verhielt, in diesem seinen Vorurteil ist er sich erstaunlich treu: das „Fett“ ist ihm anstößig, der dicke Leib ein künstlerisches Ärgernis — existenzberechtigt allein im Klima der Komik (von der Karikatur bis zur Satire), allenfalls auch noch gnädig geduldet als physiognomisches Indiz für eine schon mehr tierische Gutmütigkeit, für verschmitzte Bauernschläue, für Friedfertigkeit aus Verschlafenheit, für die naive Zufriedenheit der Sättigung und was das Phlegma in seiner behäbigen Selbstgenügsamkeit weiterhin an bescheidenen Tugenden der geistigen und seelischen Einfalt aus sich herausläßt. Sonst aber steht in unserer Ausdruckssprache die Leibesfülle für den Erdenkloß, für Caliban, für Falstaff und das Faunische: die fleischgewordene Trägheit, in der die bloße Materie überquillt, mit ihrer Schwabbelmasse die feineren Regungen der Empfindung verstopft, den Flug der Gedanken niederhält und den Willen erstickt in seiner Stoßkraft und Beweglichkeit; im dumpfen Verlangen sich genügend an Tafel, Bert und Besitz — Fleisch eben, nichts als Fleisch, das ganz im Hier und letzt wuchert, ohne Sehnsucht, ohne Traum, ganz und gar untalentiert zur Tragik, ausgeschlossen aus den Höhen und Tiefen und daher auch unvereinbar mit „Größe , mit dem Erhabenen und dem Schönen. Diese böswillige Verallgemeinerung scheint sich unausrottbar in unserem Geschmack eingenistet zu haben, wiewohl uns Balzac, Napoleon, Jean Paul, und nicht nur sie, hinreichend Anlaß zu ihrer Revision bieten.

In unseren Augen, in der Kunst wie in der Natur, ist von der Haut her gesehen der Körper „schön", der mit dem Fleische geizt, dessen dünne Bespannung das Spiel der Muskeln und Gelenke, der Sehnen und des Geäders nicht wegnimmt, nicht zudeckt, sondern sich ihm knapp anschmiegt und es durchscheinen läßt; auch die Gliederung des Leibes in die einzelnen Körperpartien, die wir uns akzentuiert wünschen, soll durch die Fleischigkeit nicht vertuscht, ihre Abgrenzung nicht verflüssigt werden. Kurz, der Haut sei es nicht gestattet, sich von der dienenden Funktion des einfassenden Begleitens zu irgend welcher Eigenmächtigkeit auszuwachsen und die Körperarchitektur wie mit einem dicken, undurchlässigen Vorhang abzuhüllen.

Ein Auge, das mit diesem europäischen Maßstab des Sehens ausgerüstet ist, muß wohl vor einer indischen oder ostasiatischen Figur von einem Befremden befallen werden, das ihm den Zugang zu ihrer Schönheit versperrt. Es bedarf für sie eines anderen Schlüssels.

Wenn immer der östliche Bildhauer oder Dichter vom vollkommenen Menschen träumt, dann rückt in seine Vorstellung ein Körper, in dessen Formensprache sich aussagt, was wir „Phlegma“ heißen. Mögen uns nun die fülligen Linien seines idealen Frauenleibes noch eingehen, daß er mit ihnen auch die buddhistischen Erlösergestalten und die hinduistischen Götterstatuen zeichnet, macht sie uns in ihrem Sinngehalt noch rätselhafter, weil widerspruchsvoll — denn unser landläufiges ästhetisches Gesetz dekretiert ja: Embonpoint widerlegt Geist. Aber die Götter des Orients sind anderer Meinung. In glatter Rundung und flüssigen Übergängen fügen sich ihre Leibesformen; Muskeln, Sehnen, Knochen versinken im selbstherrlichen Element Fleisch, das sich vor der Körper-architektur emanzipiert und weithin die Oberfläche beherrscht; die Gesichter sind weich und voll ausgefüllt, und jeglicher Spannung, allem Harten und Bewegten wird der Aus-Druck selbst dort verwehrt, wo er thematisch geboten schiene. Wie denn der Affekt schlechthin zurückgehalten wird; auch vor ihm verharrt die Mimik in unbewegter Starre, die nicht verhüllende Maske ist, sondern Zeichen der Unanrührbarkeit. Nehmen wir hinzu das häufige Anschwellen des Leibes zur Korpulenz, die Neigung zur Liberproportionierung des Oberkörpers (die aus der Vorliebe für die sitzende Darstellung hervorgeht), so gewinnen wir als Gesamteindruck: ruhende Massivität, in ihrer Schwere aufgelockert durch fast feminine Konturierung. Mit einem Wort: Phlegma.

Die indische Psychologie unterscheidet — wie wir — vier Charakter-typen des Temperamentes. Sie werden inhaltlich in derselben Weise umschrieben, wie von altersher in der abendländischen Psychologie; völlig verschieden sind jedoch die Rangabstufungen, in denen sie hier und dort aufeinander bezogen erscheinen. Während sich unsere Sympathie meist dem Sanguiniker zuwendet und wir am höchsten den Melancholiker schätzen (da seine seelische Konstitution meist den genialen Menschen kennzeichnet), stellt der Orient an die Spitze seiner Wertpyramide gerade den Typus, dem wir den geringsten Beifall zollen: den Phlegmatiker.

Das indische Wissen begreift das Leben als Leid. Der Überwindung des Leides stellt es daher die Selbst-Entäußerung des Lebens voran.

Lind so erhält die indische Persönlichkeit ihren Rang nicht von der aktiven Tüchtigkeit des Unternehmungsgeistes, nicht von der arbeitenden und kämpfenden Energie des zielstrebigen Willens und auch nicht vom Glanz der fürstlichen Herrschermacht. Den Wert des Menschen mißt der Osten an der Gelassenheit, an der unerschütterlichen Seelenruhe, in die sein Wesen gefaßt ist. Alle sich der äußeren Wirklichkeit hingebende Kraft, jede bewegte und bewegende Strebsamkeit versieht er mit den negativen Vorzeichen der Unrast und des Unfriedens, denn ihre Taten, Leistungen, Wirkungen sind Fesseln, die ihn nur noch enger und unlöslicher in das irdische Getriebe und also in das Leid hinein-verstricken. Diese Fesseln aber vermögen der Sanguiniker und der Choleriker nicht abzustreifen; auch nicht der leidensbesessene Melancholiker, der ja der enttäuschte Liebhaber des Lebens oder doch seines Lebens ist und von seiner Liebe nicht lassen kann. Nicht mehr nach dem Leben dürsten, und also auch dem Leben gegenüber nicht mehr leidensfähig sein — das ist günstigstenfalls dem Phlegmatiker vorbehalten. Nur seine Natur kommt der Grundforderung entgegen: Entleertheit des Lebens nach jeder Richtung — im Animalischen vom Trieb, im Materiellen vom Besitz, im Geistigen vom Wollen und im Seelischen von Gefühl und Bewußtsein. Der Phlegmatiker ist von allen der Entspann-teste, der am meisten Gelöste — und das Gelöstsein geht der Erlösung voraus, in die alles Sinnen des Ostens einmündet.

Vom Sinn der Konvention

Eine Kunst, die aus dem Kosmischen kommt und auf Erlösung zielt, kann ihr Genüge nicht in sich selber finden und sich nicht zu einem autonomen Teilbereich des Lebens verinseln — wie unsere Kunst, die seit dem Mittelalter, seit ihrer hochmütigen Abkehr vom Handwerk, gleich unserer Religion zu einer Sonntagsangelegenheit herabsank, an Breite einbüßend, was sie an Höhe gewann. Im Osten aber ist die Kunst — wie die Religion — totalitär geblieben und herrscht über das Lebensinsgesamt, mit einer Allmacht, die als rituelle Konvention nicht das geringste Alltagsdetail, nicht die privateste Intimität ausspart. Die Mutter hat zum Tode ihres Kindes zu lächeln, um nicht ihre Umgebung zu betrüben. Der Samurai, der sich den Bauch aufschlitzt, die Witwe, die sich die Kehle durchschneidet — noch bis in die letzte Todes-zuckung hinein befolgen sie ein genau vorgeschriebenes Zeremoniell. Die Art, in der ein Mädchen die Blütenzweige schneidet und in die Vase ordnet, wie sie den Tee bereitet und darreicht, anders am Tage als zum Abend, dies alles sind Kunstfertigkeiten, die strengsten Vorschriften gehorchen. Von den Türen des Wohnraumes darf die eine nur von der Hausfrau, die andere nur von den Gästen benutzt werden, die in bestimmter Reihenfolge und mit genau festgelegten Gesten eintreten; auch die Sitzordnung ist nach Alter, Rang und Geschlecht streng geregelt. Das Ntz der vorgeprägten Regeln und Formeln des gesellschaftlichen Umgangs ist so fest und allumfassend, so dicht und eng gesponnen, daß es keine spontane Handlung und kaum eine freie Äußerung durchläßt. Und die Autorität dieser Konvention, die sich durch die Erziehung über die Gewöhnung selbst des Unbewußten bemächtigt, ist für den Höherstehenden strenger und straffer — freier als er ist der Niedrige, da sein geringer Stand ja geringeren Gefahren des Verstoßes und der Verunreinigung ausgesetzt ist. Freiheit also ist das Zeichen des Niedrigen! Aber dieser Mensch empfindet seine Gebundenheit nicht als Unfreiheit; da sie zu einem integnerenden Bestandteil seines Ich geworden ist, da er sich mit ihr identifiziert, empfindet er sie nicht als äußeren Zwang, er praktiziert sie aus einer tiefen Übereinstimmung zu seiner Gesellschaft, in der er seinen Halt und seine Geborgenheit findet, die ihn der individuellen Entscheidung enthebt. Denn diese Konvention ist ein in die schöne Erscheinung eingegangenes Kollektivgewissen.

Nicht so wir. Gegenüber den Tausenden von Regeln, welche die östliche Existenz bis in ihre verborgensten Falten hinein vorwegnehmend festlegen, hat das Christentum seinen Gläubigen nur die zehn Gebote in die Hand gedrückt, die zudem nur die elementarsten Lebensfragen beantworten. Und ebenso wenig haben uns unsere Wissenschaften und unsere Philosophie ein umfassendes Netz von Verhaltensregeln gegeben, das wir uns umlegen könnten. So läßt uns unsere Kultur in unserer Verantwortung mehr oder minder allein. Keine Konvention nimmt uns die eigene Entscheidung ab.

So hat den Platz, den im Osten die Konvention inne hat, bei uns das Gewissen auszufüllen — das persönliche Gewissen, von dessen schweren Gewicht uns niemand entlasten kann. Das Gewissen ist es, das die europäische Kultur allein zu einer individualistischen Kultur gemacht hat.

Was ist „Gewissen'?

Es war erstmals die griechische Antike, die in das Gewissen, in die geheimnisvolle innere Stimme des sokratischen Daimonion, die höchste kritische und richtende Instanz verlegte, womit sie sich von aller bisherigen Lebenspraxis absetzte. So wurde Europa mit dem persönlichen Gewissen geboren. Aeschylos erhob sodann im „Prometheus" das Gewissen als die höhere sittliche Gewalt sogar über die Götter, und die Sophisten stellten die Entscheidung über Recht und Unrecht, über Wahr und Falsch der persönlichen Überlegung anheim.

Dieser Anschauung vom Gewissen brauchte das Christentum keinen neuen Sinn zu geben. So heißt es beim Evangelisten Lukas: „Beurteilt aus euch selbst, was recht ist!“ Und Augustin findet, in den Spuren Platons, im Gewissen das Gedächtnis der uns eingeborenen überzeitlichen Normen, mehr noch, es ist ihm der Berührungspunkt zu Gott, der den Menschen erst zum „Menschen" machende Drang zur Vollkommenheit. Auch Bernhard von Clairvaux hält das persönliche Llrteil allein zuständig für die gute oder böse Handlung; dies Gewissen, das Luther sein großes Wort sprechen heißt: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders." Und indem die Reformation an Stelle der Beichte den persönlichen Dialog des Ichs mit Gott setzte, akzentuiert sich die neue Lehre zu einer Konfession des Gewissens. Sie übersetzt Kant nur in die Fachsprache der Philosophie, wenn er das „sittliche Gesetz in mir“ als das Apriori des Urteilens und Entscheidens definiert und den „autoritären Gewissensrichter eine ideale Person nennt, welche die Vernunft sich selber schafft“; auch er leitet die Personwerdung von der Ausreifung des Gewissens ab. Das hilft uns weiter. Wir müssen ja am Menschen auseinanderhalten, was er tatsächlich „ist“ und was er im besten Fall sein „könnte" und demzufolge sein sollte. Ist, was er sein könnte, dem Menschen auch nur als Möglichkeit gegeben, so ist es dennoch wirklich -genauer embryonale Wirklichkeit, im Aggregatzustand der bloßen Anlage steckengeblieben. Wird nun das, was ich im besten Fall sein kann, in mir Bewußtsein, so habe ich darin mein Gewissen gefunden. Das Gewissen ist also das Wissen des Selbst um seine beste Möglichkeit, das nun als Gesetzgeber, Befehlsstelle und Richter über dem en pirischen Ich amtet. Ich weiß durch das Gewissen, was und wie ich sein kann. Es ist der Spiegel, der dem Ich, wie es realiter „ist“, das Bild seines Ich reflektiert, wie es sein kann und also sein soll. Im Gewissen kommuniziert das „Ich bin“ mit seinem „Ich soll', von dem es A. ntrieb und Richtung, Sinn und Urteil mitgeteilt bekommt.

Das macht nicht das ganze Gewissen aus, es ist nur seine eine Seite. Über die andere — die nach oben gewendete — geben uns die alten Kirchenväter gültige Auskunft. Sie hat ein zeitgenössischer katholischer Theologe auf eine schöne Formel gebracht, die das Gewissen das „Einfallstor des göttlichen Willens" nennt, durch das die Ebenbildhaftigkeit Gottes in den Menschen einziehe. Wir können es auch das Ohr für die Transzendenz heißen, oder — um uns des Segens von Kant zu vergewissern — sagen: im Gewissen lokalisiert sich der Grenz-und Berührungspunkt zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven, zwischen der Individualität und dem Absoluten. Das Gewissen ist die Brücke, auf der sich das Ich und das Universum ihr Rendez-vous geben.

So spricht sich im Gewissen die Doppelpoligkeit des Menschen aus: er ist in einer Person „der" Mensch, die Ideen der Menschheit und des Menschentums bergend (und öfters verbergend), und „ein" Mensch, einmalig geprägt durch Geschlecht, Zeit und Raum, durch Umwelt und Geschichte; als Scharnier gleichsam hält das Gewissen diese „zwei Seelen“ zusammen. Und der Mensch heißt „Individuum“, wenn in ihm diese beiden Wesenskeime zu einem „Ungeteilten" und „Unteilbaren“ zusammenwachsen. Stößt er das Absolut-Objektivhafte aus sich heraus, das heißt schnürt er sein Gewissen ab, so versperrt er sich in sein nur-empirisches Ich und ist dann ohne „Welt“; er ist nun nur noch Subjekt, nicht aber Individuum, beziehungsloses Atom, nicht in molekularer Ordnung gehalten. Wer aber aus dem Gewissen lebt, der weitet sich vom „Ich“ zum „Menschen".

Was uns das Gewissen, ist dem Osten die Konvention. Eine Konvention freilich, die mehr ist als nur dies, nämlich Zeremoniell und Ritus, in die neben dem religiösen, moralischen und gesellschaftlichen auch das ästhetische Element eingeschmolzen ist. Diese Konvention ist in Wahrheit — Kunst, gelebte Kunst, wie es denn das Zeichen der östlichen Kunst ist, über ihre Sonderwelt hinauszugehen und das Leben selbst zu seinem Gegenstand zu machen. Nicht zufällig haben die fernöstlichen Sprachen kein eigenes Wort für Kunst (die Japaner bezeichnen sie mit einer Nachbildung von „fine arts“) — weil sie in ihren Völkern kein eigenes Dasein hat, weil sie das ganze Leben zum Thema hat, dessen künstlerische Gestaltung wir eben „Konvention“ heißen. So verwirklicht sich die asiatische Kultur als: Lebensform — im Sein, und erst in zweiter Linie im Machen. In ihrem Sinn hat Kultur, wer sie „ist", nicht wer Kultur „macht“. Solche Kultur kann sich nur in einer geschlossenen Gesellschaft der Konvention entfalten. Bei uns aber machen Männer nicht nur die Geschichte, sondern auch die Kultur; und der Motor, der sie treibt, das Gewissen, treibt zu Werk und Leistung. Kultur sprechen wir nicht so sehr dem zu, wer sie „ist“, sondern wer sie schafft. Vom Osten her sind wir daher nicht, sondern haben wir allenfalls Kultur, leben wir nicht Kultur, sondern leisten sie; sie ist uns eher Besitz denn Eigentum.

Von der Heimatlosigkeit der Kultur

Kultur machen, schaffen, leisten — das schlägt schließlich in Technik um. Ihre Mittel, aber auch unsere Entdecker-und Eroberergier ließen uns in die leeren Erdräume und die fremden Kulturen einbrechen. Was alles ich von ihnen sagte, hat heute nur noch halbe Gültigkeit — und daran sind wir schuld. Lind wenn sie uns heute hassen, dann nicht allein, weil wir sie uns unterworfen hatten, sondern mehr noch, weil wir sie zwangen, die Geborgenheit ihrer alten Kulturen zu verlassen und sich unserer Zivilisation anzupassen, da sie anders nicht sich von uns zu befreien vermochten. So haben sie für ihre Betreiung den schmerzhaften Preis der kulturellen Heimatlosigkeit zahlen müssen. Das macht sie sich selber, aber nicht weniger auch uns zu einer schweren Gefahr. Eine Gefahr, die sich nur geben wird, wenn sie kulturell wieder seßhaft werden.

Europa — daran ist nicht zu zweifeln — kann ihnen nicht zur Kultur-heimat werden. Kann es der bolschewistische Marxismus? Er ist für sie eine Verführung von gewaltiger Kraft. Zwar stehen seine Inhalte im äußersten Widerspruch zu den Formen ihrer alten Kulturen. Das schmerzt sie wenig, denn die alten Formen sind ohnehin zerbrochen. Nicht aber sind mit diesen ihre alten Kulturimpulse abgestorben, die nach neuen Gefäßen verlangen. Kann sie ihnen der Kommunismus geben? Er scheint ihnen nicht wenig zu bieten: er verheißt Erlösung, er gibt ein geschlossenes Denksystem, das das Dasein total umfaßt und keine Frage, kein Rätsel ungelöst zurückläßt, er errichtet eine hierarchische, vertikal geordnete Gesellschaft kolletivistischer Prägung, eingebettet in ein umfassendes Schema detaillierter Konventionen, welche die persönliche Initiative und die individuelle Entscheidung vorweg-nehmen — auf all dies hin sind sie ja angelegt! Und dazu ist der Sowjetunion noch eine vollkommene Adaptation der abendländischen Technik geglückt, die den Vorsprung des Westens einzuholen verspricht. Hat damit der Kommunismus nicht d i e Synthese zwischen West und Ost vollzogen, zwischen dem asiatischen Lebensgefühl und dem, was Europa stark gemacht? Eine Synthese ist er in der Tat, aber eine schlechte, da er über Bord wirft, was gut und groß war am Orient und am Okzident. Dies zu durchschauen, dazu bedarf es freilich der Zeit und der Erfahrung. Jedenfalls müssen wir uns darüber klar sein, daß nur ein Sozialismus — wie ihn Indien, Burma und Indonesien anpeilen — Asien vor dem Kommunismus retten kann. Eine liberaldemokratische Lösung westlichen Musters stellt sich ihnen nicht zur Alternative; dazu fehlt ihnen die Voraussetzung der persönlichen Lebensinitiative.

Dazu fehlt es aber auch an einer überzeugenden Beispielhaftigkeit Europas, das mit sich selbst zerfallen ist und durch die Expansion des Bolschewismus in seiner materiellen, geistigen und moralischen Existenz selber in Frage gestellt erscheint.

Es ist in Frage gestellt. Aber es steht uns nicht an, unsere Krise als beispiellos in unserer Geschichte anzusehen, als untrügliches Indiz des Endes. Europa wechselt nicht nur ständig zwischen Hoch und Tief, sondern auch in der Horizontalen zwischen Ausdehnung und Zusammen-pressung. Nicht erst heute steht es auf dem Spiel: die Einfälle der Perser, Hunnen, Araber, Avaren, Ungarn, Mongolen, Türken —, sie stellten uns nicht weniger in Frage als der Osten heute. Die Selbstzerfleischung Frankreichs und Englands im Hundertjährigen Krieg, dann im Dreißigjährigen Krieg Deutschlands — verfügte unsere Phantasie über die Kraft, sich diese Katastrophen in der ganzen Wucht ihres Grauens, ihrer Verzweiflung, ihrer scheinbaren Ausweglosigkeit vorzustellen, wir würden uns der müden Formel vom „Untergang des Abendlandes", nicht so eil-und leichtfertig überlassen. Freilich, daß es in neun Fällen gut ausging, hat noch keine Beweiskraft füi das zehnte Mal. Es kommt schon auch auf uns an.

In jedem Augenblick der Geschichte begegnen sich Zeugung, Geburt und Tod, Wachsen und Welken — zu jedem Zeitpunkt stehen sämtliche Lebensalter nebeneinander. Alle Rede vom „Untergang" aber auch vom „Fortschritt“ vergewaltigt die Wirklichkeit; sie greift aus ihrem Teppich einen Strang heraus, deklariert ihn als „die“ Zeit und unterschlägt dabei die Vielzahl der Fäden, die nach anderen Altersrichtungen ausein-anderstreben. Sie starrt nur auf den Greis oder nur auf den jungen Burschen, und so blickt sie nur auf das Vergehende oder nur auf das Kommende, die doch zusammen erst d i e Zeit ausmachen. D i e Zeit also ist zu allen Zeiten Gewinn und Verlust in einem, zugleich Rückschritt und Fortschritt. Denn man kann nicht weitergehen, ohne etwas zurückzulassen.

Europa auf ewiger Wanderschaft

Eine andere Bewegung ist hineinverstrickt. Europa ist -im Unterschied zu den anderen Kulturen — keine statische Raumgröße. Die Ursprünge hat es im kleinasiatischen Boden, im griechisch besiedelten Jonien und in der palästinensischen Christenheimat. Zuerst kreiste Europa die Ägäis ein, dann wanderte es westwärts und umschloß um den römischen Schwerpunkt das gesamte Mittelmeer, einschließlich Berichtigung „Die in der Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte" vom 29. 8. 1956 hinsichtlich der Jugendorganisation dj. 1. 11. aufgestellten Behauptungen über deren angeblich kommunistische Unterwanderung sind in allen Punkten unzutreffend. Wir sind das Opfer einer bedauerlichen Namensverwechslung geworden. Die Ausführungen in dem Artikel „Lenkung, Organisation und Methoden der kommunistischen Infiltration in der Bundesrepublik" auf S. 557, Spalte 2, treffen nicht auf die Jugendorganisation „dj. 1. 11.", sondern auf eine als „Deutscher Pfadfinderbund 1911" auftretende Organisation zu.

Wir geben dies nach Verständigung mit dj. 1. 11. hiermit bekannt und hoffen, daß der dj. 1. 11. durch unseren Irrtum kein Schaden entstanden ist."

Nordafrikas. Erst im Mittelalter bewegte es sich nach Norden und brachte das kulturelle mit dem geographischen Europa zur Deckung. Jede dieser Bewegungen verwandelte die europäische Gestalt in einem schmerzhaften Prozeß der Häutung.

In einer solchen Wende stehen wir heute. Abermals hat sich das Zentrum Europas auf die Wanderschaft begeben, und es hat den Anschein, als wolle es irgendwo inmitten des Atlantik vor Anker gehen. Von neuem treibt das „Stirb und Werde" sein altes Spiel. Wer nur den ersten Satzteil sieht, nennt „Untergang", was sich in der weiteren Perspektive als „Mutation“ darstellt. Jener Blickverengung erlag Spengler: er sah die Geschichte im biologischen Gleichnis des Individuums — ihr richtiges Spiegelbild hat sie in der Wellenfolge der Geschlechter, in der die generationsgeschiedenen Individuen einander ablösen.

Ein roter Faden schlingt sich in immer neuer Abwandlung durch die abendländische Geschichte: das ist der Kampf unseres Anspruchs auf persönliche Freiheit und Gleichheit, der uns heftiger und beharrlicher innewohnt, als irgend einem anderen Menschentum. Ihm entquillt die Kraft, an der jede physische oder ideelle Macht schließlich doch scheiterte, selbst wenn sie vorübergehend die Alleinherrschaft ergriffen hatte.

In der Freiheit wurzelt alles, was groß, gut und schön ist an unsrer Kultur, aber auch — in ihrem möglichen Mißbrauch — das Böse Europas. Ihre Preisgabe wäre dennoch unsere Selbstpreisgabe. Denn die Freiheit ist unser Schicksal. Wir haben uns ihrer oft zu entledigen gesucht, da sie ein drückendes Gewicht hat, und vom Zwang gesteuert zu werden, ist einfacher, bequemer, es entbindet von Mut und Initiative, von Verantwortung und Tragik. In dieser Trägheit allein haben die Diktatoren ihre Chance. Wir können daher dessen sicher sein: über die Zukunft Europas wird nicht an der Elbe entschieden, das Entscheidungsfeld liegt in unserm Herzen und in unserm Gewissen — in jedem

Politik und Zeitgeschichte

AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN:

Ossip K. Flechtheim: „Großrussischer Imperialismus und weltrevolutionärer Bolschewismus"

Jakob Hommes: „Koexistenz — philosophisch beleuchtet"

Danielle Hunebelle: „Ein neuer Führer für England"

Roland Klaus: „Nicht gestern, Freund, morgen!"

Wolfgang Leonhard: „Der 20. Parteitag in Moskau — eine Analyse" „Die Parteischulung der SED . (1945— 1956)"

Hans Rothfels: „Das Baltikum als Problem der internationalen Politik"

Otto Schiller: „Das Agrarproblem Asiens und der Kommunismus"

Franz Schnabel: „Das humanistische Bildungsgut im Wandel von Staat und Gesellschaft" • • • „Urkunden zur Judenpolitik des Dritten Reiches"

Fussnoten

Fußnoten

  1. Nadi Eugen Rosenstock.

  2. Eben diese Emanzipation der einzelnen Lebensbereiche hat aber auch das Christentum von Europa befreit. Denn erst die Trennung von der europäischen Kultur rechtfertigt seinen universalen Gültigkeitsanspruch über die geographischen Grenzen des Abendlandes hinaus und befähigt es, sich den fremden Kulturen zu legieren.

  3. Auch unsere These ist vom Laster der vergewaltigenden Vereinfachung nicht frei. Denn die Identität des Humanismus über unsere gesamte Geschichte hinweg beschränkt sich nicht auf seine funktionale Bestimmung, sie begründet sich auch substanziell: in seinem Wissen um die Hybris, in seinem unerschütterlichen Optimismus, daß die Menschennatur im Grunde gut sei und durch „Bildung" geläutert werden könne; und schließlich im Willen, das Leben mit der Vernunft zu steuern. Da aber diese Wesenszüge zu allen Zeiten Mangelware sind und zu jeder Zeit in der Minderheit verkehren, überschreitet die verallgemeinernde Definition des Humanismus als des „Anwalts des jeweils Fehlenden" doch wohl nicht die Grenze des Zulässigen.

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