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Der Friede der Welt | APuZ 52/1956 | bpb.de

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APuZ 52/1956 Der Friede der Welt Trost im Trostlosen Nicht gestern, Freund, morgen!

Der Friede der Welt

Reinhold Schneider

Mit freundlicher Genehmigung des Autoren wie des Verlages veröffentlichen wir im folgenden die Ansprache von Reinhold Schneider anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 23. September 1956 in Frankfurt/Main. Die Rede wurde zunächst im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Frankfurter Ausgabe, 2. Oktober 1956, 12. Jahrgang, Nr. 79, veröffentlicht.

Indem ich für die hohe Ehre danke, die mir der deutsche Buchhandel erweist, möchte ich an die Worte erinnern, die Albert Schweitzer an dieser Stelle vor fünf Jahren gesprochen hat. Er sagte, man könne diesen Preis nur als neue Verpflichtung entgegennehmen. Denn niemand werde von sich behaupten wollen, -daß er genug für den Frieden getan habe. Gewiß, es kann ja niemand genug für ihn tun. Und daß bis heute nicht genug für ihn geschehen ist — oder geschehen konnte —, kann niemand bestreiten. Wir leben ja nicht im Frieden, sondern im Waffenstillstand. Ich möchte damit die scharfe Unterscheidung anwenden, die Kant gelehrt hat in dem an lügenhaften Vertrags-oder Friedensschlüssen ertragreichen Jahre 1795. Ein Friedensschluß, erklärte er, bedeute, daß zwischen den Vertragschließenden alle Ursachen zu einem künftigen Kriege, auch die ihnen nicht bekannten, vernichtet seien. Von dieser Definition geleitet, kam er am Ende seiner Schrift zu dem Schluß, daß die Geschichte bisher keinen Friedensschluß gesehen habe, sondern eigentlich nur Waffenstillstände.

Der Zwang des Geschichtlichen

INHALT DIESER BEILAGE: Reinhold Schneider: „Der Friede der Welt" Manfred Hausmann: „Trost im Trostlosen" (S. 833) Roland Klaus: „Nicht gestern, Freund, morgen!" (S. 836)

Nun ist das im einzelnen nicht ganz richtig, wohl aber, was den Frieden der Welt angeht. Einzelne Kriegsherde sind ausgebrannt oder für immer gelöscht worden: die zwischen den Schweizer Kantonen, also Zürich und Luzern, zwischen Oldenburg und Bremen, Meiningen und Sachsen-Gotha, den Staaten der USA und südamerikanischen Republiken, den deutschen Bundesstaaten, zwischen England und Schottland, Dänemark und Schweden, Spanien und Portugal und hoffentlich deren noch weit mehr, für immer. Das Ergebnis solcher Friedensschlüsse aber, darin hat Kant recht, besteht zu einem Teil — die Schweiz ausgenommen — darin, daß sich die Mächte zu vergrößern suchten, um nicht behobene Hostilitäten auf ausgedehnteren Schlachtfeldern auszutragen. Ich will auf Urteile verzichten. Man kann in diesem Prozeß einen Zwang des Geschichtlichen sehen, der bisher unüberwindlich war. Ich möchte hier überhaupt nur sprechen von der furchtbaren, fast ausweg-losen Not, die die Sache des Friedens heute ihren Verfechtern bereitet, vorausgesetzt, daß sie diese Sache nicht als Devise, nicht in irgendeinem pragmatischen Sinne im Dienste einer Macht oder als fromme, unverbindliche Phrase nehmen, sondern todernst um ihrer selbst und der unteilbaren Welt willen, im Sinne Immanuel Kants und als eine Aufgabe, die, wie er sagt, „nach und nach aufgelöst“ werden muß. Wir sind ja in eine Phase eingetreten, in der Friede nur noch im Sinne Kants als Vernichtung jeder möglichen Kriegsursachen verstanden werden kann: die Gnade dieser Stunde ist, daß eine Bedrohung ohne Beispiel die Welt als ein Ganzes erweist und die Räume, in denen sich Kriege und die ihnen vorausgehenden Experimente abspielen, nicht mehr abgegrenzt werden können. Friede kann nur noch Friede der Welt und Ewiger Friede sein; ist er das nicht, nun so hat Kant, darin Leibniz folgend, sein ironisches Vorwort bereit von dem Schilde eines holländischen Gastwirts, auf dem, über dem Bilde eines Friedhofes, das Wort Ewiger Friede steht. Ausdrücklich meint der Königsberger Philosoph, der den modernen Ausrottungskrieg und den Todeskampf der Erdteile miteinander vorausgesehen hat, damit den „großen Kirchhof der Menschen-gattung“, um deren Bestand er also ernstlich in Sorge war, nachdem er die Entdeckung gewisser „höllischer Künste“ gemacht hatte, die sich nicht lange innerhalb der Grenze des Krieges halten, sondern in den Friedenszustand übergehen, und nachdem er sich auch über den Zusammenhang zwischen Krieg und Wirtschaft klargeworden war.

Es handelt sich also um das Existenzproblem der empirischen Welt. Nun ist dem Frieden mit nichts weniger gedient als mit gewissen, wenn auch wohlgemeinten pazifistischen Verheißungen und Programmen, die meinen oder vorgeben-, die Regierungen brauchten nur ihre Völker anzuhören und ihren Willen zu tun und die Waffen niederzulegen, dann werde ewiger Friede sein. Daneben aber gibt es einen starken, männlichen, wissenden, mit der Geschichte vertrauten Pazifismus, der eine Auszeichnung europäischer Tradition ist, von Erasmus und Sebastian Franck über Cruc, Penn, Sully, Leibniz, Kant, auch Saint-Pierre und Rousseau, und weiter zu Friedrich Wilhelm Förster, zu der Botschaft Hermann Hesses und dem Denken Leopold Zieglers und zu Albert Einstein, und es ist gar nicht einzusehen, warum Europa diese Überlieferung, die eine Ehre seiner Freiheit ist, verleugnen soll. Denn ohne sie erschiene Europa in der Entscheidung über eine brennende Menschheitsfrage nicht frei. Größere Bilder stehen dahinter: Dantes Weltmonarch, der Papa Angelicus des Joachim von Floris und der Spiritualen, die das mittelalterliche Reich krönende, seinen Sinn aussagende Friedensverkündung Kaiser Heinrichs III. im Münster zu Konstanz im Jahre 1043, sein Friedens-und Vergebungsgelöbnis vor dem Kreuze auf dem Felde der Ungarnschlacht an der Raab — er erschien barfuß als büßender Sieger —, endlich der tragische Friedensstaat des Gotenbischofs Ulfilas, der sich nördlich der unteren Donau immerhin erstaunliche Zeit gehalten hat. '

Wir sitzen neben dem verunglückten Wagen

Wer sich ernstlich mit den Taten und Lehren solcher Männer und ihren Schriften befaßt, der wird kaum einem den Vorwurf machen können, daß er weit-und geschichtsfremd gewesen sei; nicht einmal ganz wird es für den vielverspotteten Abbe Saint-Pierre zutreffen, der zum mindesten das Verdienst hat, das Problem im achtzehnten Jahrhundert neu aufgeworfen und Rousseau und Kant zur Äußerung herausgefordert zu haben. (Wer den Frieden will in der Geschichtswelt, kann dem Vorwurf der Torheit nicht entgehn. Es ist fast unvermeidlich, daß er in Gesellschaft von Narren gerät. Aber besser auf einem Narrenschiff reisen als auf einem Flugzeugträger.) Nun, der Abbe Saint-Pierre, immerhin Beichtvater des Herzogs von Orleans, Mitglied der Akademie, aus der ihn erst der Zorn Ludwigs XIV. hinausjagte, Teilnehmer am Kongreß zu Utrecht, hatte, wie Kurt von Raumer in seinem wichtigen Buch über den Ewigen Frieden erzählt, um das Jahr 1708 auf einer Reise in Frankreich einen Wagenunfall. Die Achse war gebrochen, und er konnte sich an die Straße setzen und warten und nachdenken: Warum ist die Achse gebrochen? Weil die Straße miserabel ist. Warum ist die Straße miserabel? Weil der König Krieg führt.

Das ist doch eine symbolische Situation. Wir sitzen neben dem verunglückten Wagen. Denken wir wirklich nach? Wir reparieren zu schnell. Lind dann rasen wir weiter, auf der miserablen Straße mit der geflickten Achse. Wir müssen uns klar sein, daß der Wagen nur noch einmal verunglücken kann. Und dann tödlich. Eine Aussicht auf den dritten Einfall besteht kaum.

Nun hat es mit den genannten Zeugen des Friedens eine eigentümliche Bewandtnis: Dante etwa forderte Kaiser Heinrich VII. auf, erst einmal Florenz zu bestrafen, bevor er die Weltmonarchie vorbereite, Leibniz suchte die kriegerische Kraft europäischer Völker nach außen zu wenden, nach Ägypten oder gegen die Türken, nach Nordamerika, Penn verdankte seine Kolonie den kriegerischen Verdiensten seines Vaters, des Admirals, der die Holländer schlug. Kant bestritt es keineswegs, daß der Krieg an der Ausbreitung der Kultur einen bedeutenden Anteil hat; ja, er gestand, immer in seinem leise ironischen Ton, der Krieg scheine auf die menschliche Natur gepfropft zu sein und sogar als etwas Edles. Ein so radikaler Antimilitarist wie Albert Einstein antwortete einem ihn befragenden jungen belgischen Pazifisten, es verstehe sich von selbst, daß sie ihr Land, wenn es überfallen werde, verteidigen müßten. Tolstoi, den wir in diesem Zusammenhang nicht vergessen dürfen, legte einem jungen Pilger das Ja oder Nein auf sein eigenes Gewissen. Dostojewskij hat in der ganzen Sache vielleicht das tiefste Wort gesprochen, nämlich, daß nicht der sich als stark erweise, der Blut vergieße, sondern der, dessen Blut vergossen werde. Das sei das Gesetz des Blutes auf Erden. Aber die ganze Wertwelt Dostojewskijs, eine radikalere LImwertung als die von Nietzsche erstrebte, ist, nach allem Anschein, entschwunden, jedenfalls ohne jegliche erkennbare Auswirkung; und seine Prophetie schwebt in den Wolken. Aber auch der Prophet des russischen „neuen Worts" an die Welt hat den russisch-türkischen Krieg des Jahres 1877 als eine heilige Sache leidenschaftlich bejaht. Er konnte es Tolstoi nicht verzeihen, daß er. diesen Krieg, von dem er selber die Wiedergeburt des Slawentums erwartete, verwarf, weil er nicht eine Sache des russischen Volkes sei. Doch auch Tolstoi stellte den echten Soldaten, den er ja kannte, über den Heuchler und ließ das Nein an der Waffe nur gelten als personale Fatalität.

Krieg und Frieden sind auf eine wahrhaft tragische Weise ineinander verschlungen, und ohne den Einsatz für den Krieg ist der Gang menschlichen Forschens und Denkens unbegreiflich. Ich möchte erinnern an die Statue der heiligen Felicitas in Lüdinghausen: als Beschützerin ihrer sieben Söhne stützt sie sich mit der Rechten auf das Schwert; in der Linken hält sie den Palmzweig. Auch dient niemand dem Frieden durch Beleidigung oder Herabsetzung des Soldaten. Ich liebe und verehre die großen Feldherren, die ihren Namen wirklich verdienten; den portugiesischen Kronfeldherrn Nun’Alvares, der seine Tradition behauptete und dann, nachdem seine Tat getan war, ein Kloster baute in Lissabon; und ebenso teuer ist mir spanischer Rittersinn und Wagemut, sind mir die schwedischen Feldherrnkönige und Marschälle, Turenne, Prinz Eugen, Clusewitz, der Graf zur Lippe, Friedrich, Scharnhorst, Radetzky, Molt-ke, Schliessen. Höhere Ehre vielleicht gebührt dem Namenlosen, dem unbekannten Soldaten, der die Schuld dieser Welt mitgetragen und Blut vergossen hat und dessen Blut wieder vergossen worden ist: das Opfer der Geschichte, das keinen Ausweg fand. Mit dem Generaloberst Beck aber erscheint eine neue Gestalt: der Feldherr, von dem ein unverantwortbarer Befehl verlangt wird; dem sein Gewissen befiehlt, auch die Ehre zu opfern. Er steht nicht allein, sondern für eine Gruppe edler Männer, die in den bisher gültig gewesenen Ehrbegriffen erzogen worden waren. In einer ganz bestimmten Situation mußten sie erkennen, daß die Pflicht nicht mehr heilig, der Sieg nicht mehr Ruhm, der Befehl nicht mehr gültig war; daß die Darstellung äußerster Freiheit von ihnen gefordert wurde. Die höchste Freiheit des Menschen aber ist die: sich zu opfern. Wohl denen, die glaubten! Sie gehorchten verheißungsvoller Notwendigkeit. Sollte man aber die nicht noch mehr bewundern, die nicht glaubten; die nur das Gesetz hatten in ihrer Brust, das Preußentum Immanuel Kants?

Wer wollte denn ernstlich griechische Kultur verstehen können ohne Angriff und Abwehr der Perser und die heillosen Bürgerkriege; wer die 'Römer unter der Verleugnung Cäsars, des Pompejus, des ungeheuren Kampfes mit östlichen Völkern, der unserer Kultur Thema und Inhalt gegeben hat bis zu diesem Tag; wer sollte wünschen, daß Karl Martell und Karl der Große und Otto L, Heinrich der Fromme nicht geboren worden, daß Wien nicht verteidigt worden wäre? Wer verzichtet auf die Ära Ludwigs XIV., den ehernen und zugleich betörenden Versklang ihrer Tragiker, dessen Resonanz Ludwigs Kriege sind, wer auf die Tragödie zwischen Kaiser und Papst, in der letzte Menschheitsfragen dramatisch gegeneinanderstanden, — wer auf den Hohenfriedberger Marsch?

Zu unserem großen Unglück gehören die terribles simplificateurs.

Europa verdankt seinen Feinden fast ebensoviel als eigener Kraft. Was die Türken wider ihren Willen zur Erweckung und Festigung europäischen Bewußtseins und Gemeinschaftsgefühls getan haben, ist kaum zu ermessen. Mit den Arabern steht es kaum anders. Übrigens verhält es sich mit dem Schriftsteller an seiner bescheidenen Stelle ähnlich, sofern er, was ja nicht immer der Fall ist, sich als soziale Existenz empfindet und der Öffentlichkeit gegenüber ein Gewissen hat: er verdankt nächst seinen Freunden seinen Feinden das Beste, und ich möchte nicht vergessen, auch diesen Dank abzustatten.

Mit all dem möchte ich sagen, daß der Verfechter des Friedens einer Geschichte, einer Kultur, einer Leistung gegenübersteht, die ihm durchaus widersprechen. Die zum Frieden strebende Tradition, von der ich zuerst sprach, und die kriegerische sind gar nicht auseinanderzuwirren. Aus dieser Verstrickung folgt namenloses Leid, und dennoch Größe und eben: Europa: das heißt, die Welt, die wir lieben, das Klima, außerhalb dessen wir nicht atmen können. In Europa stellte sich bisher dar: der Mensch zwischen unvereinbaren Forderungen, der Mensch, der sich immerfort anficht und zerstört und in dieser Zerstörung wissender, böser, verwegener, europäischer wird: ein tragisches Phänomen.

Es ist durchaus zu verstehen, daß sich der Lebensinhalt der heute lebenden europäischen Generation auf die Spannung zwischen Westen und Osten zusammenzieht: das ist ein uraltes Motiv, und vor hundert Jahren etwa hat ihm Mommsen prophezeit, daß es ebensoviel Zukunft vor sich habe wie hinter sich Vergangenheit. Europa aber wird sich, wie ein jeder Kulturzusammenhang, eine jede große geistig-geschichtliche Form, nur behaupten aus dem Ganzen seines Wesens, seiner Existenz Die zweite Komponente ist im Augenblick fast aus unserem Bewußtsein geschwunden; ich meine die Spannung zwischen Norden und Süden, die sich in den Zügen Karls des Großen nach Katalonien, der Normannen nach Byzanz und Sizilien, im Kampfe zwischen Kaiser und Papst ausgetragen hat. Innozenz III. erbebte noch vor dem Sturm aus Mitternacht, der Macht Heinrichs VI., und Gustav Adolf war der selbst den Papst schreckende Löwe aus Mitternacht. Die Mittelmeerkultur fühlte sich vom Norden wie von der Vernichtung bedroht. Natürlich haben wir es in diesem Zusammenhang nicht mehr mit kriegerisdren Aufgaben zu tun; aber etwas ist doch geblieben: Kant und Thomas von Aquin oder gar Bonaventura, Kierkegaard und die spanische Mystik, Wittenberg und Rom und Genf. Das ist ein unschätzbares, unvergängliches Erbe. Europa besteht nicht allein in der Defension, in der Abwehr des Ostens; es trägt die Fülle fruchtbarer Konflikte in sich selbst; und wenn es dieser nicht bewußt bleibt, wird es die Kraft seiner Existenz in der Geschichte nicht vollziehn. Und wie soll es sich dann behaupten? Man kann Europa ganz anders sehn. Idi denke nicht daran, andere Perspektiven zu bestreiten. Für mich, von dem Sie ja wohl nicht mehr als ein Bekenntnis erwarten, hat es die Gestalt des Kreuzes.

Die zwei Strömungen aber, geistiger, geschichtlicher Kräfte — nicht wir haben das so gefügt —, kreuzen sich in Deutschland; man könnte, wenn man es wagen wollte, einen geographischen Ort suchen, sagen: in der Gegend der Wartburg, wo die Heilige aus Ungarn ihr verzehrendes Liebeswerk übte und Martin Luther sich dem Teufel stellte und dem deutschen Wort. Nicht weit davon, in Hochheim bei Gotha, ist Meister Eckhart geboren worden, und von Eisenach und Weimar brauche ich nicht zu sprechen. Dieser immense Gehalt muß sich doch noch auf irgendeine Weise existentiell in der Geschichte vollziehen lassen — sonst ist ja die Felge aus dem Rad geschleudert und die Achse gebrochen. Mit nationalen Prätentionen hat das nichts zu tun. Es sind nur noch existentielle. Wenn man von einem Volke einen neuen Einsatz verlangt, so muß man ihm ein Bild geben, das es führt, was auch vorausgegangen sein mag. Die meisten westeuropäischen Völker haben noch solche Bilder kontinuierender Geschichte. Wie weit sie berechtigt sind, kann und darf ich nicht entscheiden. Das deutsche Volk aber hat, so weit ich sehe, und es ist ja sehr schwer. Zerrissenes zu übersehen, ein solches Bild nicht mehr. Was soll denn nun den schlichten Mann, der Blut vergießt und dessen Blut vergossen werden wird, begeistern? Für ihn ist doch Europa, das wir inständig ersehnen, noch gar nicht da.

Ein Schriftsteller kann sich nicht damit abfinden, daß er nur für einen Teil seines Volkes, die Hälfte oder zwei Drittel, schreiben kann. Natürlich denkt er nicht daran, daß alle ihn lesen. Aber er möchte doch aus allen den und jenen erreichen, dem er vielleicht etwas sagen kann. Das Gebiet der Sprache ist doch für ihn geschlossen: unteilbar. Lind nun bemerkt er, daß die Sprache sich teilt; daß diesseits und jenseits etwa die Wörter: Person, Freiheit, Staat, Macht, Volk, Arbeiter und Arbeit, Glaube, Geschichte, Kunst, Forschung, Erziehung, Freude, Natur, Spiel, Erholung, deutsch, europäisch wenigstens in offiziellen Verlautbarungen eine widerspruchsvolle Bedeutung erlangen. Lind unabwendbar — wir haben das ja schon erlebt — kommen die von den Machthabern oder ihren Beauftragten geprägten Münzen in Umlauf: es ereignet sich eine Entfremdung, die unannehmbar bleibt. LInter der väterlichen Aufsicht gewisser deutscher und nicht-deutscher Stellen, die um meine geistige Selbständigkeit besorgt waren, habe ich mir erlaubt, eine Zeitlang in östlichen Zeitungen die Akzentverschiebung zu verfolgen, und zwar mit tiefem Kummer. Was aber ist schmerzlicher, als an einem Herbstabend — wenn man etwa aus den glänzenden nordischen Hauptstädten kommt — im kalten regenschweren Nebel durch das Brandenburger Tor zu fahren, von dem die andere Fahne weht, über den Platz, wo das Schloß stand und unter dem noch immer, wer weiß wo, die alten Kurfürsten begraben liegen, in fremdes Land, das doch Heimat ist!

Eine Macht wie diejenige, in der sich heute, in einem gewissen Grade, die Ideen Feuerbachs, des Karl Marx, Hegels darstellen, manifestiert sich nicht ohne geschichtliche Berufung und Legitimation, ganz abgesehen davon, daß sie von uns in die europäische Geschichte zurückgerufen worden ist. Ich meine nicht die sittliche Legitimation. Ich trenne diese so scharf von der geschichtlich-politischen, wie Kant sie getrennt hat, der ausdrücklich forderte, daß der Staat „moralische Person“ sei und als moralischer Politiker, nicht politischer Moralist, unnachgeblich verlangte, daß das Recht des Menschen heilig gehalten und alle Politik vor ihm die Knie beuge. Auch wird keine Idee so in der Geschichte vollzogen, wie sie gedacht wurde, und keiner der genannten drei für die heutige Lage mitverantwortlichen deutschen Denker, unter denen Hegel einen ganz eigenen hohen, selten verstandenen Rang hat, würde sich mit der gegenwärtigen Gestalt seiner Auswirkung einverstanden erklären. Ich möchte mich genau ausdrücken: die Legitimation, die Berufung scheint mir in der Durchführung der Technisierung und der mit ihr zusammenhängenden Regelung der Arbeits-und Lebensverhältnisse zu liegen, die, wie ich glaube, unumgänglich war und von einem jeden anderen System auch vollzogen werden mußte. Das hier Erstrebte, Geleistete oder Erwartete kann nicht ignoriert werden. Es ist Weltgeschichte und ist wahrscheinlich die Grundlage bisheriger Konstanz.

Aber unsere Vorstellung von Freiheit, vom Sinn des Lebens ist eine völlig entgegengesetzte. Lind die Frage ist also nun: wie die beiden konträren Machtgestalten sich einigen können über den Frieden der Welt. Die Einigung ist in der gegenwärtigen Phase in hohem Grade unwahrscheinlich, und es wäre ganz verkehrt, sie mit heiterer Zuversicht zu erwarten. Wenn wir uns aber hier versammelt haben, so doch wohl, um den Glauben an die Macht geistiger Veränderungen zu be-zeugen, die Johann Gottfried Herder aus Mehrungen in Ostpreußen -als führende Kraft der Geschichte erkannt hat.

Führende Geistesmacht dieser Epoche — die Naturwissenschaft

Herder? Geschichtsbetrachtung? Philosophie? Aber die Führung liegt ja gar nicht mehr in solchen Händen. Die führende Geistesmacht dieser Epoche ist die Naturwissenschaft. Sie entscheidet nicht allein die künftigen Lebensformen, sondern auch das Denken, und um dieselben Dimensionen, um die sich unsere Vorstellung des Kosmos von der des Mittelalters entfernt hat, wurden auch die Möglichkeiten geschichtlich-politischen Handelns in neuen Raum, ins Unbekannte versetzt. Nun aber ist es eine Fiktion, daß die im höchsten Grad bewundernswerte Leistung der Naturwissenschaft, die eigentlich geniale, in der Sternstunde stehende dieser Jahrzehnte, eine freie sei, also wirklich führen könne: frei ist nur das sittliche Bewußtsein. Und der Preis dieser Freiheit ist immer der Tod, die Bereitschaft dazu. Die Proteste der Forscher, ihre Angst und ihre Warnungen vor den Folgen ihrer Entdeckungen sind ergreifend und gewiß durchaus ernst gemeint. Es fehlt ihnen aber in gleichem Maße die Durchschlagskraft wie den Warnungen der Kirche: weil nämlich die Bereitschaft oder auch nur die Möglichkeit unbedingten Neins in ihnen nicht enthalten ist. Sie liegen im Kraftfeld moderner Staatsmacht, weil ohne diese moderne Forschung gar nicht durchgeführt werden kann. Das ist keine Anschuldigung, zu der ich in keiner Weise berechtigt wäre, sondern nur Bezeichnung eines tragischen Zusammenhangs. Die Forscher, die, fast unausbleiblich, auch Konstrukteure sind, tragen nur die Kontinuität der Geistesgeschichte aus. Lind es ist mit Recht gefragt worden, ob und wo die Forschung auf ihrem Heranzug von der Antike her denn hätte haltmachen sollen. Niemand ist ganz frei. Auch die Forscher sind es wahrlich nicht. Das auszusprechen, den Mut hatte Albert Einstein, im Jahre 1950, in einer nach Lucca gerichteten Botschaft, die „Zur Erniedrigung des wissenschaftlichen Menschen" überschrieben ist. Er gesteht darin, daß der moderne Forscher selber — ich zitiere — „die Mittel zu seiner änderen Versklavung und zu seiner Verniditung von innen her geschaffen hat“. Er muß sich — wörtlich — „von den Trägern der politischen Macht einen Maulkorb anhäHgen lassen“. „Er erniedrigt sidt“, wörtlich, „sogar soweit, daß er auf Befehl die Mittel für die allgeuieine Verniditung der Menschheit weiter zu vervollkotumnen hilft.“ Er wird gezwungen, als Soldat sein eigenes Leben zu opfern und fremdes zu zerstören, auch — wörtlich — „wenn er von der Sinnlosigkeit solchen Opfers überzeugt ist“. Dieser Feststellung setzt der große Forscher und Mensch das Bekenntnis entgegen, daß man einen innerlich freien und gewissenhaften Menschen zwar vernichten, aber nicht zum Sklaven machen kann; daß doch Aussicht ist, die gegenwärtige gefahrvolle internationale Situation wesentlich zu verbessern: kraft unvernichtbarer sittlicher Freiheit. Aber der hier von einem Berufenen und Bewährten aufgedeckte Sachverhalt, der durchaus einleuchtet', sollte inständig beherzigt werden: er bedeutet eine nicht unerhebliche Einschränkung aller Erklärungen der Sachverständigen über die Wirkung moderner Waffen, welche Erklärungen einmal aufwühlen, dann wieder einlullen, meisterlich stilisiert, fast von kurialer Vollkommenheit, was die Kunst gleichzeitigen Gebens und Nehmens angeht. Aber dahinter ist entsetzliche Not: die des zwischen Ja und Nein gekreuzigten Menschen unserer Tage, unseres Westens, des Menschen, der tut und tun muß, was er nicht will und was doch nicht wegzudenken ist, dessen Wertwelt — zu seiner Ehre! — immerfort sein Gewissen beunruhigt.

Die These aber, daß der Feind mit der böseren Waffe niedergehalten werden könne oder müsse, ist entweder Wahn oder Unaufrichtigkeit. Denn die Welt ist ja längst ein Ganzes geworden; Erfindungen teilen sich lautlos mit, und namentlich die Gedanken des Teufels sind kaum mehr auf die ihnen von Verrätern oder Spionen gebotene Reisevermittlung angewiesen. Sie laufen ungehemmt um die Welt.

Freiheit oder Leben?

Geschichtlichen Katastrophen pflegen Devisen voranzulaufen oder vorangeschickt zu werden, die die Situation entstellen, indem sie diese vereinfachen. Eine solche ist die Alternative: Freiheit oder Leben? Ein jeder Mündige hat das Recht, seinen Tod der Versklavung, einer ungemäßen, unwürdigen Lebensweise vorzuziehen — sofern er in dieser Sache mit seinem Gott in Frieden ist; ein jeder das Recht, sein Leben für die Verteidigung der Seinen, der geliebten Heimat, der Kultur, der er verdankt, was er ist, hinzugeben. Diese Alternativen beleben aber nur den Vordergrund der Bühne, auf der das Drama dieser Zeit spielt. Der amerikanische General James Gavin hatte das Verantwortungsbewußtsein und den Freimut, auf eine Frage zu erklären, daß in einem totalen Atomkrieg mit mehreren hundert Millionen Toten zu rechnen sei. Wo? Nun, das wird in einem gewissen Grade die Windrichtung entscheiden. Dort eben, wohin der Wind weht. Das würde doch wenigstens den Tod von hundert Millionen Kindern bedeuten, die nach Freiheit und Unfreiheit nicht gefragt werden können. Und diese entsetzliche Last bedrückt heute diejenigen, die sich in Wahrheit verantwortlich fühlen und mit Geschichte vertraut sind; das heißt, die wissen, daß ein Staat, eine Ideologie, die am äußersten Rande um ihre Existenz kämpfen, mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit auf'die letzte sie vielleicht noch verteidigende Waffe verzichten werden. Der Herr der zwölf Jahre hätte es gewiß nicht getan.

Natürlich geht es in der ganzen Sache nicht um das Getötetwerden, sondern um das Töten. Und der Fall ist doch immerhin denkbar, daß eine Frau, eine Mutter weniger zittert vor dem Ausbleiben des Mannes, des Sohnes, -als vor seiner Heimkehr mit vom Gebrauch der modernen Waffen befleckter Hand, zerstörter Seele, zerrüttetem Geist. Der Mensch, der auf diese Weise tötet, zerstört sich selbst. Die Welt, wie wir sie vor uns sehen, ihre Arbeit, ihre Tendenz scheint bereits einen Befehl, einen Gehorsam vorauszusetzen, die nicht verantwortbar sind und also mit unserer überkommenen Vorstellung vom Soldaten und seiner Ehre nichts mehr zu tun haben. Es kann ja sein, daß künftige Abmachungen diese Tatsache in Frage stellen. Heute kann davon keine Rede sein.

Es wäre einfach, wenn wir zwischen Freiheit und Leben zu entscheiden hätten. Aber es ist nicht so. Ich selber — nehmen Sie das bitte nicht als subjektive Anmaßung, sondern als bescheidenen Versuch, Irrtümern und Mißdeutungen zu begegnen, die die Folge oberflächlicher Beschäftigung und Kenntnis sind —, ich wäre sehr froh, wenn ich Pazifist sein könnte. Aber ich bin das nicht und habe das, ich weiß nicht, wie oft erklärt: für mich spielt alles Geschichtliche unter einem Gewitterhimmel, und die furchtbaren Worte, die im Evangelium von den letzten Dingen dieser Welt gesagt sind, dröhnen mir in den Ohren. Wie inständig wünsche ich, es werde nicht so kommen! Aber es ist eben gesagt — und wir haben die Welt nicht gemacht —, und in der Erschütterung darüber möchte ich gerne einen Ort halten in der Nähe der Gefolgschaft des heiligen Toren von Assisi, der bekanntlich auch den ihm sich anschließenden Laien Eid und Waffe verboten hat. Das ist eine rein personale Entscheidung, aus der nichts für meine Mitmenschen folgen kann. Aber ich neige mich in dieser Frage der demütigsten und — für mich — zugleich größten Autorität der den Aposteln folgenden Zeit, sie steht mir höher als alle Abschwächungen, die ein so bedenklicher Radikalismus später erfahren hat; höher als die ihr widersprechende herrschende Lehre und Moraltheologie, von der es ein jeder, der Geschichte und die Stellung des repräsentativen Christentums in ihr kennt, gar nicht erwarten und fordern kann, daß sie sich dem Heiligen von Assisi anschließen werden. Denn die Welt, wie sie ist, würde darauf antworten mit erbarmungslosem Haß und zugleich der Vernichtung aller religiösen Repräsentation und Darstellung, auch der Liebeswerke, weil nämlich damit ihrem ganzen Gefüge, dem politischen wie dem wirtschaftlichen, ein unerträgliches Nein entgegengesetzt würde.

Aber auch wer sich in diesem Sinne entschließt, kann sich in keiner Weise entlastet fühlen. Er lebt ja doch in einem Staatsverbande, der anders gesonnen ist und vielleicht sein muß und dessen Schutz er genießt. Er ist immer Bruder seiner Brüder und immer unter der Schuld seiner Welt und Zeit.

Auf dem Radarschirm in der Kapitänskajüte ist deutlich der Umriß des Todesschiffes zu sehen, das von seinem Kurs nicht abweichen wird. Biegen wir aus? Was soll denn nun geschehen und getan werden? Es wüßte geschehen, was noch niemals geschehen ist, wenn die Welt, die wir kennen und lieben, gerettet werden soll. Das heißt: es müßte zum ersten Male seit Anfang Friede geschlossen werden im Sinne Kants. Aber Kant machte eine Vorbedingung, nämlich die, daß mitten im Kriege ein Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes übriggeblieben sein müsse; sonst könne kein Friede geschlossen werden, und die Feindseligkeit müsse in Ausrottungskrieg umschlagen.

Nun, dann also Waffenstillstand. Der läßt doch noch eine Hoffnung. Wir können ja noch arbeiten im Vertrauen auf die Macht geistiger Veränderungen. Solche Veränderungen realisieren sich in der Geschichte in Existenzen, als Menschen, die Gedanken des Friedens leben, erleiden, an ihnen scheitern. Kaiser Heinrich III., von Schlachtfeld zu Schlachtfeld getrieben, bekannte den Frieden vor dem Kreuz. Das heißt: ohne Opfer ist kein Friede. Und das echte Opfer allein würde dafür zeugen und die Friedenslüge vernichten, oder den Willen zum Frieden glaubwürdig machen. Wir können in dieser unserer Zeit noch Natur empfinden. Ob das künftigen Geschlechtern beschieden oder zugänglich sein wird, weiß ich nicht. Wir können noch eine Mondnacht an den unberührten Schilf-ufern des Mälar erleben oder über die im Sonnendunst schwelende Stille finnischer Kiefernwälder fliegen; uns einen Abend gönnen in einem rebenüberdachten Garten des nördlichen Portugal beim Rascheln der Palmen und sanftmütigen Schritt der hoch bejochten Ochsen oder einen Morgen im Angesichte des Schwarzwalds, wenn die Bauern die Ställe offenhalten und der Hauch durch die Täler herunterweht in die Stadt: auch das steht auf dem Spiele mit allem, was lebt und webt, mit der schuldlosen Kreatur. Und also, in Gottes Namen, wollen wir versuchen, den Frieden zu tun. Kein Schriftsteller, der seine Sache ernst nimmt, wird sich einbilden, daß er Staaten und Völkern etwas vorschreiben kann. Auch weiß er wohl, daß für die Lenker der Staaten und Völker Gesetze gelten, von denen er frei ist: er nun wirklich, in seiner geistigen Entscheidung, nicht in seiner Beziehung zur Öffentlichkeit, eine einigermaßen freie Existenz. Als solcher kann, möchte er nur, aus der ganzen Kraft seines Herzens ein Zeichen sein, und zwar der Liebe: gegen alle Wahrscheinlichkeit muß an der Stelle, wo wir angelangt sind, eine Hoffnung sich erheben, ein Bemühen entfacht werden, die den heute gedachten, vollzogenen Gedanken des Todes entgegen sind. Alle Katastrophen der Geschichte haben sich im Geistigen und Sittlichen ereignet, ehe sie sich in materiellen Machtkämpfen dargestellt haben. Sie sind also angewiesen auf ein bestimmtes Klima des Denkens, Glaubens, Wünschens; wo sie dieses nicht spüren, brechen'sie nicht vor. Um dieses Klima geht es in dieser Stunde unheimlichen Waffenstillstandes.. Wir sollten der drohenden Katastrophe dieses Klima verweigern. Wer seiner Sache sicher ist, kann opfern, ausharren, hoffen. Geschichtliche Berufungen, Legitimationen wechseln, zerfallen, wenn ihr Ziel erreicht ist; nicht das Sittliche, das personaler Freiheit anvertraut ist. Es könnte eine Gnade sein, daß uns Deutschen, uns allein, die nationale Geschichte in Scherben vor den Füßen liegt: vielleicht sollen wir anfangen in der Richtung auf einen neuen Gedanken, in der Richtung auf das Leben der Welt. Wer erwartet, daß sich die Geschichtswelt mit einem Schlage

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