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Die Revolution in Ungarn | APuZ 1/1957 | bpb.de

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APuZ 1/1957 Die Revolution in Ungarn

Die Revolution in Ungarn

Joseph Scholmer

Wir veröffentlichen heute eine Stellungnahme von Joseph Scholmer, dem Verfasser des bekannten, in mehrere Sprachen übersetzten Tatsachenberichts „Die Toten kehren zurück", über die Ereignisse in Ungarn. Der hervorragende Kenner innersowjetischer Verhältnisse gibt hier seine rein persönliche Auffassung wieder.

Rußland hat mir einen Gegner: die explosive Macht der demokratischen Ideen und den der Menschheit angeborenen Freiheitsdrang.

Karl Marx in “ New York Tribune“ vom 12. 4. 18 53 Einführung Die ungarische Revolution von 1956 dauerte nur dreizehn Tage. Sie wurde von der jungen, im Kommunismus geformten Generation begonnen und entzündete sich am ersten, vergeblichen Versuch der militärischen Unterdrückung. Nach wenigen Tagen sprengte sie die zunächst nationalkommunistische Zielsetzung. Dann stellte sie echte demokratische Forderungen, als wichtigste die Unabhängigkeit Ungarns, die Zulassung aller Parteien entsprechend dem Willen des Volkes, mit freien und geheimen Wahlen. Ein Sieg dieser Revolution hätte die Fundamente des sowjetischen Imperiums erschüttert. In der Frühe des 4. November begannen starke sowjetische Panzerverbände einen Groß-angriff, um die Revolution im Blut zu ersticken.

Wenige Tage nur umschließen Größe und Zusammenbruch einer Erhebung, würdig der heroischen Traditionen Kossuths, erster Versuch eines von Moskau unterjochten Volkes, die Fesseln des Kommunismus zu sprengen und in Freiheit sein politisches, wirtschaftliches und soziales Schicksal zu bestimmen. Die Revolution wurde niedergeschlagen, aber sie hat die innere Brüchigkeit des Kommunismus drastisch offenbart. Die starken, bisher verborgenen Kräfte der Opposition sind sichtbar geworden. Lind obwohl sie militärisch niedergeworfen sind, werden sie nicht aufhören, auf das System des Ostblocks einzuwirken.

Die ungarische Revolution, gegen den gleichen Machtapparat gerichtet, der seit mehr als einem Jahrzehnt auch den Westen bedroht, hat in den Völkern der freien Welt leidenschaftliche Anteilnahme geweckt. Sie hat außerdem von der Dramatik des Geschehens zunächst überlagerte grundsätzliche Probleme aufgeworfen: Welche Ursachen hat die Revolution? Welche Kräfte haben sie ausgelöst und vorangetrieben? Vollzog sie sich im Rahmen einer „Gesetzmäßigkeit“? Welche Konsequenzen ergeben sich für die Zukunft?

Die Klassengesellschaft des Ostblocks

Inhalt Einführung Die Klassengesellschaft des Ostblocks Die besonderen Bedingungen in Ungarn Die Jugend des Kommunismus Die Arbeiterschaft Die Geheimpolizei Die Armee Chronik der 13 Tage Die Moskauer Deklaration des 30. Oktober Vier Tage Demokratie Die Reaktion Titos Nehru und Ungarn Das polnische Volk sieht auf Ungarn Polen und Ungarn — ein Vergleich Suslow über die ungarische Revolution Arbeiterräte gegen den Kommunismus Unruhe unter den sowjetischen Studenten Die Sowjetzone Die Bilanz der Revolution

Die ungarische Revolution ist nur aus dem Aspekt des ganzen Ostblocks zu verstehen, dessen wirtschaftliche, soziale und politische Struktur auch Ungarn einschließt. Ihre Ursachen können nicht isoliert betrachtet werden, sie resultieren aus den inneren Spannungen der sozialen Grundstruktur des Sowjetblocks und gelten grundsätzlich für die Sowjetunion wie die Satellitenstaaten. Der Ostblock ist eine Klassen-gesellschaft, deren soziale Pyramide von einer „herrschenden Klasse" aus den Funktionären von Partei, Staat, Wirtschaft, Armee und Geheimpolizei gekrönt ist. Sie wird in der Terminologie der Opposition als „kommunistische Bourgeoisie“ bezeichnet. Das perfektionierte System ihrer Ausbeutung übertrifft die von Marx analysierten Methoden des englischen Frühkapitalismus bei weitem, es wird durch eine Staatsideologie — den Marxismus-Leninismus — verschleiert und den Terror der Geheimpolizei gesichert. Wie jede Oberschicht, so identifiziert auch die sowjetische ihre Interessen mit denen der Allgemeinheit in der spezifischen Form der „sozialistischen Gesellschaft“. Die ungarische Revolution beweist, daß sich die Ausgebeuteten der Ausbeutung bewußt geworden sind und den Versuch machen, sie zu beseitigen. Sie ist primär ein Kampf um die soziale Emanzipation des Proletariats, der in der westlichen Industriegesellschaft durch die Produktivität der Industrie und den hohen Standard der Arbeiterschaft eine evolutionäre Lösung gefunden hat. Die totale Ausbeutung der Arbeiterschaft im Sowjet-system drängt jedoch zu revolutionären Lösungen.

Die ungarische Revolution hat Kraft und Ziele der Opposition im Sowjetblock auf explosive Weise sichtbar werden lassen. Aber diese Opposition erstreckt sich, geschaffen durch die homogene Grundstruktur des Systems, auf alle Länder des Sowjetblocks, einschließlich der Sowjetunion. Die heftige Reaktion des Kreml auf die Erhebung in LIngarn ist eine Folge des permanenten Drucks, dem das System innenpolitisch ausgesetzt ist. Und die Auswirkungen der ungarischen Revolution auf die Sowjetunion lassen sich nur unter dem Aspekt der innersowjetischen Opposition ermessen. Sie sei deshalb kurz skizziert, weil sie typisch für den ganzen Ostblock ist.

Die Sowjets waren Jahrzehnte hindurch erfolgreich bemüht, die Existenz der innersowjetischen Opposition im Dunkel zu halten. Erst die Berichte zahlreicher Ausländer nach der Entlassung aus sowjetischen Zwangsarbeitslagern haben dokumentarische Unterlagen über eine differenzierte Opposition geliefert. Der Versuch, aus der Perspektive der Lager ein Bild der freiheitlichen Kräfte auch außerhalb der Lager zu skizzieren, mag dem Außenstehenden anspruchsvoll, vielleicht sogar unmöglich erscheinen. In Wirklichkeit gibt es nur zwei Gremien, die eine exakte Kenntnis von Umfang und Zielsetzung der innersowjetischen Opposition haben: einerseits die sowjetische Geheimpolizei (MWD) und über sie die Führungsgremien in Partei, Regierung und Armee, andererseits die Gefangenen der Lager selbst, in denen die Mitglieder von Opposition und Resistance leben und ihre Erfahrungen austauschen können.

Die Belegschaft der Lager setzt sich aus Gruppierungen zusammen, die insgesamt ein vollkommenes Mosaik der innersowjetischen Opposition geben: aus Bauern, Arbeitern, den nationalen Gruppen und einer Elite der sowjetischen Intelligenz aller Disziplinen, Lehrern, Ärzten, Juristen, Professoren und Studenten aller Fakultäten, Parteifunktionären aller Grade, Offizieren bis zum General. Jeder Gefangene repräsentiert gleichzeitig eine entsprechende nationale oder soziale Gruppe außerhalb der Lager, der er vor seiner Verhaftung angehört hat. Die Summe der Gefangenenaussagen ergibt ein differenziertes Bild der vier großen, ineinander übergehenden oppositionellen Bewegungen der Sowjetunion von heute: Bauern, Arbeiter, Nationen und Intelligenz.

In allen Völkern des Sowjetblocks ist die Unzufriedenheit der Bauern heute nicht weniger groß als vor der Oktoberrevolution. Der durch Jahrhunderte charakteristische Hunger der Bauern nach einem Stück Land, das in Freiheit bebaut werden kann, ist heute größer als je zuvor. Aber das politische Bewußtsein der Bauern ist nicht differenziert genug, eine bewußte Form des Kampfes zu entwickeln. Die Opposition äußert sich in Passivität, Sabotage bei der Arbeit oder eruptiven Gewaltakten gegen die „Gutsbesitzer“ von heute, den Kolchosvorsitzenden und seine Mitarbeiter.

Durch die Industrialisierung der Sowjetunion ist eine Arbeiterschaft entstanden, für die viele von Marx beschriebene Kennzeichen des früh-kapitalistischen Proletariats zutreffen: sie ist unterbezahlt, rechtlos und der Willkür, die hier staatlich und organisiert ist, wehrlos preisgegeben. Das Gros der Arbeiterschaft empfindet den Widerspruch zwischen Theorie und Praxis des Kommunismus mit dem Bewußtsein, von einer kommunistischen „Klasse“ ausgebeutet zu werden. Die politische Elite der Arbeiterschaft formiert sich zu konspirativ arbeitenden Widerstandsgruppen, die aussprechen und propagieren, was die Masse der Arbeiterschaft empfindet. Ihr Program umfaßt etwa folgende Punkte: Verwaltung der Betriebe durch freigewählte Arbeiterräte; Wahl freier gewerkschaftlicher Vertretungen; Festsetzung von Arbeitsnormen und Löhnen durch die Organe der Arbeiterschaft und damit Beseitigung der parasitären kommunistischen Oberschicht.

Der jahrzehntelange Kampf des Kremls gegen die nationalen UInabhängigkeitsbestrebungen der nichtrussischen Völker hat deren Freiheitswillen bis heute nicht zu brechen vermocht. Die Anstrengungen des Regimes konzentrieren sich auf die Ausrottung der nationalen Intelligenz, die jedoch gleichzeitig auf den Universitäten des Systems neu herangezüchtet wird. Unter der Decke einer gewaltsamen Befriedung schlummert der Wille zur Befreiung.

Die intellektuelle Elite der innersowjetischen Opposition — in den Lagern vor deren Auflösung eine Gruppe von etwa 300 000 Menschen — ist ein Widerstandspotential von einem dem Westen schwer vorstellbaren Ausmaß. Die großen politischen, sozialen und wissenschaftlichen Fragen des Westens werden von ihnen mit dem gleichen Interesse diskutiert wie die Probleme ihres eigenen Landes. Es gibt diesseits des Eisernen Vorhanges kein Gremium, das in seiner gründlichen Kenntnis internationaler Probleme, dem Willen zur Freiheit und der Bereitschaft, sich für diese Freiheit zu schlagen, dieser Intelligenz adäquat wäre.

Diese Opposition identifiziert sich weitgehend mit den Grundprinzipien des Sozialismus. Sie bejaht die objektiven Fortschritte, die seit der Oktoberrevolution geschaffen worden sind, die Industrialisierung, ein umfassendes Schulsystem, die Heranbildung großer technischer Kader, ein neues Gesundheitswesen, die großzügige Förderung der Begabten usw. Sie verneint aber jede Form von Diktatur und fordert unbedingt und kompromißlos die individuelle Freiheit.

Die Opposition in der Sowjetunion ist stumm, sie kann ihre Forderungen vor der Weltöffentlichkeit nicht proklamieren. Aber in dem Programm, für dessen Verwirklichung die Elite der Völker der Sowjetunion unter schweren Bedingungen und großen Opfern einen erbitterten unterirdischen Kampf führt, wird die Zukunft eines neuen, vom Kommunismus freien Ostens bereits sichtbar:

1. „Die Fabriken den Arbeitern.“ Bildung von freigewählten Arbeiterräten für die Leitung der Betriebe.

2. „Das Land den Bauern.“ Auflösung der Kolchosen und Wahl von Bauernkomitees für die Landverteilung.

3. „Die Macht dem Volke.“ Freie und geheime Wahlen für die unabhängigen Volksvertretungen der Völker des Ostens. Bildung unabhängiger Regierungen.

4. Abschaffung der Geheimpolizei. Garantie der persönlichen Freiheit für jeden Staatsbürger, der Rede-und Pressefreiheit.

5. Vollkommene Abrüstung. Umstellung der Industrie auf Friedens-produktion. 6. Öffnung der Grenzen. Enge wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen zu allen Völkern.

Die Kernpunkte dieses Programms gleichen den ersten Forderungen der ungarischen Revolution auf eine verblüffende Weise, aber ihre Identität ist kein Zufall. Die gleichen stalinistischen Prinzipien der sozialen Ausbeutung und nationalen Unterdrückung in den verschiedenen Ländern des Ostblocks haben zur Bildung einer homogenen Opposition mit identischen Zielen geführt. Das uniforme System des Ostblocks hat nicht nur den Internationalismus der „kommunistischen Bourgeoisie“ geschaffen, der sich aus gemeinsamen Interessen ergibt; die Stalinisten in Moskau, Prag, Sofia und Pankow bilden die gleiche „bourgeoise“ Interessengemeinschaft, wie sie von Marx für die internationale Bourgeoisie des Frühkapitalismus beschrieben ist. Gleichzeitig ist ein Internationalismus der Opposition entstanden, die über Gemeinsamkeit in Ideologie und Zielsetzung hinaus durch eine echte emotionale Solidarität verbunden ist. Der sowjetische Zwangsarbeiter in Workuta oder Karaganda fühlte sich dem streikenden Berliner Bauarbeiter des 17. Juni brüderlich verbunden. Die aufständischen Arbeiter von Posen erregten die Anteilnahme der Arbeiter in Magdeburg ebenso wie in Budapest, Odessa oder Wladiwostok, die Erfolge der polnischen Opposition haben entscheidend zum Ausbruch der ungarischen Revolution beigetragen. Die Opposition in den Ländern des Ostblocks agiert nach dem Prinzip kommunizierender Röhren. Der Erfolg der Opposition eines Landes ist der Erfolg aller Länder. Der stürmische Empfang, der Tito in Moskau von der Bevölkerung bereitet wurde, galt nicht nur dem Gast der Sowjetregierung, sondern dem mutigen und erfolgreichen Repräsentanten der Opposition.

Die Ereignisse in Polen und Ungarn müssen also die innersowjetische Opposition aufs äußerste erregen. Und die Reaktion des Moskauer Politbüros auf die Entwicklung in Warschau und Budapest, die militärische Drohung in Polen, der Versuch der stalinistischen Natolin-Gruppe, Gomulka samt 700 polnischen Nationalkommunisten vor dem 8. Plenum zu verhaften (dieser Versuch konnte nicht ohne Wissen Moskaus vorbereitet werden) und die militärische Niederwerfung der ungarischen Revolution sind nicht Methoden einer Macht, die sich politisch stark fühlt. Die Reaktionen Moskaus sind nur zu verstehen aus dem Bewußtsein der tödlichen innenpolitischen Gefahr, die der sowjetischen Bürokratie durch die neue Entwicklung droht. Die Ereignisse in Polen und Ungarn bedeuten für die innersowjetische Opposition eine außerordentliche Ermutigung. Der Druck dieser Opposition hat die Entstalinisierung erzwungen.

Die Entstalinisierung ist ein Versuch der Oberschicht, der allgemeinen Unzufriedenheit ein Ventil zu öffnen und damit die Entwicklung unter Kontrolle zu halten. Stalin wird geopfert, um das System zu retten, die Kritik am „Persönlichkeitskult“ läßt die Struktur des Stalinismus unangetastet: die Ausbeutung der Arbeiter und Bauern, die Unterdrückung der Nationalitäten und der geistigen Freiheit, die politische Macht der kommunistischen „Bourgeoisie“ und ihre wirtschaftlichen Privilegien.

Die Entstalinisierung birgt im Kern eine soziale Auseinandersetzung. Jede von den Unterdrückten erzwungene Konzession schwächt die Macht der kommunistischen Oberschicht, verkleinert ihre ökonomische Basis und reduziert ihr Einkommen. Die Abberufung des Stalinisten Klosiewicz von seinem Posten als 1. Vorsitzender der polnischen Gewerkschaften bedeutet nicht nur den Verlust einer Machtposition, sondern gleichzeitig einen sozialen Sturz um mehr als hunderttausend Zloty monatlich. Gleich ihm sind nach der polnischen Oktoberrevolution einige zehntausend Bürokraten ihrer Position enthoben und ihrer Einkünfte beraubt worden. Sozial deklassiert, sind sie jetzt gezwungen, auf dem Standard einfacher Bürger zu leben und sich gleich ihnen mit ihrer Hände Arbeit zu ernähren. Die konsequente Durchführung der Entstalinisierung und die Erfüllung der sozialen und politischen Forderungen der Opposition würde in der Sowjetunion die soziale Deklassierung von Millionen sowjetischer „Bourgeois“ in Partei, Staat, Wirtschaft, Armee und Geheimpolizei bedeuten. Der Kampf um die Entstalinisierung ist deshalb so heftig entbrannt, weil materielle Interessen und politische Macht der Oberschicht gefährdet sind, ihr Verlauf spiegelt den Klassenkampf im Ostblock.

Die besonderen Bedingungen in Ungarn

Die revolutionäre Grundsituation ist in den Satellitenstaaten die gleiche wie in der Sowjetunion, aber sie wird in Ungarn durch eine Reihe von Faktoren verschärft. Die radikale wirtschaftliche Ausplünderung des Landes verbindet sich mit einer nationalen Unterdrückung; die antikommunistische Opposition ist nicht restlos liquidiert worden; die religiösen Bindungen der älteren Generation sind ungebrochen; die ungarische Arbeiterschaft hat — im Gegensatz zur sowjetischen — Vergleichsmöglichkeiten zu einem früheren besseren Lebensstandard; sozialdemokratische Traditionen blieben erhalten. Lind ein entscheidender Faktor: das System selbst hat eine revolutionäre Intelligenz herangezüchtet, deren Beitrag zur Revolution außerordentlich ist. Die Revolution ist legal und indirekt durch die linken Intellektuellen unaufhörlich propagiert worden. Als ideologisch treibende Kraft erwies sich die junge kommunistische Intelligenz, als unmittelbar aktiv Studenten und Arbeiter.

Die Revolution gegen ein totalitäres Regime kann nur unter gewissen Bedingungen erfolgen, deren Zusammenwirken erst den Aufstand ermöglicht. Wichtigste Voraussetzung ist eine militante Opposition, deren Programm die Zustimmung des Volkes haben muß und die bereit ist, mit der Waffe für ihre Forderungen zu kämpfen. Die „Ideologie" des Systems muß zerstört sein und ihren Einfluß nicht nur auf das Volk, sondern auch die „Kader“ des Systems verloren haben. Die soziale Lage der Bevölkerung muß Anlaß zur allgemeinen Unzufriedenheit geben. Die Armee muß mindestens neutral sein, wenn sie nicht auf die Seite der Revolution tritt, muß sie ihr Waffen liefern. Ein Anlaß (er kann geringfügig sein) muß die Revolution auslösen. Alle diese Faktoren waren am 23. Oktober 1956 in Ungarn vorhanden. Das System, ohne Basis im Volk, hatte ihnen nichts mehr entgegenzusetzen als die Maschinenpistolen der Sicherheitspolizei.

Die Jugend des Kommunismus

Das Programm der ersten Erhebung ist von den Budapester Studenten formuliert worden, der jungen Elite des ungarischen Kommunismus. Es enthält folgende Forderungen: 1. Sofortige Einberufung eines außerordentlichen Parteitages der ungarischen Partei der Werktätigen (KP) und Wahl einer neuen Parteiführung. 2. Reorganisation der gesamten Regierung unter Imre Nagy.

3. Freundschaft mit der Sowjetunion und Jugoslawien auf der Grundlage völliger wirtschaftlicher und politischer Gleichberechtigung, die jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten Ungarns ausschließt.

4. Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn.

5. Freie, allgemeine Wahlen, bei denen mehrere Parteilisten zugelassen sind.

6. Reorganisation der ungarischen Wirtschaft, entsprechend den Bedürfnissen des ungarischen Volkes.

7. Sofortige Reform der Arbeitsnormen in der Industrie, Einführung ausreichender Mindestlöhne und -gehälter, Streikrecht der Arbeiter und Wiedereinsetzung von Arbeiterräten in den Fabriken.

8. Überprüfung des landwirtschaftlichen Ablieferungssolls, Gleiche Unterstützung für die Bauern wie für die landwirtschaftlichen Genossenschaften. 9. Freilassung unschuldiger politischer Gefangener.

10. Verurteilung von Mihaly Farkas (früher Verteidigungsminister) und Räkosi.

11. Einführung des Kossuth-Abzeichens und der traditionellen Armeeuniformen. 12. Völlige Freiheit für Presse und Rundfunk.

13. Austritt aus dem Warschauer Pakt.

Dieses Programm ist ein frappierendes Ergebnis der politischen Schulung, die auch in Ungarn mit der üblichen Sorgfalt betrieben worden ist. Aber die vom Kommunismus erzogene Jugend steht jetzt in der vordersten Reihe des Kampfes gegen Moskau. Sie kämpft für die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit Ungarns. Den zynischen Regisseuren des Kommunismus ist die marxistische Ideologie fadenscheinige Legitimation der Macht, für die Jugend aber ist sie nicht leere Doktrin, sondern politisches Programm. Sie lernte dialektisch denken, aber die Konsequenzen dieses Denkens richten sich gegen Moskau und seine ungarischen Satrapen. Während in Warschau die kalte Revolution Gomulkas gegen Moskau ihre ersten Erfolge zeitigte, fordern die ungarischen Studenten die Rückkehr Imre Nagys auf den Posten des Ministerpräsidenten, bessere Lebensbedingungen, freie Wahlen und Unabhängigkeit. Noch am Morgen des 23. Oktober, dem Tag des Aufstandes, schrieb „Szabad Nep“, das Organ der ungarischen KP:

„Unsere Partei und ihre Zeitung stehen auf der Seite der Jugend, sie billigen ihre Kundgebungen und wünschen ihr Erfolg."

Doch die Studenten gaben sich mit solchen Akklamationen nicht mehr zufrieden. Einen Tag später standen sie auf den Barrikaden. Sie kämpften mit militärischer Sachkenntnis: Lange genug waren sie für den Krieg gegen die „Bourgeoisie“ gedrillt worden. Die Studenten waren der Motor des Aufstandes — gemeinsam mit der Budapester Arbeiterschaft.

Am 29. Oktober schrieb „Szabad Nep“, das nach der ersten Erhebung die Sache der Revolution vertrat:

„Der bewaffnete Kampf der ungarischen Jugend führte zum Sieg, welcher durch den Beginn der Zurückziehung der sowjetischen Truppen, die Auflösung des staatlichen Sicherheitsdienstes und die Erfüllung mehrerer anderer Forderungen gekennzeichnet ist. Es trifft gewiß zu, daß noch vieles getan werden muß: doch kann dies mit friedlichen Mitteln erreicht werden. Dieser Sieg der großartigen ungarischen Jugend ist auch ein Sieg im Kampfe für das Land und eine Anerkennung der Gerechtigkeit unserer Sache. Ohne Jugend, ohne ihre Zusammenarbeit ist es nicht möglich, die Ordnung wiederherzustellen und die Zukunft Ungarns zu gewährleisten. Dies kann nur mit Hilfe der Jugend getan werden, weil diese jungen Leute bewiesen haben, dafi sie fähig sind, Heldentaten zu vollbringen, und daß sie ihr Land mehr als ihr Leben lieben. Sie haben bewiesen, daß sie in der Tat die Interessen der Nation und der großen Volksmassen vertreten. Diese jungen Leun haben ihre politische Reife und ihr außerordentliches Verant- wortun^sgefühl gegenüber dem Volke und dem Lande bewiesen. Sie Laben bewiesen, daß sie eine politisdae Kraft repräsentieren, die fähig ist, eine führende und unersetzbare Kraft im künftigen Kampf um die Entwicklung des Landes zu werden. Angesichts aller Verleumdungen und aller Lügen, die bis jetzt bewußt oder unbewußt verbreitet worden sind, ist es sehr wichtig, all dies klar zum Ausdrudt zu bringen. Diese Jugend, die sidr gegen die eigenmächtige Herrsdraft von Rakosi und für ein unabhängiges, demokratisdres und freies Ungarn erhoben hat, wird fähig sein, die Errungenschaften zu verteidigen, die sie mit ihrem Blut bezahlt hat; sie wird sie sogar gegen die konterrevolutionären Gruppen verteidigen, die sich ihr angeschlossen haben. Heute ist es notwendig, diese Errungenschaften zu konsolidieren und zu entwickeln. Genug der ewigen Streitigkeiten. Nur in Friede und Ruhe werden wir in der Lage sein, die gegenwärtige Entwidzlung zu besddeunigen. Jetzt stehen Lohnerhöhungen, die Arbeiterräte, die Hodischulreform zur Diskussion. Dazu brauchen wir Ruhe und Frieden."

Die Arbeiterschaft

Karl Marx hat die Kontrolle der Produktionsmittel durch das Proletariat als den Schlüssel seiner sozialen Emanzipation betrachtet, sie sollte die „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen" beseitigen. Der Lebensstandard des modernen Kapitalismus als Folge der industriellen Entwicklung hat auch das Bewußtsein der Arbeiterschaft verändert. Das Postulat nach „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“ hat im Westen wenig Resonanz, und es ist eine Groteske der Geschichte, daß die Forderung nach Kontrolle der Fabriken durch Arbeiterräte, nach „Arbeiterselbstverwaltung der Betriebe“ zur zentralen Forderung der Arbeiterschaft des Ostblocks geworden ist. Die kommunistische Form einer rigorosen Ausbeutung hat die Marx’sche Forderung gegen den Frühkapitalismus wieder aktuell werden lassen. Nur die Bourgeoisie hat sich gewandelt: sie repräsentiert heute den Kommunismus.

Der Mehrwert, den das Proletariat im Ostblock heute erzeugt, dient dem Konsum der kommunistischen Oberschicht, den riesigen Investitionen der Schwerindustrie, einer gigantischen Rüstung (die notfalls wie in Ungarn gegen das Proletariat selbst eingesetzt werden kann) und der Finanzierung des Weltkommunismus. Die „Arbeiterselbstverwaltung“ würde das Verfügungsrecht über den Mehrwert in die Kompetenz der Arbeiterschaft überführen und die gesamte Bürokratie von Partei, Staat, Wirtschaft, Armee und Geheimpolizei, die jetzt auf Kosten der Arbeiterschaft lebt, wirtschaftlich und politisch von ihr abhängig machen. Die Verwirklichung der „Arbeiterselbstverwaltung" ist eine echte „Expropriation der Expropriateure“; wenn sich die kommunistische Bourgeoisie ihre Privilegien erhalten will, muß sie sich mit allen Mitteln zur Wehr setzen.

Die Opposition der ungarischen Arbeiterschaft richtet sich — wie im ganzen Ostblock — gegen die rigorose Ausbeutung, sie fordert die „Arbeiterkontrolle“ in den Betrieben als Garantie gegen das parasitäre Regime der Wirtschaftsbürokratie. Diese Forderung ist ein tödlicher Angriff auf die „kommunistische Bourgeoisie“, die Dezentralisierung der Wirtschaftsverwaltung zersetzt das System der arbeiterfeindlichen dirigistischen Kontrolle von oben. Die Sowjets haben den Forderungen der ungarischen Arbeiterschaft nie nachgegeben, deshalb mündete das Jahrzehnt der Unterdrückung in den Aufstand des 23. Oktober. Und Nagys Versuch, die Erhebung unter nationalkommunistische Kontrolle zu bringen, scheiterte nicht zuletzt am Widerstand der Arbeiterviertel des berühmten 13. Bezirks mit seinen sozialdemokratischen Traditionen und den Fabriken in Csepel. Mit der Proklamierung des Generalstreiks hat die Arbeiterschaft wesentlich zum Erfolg der ersten Phase der Revolution beigetragen. Auch im Kampf gegen den Kommunismus hat sich diese klassische Kampfmethode der Arbeiterschaft als äußerst wirksam erwiesen.

Die Geheimpolizei

Die russische Oktoberrevolution hatte eine Basis unter Arbeitern und Bauern, ohne ihre Unterstützung hätte Lenin weder Revolution noch Bürgerkrieg gewinnen können. 39 Jahre später wird das System, das aus dieser Revolution erwachsen ist, gegen die ungarische Oktoberrevolution nur noch von der Sicherheitspolizei verteidigt. Durch nichts kann sein Verfall besser illustriert werden.

Die Erhebung der Studenten und Arbeiter stieß zunächst — nicht anders als beim Aufstand von Posen — auf den Widerstand der Geheimpolizei. Sie war das Rückgrat des ungarischen Kommunismus, ihr galt der besondere Haß der Unterdrückten. Chalasinski, Professor der Psychologie an der Universität Warschau, gab während des Prozesses gegen die Angeklagten des Posener Aufstandes folgende Analyse: „Die Massen waren im Zustand äußerster Erregung, und die nächste Phase brachte den Ausbruch des lange angestauten Hasses gegen die Sicherheitspolizei.“ Diese Definition gilt in vollem Umfang auch für Budapest.

Die Verbrechen der ungarischen Geheimpolizei sind nicht geringer als etwa die der Gestapo oder des sowjetischen MGB. Die Revolution öffnete die Gefängnisse und Folterkeller. Sie entdeckte die geheimen Krematorien, in denen die Gefangenen verbrannt wurden, die den Torturen ihrer Henker erlegen waren. Mit untrüglichem Instinkt richteten sich die Angriffe der Revolutionäre gegen die Zentren der AVO. Die ersten Toten der Revolution erregten die Leidenschaft des Volkes — ohne die keine Revolution möglich ist — in besonderem Maße. Den Berichten zufolge dürfte der größte Teil des Offizierskorps der AVO der Erhebung zum Opfer gefallen sein.

e Auch darin verlief die Entwicklung in Budapest anders als in Warschau, wo durch den Führungswechsel in der Partei der Apparat der Sicherheitspolizei — stalinistisch, solange die Spitze stalinistisch war — zur Säule im System Gomulka wurde, neben der Arbeiterschaft, von der sie noch in Posen angegriffen worden war. Das Beispiel Polens zeigt die Möglichkeit einer „kalten“ Transformation der Geheimpolizei auf politischem Wege. Jede weitere Demokratisierung muß ihren repressiven Charakter vermindern.

Die Armee

Audi Ungarn war — wie alle Satellitenstaaten — in die überdimensionale Aufrüstung des Ostblocks einbezogen. Die kommunistische ungarische Armee sollte der Sicherung des Systems sowohl nach innnen als auch nach außen dienen. Offiziere und Soldaten waren einer unaufhörlichen politischen Erziehung unterworfen, ein Teil der Offiziere wurde auf sowjetischen Militärakademien ausgebildet.

Die Erziehung enthielt auch gewisse nationale Elemente, für die Sowjets Bestandteil einer formalen stalinistischen Pseudo-Ideologie, für die ungarischen Soldaten und Offiziere aber, wie sich bei der Revolution gezeigt hat, eine verbindliche Haltung, die sie hinderte, auf ihr eigenes Volk zu schießen. Die Revolution hat die kommunistische ungarische Armee auf ihre sowjetischen Bindungen getestet und deren Brüchigkeit erwiesen. Die Armee hat sich — im Gegensatz zur Sicherheitspolizei — geweigert, auf die Revolutionäre zu feuern. Ihr Nationalgefühl war stärker als politische Ideologie und militärische Disziplin, die zu Beginn der Revolution einen Zusammenschluß mit den Aufständischen verhinderten. In diesen ersten Tagen aber stand die Armee der Revolution mit dem gleichen Wohlwollen gegenüber wie die zaristischen Regimenter den Revolutionären des Februar 1917. Indem sie Waffen gab, versah sie den Aufstand mit seinen wichtigsten technischen Instrumenten. Dann ging sie ins Lager der Revolution über, und zuletzt bildete sie mit den Aufständischen aller politischen Richtungen eine geschlossene Front gegen die Sowjets. Mehr konnte die Revolution von der Armee nicht erhoffen.

Chronik der 13 Tage

23. Oktober Studenten und Arbeiter demonstrieren auf dem Budapester Stalin-platz für Solidarität mit Polen, sie fordern nationale Unabhängigkeit, Demokratisierung und die Wiedereinsetzung Imre Nagys als Ministerpräsident. Der Erste Sekretär des ZK der ungarischen KP, Ernö Gero, lehnt in einer Rundfunkansprache jede Lockerung der Beziehungen zur Sowjetunion ab. Die Demonstranten ziehen zum Rundfunkhaus, werden von Sicherheitspolizei beschossen, der Aufstand beginnt. — In der Nacht zum 24. Oktober tritt das ZK der ungarischen KP zu einer Sondersitzung zusammen. Nagy und andere Kommunisten antistalinistischer Richtung werden ins ZK bzw. Politbüro der ungarischen KP ausgenommen. Nagy wird Ministerpräsident.

24. Oktober Sowjetische Truppen greifen in die Kämpfe in Budapest ein,, die Regierung fordert mehrmals vergeblich die Einstellung der Kämpfe und sichert allen Beteiligten Straffreiheit zu. Nagy verspricht wirtschaftliche und politische Reformen.

25. Oktober Die Kämpfe in der ungarischen Hauptstadt dauern an. Ernö Gero tritt von der Parteiführung zurück, Janos Kadar wird Erster Sekretär der ungarischen KP. Kadar ruft zur Beendigung der Kämpfe auf, damit das Reformprogramm der Regierung verwirklicht werden könne. Nagy kündigt über den Rundfunk Verhandlungen über den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn an, sobald der Aufstand beendet sei.

26. Oktober Der Aufstand greift auf das ganze Land über. Die Aufständischen proklamieren den Generalstreik. Die Armee geht zu den Revolutionären über. Arbeiterräte werden gebildet, die in vielen Teilen des Landes die Regierungsgewalt übernehmen. Zahlreiche Freiheitssender verbreiten die Forderungen der Aufständischen. Die Gewerkschaften fordern Arbeiterkontrolle der Betriebe und eine „radikale Änderung des Systems der zentralen Planung und der staatlichen Wirtschaft“. In Flugblättern verlangt die Armee den Austritt aus dem Warschauer Pakt. — Nagy empfängt eine Delegation der Aufständischen, sichert ihnen die Erfüllung aller ihrer Forderungen zu, einschließlich des Abzugs der Sowjettruppen bis zum 1. Januar 1957, und kündigt eine Regierungsumbildung an.

27. Oktober Eine Regierung der „Vaterländischen Front“ unter Nagy wird gebildet.

Ihr gehören zweiundzwanzig Kommunisten, drei Mitglieder der Partei der Kleinen Landwirte und ein Mitglied der Bauernpartei an.

23. Oktober Nagy befiehlt den ungarischen Truppen die Einstellung des Kampfes gegen die Aufständischen. Er gibt über den Rundfunk bekannt, die Sowjetregierung habe sich bereit erklärt, ihre Truppen sofort aus Budapest abzuziehen. Verhandlungen über den Abzug der Truppen aus ganz LIngarn würden unverzüglich beginnen. Die Sicherheitspolizei wird aufgelöst, eine neue Exekutive aus Armee, Polizei, bewaffneten Arbeiter-und Jugendgruppen soll gebildet werden. Das Kossuthwappen wird wieder ungarisches Nationalemblem, — Westungarn ist in der Hand der Aufständischen, die einen vorläufigen Nationalrat mit Sitz in Raab gebildet haben. — Das ZK der ungarischen KP setzt ein sechsköpfiges Parteipräsidium ein, das einen Parteikongreß vorbereiten und bis dahin die Führung der Partei übernehmen soll. Ihm gehören Nagy und Kadar an. — Erste Gerüchte über den Anmarsch neuer sowjetischer Divisionen durch andere Ostblockländer in Richtung LIngarn.

29. Oktober Radio Budapest berichtet von einem Übereinkommen mit den Aufständischen über die Ablieferung ihrer Waffen; die Sowjettruppen würden 24 Stunden nach Waffenniederlegung die ungarische Hauptstadt räumen. Der Freiheitssender Raab ruft die Aufständischen auf, die Waffen nicht abzugeben. — Das Organ der ungarischen KP „Szabad Nep“ wird von Aufständischen besetzt. Es protestiert gegen die Behauptung der Moskauer , „*Prawda die Aufständischen seien Konterrevolutionäre und faschistische Agenten. — Neue unbestätigte Meldungen über den Transport weiterer sowjetischer Truppen nach Ungarn.

30. Oktober Nagy verspricht über Radio Budapest freie Wahlen, die Neugründung aller demokratischen Parteien und die Bildung einer Koalitionsregierung nach dem Vorbild der ersten ungarischen Nachkriegsregierung. Er erkennt die Revolutionsräte in den Provinzen an und sagt den sofortigen Abzug der Sowjettruppen aus Budapest und ihren baldigen Rückzug aus ganz Ungarn zu. — Es wird ein kleines Kabinett gebildet, das freie Wahlen und die Koalitionsregierung vorbereiten soll. Ihm gehören Nagy und Kadar (KP), Tildy und Kovacs (Kleine Landwirte), Erdei (Bauernpartei), ein noch zu benennender Vertreter der wiedergegründeten Sozialdemokratischen Partei und Losonczy (liberaler Kommunist, Petöfi-Kreis) an. — Kadar erklärt, die ungarische KP stehe voll und ganz hinter den Entscheidungen der neuen Regierung, sie habe einstimmig freie Wahlen beschlossen. Er fordert die Parteimitglieder auf, mit den Freiheitskämpfern zusammenzuarbeiten. — Auf einer Sitzung der Nationalräte in Raab wird einstimmig die Neutralität Lingams gefordert. — Die ungarischen Luftstreitkräfte erklären sich für die neue Regierung und fordern die Sowjettruppen auf, Budapest bis zum 31. Oktober, 4 Uhr, zu räumen. — Nach einer Erklärung Gomulkas (vom 31. Oktober) finden in Budapest Besprechungen sowjetischer und polnischer Politiker und Militärs statt; es wird „volle Einigkeit“ in der Beurteilung des ungarischen Volksaufstandes erzielt. Von sowjetischer Seite nehmen der stellvertretende Ministerpräsident Mikojan und Parteisekretär Suslow an den Besprechungen teil. — Am Abend wird in Moskau die Erklärung der Sowjetregierung über die „Beziehungen zu den sozialistischen Staaten" veröffentlicht. — Gerüchte über das Eindringen sowjetischer Panzer-truppen in Nordost-und Südostungarn.

31. Oktober Die sowjetischen Truppen räumen Budapest. Ungarische SicherheitsPolizisten werden öffentlich hingerichtet. — Revolutionsräte der Armee und der Zivilbevölkerung nehmen ein gemeinsames Programm an; sie fordern u. a. die Aufrechterhaltung der diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion nach Abzug ihrer Truppen, eine Konferenz aller Warschau-Pakt-Staaten zur Annullierung des Paktes und den Abzug der Sowjettruppen aus LIngarn bis zum 31. Dezember 1956. — Kardinal Mindszenty kehrt nach Budapest zurück.

1. November Ein Sprecher der ungarischen Armee bestätigt den Einmarsch neuer sowjetischer Truppen. Die aus Budapest herausgezogenen Sowjettruppen bilden einen stählernen Ring um die ungarische Hauptstadt. Ministerpräsident Nagy protestiert gegen den Einmarsch neuer sowjetischer Verbände, erklärt den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt, proklamiert die Neutralität Ungarns und bittet um den Schutz der Vereinten Nationen. Der Sowjetbotschafter in Budapest, Andropow, erklärt, es bestehe keine Absicht, die sowjetischen Truppen erneut gegen die Aufständischen einzusetzen. In einem Telegramm an den sowjetischen Staats-präsidenten Woroschilow fordert Nagy die sofortige Aufnahme von Verhandlungen über den Abzug der Sowjettruppen aus ganz Ungarn und beruft sich dabei auf die sowjetische Regierungserklärung vom 30. Oktober.

2. November Sowjetische Panzer riegeln die ungarisch-österreichische Grenze ab.

Ministerpräsident Nagy protestiert erneut gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen und richtet einen dringenden Appell an die Vereinten Nationen, die Großmächte zur Anerkennung der ungarischen Neutralität aufzurufen. — In Budapest brechen erneut Kämpfe aus. — Die KP Ungarns wird als „Sozialistische Arbeiterpartei“ unter Führung von Kadar neu gegründet. Dem Vorstand gehören außerdem Nagy, Losonczy und Lukacs an. Kadar erklärt, die Erhebung der Volkes sei an einem Kreuzweg angelangt: Entweder könnten die demokratischen Parteien ihre Erfolge festigen oder sie sähen sich der offenen Konterrevolution gegenüber. Es bestehe auch die Gefahr, daß Ungarn durch eine bewaffnete ausländische Intervention das Schicksal Koreas erleide.

Die Regierung Nagy tritt zurück, das am 30, Oktober unter Nagy gebildete kleine Kabinett übernimmt die Regierung.

3. November Budapest ist völlig von sowjetischen Truppen eingeschlossen, alle strategischen Punkte und Verbindungsstraßen sind von Sowjettruppen besetzt. — Das Organ der neugegründeten Sozialdemokratischen Partei Ungarns „Nepszava" kündigt einen neuen Generalstreik an, falls die Sowjettruppen das Land nicht verlassen.

Nagy bildet eine neue Regierung mit drei Kommunisten, drei Mitgliedern der Partei der kleinen Landwirte, drei Sozialdemokraten und zwei Vertretern der Bauernpartei. Der neue Verteidigungsminister Pal Maleter verhandelt mit einer sowjetischen Militärdelegation über den Abzug der Sowjettruppen aus Ungarn. Am Abend gibt der ungarische Generalstabschef Kovacs bekannt, die Sowjets seien bereit, ihre Truppen aus Ungarn abzuziehen, sie brauchten dafür zwei bis drei Wochen Zeit.

4. November Lim 4 LIhr morgens greifen die Sowjettruppen im ganzen Land mit ihrer in Ungarn zusammengezogenen Militärmacht an. Die ungarische Militärdelegation unter Verteidigungsminister Maleter wird verhaftet. Die Regierung Nagy richtet über den Rundfunk dringende Appelle an die Vereinten Nationen, Hilfe zu senden. In einer Erklärung teilt Nagy mit, daß die ungarischen Truppen den Kampf für Freiheit und Recht gegen die sowjetischen Truppen ausgenommen hätten und die Regierung auf ihrem Platz stehe.

In Szolnok wird eine neue kommunistische Regierung unter Janos Kadar ausgerufen. Sie verkündet ein Regierungsprogramm, in dem sie bekanntgibt, sie habe die Sowjettruppen zu Hilfe gerufen. Es werden nationale Unabhängigkeit, soziale und wirtschaftliche Reformen und Verhandlungen über den Abzug der sowjetischen Truppen versprochen.

Die Moskauer Deklaration des 30. Oktober

Nach Ausbruch der Revolution in Ungarn vertrat Moskau zunächst die gleiche stalinistische These wie nach dem Aufstand in Posen: die Erhebung sei das „Werk imperialistischer Agenten“. Erst am 30. Oktober erfolgte plötzlich eine Deklaration mit dem Eingeständnis, es seien Fehler in den Beziehungen zu den Volksdemokratien gemacht worden. Sie enthielt völlig neue politische Perspektiven.

Die sowjetische Regierungserklärung über die Bereitschaft zur Über-prüfung der Beziehungen zu den Satellitenstaaten ist eine direkte Auswirkung der Ereignisse in Polen und LIngarn. Ohne Zweifel ist sie ein Erfolg der „Fortschrittlichen“ um Chruschtschow-Mikojan-Bulganin gegen die „Stalinisten“ um Molotow-Kaganowitsch, von denen die Entstalinisierung nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in den Satellitenstaaten verzögert wird. Diesen „Konservativen“ hat LIngarn das Blutbad zu verdanken, das die Sowjets angerichtet haben. Sie allein haben die rechtzeitige Ausschaltung der ungarischen Stalinisten um Gero und damit die „kalte“ Revolution nach dem Beispiel Polens verhindert.

Wäre die Veröffentlichung noch vor Ausbruch der Revolution erfolgt oder in ihren ersten Tagen, so hätte sie, in Verbindung mit personellen Änderungen in der Spitze der ungarischen KP, den Ablauf der Ereignisse mit sehr großer Wahrscheinlichkeit ändern können. Aber die Veröffentlichung erfolgte zu spät, noch am gleichen Tag spülte die Dynamik der Revolution die einzige Voraussetzung hinweg, unter der sie gültig sein sollte: das kommunistische Ein-Parteien-System der Volksdemokratie. Er besteht keine Veranlassung, anzunehmen, daß die Intervention des 4. 11. gegen die junge Mehr-Parteien-Demokratie bei der Veröffentlichung bereits beschlossene Sadie war und die Deklaration lediglich der Tarnung militärischer Vorbereitung diente. Sie enthielt vielmehr die Konzessionen, die das Politbüro an Polen und LIngarn zu geben bereit war.

Die von der sowjetischen Regierung veröffentlichte Erklärung über das Verhältnis der Sowjetunion zu den übrigen Staaten des Ostblocks hat folgenden Wortlaut. „Die unerschütterliche Grundlage der Auslandsbeziehungen der Linien der Sozialistischen Sowjetrepubliken war und bleibt die Politik der friedlichen Koexistenz, der Freundschaft und der Zusammenarbeit zwischen allen Staaten.

Den tiefsten und konsequentesten Ausdruck findet diese Politik in den gegenseitigen Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern. Vereinigt durch die gemeinsamen Ideale des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft und durch die Prinzipien des proletarischen Internationalismus, können die Länder der großen Gemeinschaft der sozialistischen Nationen ihre gegenseitigen Beziehungen nur auf den Prinzipien der völligen Gleichberechtigung, der Ächtung der territorialen Integrität, der staatlichen Unabhängigkeit und Souveränität sowie der gegenseitigen Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten auf-bauen. Dies schließt eine enge brüderliche Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe der Länder der sozialistischen Gemeinschaft auf wirtschaftlichem, politischem und kulturellem Gebiet keinesfalls aus, sondern setzt sie im Gegenteil voraus.

Auf dieser Grundlage bildete sich nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der Zerschlagung des Faschismus in mehreren Ländern Europas und Asiens die Ordnung der Volksdemokratie; sie erstarkte und zeigte ihre große Lebenskraft.

Im Prozeß des Werdens der neuen Ordnung und der tiefgreifenden revolutionären Umgestaltungen der gesellschaftlichen Beziehungen gab es zahlreiche Schwierigkeiten, ungelöste Aufgaben und direkte Fehler, darunter auch in den gegenseitigen Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern, Verletzungen und Fehler, die das Prinzip der Glich-berechtigung in den Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten beeinträchtigten.

Der 20. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion verurteilte diese Verletzungen und Fehler ganz entschieden und stellte die Aufgabe, daß die Sowjetunion in ihren gegenseitigen Beziehungen mit den anderen sozialistischen Ländern die Leninschen Prinzipien der Gleichberechtigung der Völker konsequent verwirklicht. Er verkündete die Notwendigkeit, die historische Vergangenheit und die Besonderheiten eines jeden Landes, das den Weg des Aufbaus des neuen Lebens betreten hat, voll und ganz zu berücksichtigen.

Die Sowjetregierung verwirklicht konsequent diese historischen Beschlüsse des 20. Parteitages, die die Voraussetzungen für die weitere Festigung der Freundschaft und der Zusammenarbeit zwischen den sozialistischen Ländern auf der unerschütterlichen Grundlage der Wahrung der völligen Souveränität eines jeden sozialistischen Staates schaffen.

Wie die Ereignisse der letzten Zeit gezeigt haben, ist es notwendig geworden, eine entsprechende Erklärung über die Haltung der Sowjetunion in den gegenseitigen Beziehungen der UdSSR zu den anderen sozialistischen Ländern, vor allem auf wirtschaftlichem und militärischem Gebiet, abzugeben.

Die Sowjetregierung ist bereit, gemeinsam mit den Regierungen der anderen sozialistischen Staaten Maßnahmen zu erörtern, die die weitere Entwicklung und Festigung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern gewährleisten, um jedwede Möglichkeit einer Verletzung des Prinzips der nationalen Souveränität, des gegenseitigen Vorteils und der Gleichberechtigung in den Wirtschaftsbeziehungen auszuschließen.

Dieses Prinzip muß auch auf die Berater ausgedehnt werden. Bekanntlich entsandte die Sowjetunion in der ersten Zeit der Bildung der neuen Gesellschaftsordnung auf Bitten der Regierungen der volksdemokratischen Länder in diese Länder eine gewisse Anzahl von Spezialisten — Ingenieure, Agronomen, Wissenschaftler und militärische Berater. In letzter Zeit stellte die Sowjetregierung mehrmals den sozialistischen Staaten die Frage der Abberufung ihrer Berater.

Im Zusammenhang damit, daß jetzt in den Ländern der Volksdemokratie eigene qualifizierte Kader auf allen Gebieten des wirtschaftlichen und des militärischen Aufbaus ausgebildet sind, hält es die Sowjetregierung für unaufschiebbar, gemeinsam mit den anderen sozialistischen Staaten die Frage zu erörtern, ob ein weiteres Verbleiben der Berater der UdSSR in diesen Ländern zweckmäßig ist.

Auf militärischem Gebiet ist eine wichtige Grundlage der gegenseitigen Beziehungen zwischen der . Sowjetunion und den Ländern der Volksdemokratie der Warschauer Vertrag, dessen Teilnehmer bestimmte politische und militärische Verpflichtungen übernommen haben, darunter die Verpflichtung, vereinbarte Maßnahmen zu ergreifen, die für die Festigung ihrer Verteidigungsfähigkeit notwendig sind, um die friedliche Arbeit ihrer Völker zu schützen, die Unantastbarkeit ihrer Grenzen und Territorien zu garantieren und den Schutz vor einer eventuellen Aggression zu sichern.

Bekanntlich befinden sich in Übereinstimmung mit dem Warschauer Vertrag und mit Regierungsabkommen sowjetische Einheiten in der ungarischen und in der rumänischen Republik. In der polnischen Republik befinden sich sowjetische Truppeneinheiten auf Grund des Potsdamer Abkommens der vier Mächte und des Warschauer Vertrages. In den anderen Ländern der Volksdemokratie befinden sich keine sowjetischen Truppenteile.

Zur Gewährleistung der gegenseitigen Sicherheit der sozialistischen Länder ist die Sowjetregierung bereit, mit den anderen sozialistischen Ländern, die Teilnehmer des Warschauer Vertrages sind, die Frage der in den oben genannten Ländern befindlichen sowjetischen Truppen zu erörtern. Dabei geht die Sowjetregierung von dem allgemeinen Prinzip aus, daß die Stationierung von Truppen des einen oder anderen Teilnehmerstaates des Warschauer Vertrages auf dem Territorium eines anderen Teilnehmerstaates des Warschauer Vertrages nach Vereinbarung zwischen allen seinen Teilnehmern und nur mit Zustimmung des Staates, auf dessen Territorium seiner Bitte entsprechend diese Truppen stationiert wurden oder stationiert werden sollen, vorgenommen wird.

Die Sowjetregierung hält es für notwendig, anläßlich der Ereignisse in Ungarn eine Erklärung abzugeben. Der Verlauf der Ereignisse hat gezeigt, daß die Werktätigen Lingams, die auf der Grundlage der volks-demokratischen Ordnung große Fortschritte erzielt haben, mit Recht die Frage der Notwendigkeit, die ernsten Mängel auf dem Gebiet des wirtschaftlichen Aufbaus zu beseitigen, die Frage der weiteren Hebung des materiellen Wohlstandes der Bevölkerung und des Kampfes gegen bürokratische Entstellungen im Staatsapparat aufwerfen. Dieser berechtigten und fortschrittlichen Bewegung der Werktätigen schlossen sich jedoch bald Kräfte der schwarzen Reaktion und der Konterrevolution an, die versuchen, die Unzufriedenheit eines Teils der Werktätigen auszunutzen, um die Grundlagen der volksdemokratischen Ordnung in Ungarn zu untergraben und in Ungarn die kapitalistische und Gutsbesitzerordnung wiederherzustellen.

Die Sowjetregierung wie auch das ganze Sowjetvolk bedauern zutiefst, daß die Entwicklung der Ereignisse in Ungarn zu Blutvergießen geführt hat. Auf Bitten der ungarischen Volksregierung erklärte sich die Sowjetregierung mit dem Einmarsch sowjetischer Truppeneinheiten in Budapest einverstanden, um der ungarischen Volksarmee und den ungarischen Machtorganen zu helfen, die Ordnung in der Stadt wiederherzustellen. Angesichts dessen, daß das weitere Verbleiben der sowjetischen Truppeneinheiten in Ungarn Anlaß für eine noch größere Verschärfung der Lage sein kann, gab die Sowjetregierung ihrem Militärkommando Anweisung, die sowjetischen Truppeneinheiten aus der Stadt Budapest abzuziehen, sobald die ungarische Regierung dies für notwendig erachtet.

Zugleich ist die Sowjetregierung bereit, mit der Regierung der ungarischen Volksrepublik und den anderen Teilnehmern des Warschauer Vertrages entsprechende Verhandlungen über den Aufenthalt der sowjetischen Truppen auf ungarischem Territorium aufzunehmen.

Der Schutz der sozialistischen Errungenschaften des volksdemokratischen Lingams ist in diesem Augenblick die wichtigste und heilige Pflicht der Arbeiter, der Bauern, der Intelligenz, des ganzen werktätigen ungarischen Volkes.

Die Sowjetregierung gibt der Überzeugung Ausdruck, daß die Völker der sozialistischen Länder den äußeren und inneren reaktionären Kräften nicht gestatten werden, die Grundlagen der volksdemokratischen Ordnung, die durch den aufopferungsvollen Kampf und durch die Anstrengungen der Arbeiter, der Bauern und der Intelligenz eines jeden Landes erkämpft und gefestigt wurde, ins Wanken zu bringen. Sie werden alle Anstrengungen daransetzen, um nach der Beseitigung aller Hindernisse, die auf dem Wege zur weiteren Festigung der demokratischen Grundlagen, der Unabhängigkeit und der Souveränität ihrer Länder liegen, die sozialistischen Grundlagen eines jeden Landes, ihre Wirtschaft und ihre Kultur im Interesse des ununterbrochenen Anwachsens des materiellen Wohlstandes und kulturellen Niveaus aller Werktätigen weiterzuentwickeln. Sie werden die brüderliche Einheit und die gegenseitige Hilfe der sozialistischen Länder des Friedens und des Sozialismus festigen.“

Vier Tage Demokratie

Diese Deklaration, zu spät erlassen, bleibt ohne Einfluß auf die ungarische Revolution. Am Tag ihrer Veröffentlichung gibt Nagy die Zulassung der früheren, von den Kommunisten verbotenen Parteien, die Bildung einer echten Koalitionsregierung und damit das Ende des kommunistische Einparteiensystems bekannt. Der frühere Staatspräsident Zoltan Tildy kündet freie Wahlen an. Er fordert die Bauern auf, mit der Reorganisation der Kleinlandwirte-Partei zu beginnen, der in der ersten Nachkriegsphase größten demokratischen Partei.

Das neue Kabinett besteht aus Nagy und Kadar (KP), Tildy und Kovacs von der Partei der kleinen Landwirte, Erdei von der Bauernpartei und Losonzy, einem Nationalkommunisten. Es entspricht dem Willen des Volkes, dem Nagy sich nicht widersetzen kann, wenn er seinen Einfluß auf die Revolution nicht verlieren will. Schon Tage zuvor ist die Forderung nach einer Mehrparteienregierung von den National-räten fast aller ungarischen Komitate erhoben worden. Am 29. 10. hat der nationale Rat in Györ, der ganz Westungarn kontrolliert, von der Regierung Nagy die Annahme folgenden Programms verlangt:

1. Errichtung einer Demokratie nach westlichem Vorbild, 2. Freie Bildung von Parteien aller Richtungen, 3. Freie Wahlen, 4. Waffenstillstand und Rückzug der sowjetischen Truppen.

Nagy ist sich klar, daß die Nationalräte eine Gegenregierung bilden werden, wenn er ihren Forderungen nicht entspricht.

Durch die Proklamierung des Mehrparteien-Systems sieht sich die ungarische kommunistische Partei plötzlich vor die echte Bewährungsprobe der Demokratie gestellt. Ein Jahrzehnt hindurch von den Sowjets aufs Schwerste kompromittiert, beginnt sie, sich auf die Zukunft einzustellen: Um auch äußerlich den Bruch mit der Vergangenheit zu dokumentieren, ändert sie den Namen in „Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei“. Ihr erster Sekretär Janos Kadar beruft sich in einer Rede auf die Verdienste der Kommunisten um die ungarische Revolution. Ideologie und Organisation der Revolution seien das Werk von Kommunisten. Jetzt aber sei die Erhebung des Volkes an einem Kreuzweg angelangt:

„Entweder sind die demokratischen ungarischen Parteien stark genug, um ihre Erfolge zu festigen, oder wir sehen uns einer offenen Gegenrevolution gegenüber. Die ungarische Jugend, die Soldaten, die Arbeiter und die Bauern haben ihr Blut nicht dafür vergossen, daß auf die Tyrannei Rakosis die Tyrannei der Gegenrevolution folgt.

Wir haben nicht dafür gekämpft, daß man den Händen der arbeitenden Klasse die Bergwerke und Fabriken wieder entreißt und daß man den Bauern das Land wieder nimmt. Entweder sichert der Aufstand unserem Volk die grundsätzlichen Errungenschaften der Demokratie Versammlungs-und Organisationsrecht, individuelle Freiheit und Sicherheit, Pressefreiheit, Humanismus —, oder wir fallen in die Knechtsdraft der Großgrundbesitzer zurück ... Es besteht audr die Gefahr, daß eine bewaffnete ausländisdte Intervention unser Land das Sdtid^sal Koreas erleiden läßt.“

Die Prognose Moskaus über die Zukunft des Kommunismus in einer ungarischen Demokratie ist die gleiche wie die von Janos Kadar, aber das Politbüro zieht andere Konsequenzen. Die „Iswestija" weist auf den angeblichen Hilferuf von Nagy, der die sowjetischen Truppen „als lebenswichtig für die Interessen des Sozialistischen Regimes“ nach Budapest gerufen habe. Dann fährt der Artikel fort:

„Mit anderen Worten, daß eine Gefahr von den Gegenrevolution nären bestand. Es hat sidi aber herausgestellt, daß Nagy in Wirklidtkeit ein Komplice der reaktionären Kräfte ist. Das hat die Situation in Budapest und im ganzen Land tatsächlidi verschärft. Die sowjetische Regierung befahl, daß die sowjetisdren Truppen Budapest verlassen sollte, als sie sahen, daß die Anwesenheit der Truppen in Budapest zu einer weiteren Verschärfung der Lage führen könnte.

Die weitere Entwicklung der Dinge hat aber gezeigt, daß sich die reaktionären Kräfte die Toleranz des Kabinetts Nagys zunutze gemacht haben und sidt sogar noch zügelloser gehen ließen. Der blutige Terror gegen die arbeitende Klasse hat einen beispiellosen LImfang erreicht.

In Ungarn herrsdrt Chaos, das wirtschaftlidie und kulturelle Leben ist gelähmt.

Verschiedene Arten reaktionärer Gruppen, die sich hinter lauten Namen, laut proklamierten Programmen und demagogischen Redensarten verbergen, streben nach der Madit. Es ist beispielsweise bekannt, daß sich in Györ (Raab) horthyfaschistische Elemente gesammelt haben, die die Maßnahmen der konterrevolutionären Kräfte dirigieren. Gleichgültig wie die Reaktion tobt, gleichgültig wie sie von den Imperialisten ermutigt wird, es wird ihr nicht gelingen, die volksdemokratische Ordnung in Ungarn zu zerstören. Der Kampf des ungarischen Volkes für die Erhaltung und Stärkung der volks-demokratischen Ordnung in einem freien, unabhängigen, sozialistisdten Ungarn wird die volle Unterstützung des sowjetischen Volkes finden. Versperrt der Reaktion in Ungarn den Weg — das ist die dringende Aufgabe, die durch die Folge der Ereignisse diktiert ist.“

Der Artikel sollte den Angriff auf Ungarn motivieren. Die Offensive erfolgte am Morgen seiner Veröffentlichung. Sie zerstörte die ersten Ansätze der Demokratie.

Die Reaktion Titos

Am 22. 10. 1956 gingen in Belgrad die Besprechungen zwischen Tito und einer Delegation der ungarischen kommunistischen Partei unter Führung ihres ersten Sekretärs, des Stalinisten Gero zuende. Damit war die Zusammenarbeit zwischen den beiden Parteien, seit dem Bann-fluch des Kominform gegen Tito unterbrochen, offiziell wieder ausgenommen. Am 23. 10. wurde ein Kommunique veröffentlicht, in dem es heißt, die Besprechungen seien in einem „Geist der Freundschaft, des Freimuts und des gegenseitigen Verständnisses“ geführt worden. Es fordert eine „Zusammenarbeit zwischen den beiden Parteien auf der Grundlage des vollen Vertrauens, der Aufrichtigkeit, der Offenheit, der Gleichheit, der Freiwilligkeit und der gegenseitigen Nichteinmischung in die internen Angelegenheiten“ und einen „Meinungsaustausch über die Freiheit aufbauender, kameradschaftlicher Kritik, die von grundsätzlichen Positionen ausgeht und die Interessen der sozialistischen Entwicklung berücksichtigt“.

Das Kommunique bedeutete die Anerkennung Geros als Repräsentanten der ungarischen KP, eine Legitimierung des Stalinisten durch Tito gegen die „titoistische" ungarische Opposition. Es mußte Geros Position gegen die nationalkommunistische Intelligenz stärken, die in den letzten Tagen offen eine Änderung der Parteiführung mit dem Ziel seiner Absetzung gefordert hatte.

Zwei Tage später war der Resolutionspartner Titos von der Revolution beseitigt, Tito hatte mit einem politischen Leichnam verhandelt.

Am 2 5. 10. werden in Belgrad Besorgnisse geäußert über die Entwicklung in Ungarn, die „ein schwerer Schlag für den Sozialismus“ sei. Es verlautet, die Führung der ungarischen KP sei offensichtlich unfähig, ihre Aufgaben zur Förderung des Sozialismus zu erfüllen. Dann geht die Revolution in wenigen Tagen ihren Weg, aus der innerkommunistischen Revolte ist die Erhebung eines ganzen Volkes geworden. Ungarn fordert demokratische Parteien, deren Zulassung am 30. 10. durch Nagy proklamiert wird. Die demokratische Phase der Revolution beginnt Tito gefährlich zu werden, sie muß zwangsläufig die Frage nach Zulassung demokratischer Parteien auch in Jugoslavien aufwerfen. Am gleichen Tag erhält das ZK der ungarischen KP ein Schreiben Titos.

Er führt aus:

„Die Bedeutung dieser Ereignisse berührt nicht nur Ungarn, sondern auch die internationale Entwiddung des Sozialismus im allgemeinen.

Die jugoslawische Staats-und Parteiführung wünscht sich nicht in die inneren Angelegenheiten der ungarischen Arbeiterbewegung einzumischen. Aber wegen der großen Bedeutung der sidi gegenwärtig in Ungarn abspielenden Ereignisse und aus dem tiefen Gefühl der Solidarität gegenüber den ungarisdien sozialistischen Aspirationen und den Interessen des arbeitenden ungarischen Volkes heraus, appel liert das Zentralkomitee der jugoslawischen Kommunistenliga an das ungarische Volk,'die größten Anstrengungen zu unternehmen, um weiteres Blutvergießen zu verhindern.

Die arbeitenden Völker Jugoslawiens verstehen die Erbitterung des ungarischen Volkes über die Fehler und Verbrechen der Vergangenheit vollkommen. Es würde jedoch für die Ungarn, den Sozialismus im allgemeinen und für den Frieden zwischen den Nationen außerordentlich gefährlid-t sein, wenn diese gered^tfertigte Erbitterung den Glauben der arbeitenden Völker an den Sozialismus und die notwendige Entwicklung der sozialistischen Demokratie erschütterte.

Die jugoslawisdten Kommunisten und die arbeitenden Völker Jugoslawiens sind davon überzeugt, daß die wahren Kämpfer für den Sozialismus in Ungarn dies nicht zulassen werden. Sie werden nicht zulassen, daß versdiiedene Gruppen reaktionärer Elemente die gegenwärtigen Ereignisse ausnützen, um damit ihren antisozialistisdien Zielen zu dienen. Aus diesem Grunde begrüßt die jugoslawische Öffentlichkeit einstimmig und von Herzen die neue ungarische Führung und die am 28. 10. erlassene Deklaration der ungarischen Regierung, die eine weitere Demokratisierung des öffentlichen Lebens bekanntgibt.

Unter diesen Bedingungen fügt ein weiteres Blutvergießen nur dem ungarischen Volk und dem Sozialismus großen Schaden zu. Die jugoslawischen Kommunisten und das arbeitende Volk Jugoslawiens sind daher überzeugt, daß die ungarische Arbeiterklasse, welche einen guten sozialistischen Geist bewiesen hat, die kommunistische Partei und das gesamte ungarische Volk einen Weg finden werden, um das Blutvergießen einzustellen.

Das jugoslawische Volk und die Union der jugoslawischen Kommunisten wünschen der Führerschaft der ungarischen Kommunistischen Partei unter Leitung von Janos Kadar und Imre Nagy für die^c Bemühungen den besten Erfolg.

Gezeichnet: Josip Broz-Tito. 2)

Am 3. 11. bringen die LISA vor der Generalversammlung der UN einen Resolutionsentwurf ein, in dem die Unabhängigkeit Ungarns sowie der Verzicht Moskaus auf jede, vor allem bewaffnete Intervention verlangt wird. Er spricht die Erwartung aus, die Sowjetunion werde ihre Truppen auf Grund geeigneter Vereinbarungen mit der ungarischen Regierung unverzüglich zurückziehen. Der Vertreter Jugoslawiens, Brilej, setzt jedoch durch, daß die Generalversammlung sich ohne Beschluß auf den 5. 11. vertagt. Als die Resolution nach Beginn der sowjetischen Offensive am 4. 11. zur Abstimmung kommt, enthält Brilej sich der Stimme. Auf der gleichen Linie liegt der erste Kommentar der jugoslawischen Nachrichtenagentur „Tangjug" zur zweiten sowjetischen Intervention:

„Für uns Jugoslawen, die wir für den Sozialismus kämpfen, ist es klar, daß der Friede, der Fortsclrritt und die Unabhängigkeit in den osteuropäischen Staaten nur auf der Grundlage des Sozialismus aufgebaut werden können. Jeder 'Versuch, das Leben in diesen Staaten auf einer anderen Grundlage zu organisieren — wie dies in Ungarn der Fall war —, kann den Interessen des Volkes und jenen des Welt-friedens nur abträglich sein. Dagegen ist eine neue und normalere Entwidmung möglidt, welche die Festigung der wirklich demokratischen Beziehungen auf der Grundlage einer wirklidien sozialistischen Entwicklung erlaubt. Dies erfolgt im Interesse der Völker, im Interesse des Friedens, der Zusammenarbeit und der Verminderung der internationalen Spannung. Ein Beispiel für eine soldie Entwicklung ist Polen.

Das Programm des neuen Präsidenten der ungarischen Regierung verspridrt eine Entwicklung, welche zur Festigung des Sozialismus, zur sozialistisdren Demokratie und zur Unabhängigkeit führt; dieses Programm entspridrt den Wünschen, welche die Revolte vom 23. 10.

motivieren.

Der Einsatz fremder Truppen zur Abklärung der inneren Lage widerspridit dem Grundsatz, auf welchem Jugoslawien seine Außenpolitik aufbaut und weldrer die internationalen Beziehungen beseelen soll. Wir dürfen aber die Tatsache nicht übersehen, daß die Verwendung dieser Truppen das Ergebnis der Entwicklung der Ereignisse in Ungarn ist. Die bewaffnete Intervention gegen Ägypten nimmt den Urheber dieser Intervention jedes moralische Recht, ihren Standpunkt in bezug auf Ungarn im Namen der Objektivität und des Realismus zu vertreten." Die Existenz eines von Moskau unabhängigen Jugoslawien war für die antistalinistische Opposition des Ostblocks ein Faktor permanenter Ermutigung. Die offizielle Proklamierung des „unabhängigen Weges zum Sozialismus“ gab den theoretischen Postulaten der Opposition ihre stimulierende Basis. Die Arbeiterselbstverwaltung der Betriebe, das Freiwilligkeitsprinzip der Kolchosen zerfraß die scholastische Geschlossenheit des Stalinismus gleich einer ideologischen Säure. Und obwohl die Unabhängigkeitserklärung ein Bruch in der Spitze der Hierarchie war, erwies sie sich als ein Ferment für die Entwicklung der Revolution von unten, auch für Ungarn.

Die Erhebung in Ungarn hat alle antistalinistischen Kräfte freigesetzt, kommunistische wie antikommunistische, sie führte in wenigen Tagen weit über den oppositionellen Status Jugoslawiens hinaus. Sie testete den Titoismus auf seine politische Substanz und die Ehrlichkeit seiner Thesen. Jahrelang hatte Tito die Prinzipien der aktiven Koexistenz und Souveränität, der Nichteinmischung und des Selbstbestimmungsrechtes der Völker proklamiert und sich zwischen den Blöcken bei den Nationen der „Dritten Kraft“ Prestige und Ansehen verschafft. In der ungarischen Revolution haben diese Thesen sich als brüchig erwiesen, sie galten nur in der Theorie, nicht aber für die blutige sowjetische Praxis in Ungarn. Der „Mann auf der Straße“ hat in Jugoslawien den Freiheitskampf der Ungarn mit der gleichen Anteilnahme verfolgt wie in Polen, er mißbilligte die Inkonsequenz der Führung. Darüber hinaus hat Ungarn den Jugoslawen — Kommunisten wie Nichtkommunisten — die Perspektive einer weiteren Demokratisierung eröffnet. Warum kann in Jugoslawien nicht möglich sein, was in Ungarn von Moskau verhindert wurde? Durch nichts wird das Dilemma Titos mehr offenbar als den Entschluß, den fälligen Parteikongreß zu verschieben, um einer Diskussion dieser Widersprüche auszuweichen.

Die Rede Titos in Pola

Die militärische Intervention der Sowjets in Ungarn gefährdet auch Jugoslawien. Tito verläßt das exponierte Belgrad und verbringt die kritischen Tage in Brioni. Am 11. 11. reist er nach Pola und hält dort eine Rede über die Ereignisse in Ungarn. Er sagt u. a. über das System des Stalinismus:

„Als Stalin starb, haben die neuen sowjetischen Staatsmänner erkannt, daß die Sowjetunion dank Stalins Verrücktheiten in eine sehr schwierige Lage und in eine Sad^gasse geraten war. Sie erkannten, wo die Flauptursadie für alle diese Schwierigkeiten lag, und verurteilten auf dem XX. Kongreß Stalins Vorgehen und seine bisherige Politik. Sie faßten jedoch die ganze Angelegenheit fälschlich als eine Frage des Persönlichkeitskultes und nicht als eine des Systems auf. Der Persönlichkeitskult aber ist eigentlich das Produkt eines Systems Sie bekämften nidit das System, oder soweit sie es taten, geschah es mehr stillschweigend, wobei sie erklärten, im ganzen sei alles gut gewesen, nur habe Stalin in der letzten Zeit, eben weil er alt geworden sei, begonnen, nidit mehr ganz zurechnungsfähig zu sein und versdiiedene Fehler zu machen."

Über die Stalinisten in der Führung der KPdSU: „Sie wissen daß Chruschtschow auf Urlaub hier war. Nachdem die Genossen Rankovic und Pucar und idd auf die Krim eingelad'u vjaren, sind wir dorthin gefahren und haben die Gespräche fortgesetzt. Wir haben gesehen, daß die Angelegenheit in Bezug auf andere Länder ziemlich schwer gehen würde, denn die sowjetischen Staatsmänner haben in bezug auf die anderen Länder eine gewisse falsche und defekte Ansicht. Aber wir haben das nidrt so tragisdi genommen, denn wir haben gesehen, daß das nicht die Haltung der gesamten Sowjetführung ist, sondern nur eines Teiles, der diese Haltung dem anderen Teil bis zu einem gewissen Grade aufgezwungen hatte. Wir haben gesehen, daß diese Haltung von den Leuten aufgezwungen wurde, die ziemlich stark auf den Stalinschen Positionen standen und auch heute noch immer stehen, daß es aber noch immer Möglidikeiten gibt, daß in der Führung der Sowjetunion in einer inneren Evolution die Elemente siegen, die für eine kraftvollere und schnellere Entwid^mg in Richtung auf eine Demokratisierung, für eine Aufgabe aller Stalinschen Methoden und für die Schaffung neuer Beziehungen unter den sozialistischen Staaten sind.“

Moskau stützte Rakosi:

„Als wir in Moskau waren, wurde selbstverständlich auch über Polen und Ungarn und andere Länder gesprochen. Wir haben gesagt, daß Rakosis Regime und Rakosi selbst keinerlei Voraussetzungen besäßen, den ungarischen Staat zu leiten und ihn zur inneren Einheit zu führen, sondern daß sie ihn vielmehr zu sehr schweren Folgen führen könnten. Leider haben uns die sowjetischen Genossen nicht geglaubt. Sie sagten, Rakosi sei ein alter Revolutionär und er sei anständig und so weiter. Daß er alt ist, das stimmt, aber das reicht nicht. Daß er anständig ist, könnte ich, soweit ich. ihn kenne, besonders nach dem Rajk-Prozeß und allen anderen Dingen, nicht bestätigen. Für mich sind das die am wenigsten anständigen Menschen auf der Welt. Die sowjetischen Genossen sagten, er sei klug, er werde Erfolg haben, und sie wüßten nicht, auf wen anders sie sich dort stützen könnten."

Tito über die sowjetische Intervention: „Was ist nun das kleinere Übel? Entweder das Chaos, der Bürgerkrieg, die Gegenrevolution und ein neuer Weltkrieg oder das Eingreifen der Sowjettruppen, die dort standen? Das eine ist eine Katastrophe, das andere aber war ein Fehler. Und wenn das den Sozialismus in Ungarn rettet, dann werden wir, meine Genossen, sagen können, obgleich wir gegen eine Einmischung sind, daß die sowjetische Intervention notwendig war. Wenn sie dazu führt, daß der Sozialismus in Ungarn, das heißt der weitere Aufbau des Sozialismus in diesem Lande, und der Weltfrieden erhalten werden, dann wird dies eines Tages positiv werden, vorausgesetzt, daß sich die Sowjettruppen in dem Augenblick zurückziehen, da sich die Verhältnisse in diesem Lande ordnen und beruhigen. Wir haben das den sowjetischen Genossen auch gesagt, wir haben kein Blatt vor den Mund genommen. Die sowjetischen Genossen haben gesagt, ihre Truppen würden dann gehen. Man muj] bedenken, daß sich auch die Sowjetunion jetzt in einer schweren Lage befindet. Es ist ihnen jetzt wie Schuppen von den Augen gefallen, und sie sehen, daß dort nicht nur Horthy-Anhänger, sondern auch die Arbeiter aus den Fabriken und Bergwerken kämpfen, daß das ganze Volk kämpft. Mit schwerem Herzen und ungern gehen die Sowjetsoldaten. Darin liegt die Tragödie.“

Der Sozialismus ist kompromittiert:

„Ich bin fest überzeugt, daß das Blut, das in Ungarn geflossen ist, und jene furclttbaren Opfer, die das ungarische Volk gebracht hat, eine positive Wirkung haben und daß den Genossen in der Sowjet union, sogar auch jenen stalinistischen Elementen, ein wenig ein Licht aufgeht und daß sie erkennen, daß man es so nicht mehr machen kann. Es ist unsere Tragödie, die Tragödie von uns allen zusammen, daß dem Sozialismus ein furchtbarer Schlag zugefügt wurde. Er ist kompromittiert.

Ich glaube, daß die Ereignisse in Ungarn wahrscheinlich die letzte Tragödie sein werden, die die sowjetischen Genossen und die führenden Männer in den anderen Ländern, die das doch nicht sehen, aufrütteln wird, alles zu tun, damit es nicht auch in anderen Ländern zu einer solchen Lage kommt, wie sie jetzt in Ungarn herrsdu. Sie haben seit 1948 gesät, und was sie gesät haben, ernten sie jetzt. Sie haben Wind gesät, und sie ernten Sturm.“

Die „Prawda” antwortet Tito

Am 23. 11. 19 56 veröffentlicht die „Prawda" einen redaktionellen Artikel über die Rede Titos. In ihm heißt es u. a. über den Beginn der Revolution: „ . Es ist jetzt genau festgestellt, daß die konterrevolutionären Elemente schon vorher organisiert waren, ein eigenes militärisdtes Leitungszentrum besaßen, und Kräfte für einen Staatsstreidi ausgebildet und an versdtiedenen Orten aufgestellt hatten; daß Leute bestimmt waren, die sich der Waffenlager bemächtigen sollten, daß Angriffsobjekte festgelegt, Transportmittel zur Beförderung von Waffen mobilisiert und Stellen für die Waffenverteilung festgesetzt waren. Deshalb kam es audt zu den blutigen Ereignissen von Budapest, die durch die provokatorisdien Aktionen der horthyfaschistischen Banden hervorgerufen wurden.

Die westlidten bürgerlidcen Zeitungen schreiben ziemlidc offen darüber, daß die ungarischen Ereignisse von der Reaktion sowohl innerhalb als audt außerhalb des Landes lange und sorgfältig vorbereitet wurden, daß von Anfang an in allem die erfahrene Hand von Verschwörern zu spüren war. Der Leiter des amerikanischen Spionage-dienstes, Allan Dulles, erklärte direkt, von den ungarischen Ereignissen . haben wir vorher gewußt'.“

Die Existenz des Stalinismus wird von der „Prawda" bestritten: „Angesichts der Forderungen des sozialistisdten Internationalismus muß der Ton Verwunderung hervorrufen, in dem es Genosse Tito für angebradtt hielt, über die kommunistisdien Parteien und ihre Führer zu spredten. Alle führenden Funktionäre der Bruderparteien des Westens und des Ostens, die mit seinem Standpunkt nicht übereinstimmen, zählt er ohne jede Begründung zu den Stalinisten , wobei er ihnen die negativsten Züge zuschreibt. Von ihnen spricht er nidit anders als von „eingefleischten stalinistisdien Elementen“, als von „verantwortungslosen Elementen in verschiedenen kommunistisdren Parteien“ und so weiter. Von derartigen Ausfällen gegen kommunistische Führer strotzt die ganze Rede, die in Pola gehalten wurde. Tito, der die Frage der gegenseitigen Beziehungen zwischen den kommunistischen Parteien zum Thema seiner Rede wählte, führte eigentlich keine kollegiale Polemik, er diskutierte nicht, sondern belehrte oder, richtiger gesagt, beschimpfte führende Funktionäre der kommunistischen und Arbeiterparteien.

Die Rede wurde durchaus nicht im Ton eines Gesprächs oder Wortgefechts auf gleicher Ebene, bei entspred^ender Achtung der verschiedenen Meinungen gehalten. Es besteht indessen kein Grund, von „Stalinisten“ und „Stalinismus“ zu sprechen, da unsere Partei, ebenso wie die anderen kommunistischen Parteien, die revolutionären Prinzipien des Marxismus-Leninismus verteidigt und immer verteidigt hat. . .

Nach all dem Gesagten ist es nicht verwunderlich, daß die Rede des Genossen Tito in den bürgerlichen Kreisen im Ausland mit ]ubel ausgenommen wurde . . . Unsere Gegner beeilen sich jetzt, die Schluß folgerung zu ziehen, daß diese Rede die Ursache ernster Meinungsverschiedenheiten zwischen den sowjetischen und den jugoslawischen Kommunisten sei und zu einer Verschlechterung der sowjetisch-jugoslawischen Beziehungen führen wird.“

Inzwischen hat die Opposition Jugoslawiens in dem ehemaligen Vizepräsidenten Milovan Djilas einen Sprecher gefunden, dessen Urteil über die Ereignisse am 19. 11. in der amerikanischen Zeitschrift „The New Leader“ erschien. Er schreibt: „Moskaus Politik gegenüber den kommunistischen Ländern spiegelt klar den Willen wider, dem Aufbrechen des Imperiums Einhalt zu gebieten und die führende Rolle des sowjetisdcen Kommunismus zu erhalten . . . man kann mit Sidterheit erklären, daß in der sowjetischen Führerschaft ein Riß vorhanden ist, und daß sogar die reaktionärste und imperialistische Gruppe (die sogenannten Stalinisten) in ihren Aktionen zögert. Der Einfluß dieser Gruppe herrscht gegenwärtig vor, besonders im Hinblid-c auf die osteuropäisdren Länder. Das aber bedeutet nidit, daß die andere Gruppe für eine Llnabhängigkeit dieser Länder eintritt.

Der Untersdiied zwisdien ihnen liegt in den Methoden: ob man lieber an den alten Militär-und Polizeimethoden (die imperialistischen Methoden Stalins) festhalten, oder sich neue zu eigen madien sollte, in denen wirtschaftlidie und politisdie Elemente beherrschend sein würden. Versudie zur Einführung der neuen Methoden führten zum „Fall Polen“, die Rückkehr zu den alten Methoden führte zu den Ereignissen in Ungarn. Beide Methoden haben sich als unwirksam erwiesen. Daraus ergaben sich die Risse und Konflikte in der Sowjetunion .. .

Weitere Veränderungen in der sowjetischen Führungsgruppe sind sehr wahrscheinlich und werden von großer Bedeutung für die Sowjetunion und die übrige Welt sein. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die übrige Welt — vielleicht zum erstenmal seit der bolschewistischen Machtübernahme — direkt und positiv die Art dieser Veränderungen beeinflussen kann. Trotz der sowjetischen Unterdrückung in Ungarn kann Moskau das Fortschreiten dieser Veränderungen nur verlangsamen. Es kann sie nicht auf lange Sicht unterbinden.

Die Krise besteht nicht nur zwischen der Sowjetunion und ihren Nachbarn, sondern ist im kommunistischen System selbst ausgebrochen . . . Wenn der Imperialismus Moskaus eine Niederlage erleidet und von Kriegsabenteuern abgehalten wird, wird auch die Sowjetunion beträchtlihe innere Wandlungen durhmachen müssen ... In derselben Form wie der jugoslawisdce Kommunismus, als er sich von Moskau trennte, die Krise im sowjetischen Imperialismus durch die Geburt des nationalen Kommunismus heraufbeschwor, haben die Ereignisse in Ungarn das Ende des Kommunismus im allgemeinen heraufbeschworen.“ Die Antwort Titos ließ nicht lange auf sich warten: noch am Tage der Veröffentlichung wurde Djilas verhaftet und am 12. Dezember 19 56 zu drei Jahren verschärften Kerkers verurteilt.

Nehru und Ungarn

Die Revolution in Ungarn hat die Regierungen auf die Moral ihrer Politik geprüft, und in der Verwirrung der Interventionen von Budapest und Suez mochte die Haltung Nehrus zu Ungarn zunächst zwiespältig erscheinen. Bald aber kristallisierte sich die Linie seiner Anti-Interventionspolitik unmißverständlich. Am 18. 11. 1956 erklärte Nehru vor dem indischen Unterhaus:

„Es besteht kaum ein Zweifel daran, das] die gegenwärtige Bewegung in Ungarn eine Volksbewegung ist . . . Ich zweifle nicht daran, das] das ungarische Volk, das so eindrucksvoll seinen Wunsd'i nach Freiheit demonstriert hat, triumphieren wird.“

Er fügte hinzu, der passive Widerstand habe ihn noch mehr beeindruckt als die Kämpfe. Die brutale Anwendung von bewaffneter Macht gegen schwächere Nationen in Ungarn (und Ägypten) werde keinen Erfolg haben. Die Regierung Kadar sei nicht frei, sondern aufgezwungen. Das ungarische Volk sei mit ihr nicht zufrieden.

„Möglicl^erweise hat die ungarische Armee auf selten des Volkes gekämpft. Es ist für uns nicht wichtig, die näheren Einzelheiten zu erfahren. Es ist eine Tatsache, das] die große Mehrheit des ungarischen Volkes eine Änderung wünschte und daß es einen Aufstand unternahm, um dieses Ziel zu erreichen, und daß dieser Aufstand unterdrückt wurde. Ich glaube, daß auf Seiten der Ungarn auch einige Elemente waren, die man Faschisten nennen kann. Ich glaube aud'i, daß es wahr ist, daß Außenseiter hereinkamen und daß vom Ausland Waffen geliefert wurden. Aber es ist eine Tatsadie,'daß das ungarische Volk oder ein sehr großer Teil davon Freiheit von auswärtiger Kontrolle und Einmischung fordert.“

Nach dem Ende der Kämpfe sei es zu außerordentlichen Demonstrationen des passiven Widerstandes gekommen. Dieser Widerstand einer Riesenzahl von Menschen scheine die Wünsche des Landes deutlicher auszudrücken, als ein bewaffneter Aufstand von verstreuten Gruppen.

Die Bilanz der letzten Monate zog Nehru am 21. Dezember 1956 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen. Die jüngsten Ereignisse in Ungarn und im Nahen Osten hätten die Wirkungslosigkeit militärischer Maßnahmen in der Regelung von Streitfragen erwiesen. Die Arbeit der Vereinten Nationen in den letzten Wochen berechtige zu großen Hoffnungen. Die öffentliche Meinung sei ein Faktor, der stark genug sei, Maßnahmen nicht zu tolerieren, die von ihr als falsch erkannt würden. Es habe sich eine Art Weltgewissen entwickelt, Krieg sei zu einer „unmöglichen“ Angelegenheit geworden.

Das polnische Volk sieht auf Ungarn

Die Identität der Unabhängigkeitsbestrebungen hat die polnische Bevölkerung den Freiheitskampf der Ungarn mit leidenschaftlicher Anteilnahme verfolgen lassen. Die enge Freundschaft zwischen Polen und Ungarn wurzelt nicht nur in den Ereignissen der Gegenwart, sondern auch in historischen Traditionen. Der Kampf gegen die Russen in den nationalen Revolutionen des vergangenen Jahrhunderts, die gemeinsame Verbundenheit im Katholizismus und die selbstlose Hilfe, die Ungarn im letzten Weltkrieg zehntausenden polnischen Flüchtlingen angedeihen ließ, hat starke Bindungen zwischen den Völkern geschaffen. Auch die Reaktion der Warschauer Regierung war die eines uneingeschränkten Verbündeten — solange die ungarische Revolution im nationalkommunistischen Rahmen blieb. Die Moskauer These von der „imperialistischen Provokation in Ungarn“ fand eindeutige offizielle Ablehnung. Das Zentralkomitee der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei begrüßte die ungarische Revolution in einem Appell an Nagy und Kadar, und trat für volle Souveränität, den Abzug der sowjetischen Truppen und „neue Beziehungen zur Sowjetunion auf einer leninistischen Basis“ ein. „Zycie Warszawy“ schrieb:

„Heute haben wir bereits volle Klarheit darüber, daß das, was in Ungarn gesd'tah, den Charakter einer nationalen Erhebung im Kampf um die Freiheit, Souveränität und Demokratisierung des Lebens trug, um Ideale, die auch uns teuer sind. Der Versuch, die ungarisdie Revolution den Tätigkeiten der imperialistischen Agenten zuzuschreiben, ist eine große Unwahrheit und eine große Naivität zugleich."

Am 30. Oktober 1956 würde die Deklaration der Sowjetregierung über die Revision der Beziehungen zu den Satellitenstaaten veröffentlicht. Sie erweckte neue Hoffnungen nicht nur für Polen, auch für Ungarn. „Zycie Warscawy“ schrieb:

„Mit einer tiefen Freude begrüßen wir die Deklaration der sowjetisdten Regierung. Sie macht Schluß mit dem über dem ganzen Lager aer Sozialisten lastenden Alpdrud^ der Unstimmigkeiten und Konflikte. Ihr sind die umwälzenden Ereignisse in Polen vorausgegangen, die 1 atsachen des siegreichen Kampfes der Kräfte des Fortschrittes und der sozialistischen Demokratie über die Kräfte des Konservativismus und der Reaktion in der Arbeiterbewegung bei uns und in anderen Ländern. Der Deklaration sind auch die Ereignisse in Ungarn vorausgegangen. Diese Fakten haben zweifellos dazu beigetragen, daß audr unsere sowjetischen Freunde in der Ausführung der Riditlinien des 20. Parteitages der Kommunistischen Partei der Sowjetunion imstande waren, die Anhäufung der Fehler zu durdibrechea, die so viele Verwüstungen im politisd-ien Leben unserer sozialistischen Familie angerichtet hat.“

Inzwischen hat die ungarische Revolution den nationalkommunistischen Rahmen gesprengt. Am 30. Oktober, dem Tag der Veröffentlichung der Moskauer Deklaration, muß Janos Kadar unter dem Druck der Ereignisse auf Beschluß des Politbüros der ungarischen -KP der Wiederzulassung der aufgelösten nichtkommunistischen Parteien deutlich zustimmen. Eine Entwicklung hat in LIngarn begonnen, die von den Nationalkommunisten in Polen abgefangen werden konnte, die jedoch grundsätzlich von der nichtkommunistischen Mehrheit der polnischen Bevölkerung genau so angestrebt wird wie in LIngarn. Die Grenze, über die hinaus weitere Konzessionen die Existenz des Nationalkommunismus gefährden, ist erreicht. Sie darf nicht überschritten werden. Noch gibt am 3. November „Zycie Warszawy“ einen anschaulichen und objektiven Bericht über die Ansätze der Demokratie in LIngarn, der die Sympathie der Polen offen wiedergibt

„Man muß bedenken, daß die friedlidten Budapester Manifestationen unter der Parole der Gestaltung der Beziehungen mit der Sowjetunion auf dem Grundsatz „Frei mit den Freien, gleidt mit den Gleidren“

erfolgten und daß man die Demokratisierung des öffentlichen Lebens, die Bildung der Arbeiterselbstverwaltungen und die Verbesserungen der Lebensbedingungen forderte.“

Nach diesen Worten zitierte der polnische Sonderkorrespondent ein Gespräch mit einem ungarischen Kommunisten, der ihm sagte:

„Wir wollten das gleidte Programm, das Polen hat. Wir wollten unser Ziel auf die gleidie. Weise erreidten, wie man es in Polen erreidit hat. . .“

Der polnische Korrespondent bemerkt dann, daß im Lauf einer Woche die politische Situation in Ungarn sich so gewandelt hatte, daß man über die ursprünglichen Forderungen weit hinausging. Der Bericht fährt fort:

„Wir haben es mit der Entstehung eines neuen Systems zu tun, dessen Grundsätze nodi nicht bestimmt sind. Als ich diese Ansicht gegenüber einem höheren Funktionär des Komitees der reorganisierten Gewerksdtaften äußerte und ihn dann fragte, was er davon halte, erklärte er mir, ohne einen Augenblid? zu zögern, daß so etwas möglidt ist. Eine ähnliche Ansicht hat audi ein Funktionär aus den regierungsnahen Kreisen geäußert, wobei er bemerkte, daß das zwar nicht das Ziel der friedlidien Demonstrationen vor einer Wodie war, daß aber die politischen Ereignisse sich in dieser Richtung entwid? elt haben ..."

Über den Hintergrund der neuen politischen Situation Lingams, wie sie sich vom 23. Oktober bis zum 3. November entwickelt hatte, schreibt der Budapester Korrespondent von „Zycie Warszawy“: „Man muß sielt überlegen, warum es zu einer solchen Situation gekommen ist, weil die Analyse der Ereignisse nicht nur rückblid^ende Bedeutung hat, sondern audi die Schlußfolgerungen erlaubt, die vom Standpunkt des sozialistischen Lagers von zwingender Aktualität sind. Dabei kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Gründe für die ganze Entwiddung in den Fehlern der stalinistischen Führung der Llngarisdien Partei der Werktätigen zu suchen sind, die sowohl in der Vergangenheit wie auch während der Budapester Ereignisse begangen wurden. Man kann auch den in seinen Folgen tragisdien Einmarsch der Sowjettruppen nicht außer adit lassen . ..

Der Einsatz der Sowjettruppen hat die Krise vertieft. Seitdem hat die führende Rolle der Partei aufgehört, und — was noch sdtwerwiegender war — die emotionellen Gefühle, die im Augenblick einer Manifestation und insbesondere bei der Massenexaltation in einer Revolution über die Vernunft die Oberhand gewinnen, identifizierten in vielen Fällen die stalinistische Gruppe der ungarisdien Partei mit dem Sozialismus schledithin und ersdnütterten dadurch nicht nur das Vertrauen zu der Partei, sondern mit der Zeit auch teilweise zu dem Sozialismus. In Ungarn haben sich sämtliche Kräfte im Kampf gegen die Intervention der fremden Truppen in die inneren Angelegenheiten ihres Landes vereinigt: Die Parole der Gestaltung der Beziehungen mit der Sowjetunion auf der Grundlage „Frei mit den Freien, gleich mit den Gleidien“ verwandelte sid: zunächst in die gesamtnationale Forderung auf Abzug der Sowjettruppen aus Budapest und dann aus ganz Ungarn bis zur Kündigung des Warsdiauer Pakts . . .

Ich spradt mit einer Reihe von Mitgliedern der alten Partei der ungarisdien Werktätigen, die übrigens wegen ihrer antistalinistisdien Haltung im Gefängnis saßen. Ihnen sind die sozialistischen Ideale, die Lehre von Marx und Lenin nah. Manche von ihnen sind gleidi in die neue Partei eingetreten, andere zögern damit und begründen diese Haltung folgendermaßen: , Die Sowjetunion ist ein sozialistisdies Land, aber die Truppen dieses Landes befinden sich auf unserem Territorium gegen unseren Wunsch. Die ausbleibende Entscheidung darüber verschärft den moralischen Konflikt zwischen der nationalen Staatsraison und dem internationalen Begriff der Arbeitersolidarität. . . Alle Parteien in Ungarn, einschließlich der Exekutivkomitees der Gewerkschaften, er- klären, daß sie auf der Plattform der sozialistischen Errungenschaften, das heißt der Verstaatlichung der Industrie, der Bodenreform und der verschiedenen anderen Reformen, stehen. Man kann diese Erklärung für ehrlich halten, zumal die Mehrheit der Arbeiter einen klaren Standpunkt darüber hat.'“

Die Entwiddung in Ungarn geht also weiter als in Polen, auch das polnische Volk wird von einer zunehmenden Unruhe erfaßt. Schon am 31. Oktober hat das Zentralorgan der polnischen Kommunisten, „Tribuna Ludu“, einen Bericht aus Budapest veröffentlicht, in dem es heißt:

„In Ungarn erheben ihr Haupt auch die Kräfte der Reaktion.

Ferenc Nagy, der ehemalige Ministerpräsident, der seit Jahren im Exil lebt, ist nach Wien gekommen. Eine ungarische Legion, bestehend aus den ungarischen ,. weißen Emigranten“, ist vom österreichischen Territorium nach Ungarn einmarschiert... Es wächst die Gefahr, daß die bereits wirkenden reaktionären Kräfte, getragen von der Welle der antisowjetischen Stimmung, die Leitung der Bewegung in die Hand nehmen werden, um dann die Macht zu ergreifen. Daher reängt alles von der Entschiedenheit, vom Mut und den schnellen Entschlüssen des demokratischen Kerns der Partei und der Regierung ab.“

Einige Tage später richtet das Zentralkomitee der Arbeiterpartei ein Manifest . an das polnische Volk mit der eindringlichen Aufforderung, Ruhe, Vernunft und Disziplin zu wahren. Es wendet sich gegen die auch in Polen populäre Forderung der Ungarn, die sowjetischen Truppen abzuziehen. Die demokratische Ausweitung der ungarischen Revolution wird als „Gefährdung der Grundlage des sozialistischen Systems“ gekennzeichnet.

Mit Beginn der zweiten militärischen Intervention am 4. November sind die offiziellen Kommentare zurückhaltend. Sie beschränken sich auf die Versicherung einer tiefen Anteilnahme am tragischen Schicksal des ungarischen Volkes, aber es gibt jetzt keine Solidaritätserklärung mehr mit dem Verzweiflungskampf der Aufständischen, denen — im Gegensatz zur Regierung — auch jetzt noch die volle Sympathie des polnischen Volkes gehört. Gomulka kann ebenso wenig wie Tito eine Demokratie billigen, deren Einführung in Polen wie Jugoslawien das Ende des Nationalkommunismus bedeuten würde.

Polen und Ungarn — ein Vergleich

Die gleichen sozialen und politischen Kräfte, von denen die ungarische Revolution ausgelöst wurde — Arbeiterschaft und revolutionäre Intelligenz — haben auch die „kalte“ Revolution in Polen erzwungen. Die polnische Arbeiterschaft, deren durchschnittlicher Standard an der Grenze des Existenzminimums liegt, hat einen zunehmenden Druck auf die kommunistische Bürokratie ausgeübt. Der Aufstand von Posen war ein dramatisches Fanal der Revolution. Er hat jene Veränderungen in der Spitze des polnischen Kommunismus bewirkt, die mit dem Sieg Gomulkas über seine stalinistischen Gegner endeten. Zu dieser Entwicklung hat die junge kommunistische Intelligenz wie in Ungarn entscheidend beigetragen. Die polnische Presse war das Sprachrohr der Revolutionäre.

Der polnische Kommunismus war nur zu erhalten, wenn er dem sozialen und nationalen Druck des Volkes nachgab und eine Transformation zum Nationalkommunismus vollzog. Das System Gomulka ist ein Kompromiß zwischen der kommunistischen Bürokratie und den sozialen und nationalen Ansprüchen des polnischen Volkes. Seine Stabilisierung hängt davon ab, ob es Gomulka gelingt eine Synthese zu schaffen aus den Interessen vor allem der polnischen Arbeiterschaft und darüber hinaus denen des polnischen Volkes einerseits und denen seiner Partei andererseits. Die Reaktion der Polen auf die ungarische Revolution hat erwiesen, daß die Massen — wie in Jugoslawien — auf weitere Demokratisierung drängen. Gomulka wird diesem Druck nicht ausweichen können, deshalb bedeutet seine Machtübernahme nicht das Ende der Umwälzung, sondern nur das Ende ihrer ersten Etappe. Der revolutionäre Prozeß selbst geht weiter. Der polnische Nationalkommunismus wird die Arbeiterselbstverwaltung der Betriebe durchführen müssen, im übrigen aber muß er versuchen, die sozialen und politischen Ansprüche der Arbeiterschaft wie der nichtkommunistischen Kräfte in den Schranken des kommunistischen Einparteien-Systems zu halten.

In Warschau vollzieht sich Revolution auf kaltem Wege mit dem gleidien Mechanismus, den die Stalinisten im Februar 1948 beim Putsch gegen Benesch praktizierten. Die Technik des Staatsstreichs ist geblieben, nicht aber die Zielsetzung: sie ist heute antistalinistisch. Und die klassischen Prinzipien Lenins erweisen sich als unverändert wirksam, auch gegen seine Epigonen.

Die zielbewußte Aktion der Gruppe um Gomulka hat Polen das tragische Schicksal Ungarns erspart. Sie erkämpfte rechtzeitig die Führung im Zentralkomitee und setzte sich an die Spitze der breiten Unabhängigkeitsbewegung, alle heterogenen politischen und weltanschaulichen Kräfte Polens vereinend. Als Führer einer gegen den sowjetischen Machtanspruch geeinten und offensichtlich zum äußersten entschlossenen Nation erzwang Gomulka in dramatischen Auseinandersetzungen mit den Vertretern des Kreml die Respektierung des Willens seines Volkes..

In Budapest fehlte die starke nationalkommunistische Gruppe in der Führungsspitze. Rajk und seine Freunde, die Ungarn vielleicht den Weg Polens hätten führen können, sind ermordet worden. Nur durch einen rechtzeitigen Wechsel in der Führung von Partei und Staat wäre es noch möglich gewesen, den Aufstand zu verhindern. Die Schuld für das Blutvergießen in Ungarn liegt bei den Stalinisten in Budapest und Moskau. Zur politischen Bürokratie degeneriert und ohne Verständnis für die Dialektik der Gegenwart haben sie versäumt, den Forderungen der Arbeiterschaft und der jungen kommunistischen Intelligenz nachzugeben, deren Erfüllung das Prestige des ungarisdien Nationalkommunismus allein hätte retten können.

Suslow über die ungarische Revolution

Während die ungarischen Revolutionäre einen erbitterten, hinhaltenden und aussichtslosen Widerstand gegen die sowjetischen Panzer leisten, begeht Moskau den 39. Jahrestag der russischen Oktoberrevolution, deren historische Parolen „Die Fabriken den Arbeitern“, „Das Land den Bauern“ und „Die Macht den Arbeiterräten“ dem Programm der innersowjetischen Opposition und dem der ungarischen Revolutionäre so verblüffend ähnlich ist. Die große Festrede wird von Suslow gehalten.

Seine Laufbahn charakterisiert die „bourgeoise“ Metamorphose, die das System in den 39 Jahren nach der Revolution erfahren hat. Als Protege von Stalin und Schdanow wird er 1939 ins ZK gewählt. Im Krieg erweist er sich als rücksichtslos und zielstrebig. 1944 läßt er als Sonderbeauftragter des ZK für Litauen Hunderttausende in die polaren und sibirischen Zwangsarbeitslager deportieren, wo sie elend zu Grunde gehen. Er liquidiert die gesamte litauische Intelligenz. Hier sammelt er seine Erfahrungen zur Unterdrückung der ungarischen Revolution. 1947 ist er Sekretär für Agitation und Propaganda im ZK, dann einer der Initiatoren des Kominformbeschlusses gegen Tito, ein Feind des Nationalkommunismus. Am Tag vor dem großen Angriff auf die Revolution ist er in Budapest. Der Praktiker des litauischen Genocid von 1944 lenkt den ungarischen Genocid von 19 56. Einige Tage später sagt er in der Festrede zur Oktoberrevolution über Ungarn:

„Sie müssen sich darüber im klaren sein, daß die feindlichen Kräfte, solange -das imperialistische Lager existiert, wiederholt Versuche zur Restaurierung des Kapitalismus unternehmen werden. Das haben uns die Ereignisse der letzten Tage, in erster Linie in LIngarn, erneut eindringlich ins Gedächtnis gerufen. Es wäre falsch anzunehmen, daß die grundlegende Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die in den letzten zehn Jahren in den volksdemokratischen Ländern erfolgte, ohne Schwierigkeiten, schmerzlos verlaufen konnte. Viele dieser Schwierigkeiten und Fehler waren vermeidbar;

es geht nur darum, die Fehler rechtzeitig zu erkennen und zu beheben.

Gerade so handeln die brüderlichen kommunistischen und Arbeiterparteien der volksdemokratischen Länder, die nach dem 20. Parteitag der KPdSU mit der Neugestaltung und Verbesserung der Methoden der Partei-und Staatsarbeit unter Berücksichtigung der Besonderheiten ihrer Länder begonnen haben, wobei sie die in der Vergangenheit gemachten Fehler entschieden korrigieren.

Leider ist es in Ungarn anders gekommen. Die ehemalige ungarische Führung, die seiner Zeit nicht wenig grobe Fehler beging, hat die Forderungen des Augenblicks nicht erkannt und mit äußerster Verspätung gehandelt, wodurch die Unzufriedenheit der Massen ausgelöst wurde. Reaktionäre, antisozialistische Elemente, die von der internationalen Reaktion gelenkt werden, nutzten das sofort aus, um eine Attacke auf die volksdemokratische Ordnung einzuleiten. Mit heuchlerischen Losungen ist es ihnen gelungen, für eine gewisse Zeit bedeutende Massen, insbesondere die Jugend, irrezuführen.

Von den konterrevolutionären Kräften wurde eine zeitweilig außerordentlich gefährliche Lage für die Geschicke des Sozialismus in Ungarn herbeigeführt. Die Regierung Imre Nagy, die in dieser Situation entstand, überließ den reaktionären Kräften eine Stellung nach der anderen und ist, nachdem sie der Konterrevolution den Weg geebnet hatte, faktisch zerfallen. Konterrevolutionäre Banden entfalteten Terror, mordeten bestialisch bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, henkten und erschossen Kommunisten. Über die Westgrenze Ungarns wurden in verstärktem Maße Waffen gebracht und zahlreiche Gruppen von Offizieren und Soldaten eingeschleust, die bei der Hitlerwehrmacht und der faschistischen Horthyarmee gedient hatten. In Ungarn herrschte völliges Chaos und hemmungslose Willkür. Es drohte die direkte Gefahr einer Restaurierung der Ordnung der Kapitalisten und Großgrundbesitzer und des Wiedererstehens des Faschismus.

Ein Sieg der Reaktion und des Faschismus in Ungarn hätte nicht nur bedeutet, daß die ungarischen Werktätigen alle von ihnen im Kampfe gegen die Großgrundbesitzer und Kapitalisten erzielten Errungenschaften verlieren, sondern hätte auch eine Gefahr für die anderen sozialistischen Länder geschaffen, insofern, als imperialistische Stützpunkte an ihren Grenzen errichtet worden wären.

In dieser im Leben des ungarischen Volkes verantwortungsvollen Stunde faßten die sozialistischen Kräfte des Landes den einzig richtigen Beschluß — eine revolutionäre Arbeiter-und Bauernregierung zu gründen, die in der Lage ist, der Reaktion und dem Faschismus den Weg zu verlegen. Im Interesse ihres Volkes, der ungarischen Arbeiterklasse und ihres Vaterlandes wandte sich die Revolutionäre Arbeiter-und Bauernregierung an das Kommando der sowjetischen Truppen mit der Bitte, dem ungarischen Volk zu helfen, die finsteren Kräfte der Reaktion und der Konterrevolution zu zerschlagen, die sozialistische Volksordnung wieder zu errichten und Ruhe und Ordnung im Lande wieder herzustellen.

Nunmehr haben die sozialistischen Kräfte Volksungams gemeinsam mit den Einheiten der Sowjetarmee die Kräfte der Reaktion und der Konterrevolution zerschlagen, sie haben es nicht zugelassen, daß die Konterrevolution-die Kräfte des Sozialismus mit Füßen tritt.

Die Sowjetmenschen, die Werktätigen aller sozialistischen Länder und alle fortschrittlichen Kräfte der Welt, die in diesen Tagen über die Entwicklung der Ereignisse in LIngarn ernsthaft besorgt waren, freuen sich über den Sieg, den die ungarischen Werktätigen über die Konterrevolution errungen haben. LIngarn war und ist ein freier, unabhängiger und gleichberechtigter sozialistischer Staat in der Familie der sozialistischen Länder und wird es sein!“

Arbeiterräte gegen den Kommunismus

Suslows „Revolutionäre Arbeiter-und Bauernregierung" tritt mit Beginn der zweiten sowjetischen Intervention in Erscheinung. Sie besteht nur aus Kommunisten und wird von Janos Kadar geleitet, der sich von Nagy getrennt hat, um mit Hilfe der Sowjets die Ansätze der Demokratie zu zerschlagen. Das Programm seiner Regierung gibt Aufschluß über die Konzessionen, die von der Revolution bisher erzwungen sind:

1. Rüdzhaltlose Garantie der ungarischen Unabhängigkeit und Souveränität.

2. Verteidigung der Demokratie und des Volkes gegen alle Angriffe und weiterer Ausbau des Sozialiswus.

3. Liquidierung des Bürgerkrieges undWiederherstellung der Ordnung.

4. Errichtung enger und brüderlicher Beziehungen mit allen sozialistisdten Ländern.

5. Friedliche Zusammenarbeit mit allen Ländern, unabhängig von ihrer Regierungsform und ihrer sozialen Ordnung. 6. Rasche Erhöhung des Lebensniveaus der Bevölkerung, besonders der Arbeiterklasse.

7. Modifizierung der Wirsdtaftspläne.

8. Liquidierung der Bürokratie und Schaffung von Arbeiterräten in allen Fabriken auf demokratischer 6) Basis 9. Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktion.

10. Demokratisdre Wahlen der lokalen Behörden und Revolutionsräte. 11. Unterstützung der kleinen Privatindustrie und des kleinen Handels. 12. Entwicldung der nationalen ungarischen Kultur.

13. Zusammenarbeit mit den Sowjettruppen zur Wiederherstellung der sozialistischen Ordnung.

14. Spätere Verhandlungen der ungarischen Regierung mit der Sowjetregierung über die Stationierung sowjetischer Truppen auf ungarischem Territorium. Die „Revolutionäre Arbeiter und Bauernregierung“ hat, um überhaupt die Chance einer Resonanz zu finden, einen Teil des Programms der Regierung Nagy und der ungarischen Revolutionäre übernehmen müssen, aber die Arbeiterschaft antwortet auf Intervention und Programm mit dem Generalstreik. Damit tritt die Arbeiterschaft erneut ins Zentrum des historischen Geschehens.

Die militärischen Chancen der Revolution sind hoffnungslos. Die Übermacht der Sowjets bricht den Widerstand der Aufständischen, aber die ungarische Arbeiterschaft führt den Kampf mit der klassischen Kampfmethode des Proletariats — dem Streik — weiter. Sie proklamiert den Generalstreik.

Dieser Streik entlarvt die Propagandathese der Sowjets (die auch von Tito und Gomulka vertreten wurde), die Intervention solle die Gefahr des Faschismus und der Reaktion beseitigen. Die Alternative „Kommunismus oder Reaktion“ hat zu keiner Zeit ernsthaft bestanden. Sie ist von den Sowjets erfunden worden, um eine Legitimation für den Angriff zu schaffen. Den Kern des Aufstandes stellten zunächst Jung-kommunisten und Arbeiter. Als die Erhebung sich auf das ganze Volk ausdehnte, entstand eine Einheitsfront gegen die Sowjets, obwohl die politischen Kräfte eine schnelle demokratische Differenzierung erfuhren.

Die Mehrheit des ungarischen Volkes war gegen eine Horthy-Restauration.

Und ohne Zweifel waren Arbeiterschaft, Nationalkommunisten und Sozialisten in der Lage, notfalls bewaffnet ihre Interessen gegen eine Restauration zu verteidigen. Gegen wen die sowjetische Intervention tatsächlich gerichtet war, zeigt die Antwort der Revolutionäre auf die sowjetische Übergabe-Aufforderung an die Stadt Dunapentele:

„Dunapentele ist die am meisten sozialisierte Stadt Ungarns. Die Stadt wird in der Hauptsache von Arbeitern bewohnt, in deren Händen jetzt die Macht liegt. Die Bevölkerung ist bewaffnet und wird die Waffen nicht niederlegen. Die Arbeiter werden die Stadt gegen faschistische Exzesse, aber auch gegen die sowjetischen Truppen verteidigen.

Die bewaffneten Arbeiter werden für Ordnung sorgen. Die meisten Fabriken arbeiten. Es gibt hier keine Konterrevolutionäre oder Faschisten. Wir sclilagen Euch weitere Verhandlungen in einer neutralen Zone vor!“

Dann wurde die Stadt in tagelangen erbitterten Kämpfen von den Sowjets erobert.

Die tatsächliche Alternative der Revolution hat Nenn! im italienischen Parlament treffend formuliert:

„Unsere Haltung wird von der Treue zu den Grundsätzen des proletarischen Internationalismus bestimmt. Der proletarische Internationalismus kennt keine Staatsräson, er setzte sich über die Madttinteressen der Staaten hinweg, auch wenn es sich um einen revolutionären Staat wie den sowjetisdien handelt. In dieser Vorstellung vom proletarisdten Internationalismus ist unsere Solidarität zu den ungarischen Aufständisdten begründet. Denn der Aufstand war in erster Linie ein Werk der Arbeiter und Studenten, der Arbeiter-und Bauernsöhne, die die sozialistischen Errungensdiaften auf die einzige Art verteidigen wollten, die heute nodt möglich ist: durch die Beseitigung des Überbaus eines politischen Systems, daszueinemPolizeiregimeundzueiner Wirtschaftsbürokratie degeneriert ist . . . Das ungarische Proletariat und die ungarisdte Jugend wären auch ohne die Hilfe fremder Waffen mit den konterrevolutionären Kräften fertig geworden.“

Die entscheidende Konzession im Programm der „Revolutionären Arbeiter-und Bauernregierung“ Kadar ist die Schaffung der Arbeiter-räte.

Sie erlaubt der Arbeiterschaft die legale Konstituierung ihrer Interessenvertretung, deren technische Organisation und zentrale Leitung. In wenigen Tagen entsteht der „Zentrale Arbeiterrat von Groß-Budapest“, dessen erste Tätigkeit darin besteht, den Generalstreik gegen die Regierung Kadar zu leiten. Die Rohre sowjetischer Panzer vermögen ihn davon nicht abzuhalten.

Am 15. November, nachdem der letzte militärische Widerstand in Ungarn zusammengebrochen ist, proklamiert er ein Acht-Punkte-Programm, in dem die Wiedereinsetzung von Imre Nagy, die Freilassung aller Aufständischen einschließlich des Generals Pal Maleter (des von den Sowjets hinterhältig gefangenen Kriegsministers der Regierung Nagy), der Abzug sowjetischer Truppen, freie Wahlen, ‘die Zulassung aller Parteien und die Herstellung der Freiheit von Presse und Rundfunk gefordert werden. Dieses Programm erweckt in keiner Weise den Eindruck, Moral und Zielsetzung der Revolution seien gebrochen. Vergeblich ist Kadar bemüht, die volle Wiederaufnahme der Arbeit durchzusetzen.

Am 21. November findet eine Versammlung der Arbeiterräte aus Budapest und anderen Teilen des Landes statt. Sie faßt eine Entschließung, in der die „Revolutionäre Arbeiter-und Bauernregierung“ aufgefordert wird, die demokratisch gewählten nationalen Arbeiterräte als einzige Verhandlungspartner für alle Probleme anzuerkennen, die die Arbeiterschaft betreffen. Die Forderungen werden präzisiert und mit einem Ultimatum an die „Revolutionäre Arbeiter-und Bauernregierung“ verbunden:

1. Die Regierung muß die nationalen Arbeiterräte als einzigen Verhandlungspartner anerkennen, der die Interessen der ungarischen Arbeiterschaft vertritt.

2. Sie muß mit den Arbeiterräten spätestens am 24. November Verhandlungen aufnehmen.

3. Verhandlungsgrundlage ist das am 15. November von den Arbeiterräten verkündete Acht-Punkte-Programm.

4. Die Regierung muß die Presse umfassend und wahrheitsgemäß unterrichten.

5. Die Regierung muß durch die Freilassung aller politischen Häftlinge und Deportierten, durch die Namensveröffentlichung der Verhafteten und durch Anberaumung öffentlicher Gerichtsverfahren gegen diejenigen, denen Verbrechen zur Last gelegt werden, ihre Vertrauenswürdigkeit unter Beweis stellen.

Das Ultimatum lautet: Die Regierung muß Punkt 1 der Forderungen am 22. November annehmen. In diesem Fall werden die Arbeiterräte das Ende des Generalstreiks am 24. November proklamieren. Im anderen Fall werde der Generalstreik fortgesetzt.

Diese Auseinandersetzung zwischen einer Regierung, die sich revolutionär nennt, es aber nicht ist, und den Arbeiterräten, die sich nicht revolutionär nennen, es aber sind, wird mit einem Kompromiß enden, dessen Details nicht wichtig sind. Wichtig ist die Mechanik: daß die Zerstörung des Stalinismus über die Interessenvertretungen der Arbeiterschaft vollzogen wird — der Arbeiterräte in Ungarn und der Gewerkschaften in Polen.

Es ist kein Zufall, daß zur gleichen Zeit die polnische Arbeiterschaft auf einer turbulenten Tagung die alte stalinistische Gewerkschaftsführung beseitigt und aus den Vertretungen der Betriebe, die größtenteils uneingeladen zum Kongreß erschienen sind, eine neue Leitung wählt. In einer Resolution fordert die neue Gewerkschaftsführung eigene Vertreter im Parlament. Hier wird praktisch die Forderung nach einem Mehrparteien-System erhoben, nicht im Sinn einer demokratischen Camouflage der kommunistischen Diktatur, sondern auf den Druck der Arbeiter, denen die Vertretung ihrer Interessen durch die kommunistische Partei nicht mehr genügt, weil sie allzu schlechte Erfahrungen machten.

Die gleichen Forderungen in der Arbeiterschaft der Sowjetzone und die Furcht vor einer sozialen Explosion veranlaßten die SED, am 20. November ebenfalls die Gründung von „Arbeiterkomitees“ anzukündigen. Noch haben diese Komitees schwache Kompetenzen, aber ihre unter Druck erfolgte Zulassung markiert bereits deutlich die Möglichkeit einer Entwicklung, die den Stalinismus in der Sowjetzone auf dem Weg über die Betriebe ebenfalls beseitigen kann.

Unruhe unter den sowjetischen Studenten

Die Existenz der innersowjetischen Opposition, über deren Zusammensetzung, Ideologie und Programm erstmalig aus den Zwangsarbeitslagern berichtet wurde, ist jetzt auch für die offiziellen Beobachter manifest geworden. Im Zusammenhang mit der Revolution in Polen und Ungarn berichten voneinander unabhängige Informationen über Unruhen unter sowjetischen Studenten. Diese Gärung verläuft nach den gleichen Regeln wie in Budapest und Warschau, die Revolution in Polen und Ungarn hat auch die Ziele der sowjetischen Opposition vertreten. Von den Moskauer Studenten werden die Sendungen ausländischer Rundfunkstationen vervielfältigt und verbreitet, es wird öffentliche Kritik am System geübt, und es gibt Demonstrationen. Der belgische Außenhandelsminister berichtet nach seiner Rückkehr aus Moskau, die Lomonossow-Universität (an der die Elite der sowjetischen Jugend studiert), sei wegen der LInruhen für einen Tag geschlossen worden. Der Rektor gibt zu, in letzter Zeit seien „dreißig und einige“ Studenten relegiert worden, er bestreitet jedoch politische Gründe. Ein Korrespondent meldet, die Zahl der Relegationen liege um hundert, ein Teil der Relegierten sei zwangsverschickt worden. Die „Komsomolskaja Prawda“ polemisiert gleichzeitig gegen die offene Kritik, die von den Leningrader Studenten am System geübt wird. Der erste Sekretär der litauischen KP, Snetschkus, wendet sich gegen Unruhen an den Hochschulen Litauens.

Und schließlich spricht Chruschtschow selbst vor den Moskauer Komsomolzen über die Gefahr, daß die Jugend des Kommunismus durch die Feinde des Sozialismus verführt werde.

Die innersowjetische Opposition wird direkt durch die Sendungen westlicher Rundfunkstationen, indirekt durch die Polemiken der Partei-presse gegen die Gegner des Systems über die Ereignisse außerhalb der Sowjetunion unterrichtet. Die Reden von Gomulka, Tito und Kardelj können nicht verheimlicht werden. Die sowjetischen Zeitungen sind gezwungen, zu antworten. Aber indem sie polemisieren, informieren sie zwangsläufig, denn die Opposition versteht, zwischen den Zeilen zu lesen. So sind die Organe des Stalinismus gleichzeitig technische Transmissionen für die Unterrichtung der Antistalinisten.

Natürlich ist das Regime unfähig, die ideologischen Grundfragen mit den Studenten zu diskutieren. Die Sowjetregierung geht nicht anders als Ulbricht mit administrativen Maßnahmen gegen die Studenten vor. Mit den gleichen Maßnahmen hat der Zarismus die revolutionäre Intelligenz zu bekämpfen versucht, ohne die Revolution aufhalten zu können. Diese Opposition ist größer, als sie nach den spärlichen Mitteilungen erscheint, ihr Ausmaß ist einem Eisberg zu vergleichen: nur der geringere Teil ist sichtbar.

Die Sowjetzone

Die Sowjetzone ist ein Teil des Sowjetblocks. Militärisch besetzt, wirtschaftlich ausgebeutet und national unterdrückt, hat sie einen kolonialen Status. Die radikale Ausbeutung der Arbeiterschaft hat schon am 17. Juni zu einem Streik geführt, der einen Volksaufstand auslöste und der im Prinzip dem Aufstand von Posen und den Anfängen der ungarischen Revolution gleicht. Die soziale Grundstruktur des Sowjetblocks hat in der Zone die gleiche Opposition wie in Polen und Ungarn geschaffen, modifiziert durch die besondere Situation und stimuliert durch die Spaltung Deutschlands.

Nach dem 17. Juni ist in westlichen Kommentaren nicht selten die Überzeugung ausgesprochen worden, der Aufstand sei ein historisch einmaliges Phänomen, das nicht wiederkehre. Die Ereignisse in Warschau und Budapest beweisen das Gegenteil. Der soziale und politische Gärungsprozeß im Ostblock verläuft im Rahmen revolutionärer Gesetzmäßigkeiten, in den die Sowjetzone als ein Teil des Ostblocks eingeschlossen ist. Und die Revolution in Polen und Ungarn muß diese Entwicklung durch ihre Erfolge ebenso beschleunigen wie durch ihre negativen wirtschaftlichen Auswirkungen für die Sowjetzone. Die Lage der Arbeiterschaft wird sich weiter verschlechtern.

Die stalinistische SED fühlt sich durch zwei Gefahren zutiefst bedroht: die Zerstörung ihrer Ideologie, des „Marxismus-Leninismus“, durch die oppositionelle kommunistische Intelligenz und die Unruhe in der Betriebsarbeiterschaft. Karl Schirdewan, Mitglied des Politbüros der SED, hat diesen Sorgen auf dem 29. Plenum des ZK der SED beredten Ausdruck verliehen:

„Die Mitglieder unserer Parteifiilrruug sind in den ernsten Tagen, als die konterrevolutionären Umtriebe in Ungarn offen zutage traten, in die Betriebe, in die Hodrsdtulen und Universitäten gegangen, um den Arbeitern und Studenten, den Werktätigen, die Lage zu erklären und sie aufzufordern, jeden Versuch von Feinden, unter der fadenscheinigen Losung von „Freiheit und Demokratie“ oder durch Ausnutzung gewisser ökonomischer Sd'iwierigkeiten Unruhe zu stiften, im Keim zu erstid^en . . .

.. Wir müssen auch bei uns eine größere ideologische Wadtsamkeit entfalten. Wir dürfen nicht zulassen, dafl der Meinungsstreit missbraucht wird, um reaktionären bürgerlichen Einflüssen Tür und Tor zu öffnen.

Dutzende von 'fragwürdigen Erklärungen lesen wir in versdriedenen Artikeln von polnischen und ungarischen Intellektuellen, die auf dem Wege sind, uns sozusagen ein neues Weltbild auf dem Boden der ideologisdten Koexistenz mit der bürgerlidten Ideologie aufzuzwingen.

Wir werden sie nur im Zusammenhang mit dem Kampf des Marxis mus-Leninismus auf dem Boden der Deutsdien Demokratischen Republik gegen die ideologisdten Attadzen, die aus Westdeutschland von den Ideologen des Imperialismus gegen uns geführt werden, richtig beantworten können.

Gegenüber dieser Tatsadte einer höchst aktiven ideologisdien Tätigkeit aus dem bürgerlidten Lager treten unsere propagandistisdien Kräfte zuwenig mutig prinzipiell auf . . .

. . . Es gibt Situationen, wo die Parteimitglieder und audt gute . Kräfte der Arbeiterklasse nidit sofort die Entsdieidungen der Parteiführung verstehen . . . Solche Situationen versetzen natürlich unsere Parteimitgliedsdiaft und alle die, die fest zur Arbeiter-und Bauern-macht stehen, in große Spannungen. Denn die Massen fordern von ihnen eine Antwort, die Massen sind von den feindlichen Sendern mit Mitteilungen und Meldungen überhäuft. Der Druck auf die Parteifunktionäre ist in solchen Situationen sehr groß, und dennoch muß man standhalten.“

Wie in Polen und Ungarn bilden in der Sowjetzone zwei Gruppen den gesellschaftlichen Kern der Opposition: Arbeiterschaft und junge kommunistische Intelligenz. Der „proletarischen“ Opposition in den Betrieben entspricht die „intellektuelle“ der Studenten. Die Ostberliner Studenten verlangen die Veröffentlichung des vollen Textes der Rede Gomulkas, jener großen Abrechnung mit dem Stalinismus auf dem 8. Plenum des polnischen ZK, die in Ostberlin nur gekürzt veröffentlicht worden war. Ulbricht wendet sich entschieden gegen die Arbeiter-selbstverwaltung der Betriebe.

Ein Vergleich der personellen Voraussetzungen in Polen, Ungarn und der Zone ergibt als wesentliches Resultat, daß die SED keinen prominenten Nationalkommunisten besitzt, der fähig wäre, unter dem Druck der Opposition und an ihrer Spitze die Stalinisten um Ulbricht zu entmachten. Die „Gomulkas“ des deutschen Kommunismus sind von Hitler und Stalin ermordet worden.

Moskau hat in den Jahren nach 195 3 versäumt, auf eine Reform der Spitze in der SED-Führung zu drängen. Das gleiche Versäumnis hat in Ungarn zu einer Eruption geführt, deren Folgen auch die Sowjets nur bedauern können. Der Schlüssel zur friedlichen Transformation der Sowjetzone liegt in Moskau. Nur rechtzeitige und grundlegende Änderungen in Struktur und Spitze des Systems können geeignet sein, eine Wiederholung der Ereignisse in Ungarn zu vermeiden. Es ist kein Zufall, daß die Revolution im Ostblock außerhalb der Politik des Westens begann und jenseits seiner konventionellen Perspektiven. Die Dialektik der Revolution hat den Westen überrascht und verwirrt, nicht anders als die Streiks in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern, der 17. Juni und der Aufstand von Posen. Die Gesetzmäßigkeit, mit der die sowjetische „Bourgeoisie" durch eine „sozialistische Demokratie“ abgelöst wird (ähnlich wie der Feudalismus durch das Bürgertum) ist dem Westen schwer begreiflich. Zu lange gehören die bürgerlichen Revolutionen des Westens der Geschichte an, als daß ihre Traditionen noch lebendig wären.

Daß die Revolution „marxistisch" verläuft, erzeugt Unsicherheit und Zweifel. Der westliche Kapitalismus hat Marx durch die Produktivität seiner Industrie überwunden. Er schuf einen höheren Lebensstandard für die Arbeiterschaft und veränderte mit deren Sein auch das Bewußtsein. Das Postulat nach Diktatur des Proletariats wandelte sich zur Praxis der Evolution, die revolutionäre Ideologie zerfiel im Fortschritt von Technik und Sozialpolitik. Inzwischen haben sich die Fronten verkehrt: Arbeiter und Marxisten bedrohen das System, das im Namen von Marx begründet wurde, sie sind Verbündete des Westens im Kampf gegen die gemeinsame Bedrohung, den Stalinismus.

Die Bilanz der Revolution

Die Ostpolitik des Westens basierte bisher auf Kategorien, die sich in der Praxis als unwirksam erwiesen haben. Die Proklamationen von der „Befreiung" der Völker des Ostens waren unverbindlich, denn der Weg zur „Befreiung“ wurde nicht aufgezeigt. Der Westen hat einen aussichtsreichen Weg — die Identifizierung mit den Zielen der aktiven Opposition — nie beschritten. Die Revolution in Polen und Ungarn, die im Kampf zwischen Freiheit und Kommunismus eine historische Wende mit unabsehbaren Perspektiven eingeleitet hat, ist von der westlichen Politik weder vorausgesehen noch gefördert worden; „Streik“ und „Revolution“ liegen außerhalb ihrer Methoden. Die ideologische Zerstörung des Stalinismus, die Forderung nach Arbeiterselbstverwaltung der Betriebe und Auflösung der Kolchosen, nach nationaler Unabhängigkeit noch im Rahmen eines kommunistischen Systems, ist nie unterstützt worden. Warschau und Budapest haben hier einen Weg gewiesen. Der Westen hat sich von der Vorstellung nicht lösen können, seine Ideale seien identisch mit denen der Opposition des Ostens. Die Opposition im Ostblock hat eigene Vorstellungen und Ziele, die mit denen des Westens nur zum Teil übereinstimmen. Sie müssen vom Westen respektiert werden. Die Entwicklung im Osten, die den Stalinismus zerstört, wird vielleicht zu einer Renaissance des Marxismus führen, aber dessen neue Phase wird für den Westen so wenig von Einfluß sein wie die alte.

Der „revidierte Kommunismus“ erscheint nur denen gefährlich, die kein Vertrauen in die Kräfte von Demokratie und Freiheit haben.

Die ungarische Revolution ist geschlagen worden, aber trotz ihrer militärischen Niederlage hat sie die Voraussetzungen für ein Fortbestehen des früheren Systems zerstört. Die politischen Probleme des zukünftigen Ungarn sind nicht mit sowjetischen Panzern zu lösen. Keine Regierung kann mehr mit den alten stalinistischen Methoden regieren.

Das Regime muß versuchen, eine wenn auch schmale Basis in der Arbeiterschaft und der Intelligenz zu finden. Das ist nur mit Konzessionen möglich, wie sie Gomulka auf unblutige Weise für Polen errungen hat Die treibenden Kräfte der Revolution — Studenten und Arbeiter —, ohne deren Mitarbeit ein Wiederaufbau des Landes unmöglich ist, sind ohne Konzessionen nicht zu gewinnen. Gleich dem polnischen Kommunismus ist auch der ungarische gezwungen, ein erträgliches Verhältnis mit der Arbeiterschaft herzustellen. Er kann der Forderung nach'

Arbeiterkontrolle der Betriebe nicht ausweichen. Die ungarische Arbeiterschaft hat in den Kämpfen gegen die Sowjets die Härte und Entschlossenheit einer revolutionären Klasse gezeigt. Es wäre eine Illusion anzunehmen, daß sie auf politische und wirtschaftliche Forderungen verzichtet, weil sie militärisch besiegt wurde. Der Aufstand von Kronstadt wurde niedergeschlagen, aber er hat die Periode der NEP eingeleitet; die Streiks in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern wurden zusammengeschossen, aber sie haben zur Auflösung der Lager geführt. Auch die ungarische Revolution wird trotz ihrer militärischen Niederlage weiter-wirken.

Die Bilanz der Sowjets in LIngarn zeigt einen militärischen Sieg und eine politische Niederlage. Moskau hat sich gegenüber den kommunistischen Parteien der freien Welt, den Satelliten und den farbigen Völkern als eine reaktionäre und imperialistische Macht demaskiert. Die vom Kreml proklamierte Koexistenz ist unglaubwürdig geworden. Der Verlust ihres moralischen Prestiges wiegt schwerer als der militärische Sieg über die ungarische Revolution. Und schließlich ist die Ermunterung für die innersowjetische Opposition in ihren Auswirkungen nicht abzuschätzen.

Wenn der Westen überhaupt eine wirksame Initiative im Kampf gegen den Bolschewismus ausgeübt hat, so ist sie jetzt durch die Ereignisse in Polen und Ungarn an die Opposition im Ostblock übergegangen. Das mag in gewisser Hinsicht zur Klärung der Fronten beitragen: die Überwindung des bolschewistischen Systems der Unfreiheit und Ausbeutung ist keine Sache der Restauration oder Reaktion. Eine weitere Frage ist, ob der Westen sehr viel dazu beitragen kann, diesen Prozeß zu beschleunigen. Sicher kann er jedoch sehr viel tun, ihn nicht zu hemmen und ihm in den Rücken zu fallen.

Anmerkung:

Joseph Scholmer, geb. 1913. 1932— 1939 Studium der Medizin. Vor 1932 Kommunistischer Jugendverband, nach vorübergehender Emigration 1933/34 in der kommunistischen Resistance tätig. 1944 verhaftet, Volksgerichtshof. 1945— 1949 Mitarbeiter der Zentralen Gesundheitsverwaltung der SBZ. 1949 vom MGB verhaftet und wegen angeblicher Spionage zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach Workuta deportiert und Zeuge des Streiks von Workuta. Entlassung im Januar 1954. Veröffentlichte im September 1954 einen Tatsachenbericht . Die Toten kehren zurück", Kiepenheuer & Witsch, Köln, Berlin.

Fussnoten

Fußnoten

  1. * Die Welt, 1. Nov. 1956.

  2. NZZ, 6. 11. 56. Sperrung vom Verfasser.

  3. Sperrung vom Verfasser.

  4. Zitiert in NZZ, 11. 11. 56.

  5. Zitiert aus „Neues Deutschland“ vom 28. 11. 56.

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