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Das Selbstverständnis des gegenwärtigen Zeitalters | APuZ 4/1957 | bpb.de

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APuZ 4/1957 Das Selbstverständnis des gegenwärtigen Zeitalters Die Erben Stalins

Das Selbstverständnis des gegenwärtigen Zeitalters

Theodor litt

Vorabdruck aus „Masse und Demokratie", Publikation des Schweizerischen Instituts für Auslandsforschung (Eugen Rentsch Verlag, Erlenbach-Zürich und Stuttgart, 1957).

Wesen des Selbstverständnisses

Inhalt Theodor Litt G. F. Hudson Dieser „Die Erben Stalins" (s. 67) Beilage: „Das Selbstverstcändnis des gegenwärtigen Zeitalters“

Es hat in der Entwicklung der Menschheit noch nie eine Generation gegeben, in der das Bedürfnis, sich selbst, d. h.dem Geist der eigenen Epoche, den Puls zu fühlen, so stark gewesen wäre wie in dem Geschlecht der gegenwärtig Lebenden. Mit Staunen bemerkt man, wieviel Tinte und Druckerschwärze vergossen wird, um dem Menschen von heute ein möglichst ausführliches Signalement seiner Innenseite auszustellen. Eine ganze Literaturgattung ist entstanden, über die man als Überschrift den Titel setzen könnte: „Selbstdiagnose des gegenwärtigen Zeitalters.“

Man könnte diesen Eifer der Selbsterforschung begrüßen, wenn das, was bei ihm herauskommt, darnach angetan wäre, das Gemüt zu erbauen. Aber daß dem so wäre, das kann leider beim besten Willen nicht behauptet werden. Zunächst ist diesem Thema das Schicksal nicht erspart geblieben, dem jede die Zeitgenossen stark bewegende Frage unweigerlich zum Opfer fällt: es haben sich seiner mit besonderem Eifer diejenigen bemächtigt, die darauf aus sind, in der Behandlung von „zeitgemäßen“ Gegenständen das Licht ihres Geistes in allen Farben funkeln zu lassen. Wer immer sich als auf der Höhe der Zeit stehend auszuweisen wünscht, fühlt sich verpflichtet, zu diesem aktuellen Thema seinen Beitrag zu leisten. Snobistische Wichtigtuerei und feuilletonistisehe Geschwätzigkeit machen sich in seiner Erörterung in ärgerlicher Weise breit. Aber auch diejenigen, die von jedem Verdacht der Selbst-inszenierung frei sind, bereiten uns durch das, was sie uns zu sagen haben, wenig Freude. Was wir aus ihrem Munde vernehmen, das sind sehr viel mehr niederdrückende als ermutigende Feststellungen. Man mache sich klar, daß das nicht anders sein kann! Diagnostisch erfaßt zu werden verlangt nicht der von seiner Gesundheit Überzeugte, sondern der an seiner Gesundheit Zweifelnde. Es sind die den normalen Funktionsablauf störenden, gemäßen nicht die ihm Erscheinungen, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wundern wir uns also nicht, wenn die Diagnostiker unserer Epoche fast nur von dem reden, was ihrer Meinung nach nicht so sein sollte, wie es ist! Wer sich einmal auf diese Untersuchung eingelassen hat, der fühlt sich mit magnetischer Gewalt zu den brüchigen Stellen im Gesamtorganismus der Zeit hingezogen.

Indem er aber diesem Zuge nachgibt, geschieht es nur zu leicht, daß seine eigene Betrachtungs-und Beurteilungsweise sich tiefgehend abwandelt. Dem Arzt, der leibliche Gebrechen diagnostiziert, liegt es ferne, dem Patienten aus dem Auftreten dieser Gebrechen einen Vorwurf zu machen, er kann im Normalfalle nichts dafür, daß sie sich eingestellt haben. Wer aber den geistigen Habitus seiner Epoche auf etwaige Fehlbildungen hin durchforscht, der hat es mit Sachverhalten zu tun, die, so scheint es, nicht von Natur und ohne Zutun des Menschen da sind und so sind, wie sie sind: sie sind doch offenbar durch menschliches Wollen und Handeln zu der Gestalt durchgebildet worden, in der sie jetzt zu Bedenken Anlaß geben. Hier drängt sich also die Frage auf, wer oder was, welche Menschen und welche menschlichen Veranstaltungen, für die Fehlbildungen verantwortlich zu machen sind, unter denen das Zeitalter leidet. Und so verwandelt sich in kaum merklichen Übergängen der Diagnostiker in den Ankläger, der Ankläger in den Richter. Aus der Diagnose der Epoche wird das Gericht über die Epoche bzw. über die für die Ungestalt der Epoche haftbar zu machenden Menschen und Mächte. Und es begreift sich leicht, wie willkommen dieser Wechsel der Rollen gerade denjenigen ist, die sich selbst in das Scheinwerferlicht der Öffenlichkeit zu versetzen bedacht sind. Denn über sein Zeitalter 'zu Gericht zu sjtzen darf doch nur derjenige sich berechtigt und berufen fühlen, der sich von den durch ihn zu richtenden Verfehlungen frei weiß. Sein Richtertum gilt ihm geradezu als Ausweis seiner Unberührtheit. Welcher Hochgenuß, durch die Schärfe seines Urteilsspruchs sich selbst und der Welt den Beweis zu liefern, wie hoch man über den Verirrungen steht! Wie hell erstrahlt die eigene Unbeflecktheit, wenn man ihr die Verderbtheit des Zeitalters zum Hintergrund gibt!

Sieht man die Selbstkritik der Epoche dergestalt zum Reizmittel eines selbstgefälligen Pharisäertums herabsinken, dann fühlt man sich geneigt, gerade in dem Auftreten und der Ausbreitung dieser Selbstzergliederung eine Verirrung des Zeitalters zu erblicken, die bekämpft zu werden verdient. Allein hier wie stets im geistig-geschichtlichen Leben muß man sich hüten, Recht und Sinn einer geistigen Bewegung von den Übersteigerungen und Ausartungen her zu beurteilen, wie sie auch dem ernsthaften und wohlbegründeten Bestreben auf dem Fuße zu folgen pflegen. Die Sache, um die es geht, wird von dem Troß der Sensationshungrigen, der sich an ihre Fersen heftet, nicht berührt. Um Selbstverständnis sich zu bemühen, hat unsere Epoche nur wirkliches zu viel Grund!

Weshalb dem so ist, vermögen wir erst zu erkennen, wenn wir uns von Wesen und Aufgabe dieses Selbstverständnisses Rechenschaft geben. Es bedarf einer solchen, weil die mit diesem Worte gemeinte Weise der Selbsterforschung von denjenigen Fragestellungen unterschieden werden muß, die ihr äußerlich verwandt sind, aber in ihrem Kerne von ihr abweichen.

Von ihr zu trennen ist zunächst die Gesamtheit der Überlegungen, die anzustellen der Mensch dadurch genötigt wird, daß er ein Wesen ist, welches nicht nur überhaupt zu handeln, sondern auch stets innerhalb bestimmter Situationen zu handeln hat und deshalb darauf angewiesen ist, sich von der jeweils zum Handeln aufrufenden Situation ein Bild zu machen. Die in ihr sich bietenden Möglichkeiten, die aus ihr herkommenden Lockungen, die in ihr lauernden Drohungen: sie alle wollen in Betracht gezogen, gegeneinander abgewogen und sei es ergriffen, sei es verworfen, sei es abgewehrt sein. Das Gesagte gilt nicht nur von dem einzelnen Menschen, sondern auch von den menschlichen Verbänden, die sich zu gemeinsamem Wollen und Handeln zusammengeschlossen haben. Was die damit gemeinten Überlegungen von der uns beschäftigenden Einstellung des Geistes abhebt, das ist der Umstand, daß sie rein und ausschließlich auf die den Menschen beanspruchenden Umstände, also auf das ihm vor Augen stehende Gegenüber, gerichtet sind, folglich nicht unter dem Titel „Selbstverständnis" gebucht werden können.

Auf der anderen Seite gibt es eine Weise der Besinnung, die einer Zuwendung zum Selbst gleichkommt und doch nicht mit dem hier zu klärenden „Selbstverständnis“ zusammenfällt. Es gehört zum uranfänglichen Wesen des Menschen, nicht bloß die ihm gestellte Welt, sondern auch seine eigene Stellung innerhalb dieser Welt und zu dieser Welt sich in mehr oder weniger durchgebildeten Vorstellungen zu verdeutlichen. Schon jene urtümliche Auseinandersetzung mit der Weltwirklichkeit, die wir den „Mythos" nennen, ist nicht nur Beschwörung der welt-erschaffenden und weltbeherrschenden Mächte, die der Mensch über sich waltend weiß, sondern in einem damit auch Vergegenwärtigung desjenigen, was ihn selbst als den diesen Mächten Ausgesetzten und mit ihnen durch unlösliche Bande Verknüpften kennzeichnet. Von dem Urgründe dieses mythischen Bewußtseins schreibt sich alles her, was hernach in den Formen religiösen Glaubens, volkstümlicher Weisheit, dichterischer Verkündung und philosophischer Reflexion über das Selbst des Menschen erahnt, ergründet und ergrübelt worden ist. Aber was auch immer in dieser Genealogie menschlicher Selbstbesinnung vor und nach hervorgetreten ist, das weicht durch einen entscheidenden Grundzug von dem hier als „Selbstverständnis“ zu Bestimmenden ab: was in ihm erfragt und gedeutet wird, das ist immer wieder „der“ Mensch — das heißt der Mensch, wie er seinem unabänderlichen Wesen nach stets gewesen ist, wie er jetzt ist und wie er in alle Zukunft hinein sein wird. Kein Gedanke an die Abwandlungen, die ihm im Durchgang durch die Folge der Zeiten und den Umschwung der Schicksale widerfahren möchten. Es ist das „Wesen“ Mensch in strengster Allgemeinheit, dem alle hierher gehörigen Überlegungen gelten. Von der ins Unendliche gehenden Besonderung der Situationen, denen sich der Mensch als der zum Handeln Aufgerufene gegenübergestellt findet, ist in diesen Wesensbestimmungen des Menschen so vollkommen abgesehen, als ob aller Wechsel der Lagen nur seine Haut streifte, aber seinen Wesenskern unberührt ließe.

Wir haben hier also zwei in strenger Scheidung auseinandertretende Gruppen von geistigen Bemühungen vor uns. Die eine wird gebildet durch die Überlegungen, die sich auf die Besonderheit der unaufhörlich wechselnden menschlichen Situationen beziehen — die andere wird gebildet durch die Überlegungen, die sich auf die Allgemeinheit der sich gleichbleibenden menschlichen Natur beziehen. Nun aber ist für das, was hier unter dem Titel „Selbstverständnis“ zur Erörterung steht, gerade dies kennzeichnend, daß es die besagte Scheidung in sich aufhebt. Denn die Überlegungen, in denen das Selbstverständnis sich bildet, haben zwar audi die Besonderheit der Lage im Auge, der der Mensch unseres Zeitalters sich gegenübergestellt findet + aber nicht minder eindringlich fragen sie nach der Besonderheit der Gestalt, zu der der Mensch unseres Zeitalters sich gerade dadurch ausformt, daß er sich den Einwirkungen dieser Lage stellt und den aus ihr entspringenden Forderungen Genüge zu tun versucht. Die Möglichkeiten, die sie darbietet, die Lockungen, die sie von sich ausgehen läßt, die Drohungen, die sie in sich birgt — sie sind für diese Betrachtung nicht bloß das Gegenüber des Menschen, mit dem er denkend und handelnd fertig zu werden hat, sie sind auch und erst recht die Anreize, deren sein seelisch-geistiges Wachstum bedarf, damit aus unbestimmt vieldeutigen Anlagen eine klar konturierte Wirklichkeit hervorgehe. So tritt die sich gleich-bleibende Wesensnatur des Menschen zurück hinter die gerade jetzt fällige Besonderung dieser Natur. Es bildet sich jenes Wissen des Menschen um sein derzeitiges Sein, das man das „Epochalbewußtsein“ nennt.

Das Selbstverständnis der Aufklärung

Es wurde in den einleitenden Darlegungen darauf hingewiesen, wie selbstverständlich es dem Menschen von heute ist, in einem solchen Epochalbewußtsein zu leben und sich von ihm sein eigenes Dasein auslegen zu lassen. So selbstverständlich ist ihm diese Selbstdurchleuchtung geworden, daß es ihm schwerfällt, sich in eine Daseinsverfassung hineinzudenken, die dieses Selbst-Bewußtseins ermangelt. Um so mehr muß es ihn überraschen, zu hören, wie jungen Datums diese Form der Selbst-Vergewisserung tatsächlich ist. Ihre Geburtsstunde fällt, soweit unsere abendländische Kulturwelt in Betracht kommt, in das Zeitalter der Aufklärung. Nicht länger als zwei Jahrhunderte also ist die abendländische Menschheit gewohnt, ihre derzeitige Daseinsverfassung zum Wissen um sich selbst emporzuentwickeln. Bis dahin verspürte sie kein Bedürfnis, ihre Auffassung vom Wesen „des“ Menschen zu einer Deutung des gerade jetzt zum Zuge gekommenen Menschen fortzubilden. Es drängt sich die Frage auf, wie es kommt, daß ein Bedürfnis, das der moderne Mensch als unabweisbar empfindet, erst zu so später Stunde seine Stimme erhoben hat.

Ich versuche das Entscheidende in den Satz zu fassen: was das besagte Bedürfnis erwachen läßt, das ist das in der Aufklärung vorwärts-getriebene Auseinandertreten von Mensch und Lebensordnung. Dabei verstehe ich unter „Lebensordnung“ das Ganze der Veranstaltungen und Einrichtungen, durch welche der Mensch dem gemeinsamen Leben Zusammenhalt, Festigkeit und Dauer zu geben versucht. Der Begriff umfaßt also die Staats-und Rechtsordnung, die gesellschaftliche Gliederung, den Aufbau des wirtschaftlichen Lebens. Der mit der Aufklärung geschehende Umschwung ging deshalb so sehr in die Tiefe, weil das, was mit ihrem Durchbruch sich trennte, bis dahin eine Einheit gebildet hatte, die das in ihr Befaßte in strengster Solidarität zusammenhielt. Die Lebensordnung war ein Ganzes gewesen, von dem der Mensch sich umfangen und getragen wußte, in das er sich eingegliedert fühlte und aus dem ihm Sinn und Umgrenzung seiner Lebensaufgabe zugeteilt wurde. Sie galt ihm als zuletzt von Gott gestiftet und daher jeder Möglichkeit einer grundsätzlichen Kritik enthoben. Gewiß konnten, was die Einzelheiten ihrer Ausgestaltung anging, Sonderbestrebungen sich zum Worte melden und Konflikte von unter Umständen beträchtlicher Heftigkeit ausbrechen. Aber alle Auseinandersetzungen dieser Art fanden doch auf dem Boden einer Gesamtauffassung statt, die von allen Beteiligten ohne Unterschied als verbindlich, ja als „selbstverständlich“ anerkannt wurde. Mit Recht hat man hervorgehoben, daß selbst in der schwersten unter den die mittelalterliche Christenheit heimsuchenden Entzweiungen, dem Kampf zwischen Kaisertum und Papsttum, die widereinander Angehenden sich in gewissen Grundüberzeugungen über Wesen, Herkunft und Bestimmung einer wahrhaft christlichen Lebensordnung einig waren. Das wurde mit dem Augenblick anders, da der Mensch in seinem Daseinsverständnis sich so aus der ihn umfangenden Lebensordnung herauszog, so von ihr Abstand nahm, daß sie in die Stellung eines zu musternden, zu prüfenden, im Bedarfsfälle zu verändernden Gegenstandes hinüberrückte, jetzt waren Mensch und Lebensordnung recht eigentlich zu Parteien geworden, von denen die eine, der Mensch, die andere auf ihre Rechtmäßigkeit und Brauchbarkeit hin zu befragen sich nicht nur befugt, sondern berufen glaubte. Das „Selbstverständliche“ hatte seine Selbstverständlichkeit eingebüßt.

Sobald aber diese Wendung erfolgt war, trat alsbald auch jener Über-gang ein, dessen Unausbleiblichkeit oben dargetan wurde: der Betrachter verwandelte sich in den Ankläger, der Ankläger in den Richter. Lind zwar vollzog sich der Übergang mit einer unerhörten Wucht und Plötzlichkeit. Daß es geschah, das war das Werk desjenigen, der für den Angriff auf das Bestehende das Signal gegeben hat: J. J. Rousseaus. Nichts Geringeres als die Zerstörung der menschlichen Glückseligkeit und der menschlichen Tugend ist es, was er der zu ihrem Gipfel emporgestiegenen Lebensordnung der modernen Welt glaubt zur Last legen zu sollen. An wenigen Stellen wird sein Alarmruf so bereitwillig ausgenommen wie in der geistigen Bewegung des damaligen Deutschlands. Dabei wird der Inhalt der Anklage charakteristisch abgewandelt. Die Klassik findet die Schuld der neuzeitlichen Lebensordnung darin, daß sie den einzelnen Menschen zwinge, eine einzige unter den in ihm vereinigten Fähigkeiten auf Kosten der anderen hochzuzüchten und so die Totalität seines Menschentums einer spezialistisch entwickelten Sonderfunktion zum Opfer zu bringen.

In diese Verurteilung der bestehenden Lebensordnung ist aber eine weittragende Folgerung eingeschlossen. Ihr so viel Übles nachzusagen ist nur unter der Voraussetzung möglich, daß sie nicht mehr als göttliche Stiftung, sondern als Menschenwerk angesehen wird. Menschlicher Wille, fehlsamer und verführbarer menschlicher Wille kann es nur gewesen sein, der ihr diese so viele Einwände herausfordernde Gestalt gegeben hat. Derselbe menschliche Wille ist es aber auch, der sich durch die Einsicht in die Verwerflichkeit des Bestehenden aufgerufen fühlen muß, ein Besseres an seine Stelle zu setzen. Indem so die Gestaltung der menschlichen Dinge als Sache des für sie verantwortlichen menschlichen Willens verstanden wird, wird das, was im Namen und aus der Kraft dieses Willens geschieht, in jene Sphäre von Begebenheiten versetzt, die wir die „Gesdudite“ nennen. Solange die Lebensordnung als ein Seiendes angesehen wurde, das „sich von selbst versteht“, weil Gott es so und nicht anders gewollt hat — so lange kann der Gedanke an die Geschichtlichkeit des in Gestalt der Lebensordnung Gegenwärtigen nicht aufkommen. Ist aber diese supranaturale Beglaubigung weggefallen, dann enthüllt sich jede Lebensordnung als ein Gewordenes, das ebensogut einmal zu sein aufhören kann, wie es einmal zu sein begonnen hat — und das heißt: sie ist zu einem geschichtlichen Phänomen geworden. Der Fluß des geschichtlichen Wandels hat alles das in sich ausgenommen, wodurch der Wille des Menschen seinem Dasein Dauer und Festigkeit zu geben sich bemüht.

Der Wandel, dem die Lebensordnung mit dieser Vergeschichtlichung überantwortet ist, fällt zusammen mit jener unaufhörlichen Verschiebung der Aspekte, die wir im Auge hatten, als wir auf die unendliche Besonderung der Lebenssituatiouen hinwiesen, denen sich der Mensch als der zum Handeln Aufgerufene gegenübergestellt findet. Denn jede besondere Lebensordnung ist nichts anderes als der Versuch, den in der besonderen Lebenslage der Gemeinschaft liegenden Nötigungen und Forderungen gerecht zu werden.

Nun aber erhebt sich, indem dergestalt Lebenslage und Lebensordnung in den Fluß der geschichtlichen Bewegung eingehen, eine schwerwiegende Frage. Kann man im Angesicht der unaufhörlichen Verwandlungen, denen wir die Lebensordnung des Menschen überantwortet finden, an der Annahme eines in seinem Kerne sich gleichbleibenden Menschentums festhalten? Ist es glaublich, daß derselbe Mensch, der in der Gestaltung seiner Lebensordnung sich so ganz und gar der Geschichte verhaftet zeigt, in seinem eigenen Sein ein dem Wandel enthobenes, ein übergeschichtliches Wesen ist und bleibt? Kann der Wechsel der Lebensordnung sein zentrales Selbst unberührt lassen?

Auf diese Frage hat dieselbe Aufklärung, die dem Glauben an die Übergeschichtlichkeit der Lebensordnung ein Ende bereitet hat, eine Antwort gegeben, die das Gegenteil des zu Erwartenden zu sein scheint. Sie hat die These von der LInwandelbarkeit des menschlichen Wesens-kerns nicht nur festgehalten, sondern auf die denkbar strengste Form gebracht. Der Mensch hat, so lehrt sie, seine Mitte an der ihm eingeborenen Vernunft. Diese Vernunft ist in dem, was sie enthält, eine und dieselbe in allen Wesen, die dem menschlichen Geschlecht angehören. Nur diese allgemeinmenschliche Vernunft ist es, durch die der Mensch in den Stand gesetzt wird, die von der Geschichte hervorgebrachten Lebensordnungen ihrer Abwegigkeit zu überführen. Denn an ihr besitzt er den einzig gültigen Maßstab, an dem die Gestalten der Geschichte gemessen werden müssen, wenn es heißt, sie nach Wert und LInwert beurteilen.

In welchem Lichte erscheint gemäß dieser Doktrin das Auseinander-treten von Mensch und Lebensordnung, in dem wir das Bedürfnis nach Selbstverständnis wurzeln sahen? Daß beide sich entzweien, hat darin seinen Grund, daß das menschliche Geschlecht, durch Torheit oder durch Bosheit mißleitet, in der Gestaltung seiner gemeinsamen Angelegenheiten von der Richtschnur der ihm mitgegebenen Vernunft abgewichen ist. Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der Verfehlungen, durch welche diese Parteiung verschuldet worden ist. Aber sie ist noch mehr als dies. In den Vernunftkriterien, durch welche der Mensch darüber belehrt wird, wo und wie sein Geschlecht der Vernunft zuwidergehandelt hat, besitzt er auch schon die Anweisung, an die er sich zu halten hat, wenn er das Mißratene durch das Wohlgeratene ersetzen will. In eben dem Maße, wie diese Anweisung befolgt wird, setzt sich die Geschichte der Verfehlungen fort in die Geschichte der Berichtigungen und Bereinigungen. Und daß sie befolgt wird, dafür ist gesorgt durch die unwiderlegliche Evidenz, mit der das der Vernunft Gemäße von seiner Gültigkeit überzeugt. Vor dem Lichte der Vernunft, der allen Menschen gemeinsamen, zergehen alle Nebel der sich in tausend und aber tausend Gestalten zerteilenden Unvernunft. Und je mehr dies Licht sich ausbreitet, um so mehr geht auch die Parteiung zurück, durch welche Mensch und Lebensordnung einander entfremdet und voneinander getrennt wurden. Denn wie vermöchte diese Entzweiung sich zu behaupten, wenn die Lebensordnung mehr und mehr dem konform wird, was als Vernunftforderung im Inneren jedes Menschen lebt! Wie könnte der Mensch etwas als ihm fremd, wo nicht feindlich empfinden, was nichts anderes ist als die Verwirklichung dessen, was als Entwurf und Verheißung sein Herz erfüllt! So geschieht es, daß die Geschichte, die an dem Kampf der Vernunft gegen die Widervernunft ihren Inhalt hatte, zum guten Ende einmündet in eine Verfassung des Lebens, in der dieser Kampf untergegangen ist, weil kein Widersacher mehr da ist, gegen den er zu führen wäre. Wo die Vernunft die Gesamtlage des Lebens bestimmt, da ist zwischen Mensch und Lebensordnung nicht bloß der Friede hergestellt -nein: Mensch und Lebensordnung sind miteinander eins geworden, weil jener in dieser sich selbst wiederfindet.

Das Ende des Kampfs bedeutet also zugleich das Ende -der Geschichte.

Geschichte war nur nötig, ja nur möglich, solange der Widersacher zur Stelle war, der der Vernunft die Herrschaft streitig machte. Jetzt, da er das Feld geräumt hat, ist ein Zustand eingetreten, den man nur als „übergeschichtlich“ bezeichnen kann. Und wie sollte es auch anders sein! Wenn die Vernunft als die allen Menschen gemeinsame Gabe alle Besonderungeil der Geschichte unter sich läßt, dann muß auch der Zustand des Lebens, der in allen Teilen ihren Anweisungen entspricht, den gleichen Charakter der Libergeschichtlichkeit tragen. So ist die Geschichte dazu bestimmt, durch Einmünden in einen der Geschichte entrückten Lebenszustand sich selbst aufzuheben.

Wir haben damit die Grundlinien der Gesamtentwicklung ausgezeichnet, die dem aufgeklärten Denken vor Augen steht, wenn es die Bewegungsform des geschichtlichen Lebens in dem sogenannten „Fortschritt“ zu finden meint. Denn „Fortschritt" heißt ihm jener Gang der geschichtlichen Begebenheiten, dem als sein geradlinig anzustrebendes Ziel eine Lebensverfassung von nicht mehr zu überbietender Vollkommenheit gesetzt ist.

Indem die Aufklärung, ausgehend von der das eigene Zeitalter quälenden Entzweiung von Mensch und Lebensordnung, die Philosophie des „Fortschritts" entwickelt, vermittelt sie der Mitwelt ein Selbstverständnis von bemerkenswerter Klarheit und Vollständigkeit. Sie ist zunächst eine Deutung der derzeitigen Lage. Sie versteht sie als die Lage, die die Möglichkeit bietet, ja die Aufforderung enthält, mit der vernunftwidrigen Lebensordnung aufzuräumen und der vernunftgemäßen Bahn zu brechen. Sie ist aber auch eine Deutung des dieser Lage gegenübergestellten Menschen. Sie versteht ihn als den Menschen, der zum Bewußtsein seiner Vernunftbestimmung durchdringt und sein Leben dieser Bestimmung gemäß einzurichten sich anschickt. Dieses Selbstverständnis ist zugleich ein solches von höchst befriedigender, ja beglückender Art. Befriedigend ist diese Auslegung aus dem Grunde, weil sie das, worunter die Epoche leidet, auf seine im Menschen liegenden Gründe zurückführt und ihm so den Schein eines undurchdringlichen und unbezwinglichen Verhängnisses nimmt. Beglückend ist sie aus dem Grunde, weil die durch sie erschlossene Einsicht in das, was verfehlt ist, zusammenfällt mit der Einsicht in das, was zu tun ist, auf daß das Vefehlte nicht bloß berichtigt, sondern durch das Vollkommene ersetzt werde. Das Selbstverständnis der Epoche als der den Menschen umfangenden Gegenwart schließt in sich sowohl das Verständnis der Vergangenheit als der zu überwindenden Irrung als auch das Verständnis der Zukunft als der zu erwirkenden Erfüllung.

Das Selbstverständnis der kommunistischen Ideologie

Die Philosophie des „Fortschritts" gehört in der reinen Form, in der sie hier reproduziert wurde, der Vergangenheit an. Was aber nicht der Vergangenheit angehört, ja was sich heute einer nie dagewesenen Verbreitung und Wirkungsmächtigkeit erfreuen darf, das ist das Schema des epochalen Selbstverständnisses, das in dieser Philosophie seine erste und folgenreiche Ausführung gefunden hat. Es ist das Schema eines Selbstverständnisses, welches Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nach Maßgabe des „Fortschritts“ -Prinzips zueinander in Beziehung setzt, und zwar in eine Beziehung, die hinsichtlich ihres Warum und ihres Wozu zu durchschauen dem vernünftigen Denken des Menschen gegeben, ja aufgetragen ist. Wo dieses Schema heute seine Auferstehung feiert, darüber kann nicht im Zweifel sein, wer sich davon überzeugt, an welcher Stelle innerhalb unserer modernen Welt die Vokabel „Fortschritt“ mit einer wahrhaft religiösen Inbrunst ausgesprochen und vernommen wird. Es ist die Ideologie des kommunistischen Staates, es ist der „dialektische Materialismus“, dem sie ihre neuerliche Aufwertung zu danken hat. Es ist nicht dieses Ortes, im einzelnen zu erörtern, in welcher Hinsicht diese Theorie über die Menschheitsphilosophie der Aufklärung hinausgeht. Eine Untersuchung des Unterschiedes hätte vor allem auf die Belebung und Bereicherung hinzuweisen, die dem Prozeß der Geschichte dadurch widerfährt, daß er nicht einfach als Aufstieg der Vernunft interpretiert, sondern als „dialektische“ Bewegung gegliedert und gestuft wird. Entscheidend ist, was von dieser LImbildung unberührt bleibt. Es bleibt die Selbstauslegung einer Gegenwart, die sich als Durchgang von einer zu überwindenden Vergangenheit zu einer die Vollendung herbeiführenden Zukunft versteht. Es bleibt die Gewißheit des von der Zukunft zu erwartenden Übergangs aus der von Kämpfen erfüllten Geschichte zu einem übergeschichtlichen Endzustand kampfloser Glückseligkeit. Lind es bleibt der Anspruch, daß es ein gleichfalls übergeschichtliches Denken sei, durch welches der Mensch über Ursprung, Verlauf und Ziel seiner Entwicklung aufgeklärt werde. Dem letzten Gedanken könnte der Widerspruch begegnen, daß doch gemäß der Lehre des dialektischen Materialismus nicht nur die Lagen und die Zustände, sondern auch die diesen Lagen konfrontierten, diesen Zuständen ausgesetzten Menschen in den Fortgang der dialektischen Bewegung einbezogen seien, folglich die Anmaßung eines übergeschichtlichen Denkens aufgegeben sei. Allein dieser Einwand übersieht, daß das Denken, welches sich anheischig macht, die Phasen und Stufen der dialektischen Bewegung in ihrem Daß und ihrem Wie bloßzulegen, das demnach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ihrer ganzen Erstreckung vor Augen zu haben gewiß ist, unmöglich dieser Überschau teilhaftig sein könnte, wenn es seinerseits wieder ein in den Fluß dieser Bewegung einbezogenes, mithin auf einer seiner Stufen beheimatetes Denken wäre. Indem es über den Gesamtprozeß Bericht zu erstatten sich zutraut, " legt es sich auch schon die Stellung des über der Geschichte thronenden, also den Wandlungen der Geschichte enthobenen Betrachters bei. Es könnte sich diese Souveränität nicht absprechen, ohne das Ganze seiner Aufstellungen zu dementieren.

Weil die in Rede stehende Doktrin gerade in den entscheidenden Zügen dem Schema der aufklärerischen Weltinterpretation treu bleibt, darum ist auch das, was sie der Mitwelt zu bieten hat, ein Selbstverständnis von gleich erschöpfender, befriedigender und beglückender Art. Daß diese Doktrin heute nicht bloß in den Köpfen von Theoretikern der Weltverbesserung lebt, sondern auch für Millionen zu einem Bekenntnis geworden ist, in dessen Zeichen die gewaltigsten Ballungen politischer Macht stattgefunden haben, das erklärt sich zwar nicht nur, aber auch aus dem Umstand, daß der Mensch in ihr wie ein politisches Programm so eine Auslegung seines Daseins findet, die ebenso-sehr seinen Erkenntnisdrang durch einleuchtende Erklärungen befriedigt wie sie seinen Willen durch aufrüttelnde Zielsetzungen erregt und beschwingt.

Denkt man daran, wie sehr der Mensch der Neuzeit unter der Ungewißheit leidet, die ihn überkommt, wenn er nach Wesen, Herkunft und Auftrag seines eigenen Geschlechts fragt, dann versteht man das Gefühl der Erlösung, mit dem auch Köpfe von unleugbarer Qualität bei einer Heilslehre Zuflucht suchen und finden, die für jede Frage eine Antwort, für jeden Zweifel eine Auskunft, für jeden Irrtum eine Berichtigung bereit hat.

An dem Beispiel der auf die marxistisch-leninistische Lehre schwörenden Welt wird uns anschaulich, daß heute dasjenige, was als das „Selbstverständnis“ der Epoche den Gegenstand unseres Nachdenkens bildet, nicht mehr bloß die Angelegenheit von abseitsstehenden Beobachtern des Weltgeschehens ist, sondern ein notwendiges Ingrediens der Beweisführungen bildet, durch welche der Mensch für ein bestimmtes Wollen und Handeln im Getriebe der politisch-gesellschaftlichen Welt gewonnen werden soll. Seitdem er aus der Obhut einer ihn tragenden und ausrichtenden Lebensordnung entlassen ist, wünscht er zu hören, warum er sich für diese und gegen jene der um ihn werbenden Richtungen des politisch-gesellschaftlichen Lebens entscheiden soll. Lind die Aufklärung über dieses Warum ist für ihn um so überzeugender, je gründlicher sie sein Verlangen nach Welt-und Selbstverständnis zu befriedigen weiß Daher der Widerhall, dessen sich die marxistisch-leninistische Well Interpretation erfreuen darf.

Die Unsicherheit der westlichen Welt

Bringt man sich die Lebensbedeutung des epochalen Selbstverständnisses am Beispiel der kommunistischen Gedankenwelt zur Anschauung und lenkt man dann von dort her den Blick zurück auf unsere, die westliche, die „freie" Welt, dann kann man sich eines tiefen Erschrekkens kaum erwehren. Denn was haben wir als das uns eigentümliche Selbstverständnis der so ungemein wirkungskräftigen Weltauslegung der östlichen Dogmatik entgegenzustellen? Wenn wir so fragen, dann fällt unser Blick notwendig zunächst auf jene Auslassungen eines tiefen Kulturpessimismus, von denen wir unseren Ausgang nahmen. Je radikaler sie sich gebärden — und cs fehlt wahrhaftig nicht an schlechthin nihilistischen Ausbrüchen und Verdammungen —, nm so mehr tragen sie zur Schwächung der Abwehrkräftc bei, die wir im Kampf gegen die so siegesgewiß austretende Verkündung des Ostens blutnötig hätten. Aber selbst wo es nicht zu so extremen Folgerungen kommt, fehlt es durchgängig an jenem Vertrauen zur Güte, Erhaltungswürdigkeit und Fortbildungsfähigkeit des Bestehenden, von dem der Verfechter der marxistisch-leninistischen Doktrin im Hinblick auf das durch sie kanonisierte System durchdrungen ist. Fragt man, was eigentlich dasjenige ist, was wir vor den Angriffen dieses Systems zu schützen haben — oder fragt man gar, was dasjenige ist, was wir vor den diesem System Überantworteten voraus haben, dann begegnet man nur zu oft betretenem Schweigen, unbefriedigenden Verlegenheitsauskünften, Apologien ohne Kraft der Überzeugung. Wir machen uns keiner Übertreibung schuldig, wenn wir sagen: was wir unter dem Titel „Selbstverständnis“ anzubieten haben, das steht höchstens in schwankenden Umrissen, umlagert von tausend Zweifeln und umstritten von tausend Kontroversen, vor unserem geistigen Auge. Nirgendwo läßt sich diese Unsicherheit besser beobachten als in der Wirkenssphäre der Erziehung. Wie oft vernimmt man nicht aus dem Munde derer, denen von Berufs wegen die Sorge um die Heranwachsenden auferlegt ist, den resignierten Ausruf: „Was haben wir eigentlich gegen die Idee des Kommunismus an gleich zündenden, Einheit stiftenden und Kraft verleihenden Parolen anzubieten? Läuft bei uns nicht alles zum Vielerlei der Meinungen, Wollungen, Parteiungen und Weltanschauungen auseinander? Wissen wir eigentlich, wofür wir erziehen, wollen und sollen?“

Die Rationalisierung des Lebens

Es kann nach dem Ausgeführten nicht zweifelhaft sein, daß es um die Selbstbehauptung des Westens übel bestellt ist, wenn er es nicht fertigbringt, sich aus dem Zustand mißlaunigen Unbehagens, der aus dem Mangel an Selbstvertrauen notwendig entspringt, emporzureißen und zu einem Verständnis seiner selbst und seiner Welt durchzudringen, das cs mit der Sclbstgewißhcit des Ostens aufnehmen kann, wo nicht ihr den Rang abläuft. Das aber wird nur dann der Fall sein, wenn cs gelingt, nicht nur die Unheilsprognosen der modernen Bußprediger zu entkräften, sondern auch in den Tatbeständen, die ihnen recht zu geben scheinen, die Kehrseite dessen zu enthüllen, was der Westen vor dem Osten voraushat.

Wir müssen, um uns selbst im rechten Lichte zu sehen, noch einmal auf jenen Vorgang zurückkommen, den wir als das «Auseinandertreten von Mensch und Lebensordnung» bezeichneten. Es konnte auf Grund des bisher Ausgeführten der Eindruck entstehen, als ob diese Trennung das Werk einer nur auf der einen Seite sich regenden Tendenz zur Ablösung sei. Es sah so aus, als ob der Mensch aus der ihn umfangenden Lebensordnung heraus-und so von ihr zurücktrete, daß sic ihm zum Gegenstand werde. Als einen solchen von der einen Seite her bewirkten Emanzipationsvorgang meinte in der Tat der Mensch des aufgeklärten Zeitalters den fraglichen Vorgang verstehen zu sollen, lind ihn mit Entschlossenheit zu vollziehen glaubte er sich deshalb verpflichtet, weil er überzeugt war, daß er die notwendige Bedingung sei für das Zustande-kommen einer um so vollkommeneren, weil durch die Vernunft bewirkten Einstimmigkeit von Mensch und Lebensordnung. Allein was in Wahrheit geschah, war das genaue Gegenteil des von ihm Erwarteten. Indem er sich anschickte, der Lebensordnung die der Vernunft gemäße Form zu geben, brachte er einen Prozeß in Gang, in dessen Verlauf nicht weniger die Lebensordnung vom Menschen als der Mensch von der Lebensordnung zurücktrat. Was er durch seine Emanzipation herbeiführte, das war nicht die erhoffte Einigung, sondern eine neue, und zwar eine nunmehr von beiden Seiten her bewirkte Parteiung.

Das Merkwürdige aber ist, daß diese demnach von beiden Seiten her vorwärtsgetriebene Distanzierung aus eben jener Verselbständigung des «vernünftigen» Denkens hervorgeht, durch welche ihre Urheber den Abstand von Mensch und Lebensordnung meinten zum Verschwinden bringen zu können. Wenn die Vernunft, die «ratio», die Aufgabe auf sich nimmt, zwischen Mensch und Lebensordnung das rechte Verhältnis herzustellen, so ist das, was bei diesem Bestreben herauskommt, die «Rationalisierung» aller der Tätigkeiten und Tätlgkcitskomplexc, durch welche die miteinander lebenden Menschen ihr Dasein zu erhalten und zu erhöhen bemüht sind. Rationalisierung heißt in diesem Falle: cs wird alles, was in dem fraglichen Zusammenhang geschieht, nach Maßgabe der «Sache» eingerichtet, der die einschlägigen Tätigkeiten zu dienen bestimmt sind. Es wird alles ausgeschaltet, was sich nicht als durch die Sache gefordert oder der Sache dienlich auszuweisen vermag. Von dieser Ausschaltung wird in erster Linie der Mensch selbst mit denjenigen Seiten seines Wesens betroffen, die ihn als diesen einen, bestimmten, besonderen Menschen, die ihn als diese bestimmte «Person» kennzeichnen. Er zählt nur mit dem, was er zur Ausführung der «Sache» beisteuert. lind das ist eben dasjenige, was an seiner Stelle ebensogut ein beliebiger anderer, sofern er nur der «Sache» kundig ist, leisten könnte. In seiner Vertretbarkeit, Ersetzbarkeit dokumentiert sich am deutlichsten die Entpersönlichung, die er, weil recht eigentlich zum «Sach-Walter» (= Funktionär) geworden, notwendig erleidet. Die Ratio, ohne Zweifel eine der kostbarsten unter den Gaben, die den Menschen vor der gesamten Natur auszeichnen, ist ihm gleichwohl eine strenge Herrin durch die Unnachsichtigkc. it, mit der sic ihn, soweit ihre Zuständigkeit reicht, sein persönliches Sein suspendieren heißt.

Wenn wir also feststellten, daß mit der durch die Aufklärung herbeigeführten Wendung Mensch und Lebensordnung gleich zwei Parteien auseinandertraten, so zeigt sich jetzt, daß durch diese Sonderung nicht etwa, wie erhofft, für eine neue und vollkommene Einigung die Bahn frei gemacht worden ist, sondern umgekehrt eine Neugestaltung dieses Verhältnisses möglich und nötig wurde, von der zumindest gefragt werden kann, ob sie nicht die besagte Parteiung in einer noch viel tiefer einschneidenden Form erneuert. Denn das Gegenüber von Mensch und Sache ist deshalb von einer so unvergleichlich radikalen Art, weil es nicht dadurch bewirkt wird, daß ein Außeres und Fremdes in den Daseinskreis des Menschen einbräche, sondern eine im Inneren des Menschen selbst aufbrechende Spaltung zur Voraussetzung hat. Die Eigenständigkeit und Eigenbestimmtheit, in der die Sache dem Menschen begegnet, ist ja nicht ein als äußeres Faktum Vorgefundenes und in seiner Passivität Hinzunehmendes: sic tritt genau und nur in dem Maße in Sicht, wie die Ratio sich um ihr Profilierung bemüht. Es ist der Mensch selbst, der als Platzhalter der Ratio sich ein Gegenüber bereitet, vor dem er als Person zu resignieren hat. Was hier vor sich geht, das erleuchtet sich am Gegenbeispiel des Tieres, das, weil der Ratio unteilhaftig, eine entsprechende Parteiung herbeizuführen völlig unvermögend ist.

Es kann also nicht ausbleiben, daß die nach dem Gebot der Ratio gestaltete Lebensordnung auf den sie exekutierenden Menschen Rückwirkungen ausübt, die sich als Druck auf sein personales Dasein geltend machen. An welcher Stelle und in welcher Form er diesen Druck am empfindlichsten zu spüren bekommt, wissen wir bereits. Es geschieht in Gestalt der schon von unseren Klassikern beklagten Nötigung, mit Rücksicht auf die aus der Lebensordnung entfließenden Forderungen eine unter den ihm mitgegebenen Fähigkeiten auf Kosten der übrigen hypertrophisch zu entwickeln und sich so zum Fragment dessen, was er eigentlich sein sollte, zu verstümmeln. Daß diese Nötigung ganz unmittelbar aus der mit der Rationalisierung eintretenden Herrschaft der Sache hervorgeht, liegt auf der Hand. Die Sache, deren Aufbau im Zuge der Rationalisierung mit zunehmender Klarheit hervortritt, läßt sich gemäß der ihr eigentümlichen Gliederung in Teile zerlegen. Entsprechend lassen sich die zur Ausführung der Sache erforderlichen Leistungen auf eine Mehrzahl von Menschen verteilen, von denen ein jeder nur das auf ihn entfallende Stück des hervorzubringenden Ganzen auf sich zu nehmen hat. Von dieser Möglichkeit ausgiebigsten Gebrauch zu machen scheint gerade im Sinne der Ratio angezeigt, weil mit der Verengerung des durch die Leistung zu beherrschenden Bereiches die Vollkommenheit der Leistung ansteigt. So wird die Rationalisierung zum Ursprung jener spezialistischen Vereinseitigung des Menschen, in der die «Totalität» seines Wesens mehr und mehr unterzugehen droht.

Die Rationalisierung in Naturwissenschaft und Technik

Alles, was hier zur Kennzeichnung der von der «Rationalisierung» ausgehenden Wirkungen gesagt wurde, trifft schon dann zu, wenn die Aufgaben, die durch die Rationalisierung gelöst werden sollen, im Bereich der wenscklidien Angelegenheiten als solcher liegen, wenn also das zu Ordnende dem die Ordnung Vornehmenden relativ nahe bleibt. Es trifft also vor allem zu für jene Ordnung des gemeinsamen Lebens, wie sie uns als Organisation von Staat und Gesellschaft geläufig ist. Solange die Rationalisierung sich innerhalb der Grenzen hält, die diesen Bereich einschließen, hat sie es mit «Sachen» zu tun, die zu sehr in die Bewegung des menschlichen Daseins verflochten sind, als daß nicht die ihr innewohnende Tendenz auf «Entmenschlichung» immer wieder dem Widerstand des auf sich selbst bestehenden Menschentums begegnen sollte. Die Rationalisierung gelangt hier nie völlig zum Ziele. Ganz anders ist das Bild, das wir erhalten, wenn wir hinübertreten in diejenige Sphäre menschlichen Wirkens, in der nicht menschliche Verhältnisse den Gegenstand bilden, denen mit den Methoden der Ratio beige-kommen werden soll, sondern eine außermenschliche Wirklichkeit die Aufgaben stellt, denen die Ratio in ihrer Weise zu Leibe geht. Es ist die Sphäre, in die der Mensch sich dann versetzt findet, wenn er der soge-nannten «Natur» sein Antlitz zukehrt. Hier, erst hier entfallen bis auf den letzten Rest die Widerstände, denen das Rationalisierungsstreben begegnet, solange es sich mit menschlichen Angelegenheiten abgibt.

Hier, erst hier tritt das, was mit dem Begriff der «Sache» eigentlich gemeint ist, in einer von allen Beimischungen geläuterten Reinheit hervor.

Die Folge ist, daß nirgendwo die Ratio so günstige Bedingungen des Wirkens vorfindet wie im Bereich der Natur, genauer: der anorgnischen Natur. Sie erfährt diese Gunst zuvörderst dann, wenn sie der Natur in theoretischer Absicht nahetritt: diese Natur ist die Sphäre des mit unyergleichlicher Exaktheit Berechenbaren. Sie erfährt sie auch und erst recht dann, wenn sie derselben Natur praktisch Meister zu werden versucht: das Berechenbare ist als solches das Voraussehbare und somit das in zwecktätigem Handeln Bewirkbare. Die Technik und die auf ihr fußende industrielle Produktion sind die Mächte der Zeit, durch welche uns diese Verfügungsgewalt der Ratio mit überwältigender Drastik vor Augen geführt wird. Kurzum: es ist die zu letzter Klarheit herausgearbeitete Sache «Natur», in deren Bemeisterung die Ratio ihre größten Triumphe feiert.

Die Gunst, die der Ratio durch die ihr entgegenkommende «Natur» erwiesen wird, offenbart sich nicht nur in den einzelnen Akten sei es des Denkens, sei es des Tuns, in denen der Mensch der Natur begegnet. Sie tritt auch und erst recht in dem umgreifenden Zusammenhang zutage, durch welchen das Insgesamt dieser Akte zu einem in sich geschlossenen Gesamtgeschehen verklammert wird. Weil es eine und dieselbe in immer reicherer Gliederung hervortretende Sache ist, an der die Vielheit dieser Akte sich ausrichtet, darum fallen sie nicht zu einem Aggregat gleichgültiger Einzelvorstöße auseinander, sondern fügen sie sich zu einem Kosmos zusammengehöriger Teilbeiträge ineinander. Von der Geschlossenheit dieses Geschehens erhalten wir dann einen überzeugenden Eindruck, wenn wir rückblickend uns den Prozeß vergegenwärtigen, der in einem über drei Jahrhunderte sich erstreckenden Ringen der Geister das Wissen um die Natur, die technische Fortbildung dieses Wissens und die industrielle Auswertung des durch die Technik Ersonnenen bis zu dem uns vertrauten Stande emporentwickelt hat. Was uns an diesem Prozeß in Erstaunen setzt, das ist die unablenkbare Stetigkeit, mit der es hier von Entdeckung zu Entdeckung, von Erfindung zu Erfindung, von Produktionsform zu Produktionsform weitergeht. Es schließt sich eins ans andere an in der Folgerichtigkeit, mit der das schlußfolgernde Denken von den Prämissen zur Konklusion weiterschreitet. Eine immanente Logik stiftet zwischen der Gesamtheit der Denkakte, Planungen und Handlungen, in deren Zusammenwirken dieser Prozeß sich vollzieht, eine nie und nirgend durchbrochene Einheit. Diese Einheit beruht auf der Unnachsichtigkeit, mit der ein jeder der an diesem Prozeß theoretisch oder praktisch Beteiligten sich an den jeweiligen Stand der «Sache» zu halten genötigt ist, wenn anders er mit seinem Denken und Handeln den gewünschten Effekt hervorbringen will. Jeder Ungehorsam gegen die Sadie bestraft sich durch den glatten Mißerfolg des sei es theoretischen, sei es praktischen Bemühens.

Weil die fragliche Gesamtentwicklung so streng dem Leitfaden der Sache entlangzugehen genötigt ist, darum verwirklicht sich in ihr in Reinkultur die Bewegungsform, die im Begriff des «Fortschritts» gedacht ist. Jeder Punkt auf dem durch die Sache vorgezeichneten Wege ist Zielpunkt des auf ihn hinführenden Bestrebens und Ausgangspunkt des über ihn hinaus zum nächsten Ziel weiterführenden Bestrebens. Jeder Hinter-herkommende ist reicher an Wissen und Können als die Gesamtheit der ihm Vorausgegangenen. Fügsamkeit gegen das Gebot der Sache ist die Gewähr für zunehmende Annäherung an die Perfektion. Abweichen vom Gebot der Sache ist Verrat am Fortschritt.

Der Fortschritt’ im System des Kommunismus

Ohne Zweifel hat eine Bewegung, die sich selbst mit solcher Sicherheit nach dem Prinzip des Fortschritts organisiert und die einem jeden der an ihr Beteiligten die Würde des Fortschrittsträgers verleiht, etwas Faszinierendes an sich, und wir fühlen uns angesichts ihrer geneigt, die geistige Wendung, durch welche sie in Gang gebracht worden ist, als glückhafte Tat zu preisen. Diese Wendung aber, die, wie wir wissen, herbeigeführt wurde durch den Durchbruch der Aufklärung, ist keine andere als diejenige, die zunächst dadurch unseren Widerspruch hervorrief, daß sie das Auseinandertreten von Mensch und Lebensordnung, entgegen ihrer Absicht, nicht beseitigte, sondern erneute. Und wir haben festzustellen, daß das, was der Bewegung den Charakter des «Fortschritts» verleiht, von der Aufrechterhaltung, ja der Verschärfung der genannten Sonderung nicht abzutrennen ist. Nur weil die Sache sich mit einer so unwiderleglichen Logik durchsetzt, nur weil sie einen jeden der an sie angeschlossenen Menschen so unnachsichtig, so ohne jede Rücksicht auf sein personales Sein «bei der Stange hält» — nur deshalb vermag die Bewegung das Schema des Fortschritts so rein zu verwirklichen. Jeder, auch der kleinste LIngehorsam gegen das Geheiß der Sache kommt der Sabotage des Fortschritts gleich. So stehen wir vor der entscheidenden Frage: womit haben wir recht — mit dem Nein, welches wir der Distanzierung von Mensch und Lebensordnung entgegenstellten, oder mit dem Ja, welches uns durch den Anblick eines so imponierenden Fortschritts abgenötigt wird? Es gibt wenige Fragen, deren Beantwortung für das Selbstverständnis unseres Zeitalters von so grundlegender Bedeutung wäre wie die Entscheidung der damit ausgesprochenen Alternative. Wiederum könnte in dieser Hinsicht nichts lehrreicher sein als der Blick hinüber zu der Stellung, die das der kommunistischen Ideologie innewohnende Selbstverständnis in der Beantwortung dieser Frage einnimmt. Daß sich diese Frage der östlichen Welt mit nicht geringerer Eindringlichkeit stellt als der westlichen, hat darin seinen einfachen Grund, daß die Lebensordnung, soweit sie durch die Forderungen des theoretisch-praktischen Systems der sachgebundenen Arbeit bestimmt wird, sich dort nach keinen anderen Regeln auf-und ausbaut als hier. Diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs ist es dieselbe Naturwissenschaft, dieselbe Technik, dieselbe Produktion, die die Köpfe und Hände in Bewegung setzt. Mögen die politisch-weltanschaulichen Überzeugungen, die hier und dort den Kurs bestimmen, einander so entgegengesetzt sein, wie sie wollen — die an der Sache sich orientierende Arbeit bleibt von diesem Gegensatz völlig unberührt. Die Sache würde ja aufhören, das zu sein, was dieser ihr Name besagt, wollte sie den genannten Überzeugungen auch nur den mindesten Einfluß auf die durch sie bestimmte Ordnung verstatten. Daher die ungewollte, aber darum nicht minder durchschlagende Übereinstimmung, die im Bereich der hierher-gehörigen Tätigkeiten die sonst so wenig miteinander Harmonierenden eint.

Wie nun die Antwort ausfallen muß, die der der kommunistischen Heilslehre Zugeschworene auf die oben gestellte Alternative erteilt, läßt sich mit Sicherheit voraussehen. Ein Denk-und Lebenssystem, welches dem Begriff des «Fortschritts» eine so beherrschende Stellung anweist, wie das dem kommunistischen Bekenntnis selbstverständlich ist, kann gar nicht anders als in einer Gesamtbewegung, deren «forschrittlicher» Charakter sich selbst dem oberflächlichen Blick aufdrängt, die großartige Darstellung und unwiderlegliche Bestätigung seines zentralen Prinzips erblicken und ihr mit entsprechender Freudigkeit sein Placet erteilen. Der durch die Zusammenarbeit von Naturwissenschaft, Technik und Industrie bewirkte Fortschritt fügt sich, so heißt es hier, ohne Spannung und Widerspruch in den Gesamtaufbau eines Lebens ein, welches, weil und sofern es nach den Vorschriften der marxistisch-leninistischen Botschaft geordnet ist, in allen Teilen der Idee des Fortschritts zur denkbar vollkommenen Verwirklichung verhilft. So ergibt sich die überschwengliche Verherrlichung der durch die Technik bewirkten LImgestaltung des modernen Lebens mit Selbstverständlichkeit aus den Voraussetzungen des herrschenden Systems. Lind der feurige, fast religiöse Enthusiasmus, mit dem die Jugend der Ostblockstaaten sich der Erlöserin Technik hingibt, zeugt von der werbenden Kraft, die dies Evangelium ausstrahlt.

Was aber wird innerhalb dieses Denksystems aus der Spannnung zwischen sachbestimmter Lebensordnung und personalem Sein? Es ergeht ihm nicht anders als in dem Gedankenkreis der Aufklärung: sie wird durch die Behauptung wegdekretiert, daß der Mensch durch den Entschluß, mit dem er sich in die Bewegung des «Fortschritts» hineinstelle, und in dem Maße, wie er diesem Entschlusse treu bleibe, auch schon seinem Menschsein zu der ihm zustehenden Erfüllung verhelfe. Damit erneuert sich die Zuversicht der Aufklärung, daß mit dem Aufstieg der Ratio der Gegensatz zwischen Mensch und Lebensordnung sich aufheben müsse. Man mache sich klar, daß nach den Voraussetzungen des Systems eine andere Auskunft nicht möglich ist. Würde der genannte Gegensatz eingestanden, so käme das ja dem Zugeständnis gleich, daß das Prinzip des «Fortschritts», im Bereich der technischen Zivilisation seiner vollkommenen Erfüllung sicher, jenseits dieses Bereichs durch Bedürfnisse und Mächte anderer Herkunft und Artung durchkreuzt und gebrochen werde. Ein Gegensatz zwischen Mensch und Lebensordnung darf nicht sein, weil, wenn ein solcher in der Tat bestände, das durch die Lebensordnung inthronisierte Prinzip des Fortschritts im Menschen als solchen andersgerichteten, ja geradezu fortschrittsfeindlichen Gegenkräften begegnete. Das aber ist nicht statthaft. Und so wundern wir uns denn nicht, daß wir im Rahmen dieser Doktrin der Versicherung begegnen: die freudige Bejahung und tätige Förderung des technischen Fortschritts falle geradezu zusammen mit der Anerkennung und Pflege der — Humanität! Die seelischen Bedürfnisse und Ansprüche des Menschen als Menschen, die Anforderungen des technischen Arbeitssystems und die Gebote der staatlich-gesellschaftlichen LebensVerfassung: alles dies fügt sich zu vollkommener Einstimmigkeit ineinander, wo immer man die unumstößlichen Wahrheiten der marxistisch-leninistischen Gesellschaftsund Geschichtsdeutung zur Richtschnur der gesamten Lebensgestaltung erwählt hat. Konflikte zwischen dem Menschen als Menschen und der ihn umfangenden Lebensordnung gibt es nur da, wo an Stelle der genannten Wahrheiten die Vorurteile und Begehrlichkeiten privilegierter Schichten über den Aufbau der Lebensordnung bestimmen. Das Auseinanderfallen von Mensch und Lebensordnung ist nicht im Wesen der Sache begründet, sondern lediglich Ausdruck und Folge einer der Wahrheit zuwiderlaufenden Gestaltung der gemeinsamen Dinge. Wir sehen: den diesem Denksystem sich Hingebenden wird ein Selbstverständnis unseres Zeitalters vermittelt, in dem alle durch das Denken der Aufklärung gespendeten Erleuchtungen und erschlossenen Beglückungen ihre letzte Vollendung erreichen.

Allein dasselbe politische System, das durch die von ihm kanonisierte Theorie die Menschheit von allen Disharmonien des Daseins zu erlösen sich anheischig macht, hat das Verdienst, durch die von ihm geübte Praxis den unwiderleglichen Nachweis zu liefern, wie unfehlbar die von ihm verleugneten Gegensätze gerade dann sich fühlbar machen, wenn sie durch die Vorkehrungen der Machthaber daran gehindert werden, offen zutage zu treten und sich zum Austrag zu bringen. Auf dem Papier macht es natürlich keine Mühe, dem Prinzip eines geradlinig aufsteigenden Fortschritts die Herrschaft über alle Gebiete des Lebens zu vindizieren und in seinem Zeichen alles menschliche Streben zu zwiespaltloser Einstimmigkeit zusammenzuführen. Es kann dann der Anschein entstehen, als ob die Bewegungsform, die überall da den Fortgang der Dinge bestimmt, wo das Handeln dem Gebot einer den Leitfaden abgebenden Sache gehorcht, von ihrem Ursprungsgebiet her sich auf alle Dimensionen des menschlichen Lebens übertragen lasse. Kurzerhand wird sowohl die ganze öffentliche Sphäre, d. i.der Raum des politisch-gesellschaftlichen Geschehens, als auch die Intimsphäre, d. i.der Raum des personalen Werdens, der Leitidee des «Fortschritts» unterworfen. Es wird so hingestellt, als ob überall da, wo nicht Torheit oder Bosheit dem regelrechten Ablauf in die Quere komme, es mit derselben Folgerichtigkeit weitergehen müßte, mit der die Dinge sich im Bereich des sachgeleiteten Handelns fortentwickeln. Allein in Wahrheit fehlt es sowohl in der Dimension des staatlich-gesellschaftlichen Lebens als auch in der Dimension des persönlichen Werdens an einer sich selbst als gültig ausweisenden Leitlinie, an die der Handelnde sich bloß zu halten brauchte, um das jeweils Gebotene nicht zu verfehlen. Im Gegenteil: gerade dadurch kommt dem Menschen die Unsicherheit, Vieldeutigkeit, Gewagtheit seines öffentlichen wie seines privaten Daseins besonders schmerzhaft zum Bewußtsein, daß sie sich von der eindeutigen Bestimmtheit des durch, den sachbestimmten «Fortschritt» Vorgezeichneten so sehr zu ihrem Nachteil abhebt. Was also ist die Folge, wenn ein politisches System gleichwohl darauf besteht, durch die von ihm gestiftete Ordnung in der ganzen Breite des Lebens den «Fortschritt» zur Verwirklichung zu bringen? Es kann nicht anders, als an die Stelle der Weisung, das Willensdekret der gerade an der Macht Befindlichen setzen. Lind weil dieses Willensdekret sich nicht so selbsttätig durchsetzt, wie eine durch sich selbst einleuchtende Sache es tun würde, vielmehr dem Willen der Herrschenden der Gegenwille der Andersdenkenden in tausendfältiger Gestalt entgegentritt, darum muß, damit das von den Herrschenden als »Fortschritt« Deklarierte Wirklichkeit werde, den abweichend Gesinnten mit allen verfügbaren Mitteln der Umstimmung, die sich von den Suggestionen propagandistischer Seelenbearbeitung bis zum härtesten Zwang, ja dem blutigen Terror erstrecken, die gegenläufige Meinung ausgetrieben oder wenigstens die Lust, sie zu bekunden, genommen werden. Nur so kann wenigstens der Schein hervorgerufen werden, als seien alle von diesem System Umfaßten einig in der Entschlossenheit, auf dem Wege einer von allen Seiten als «fortschrittlich» anerkannten politisch-gesellschaftlichen Entwicklung ohne Schwanken vorwärtszugehen. Und dieser Zwang hat es nicht schwer, sich vor sich selbst und vor der Allgemeinheit ein gutes Gesicht zu geben. Kann es doch den Voraussetzungen der Ideologie gemäß nur Torheit oder Bosheit sein, die sich der Bewegung des Fortschritts in den Weg stellt — und warum sollte mit solchen Gegnern viel Federlesens gemacht werden!

Es besteht also ein tief notwendiger Zusammenhang zwischen der Theorie des universalen Fortschritts und der Praxis der universalen Menschenknechtung. Was im Bereich des durch die Sache gesteuerten Fort-sdiritts, aber auch nur dort, sich ohne jeden Druck von selbst macht, das kann nur durch gewaltsame Uniformierung und Reglementierung bewirkt werden, wo eine den Fortgang von sich aus regelnde und damit die Willkür ausschaltende Instanz vergeblich gesucht wird.

Das Paradigmatische aber, das diesem System des manipulierten Fortschritts eignet, liegt darin, daß durch die Gewaltsamkeit, mit der der Gesamtheit der dem System Unterworfenen das systemgerechte Denken und Handeln aufgenötigt wird, alle jene Unzukömmlichkeiten, die die rationalisierende Verfestigung der Lebensordnung für den ihr überantworteten Menschen im Gefolge hat, ihr Höchstmaß erreichen. Denn hier ist die Rationalisierung der Lebensordnung nicht mehr die Form, in der eine durch die Sache vorgezeichnete Gesamtleistung zur Durchführung gebracht wird, sondern das Instrument, durch welches eine der Willkür entsprungene Konstruktion der gesellschaftlich-politischen Verhältnisse den Widerstrebenden aufgezwungen werden soll. Was hier in Wahrheit geschieht, das ist das genaue Gegenteil dessen, was in den emphatisch vorgetragenen Programmen verkündigt wird. Man behauptet, Mensch und Lebensordnung zu vollkommener Einstimmigkeit zusammenzubringen, und man macht in Wahrheit die Lebensordnung zu der Zwangsvorrichtung, die den Menschen ohne Gnade zum Funktionär des herrschen den Systems entselbstet. Es ist ein welthistorisches Experiment ohnegleichen, durch welches der Mensch hier darüber aufgeklärt wird, welchen Möglichkeiten er sich ausgeliefert hat, als er sich entschloß, die Lebensordnung in die Hand der Ratio zu legen.

Mensch und „Sache" im westlichen Denken

Gemessen an den Gewaltsamkeiten eines Systems, das im Namen des angeblichen «Fortschritts» alles menschliche Tun und Lassen dem Dekret der Machthaber unterstellt, kann der Druck, den die zur Arbeitsordnung entfaltete «Sache» auf den Menschen ausübt, harmlos und leicht ertragbar scheinen. Denn mögen die von der Sache ausgehenden Anforderungen auch manchmal dem Menschen erheblich zu schaffen machen — er weiß in allem Unbehagen doch ganz genau, daß die Nötigungen, denen er gehorcht, in der Sache begründet sind, mithin sich selbst als gültig ausweisen, nicht aber der Willkür der gerade im Besitz der Macht Befindlichen entspringen. Kein Wunder, daß augenscheinlich in der östlichen Welt der in der Sadie begründete Teil der Lebensordnung, d. i. die Ordnung der technisch-industriellen Arbeit, nicht nur keinen Protesten begegnet, in denen der Mensch sich gegen die Sache zur Wehr setzte, sondern mit jenem Enthusiasmus bejaht wird, der sich an dem hier wirklich aufweisbaren «Fortschritt» entzündet. Wenn demgegenüber in unserer westlichen Welt die Spannung zwischen sachlicher Forderung und menschlichem Anspruch so viel stärker empfunden und so viel beweglicher beklagt wird, so ist der Grund für diesen Unterschied nach dem Gesagten unschwer einzusehen. Unser Dasein vollzieht sich im Rahmen einer allgemeinen Lebensverfassung, d. h. einer Ordnung von Staat und Gesellschaft, die den Menschen in einem Maße sich selbst anheim-gibt, das durch Theorie und Praxis des kommunistischen Systems a limine ausgeschlossen ist. Die natürliche Folge ist, daß wir, weil dieser Bedrängnis ledig, gegen jenes Stück angeblicher «Unfreiheit» um so empfindlicher sind, das, weil von der Anerkennung der Sachnotwendigkeiten nicht abzutrennen, durch keinerlei Kunstgriffe aus unserem Leben entfernt werden kann. Wir erheben den Vorwurf der «Mechanisierung» gegen eine Arbeitsordnung, die den vom kommunistischen Zwangs-system Beschlagnahmten wie ein Refugium der Freiheit vorkommen mag.

Wir lehnen uns auf gegen solche Anforderungen, die ihren LIrsprung weder in einem über uns verhängten Schicksal noch in der Willkür eines über uns verfügenden Despoten, sondern einzig und allein in den Erleuchtungen des sich der Sache aufschließenden Geistes haben. Wir revoltieren gegen ein Leistungssystem, das in allen Teilen das Ergebnis unserer freien Begegnung mit der sich uns offenbarenden «Natur» ist.

Vergleicht man, wie es hier geschehen ist, die dem kommunistischen Menschen selbstverständliche Bejahung des technisch-industriellen Arbeitsprozesses mit der Haltung zweifelnden Mißtrauens, die der westliche Mensch ihm gegenüber beobachtet, so könnte man den Eindruck gewinnen, als ob in dieser Haltung nur die Überempfindlichkeit des durch die Luft der Freiheit Verwöhnten zu Worte komme. Allein, so will das von uns Ausgeführte nicht verstanden sein! Keine Rede davon, daß der Bewegung, die den kommunistischen Menschen durch ihre «Fortschrittlichkeit» so sehr entzückt, jede Anzweiflung fernbleiben müßte. Mit ihrer Bejahung des technisch-industriellen Fortschritts behält die kommunistische Ideologie nur insoweit recht, wie sie ein Einhalten auf diesem Wege, wo nicht den Widerruf des in seiner Verfolgung Vollbrachten für undiskutabel erklärt. Nicht aber behält sie recht mit der Behauptung, daß das Fortschreiten auf diesem Wege als solches schon der Förderung der «Humanität» gleichkomme. Die Bedenken, die die arbeitsteilige Gesellschaftsordnung schon in den klassischen Verkündern der Humanität hervorrief, sind durch die Entwicklung, die sie seit ihrem Einspruch genommen hat, nicht erschüttert, geschweige denn widerlegt worden. Wir Heutige sind die letzten, die es sich gestatten dürften, die in dem Schlagwort «Mechanisierung» sich zusammenfassenden Besorgnisse in den Wind zu schlagen. Nur der von dem Idol des «Fortschritts» vollkommen Geblendete kann sich der Einsicht verschließen, wie sehr der Mensch als solcher durch die Anforderungen der modernen Arbeitsordnung in die Enge getrieben wird. Die «Sache» hat sich zu einer Gebieterin entwickelt, die nach seinen persönlichen Ansprüchen immer weniger fragt.

So wenig also das unbedingte Nein der die moderne Arbeitsordnung Verdammenden Gehör verdient, so wenig darf dem unbedingten Ja der diese Ordnung Vergötternden recht gegeben werden. Dem Geist unseres Zeitalters mit dem rechten Selbstverständnis zu begegnen wird uns nur dann gelingen, wenn wir es fertigbringen, die willige Einfügung in das keinem Einspruch weichende Arbeitsgefüge der modernen Welt und die unbefangene Anerkennung der ihm nicht abzusprechenden Großartigkeit zu vereinigen mit jener hellen Wachsamkeit, deren es bedarf, damit wir nicht, durch das Gebot der Sache bis auf den letzten Rest beschlagnahmt, wir selbst zu sein aufhören und uns aus einer Gemeinschaft von Personen in einen Verband von Funktionären verwandeln. Wir müssen sehend werden für die eigentümliche Antinomik des Menschlichen, die darin liegt, daß der Mensch durch die ihm mitgegebenen Kräfte befähigt, ja aufgerufen wird, ein System von Veranstaltungen aufzubauen, das, obwohl in jedem Teile Schöpfung seines planenden Scharfsinns und seiner ordnenden Energie, doch durch die von ihm ausgehenden Rückwirkungen sein menschliches Sein mit Entseelung bedroht. Die Rationalisierung der Arbeitsordnung, weit entfernt, zwischen Mensch und Sache ein vollkommenes Einvernehmen herzustellen, hat ein Gefüge von Leistungszusammenhängen entstehen lassen, das ihn in steigendem Maße der Gefahr der totalen Selbstentfremdung aussetzt.

Es liegt auf der Hand, wie wenig ein Selbstverständnis, das diese Antinomik unverhüllt und unbeschönigt aus Licht bringt, darnach angetan ist, das natürliche Bedürfnis des Menschen nach runden Auskünften, einleuchtenden Erklärungen, glatten Lösungen zu befriedigen. Wieviel lieber hört er Deutungen seines eigenen Lebenszustandes, die nichts un-erklärt lassen, keine peinigenden Widersprüche aufweisen, Unebenheiten zu glätten wissen? Solche Vorzüge sind es, durch welche die kommunistische Ideologie sich der nach einem befriedigenden Selbstverständnis verlangenden Mitwelt empfiehlt. Hier bleibt keine Lücke des Verständnisses, kein unaufgelöster Gegensatz, keine Ungewißheit über das anzustrebende Ziel. Für die werbende Kraft einer Doktrin kann nichts vorteilhafter sein als eine so vollkommene Behebung aller das Menschenherz beunruhigenden Zweifel. Was das der «freien» Menschheit gemäße Selbstverständnis wider so viel Vorzüge einzusetzen hat, das ist, so scheint es, nur eines, aber dieses eine ist so viel wie alles: es ist seine 'Wahrhaftigkeit. Hier wird nichts verschwiegen, nichts beschönigt; alles wird unverhohlen beim rechten Namen genannt. Und weil es keine schlimmere Unfreiheit gibt als jene, in die der Mensch dadurch sich selbst versetzt, daß er sich seine Lage durch illusionäre Wunschbilder verschleiert, darum darf gesagt werden: ohne die Wahrhaftigkeit, die in diesem Selbstverständnis waltet, würde es nicht die Freiheit geben, in der die westliche Welt ihr Palladium erblickt.

Mensch und Lebensordnung im westlichen Denken

Es ist höchst bemerkenswert, daß der Gegensatz der hier und der dort versuchten Daseinsdeutung schon dann zutage tritt, wenn die Betrachtung sich auf diejenige Sphäre des tätigen Lebens beschränkt, die, weil dem Gebot der «Sache» unterstehend, die westliche und die östliche Welt in dieselben Bahnen des Denkens und Handelns hineinnötigt und die kraft dieser ihrer Sachgebundenheit dem Prinzip des «Fortschritts» zur vollkommensten Verwirklichung verhilft. Wieviel schärfer muß der nämliche Gegensatz erst dann hervortreten, wenn wir aus dieser Sphäre heraustreten und uns in diejenigen Bereiche begeben, die der Führung durch eine die Gleichrichtung erwirkenden Sache ermangeln! Erst hier, erst in der Dimension der sich zur staatlich-gesellschaftlichen Ordnung formierenden Gemeinschaft, tut sich jenes Dilemma auf, an dem sich östliche und westliche Welt scheiden: entweder bedingungslose Einheit und Einstimmigkeit der sich im Zeichen des «Fortschritts» ausrichtenden Genossen, dann aber auch der eiserne Zwang, ohne den es niemals zu dieser Uniformierung des Verhaltens, geschweige des Denkens kommen würde — oder Verzicht auf alle Praktiken gewaltsamer Gesinnungszüchtung und Gewissensknechtung, dann aber auch das Auseinandergehen zur Vielheit der Meinungen, Überzeugungen, Bestrebungen, wie es den Staat der «Freien» nun einmal kennzeichnet. Beides zusammen haben wollen, die Einheit der Überzeugung mit der Freiheit der Meinungsbildung in eines denken — wie solches manchem stillen Bewunderer der östlichen Geschlossenheit unterläuft —, ist vollendeter Widersinn. Man muß wissen, was man höher stellt: eine Einheit der «Idee», die in Wahrheit nur der gewaltsam hergestellte Schein einer solchen ist — oder eine Mannigfaltigkeit von Bekenntnissen, die nicht trügende Fassade, sondern echte, sich selbst bezeugende Wirklichkeit ist.

Ohne Zweifel kann man nicht für das zweite votieren, ohne in verschärfter Form dasselbe erfahren zu müssen, was schon die dem Westen gemäße Interpretation der sachgebundenen Arbeitswelt zur Gewißheit macht: die Welt wird reicher an Gegensätzen, sie ist theoretisch schwerer zu bemeistern, wenn man die dem Menschenleben innewohnenden Antinomien offen zutage treten und sich ungehindert aussprechen läßt, als wenn man sie durch ein System des uniformierenden und reglementierenden Zwangs ins Dunkel der Anonymität zurückdrängt. Es ist nichts weniger als unbegreiflich, daß so mancher Erzieher der westlichen Welt ein Zagen verspürt, wenn man ihn vor die Aufgabe stellt, den Zögling in einer von Parteiungen zerfurchten Welt Fuß fassen zu lassen und zu der wählenden Entscheidung, die diese Welt ihm eines Tages abfordern wird, reif zu machen. Es ist wirklich sehr viel einfacher, den Heranwachsenden für ein alleingültiges Dogma von vollendeter Einstimmigkeit zu drillen und für die Ausführung des in ihm Vorgeschriebenen einzuexerzieren, als in ihm den Willen und das Vermögen zu eigener Wahl heranzuziehen. Aber sollte nicht die Einsicht in die Natur des Verfahrens, das zum Einsatz gebracht werden muß, damit das Dogma sich in konkurrenzloser Geltung behaupten könne, genügen, jene Anwandlung von Neid, die der Anblick der die östliche Erziehungswelt auszeichnenden Zielsicherheit zunächst hervorrufen kann — jenes Gefühl der Unterlegenheit, das der solcher Sicherheit Ermangelnde so leicht verspürt, zum Verstummen zu bringen? Es ist doch wohl an der Zeit, daß wir in den Zweifeln und Nöten, die dem in einer freien Welt seinen Standort Suchenden nicht erspart bleiben, den Preis erkennen lernen, der gezahlt werden muß, damit wir aus eigener Einsicht, auf eigene Verantwortung und auf eigene Gefahr Partei nehmen dürfen und nicht nach einer an uns ergehenden Order zu denken, zu wollen und zu handeln genötigt sind.

östliches und westliches Staatsverständnis

Wenn wir der zur Schau getragenen Einstimmigkeit des zwangsweise uniformierten «Kollektivs» die Polyphonie der in der «freien» Welt laut werdenden Überzeugungen gegenüberstellen, dann kommt es uns erst so recht zum Bewußtsein, welche Stellung das rechte Selbstverständnis unseres Zeitalters jenem Stück menschlicher Lebensordnung anzuweisen hat, das wir den «Staat» nennen. Auf die Notwendigkeit, dem Staat einen bevorzugten Platz anzuweisen, muß deshalb hingewiesen werden, weil es Zeiten gegeben hat, in denen es so aussehen konnte, als sei der Staat nicht mehr als die äußere «Form» des gemeinsamen Daseins, nicht mehr als die Schutzvorrichtung, innerhalb deren ein seiner im übrigen nicht bedürftiges und von ihm unabhängiges Leben seinen Gang gehe. Es ist das eine Auffassung, die um so weniger außer acht gelassen werden darf, als es bis zum heutigen Tage eine nicht kleine Zahl von Poeten, Literaten und Weltweisen gibt, die ihrem Auftrag zu dienen glauben, wenn sie den Staat, ja das Ganze des öffentlichen Lebens an die Peripherie des Daseins verweisen und sich selbst und ihresgleichen eine staatsfreie Sphäre des «reinen» Geistes reservieren. Alle Trennungsversuche dieser Art werden schon durch die Unwiderstehlichkeit dementiert, mit der der Staat heute sich in jedem ernsthaften Versuch des epochalen Selbstverständnisses seinen Platz zu sichern weiß. Mit einer vor nichts zurückschreckenden Folgerichtigkeit geschieht dies in der Weise der Selbstauslegung, die wir in Gestalt des dialektischen Materialismus vor uns haben. Hier ist der Staat wahrhaftig nicht bloß die Institution, die ein im übrigen sich selbst überlassenes Leben als äußere Daseinsordnung zusammenhält. Er ist die geschichtliche Macht, der es obliegt, das Leben in allen Teilen, bis hin zu den sublimsten Offenbarungen der sich kundtuenden Innerlichkeit, bei der Linie der Entwicklung festzuhalten, über deren notwendige Richtung wir durch die marxistisch-leninistische Gesellschaftswissenschaft aufgeklärt werden. Er ist der Erlöser, der sein Werk dadurch krönen wird, daß er am Abschluß der dem Gesetz der Dialektik gehorchenden Bewegung einen gesellschaftlichen Zustand heraufführt, durch dessen Vollkommenheit er selbst, d. h. die in ihm konzentrierte Zwangsgewalt, überflüssig gemacht wird. Schauen wir von diesem zum irdischen Gott erhöhten Staat hinüber zum Staat der «freien» Welt, zum Staat der Demokratie, so könnte es auf den ersten Blick so aussehen, als treffe auf ihn die oben reproduzierte Vorstellung eines das Leben äußerlich umschließenden Geheges um so mehr zu, je gewissenhafter er die Freiheit der in seinem Bereich sich regenden Daseinsmächte respektiere. Allein, ihn so zum Ordnungswächter depotenzieren — das hieße den Sinn der Demokratie gründlich mißverstehen. Der demokratische Staat, der um sich selbst Bescheid weiß, versteht sich nicht als die äußere Form, die ein für ihn gleichgültiges und gegen ihn gleichgültiges Leben als Schutzvorrichtung umhegt, nein: er sieht, daß die Vielfältigkeit dieses Lebens audt sein eigenes Leben ist — genauer, daß sie sich in seine eigene Bewegung projizieren muß, damit er mehr sei als ein Gerüst toter Einrichtungen: nämlich ein sich selbst immerfort bildendes und umbildendes politisches Ganzes. Daß der demokratische Staat sich wieder und wieder aus dem Füreinander und Widereinander der Parteien zusammenspielt daß er diese ewig wechselnde Bewegung nicht bloß duldet, sondern durch seine eigene Verfassung zu immer erneuter Regsamkeit aufruft: dies eben ist dasjenige, was ihn zum Staat der «Freiheit» macht. Als solcher kann er nur durch ein Selbstverständnis begriffen werden, das ihn mit dem Ganzen des gemeinsamen Lebens zusammenschaut, nicht aber zum der formalen Apparat Daseinsregelung veräußerlicht. Wollten doch alle diejenigen, denen die Demokratie durch die von ihr nicht abtrennbaren Einstimmigkeiten, Reibungen, Zusammenstöße so manche Äußerung des Mißfallens entlockt, sich dies eine klarmachen: dieser Demokratie seine Zustimmung und seine aktive Teilnahme verweigern, wohl gar durch Lästerungen den moralischen Kredit entziehen — das heißt nichts anderes, als den vor den Toren harrenden totalitären Staat zur Wiederkehr einladen! Wem für die Linausweichlichkeit dieser Alternative die Augen aufgegangen sind, der darf sich rühmen, im Verständnis seines eigenen Zeitalters einen wesentlichen Schritt vorwärts getan zu haben. Aber es scheint, daß dieser Schritt gerade denjenigen besonders schwer fällt, die die letzten sein würden, von der für die eigene Person beanspruchten Freiheit der Äußerung auch nur ein Quentlein dahinzugeben.

Mensch und Geschichte

Wer sich entschlossen hat, der Werbung der kommunistischen Ideologie zuliebe sein Ohr zu verschließen, dem bleibt es auch nicht erspart, einer Hoffnung zu entsagen, die vielleicht mehr als alles andere dahin gewirkt hat und wirkt, dieser Botschaft die Herzen zu gewinnen. Wir hörten, daß die kommunistische Lehre, der aufgeklärten Menschheits-Philosophie folgend, in jener Reihe von Begebenheiten, die wir «Geschichte»nennen, nur die Folge der Auseinandersetzungen erblicken kann, die bestanden sein wollen, auf daß die Menschheitsentwicklung in einen Zustand übergeschichtlicher Vollkommenheit und Glückseligkeit einmünde. Die Richtung des geschichtlichen «Fortschritts» bestimmt sich von einem über die Geschichte hinaus liegenden Zielpunkt her. Indem wir uns davon überzeugen, daß der Fortgang der MenschheitsentWicklung sogar da, wo eine in sich gegründete «Sadie» den Leitfaden hergibt, nicht der Harmonie näherbringt, sondern immer neue Spannungen herauf beschwört — indem wir uns weiterhin darüber klar werden, daß außerhalb dieses Bereichs erst recht alle Voraussetzungen für eine automatische Vervollkommnung-der menschlichen Dinge entfallen, nehmen wir zugleich Abschied von dem Gedanken, daß die unter der Mühsal der Geschichte stöhnende Menschheit einmal, und sei es auch erst in fernster Zukunft, in einem der Geschichte enthobenen Zustand zur Ruhe kommen werde. Wir entsagen der Hoffnung, daß zum guten Ende die Geschichte sich selbst überflüssig machen werde. Vielmehr gestehen wir uns ein, daß Mensch und Geschichte in dem strengen Sinne miteinander solidarisch sind, daß Mensch sein so viel heißt wie Geschichte erdulden und tätigen, Geschichte haben so viel heißt wie Mensch sein.

Der der Geschichte enthobene Mensch ist ein Phantom, und ein Selbstverständnis des Zeitalters, das in diesem Phantom den Richtpunkt seines Strebens meint erblicken zu sollen, gehört zu den verderblichsten Selbst-täuschungen unseres so vielen Irrlichtern nachlaufenden Geschlechts.

Wider diese die Millionen betörende Illusion beschwören wir den Geist jener Wahrhaftigkeit, die es sich verbietet, den Drude der durch die Geschichte befestigten Zustände und beförderten Mächte durch die Hingabe an Einbildungen zu mildern, deren wahnhafte Tröstung früher oder später mit dem Sturz in den Abgrund bezahlt werden muß.

Indem das Selbstverständnis unseres Zeitalters sich von der Notwendigkeit Rechenschaft gibt, kraft welcher Mensch und Geschichte unabtrennbar zusammengehören, verabschiedet es auch den Gedanken an die Möglichkeit einer allgemeinmenschlichen Vernunft, die von einem oberhalb der Geschichte gelegenen Standort her sowohl der bereits abgelaufenen als auch der noch ausstehenden Geschichte die Linien eines angeblich notwendigen Fortganges ein-bzw. vorzeichnete. Wir erkennen, daß ein jedes der gerade zum nächsten Gange angetretenen Geschlechter nicht von einer übergeschichtlichen Vernunft das von ihm zu absolvierende geschichtliche Pensum zugewiesen bekommt, sondern aus eigener Lebensmitte, kraft eigenen Befindens und auf eigene Verantwortung, die weiterhin einzuschlagende Richtung zu bestimmen hat. Das Wagnis der wählenden Entscheidung wird ihm nicht durch den Spruch einer geschichtsenthobenen Weisheit abgenommen. AIs übergeschichtliche Erleuchtung bleibt lediglich die prinzipielle Einsicht übrig, die uns über die Unumgehbarkeit der geschichtlichen Besonderung und die Unabwälzbarkeit der geschichtlichen Entscheidung aufklärt. Denn unmöglich konnte auch sie in den Strom der geschichtlichen Bewegung aufgelöst werden, ohne daß das in ihr Ausgesagte jegliche Geltung, ja jeden diskutablen Sinn einbüßte. In diesem, aber auch nur in diesem Sinne haben auch wir im Vorausgegangenen von einem Standort her Ausschau zu halten uns zugetraut, der übergeschichtlich sein muß, damit über die Unentrinnbarkeit der Geschichte überhaupt eine Aussage gewagt werden könne.

Von dem Umfang und der Grenze dessen, was der zu diesem Standort Aufgestiegene auszusagen bevollmächtigt ist, erhielten wir eine repräsentative Probe schon in den einleitenden Ausführungen, die das Wesen und die Notwendigkeit des epochalen Selbstverständnisses zu erhellen bestimmt waren. Was dieses-Selbstverständnis leisten kann und zu leisten hat, welche geschichtliche Wandlungen es sind, die es heraufgeführt und zu einem unerläßlichen Attribut des modernen Lebens gemacht haben — das sichtbar zu machen kann nur einem Denken gelingen, das nicht selbst in dem Selbstverständnis einer bestimmten Epoche befangen und eingeschlossen ist, sondern sich reflektierend über die Besonderungen des epochalen Bewußtseins erhebt. Aber durch diese Erhebung wird das Epochalbewußtsein in seinen Sondergestalten nicht überwunden, verdrängt, für überholt erklärt — nein: es wird gerade in seiner unvertretbaren Lebensfunktion erleuchtet und bestätigt. Zusammen mit der Selbstbesonderung der geschichtlichen Menschheit überhaupt wird auch die Besonderung ihres Sichselbstverstehens nicht nur nicht verneint, sondern postuliert und legitimiert. So wird das epochale Selbstbewußtsein zu einer Erscheinung des Menschheitslebens, in der sowohl seine geschichtliche Besonderung als auch das Wissen um diese seine Besonderung sich vorbildlich zur Darstellung bringt.

Fussnoten

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