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Jahr der Entscheidung im Mittleren Osten | APuZ 12/1957 | bpb.de

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APuZ 12/1957 Wiederaufbau eines Bündnisses Jahr der Entscheidung im Mittleren Osten Eine politische Konzeption für den Westen Politik und Zhi’tghschich’te

Jahr der Entscheidung im Mittleren Osten

RICHARD H. NOLTE

Aus der amerikanischen Zeitschrift „THE YALE REVIEW" (Winter 1957) übernehmen wir mit Genehmigung des Verlages die beiden folgenden Beiträge: Richard H. Nolte, „Jahr der Entscheidung im Mittleren Osten“, Robert Strausz-Hupe, „Eine politische Konzeption für den Westen".

Copyright Yale University Press.

Ende Dezember letzten Jahres behauptete Dr. Charles Malik, der libanesische Staatsmann und Philosoph, 1956 werde für den Mittleren Osten ein Jahr der Entscheidung. Offensichtlich hatte er recht.

Wahrscheinlich wird der künftige Historiker im Rückblick feststellen können, daß es der Sowjetunion nach fast zweihundertjährigen Bemühungen schließlich'in diesem Jahr gelang, sich in den Angelegenheiten des Mittleren Ostens als die beherrschende Macht festzusetzen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird er auch beobachten, daß dieser riesige Erfolg selbst mit all seinen bitteren Folgen für den Westen und den Mittleren Osten in erster Linie das Ergebnis von Fehlern der westlichen Politik war.

Manche werden behaupten, der sowjetische Aufstieg zur Herrschaft sei in jedem Falle unvermeidlich gewesen, sei es infolge des kommunistischen Erfolges und des westlichen Versagens gegenüber den wachsenden nationalistischen Kräften in der arabischen Welt, sei es aus anderen Gründen. Aber das erklärt weder die Plötzlichkeit des sowjetischen Riesenschrittes nach vorn, noch warum er zu diesem besonderen Zeitpunkt geschah. Die Erklärung liegt in der Suezkrise und den ihr vorausgehenden Ereignissen. Obwohl das Geschehen in der Weltpresse Tag für Tag veröffentlicht wurde, ist es von Nutzen, die Folge der Ereignisse einmal im Ablauf des Jahres zu betrachten.

Für die Diskussion zerfällt die Entwicklung der Krise ganz natürlich in vier miteinander verbundene Stadien:

Die russische Demonstration einer Politik „begrenzten Interesses" im Mittleren Osten während der Monate April, Mai und Juni;

der Beginn einer amerikanischen Politik der „Unnachgiebigkeit" gegenüber Ägypten im Juli;

der ägyptische Gegenvorschlag gegen die Suezkanal-Gesellschaft und die wütende Reaktion der Engländer und Franzosen, die die eigentliche Krise bildet.

Eindeutige Demonstration russischer Zurückhaltung

Die Folge der Ereignisse beginnt mit dem gefährlichen Steigen der Spannung entlang der arabisch-israelischen Grenze im Winter und Frühling 195 5/56 (im wesentlichen als Folge großer Waffenlieferungen des Sowjetblocks an Ägypten), und findet ihren Höhepunkt in der israelischen Bombardierung von Gaza und der Vergeltung durch Kommandoaktionen in Israel der in Ägypten ausgebildeten Palästinenser Anfang April. Als Antwort auf den offenkundig drohenden Krieg und die zu erwartende westliche Intervention ließ die Sowjetunion keine Zweifel an ihrer Stellungnahme aufkommen. Die Erklärung vom 17. April stellte fest, daß „die Sowjetunion es im Interesse der Stärkung des internationalen Friedens und der Sidierkeit für notwendig erachtet, auf eine stabile friedliche Regelung der Palästinafrage in einer allseitig annehmbaren Form hinzuarbeiten und dabei die gerechten nationalen Interessen der beteiligten Parteien zu beriicksichtigen'‘. Zu diesem Ziele würde die Sowjetunion in der UNO und anderswo beitragen. Wenige Tage später erörterte das britisch-russische Kommunique, das in London nach dem Besuch von Bulganin und Chruschtschow herausgegeben wurde, die gleiche Ansicht.

Nach dem Wortlaut der Erklärung bezogen die Sowjets dieselbe Stellung wohlwollender Neutralität, die der Westen und Israel selbst solange eingenommen hatten; und die Araber waren enttäuscht. Aber sie waren nicht überzeugt. Sie waren nicht überzeugt, denn nach ihrer Ansicht erforderte die ganze Logik des Kalten Krieges eine sowjetische Unterstützung der Araber gegen die „zionistischen Aggressoren“ und ihre „imperialistischen" westlichen Hintermänner. Mit Ausnahme der gewitzteren unter ihnen schrieben sie die April-Erklärung als ein taktisches Manöver ab, das ausschließlich Propagandazwecken diente.

Als Außenminister Schepilow im Juni Kairo, Damaskus und Beirut besuchte, wurde vertraulich festgestellt, daß die Hauptaufgabe seiner Reise sei, den Arabern volle Unterstützung für ihren Streit mit Israel zu versprechen; und dieser weitverbreitete Glaube erklärt die Begeisterung, mit der er überall, wo er hinkam, begrüßt wurde.

Aber als Schepilow Ende Juni von Beirut abflog, hatte er es abgelehnt, sich öffentlich festzulegen und im internen Kreise klargemacht, daß Rußland kein Interesse habe, denen durch einen Krieg im Mittleren Osten gedient würde, und daß Rußland nicht die Zerstörung Israels erwäge. Sowjetische Hilfe für die Araber in Gestalt von Waffen, wirtschaftlicher und technischer Hilfe und politische Unterstützung werde weiterhin gewährt, um die arabische Verhandlungsposition gegenüber Israel und dem Westen zu stärken; denn die Sowjets dachten an Verhandlung und nicht an Krieg.

Die eindeutige Demonstration russischer Zurückhaltung im Mittleren Osten bereitete den Schauplatz für die folgende Suez-Krise: sie ermöglichte die Annahme einer amerikanischen Politik der „Unnachgiebigkeit" gegenüber Ägypten. Der erste scharfe Beweis der neuen Linie war die Zurückziehung des amerikanischen Angebots, bei der Finanzierung des Assuan-Dammes zu helfen, eines riesigen Bau-werks im Wert von 1, 3 Milliarden Dollar, das oberhalb des jetzigen Assuan-Dammes in Südägypten gebaut werden sollte. Als Ausweg aus dem erdrückenden Problem von Überbevölkerung und Unterproduktion ist der Assuan-Damm für die Zukunft des Landes von entschiedender Bedeutung: er würde das anbau-fähige Land um ein Drittel vergrößern, das Volkseinkommen verdoppeln, und die Strom-erzeugung um das Achtfache vergrößern; der Damm ist das Hauptsymbol der Revolution und des Oberst Nasser an ihrer Spitze.

Unter den Voraussetzungen des Kalten Krieges, wie sie ein Jahr vorher herrschten, war es vom amerikanischen Standpunkt aus sehr wünschenswert, daß der Westen und nicht die Sowjetunion den Nutzen aus der Teilnahme an einem Projekt von solch fundamentaler Bedeutung erntete. Als ägyptische Sprecher im Oktober letzten Jahres mitteilten, die Sowjetunion habe angeboten, bei der Finanzierung des Assuan-Dammes zu helfen, ließen die Vereinigten Staaten infolgedessen sofort verlauten, sie seien bereit, einen „substantiellen Beitrag“ zu leisten. Die Internationale Bank war auch bereit zu helfen und schickte sofort zwei Sachverständige nach Kairo, um die Dinge zu besprechen.

Das ungewöhnliche Tempo der Antwort der Vereinigten Staaten entsprang zweifellos der Lektion des früheren sogenannten „tschechischen Waffenankaufs“. Nachdem Nasser im Juli 1954 ein Abkommen mit den Briten über den Stützpunkt in der Kanalzone abgeschlossen hatte, probierte er ein ganzes Jahr lang, die von den Amerikanern versprochene Militärhilfe zu annehmbaren Bedingungen zu bekommen. Inzwischen war die militärische Überlegenheit Israels beim ersten großen Angriff gegen ägyptische Streitkräfte im Februar 195 5 unter Beweis gestellt worden. Der Angriff und die darauffolgenden Kämpfe machten Waffen dringend erforderlich, wenn Nasser die patriotische Loyalität der Armee erhalten wollte, auf die seine revolutionäre Führung in Ägypten aufgebaut war. Schließlich boten die Vereinigten Staaten im Sommer 19 5 5 Waffen an im Werte von 27 Millionen Dollar, unter der Bedingung, daß Nasser sie sofort in Dollars bezahlte. Das war unmöglich, und Nasser wandte sich mit dem wohlbekannten Resultat nach Osten. Washington reagierte erschrocken mit der Entsendung des stellvertretenden Außenministers Allen nach Kairo, nachweislich mit einem erneuerten Waffenangebot; aber es war zu spät, und das einzige Ergebnis war der Beweis, wie empfindlich Amerika gegenüber einem sowjetischen Eindringen in den Mittleren Osten reagierte. Die Hinweise des Botschafters der Vereinigten Staaten Byroade auf Nassers Notlage und die sowjetische Alternative waren als Bluff entlarvt. Infolgedessen, so glaubt man, wollten die Vereinigten Staaten nicht denselben Fehler noch einmal machen, als das sowjetische Hilfsangebot für den Dammbau angekündigt wurde; das Resultat war das schnelle Gegenangebot.

Es wurde im Dezember letzten Jahres konkretisiert. Die Vereinigten Staaten und Großbritannien boten Hilfsgelder in Höhe von 56 Millionen, bzw. 14 Millionen Dollar für den ersten Bauabschnitt an. Im Januar trafen die ägyptische Regierung und die Internationale Bank ein Abkommen über eine 200-Millionen-Dollar-Anleihe, rückzahlbar zu einem Zinssatz von vier Prozent. Weitere Hilfsgelder und Anleihen waren mit dem Fortgang der Arbeit zu erwarten. Aber die Ägypter schoben die Annahme des englisch-amerikanischen Angebots auf — bis es zu spät war. Vermutlich hofften sie, entweder vom Westen oder von der Sowjetunion etwas besseres herauszuholen. Wenn dem so war, so schien das Wartespiel eine Zeitlang erfolgreich. Während Schepilows Besuch in Kairo im Juni meldeten ägyptische Zeitungen ein neues russisches Angebot: ohne irgendwelche Bedingungen daran zu knüpfen, würde die LIdSSR die gesamten Kosten des Damms finanzieren, rückzahlbar (nach einem zehnjährigen Moratorium) in Baumwolle, mit zwei Prozent über einen Zeitraum von 20 Jahren.

Das russische Angebot schien zu schön um wahr zu sein. So war es auch. Es ist inzwischen deutlich geworden, daß es nie ein wesentliches russisches Angebot gegeben hat und daß alles eine ägyptische Erfindung war, darauf abge-stellt, die amerikanischen Befürchtungen gegenüber dem Kalten Krieg auszunutzen. War es im Oktober noch erfolgreich, so versagte das ägyptische Pokerspiel im Juni. Es gab kein neues Gegenangebot des Westens. Es gab immer noch kein echtes Angebot von den Russen. Aber noch schlimmer war, daß es keinen Anhaltspunkt für die Bereitschaft der Vereinigten Staaten gab, ihr ursprüngliches Angebot aufrechtzuerhalten. Oberst Nasser hatte zu hoch gespielt.

Fehlschlag der ägyptischen Politik

Die ägyptische Politik schlug fehl, weil die Voraussetzungen, auf denen sie basierte, sich als ungültig erwiesen. Die Voraussetzung war die nie endende und alles überschattende Spaltung zwischen dem Westen und dem Sowjet-block, die von Ägyptern und Arabern auf unbestimmte Zeit ausgenützt werden konnte. Aber im April, Mai und Juni hatten die Russen deutlich gemacht, daß sie das ägyptisch-arabische Spiel nur in begrenztem Umfang spielen würden; und vom amerikanischen Standpunkt aus lockerte das den Druck. Es war nicht mehr nötig, für die Ägypter zu sorgen; und um den Wandel der Politik zu markieren, wurde das Staudamm-Angebot zurückgezogen.

Wenn die Russen den Rückzug möglich gemacht hatten, so ließen andere Faktoren ihn wünschenswert erscheinen. Viele Amerikaner waren gegen die Hilfe ihrer Regierung für den Bau des Staudamms. Zunächst kam die Opposition von Baumwollinteressen, Pro-Zionisten und Leuten, die an der Auslandshilfe sparen wollten; ihre Zahl stieg infolge des Verhaltens und der Ansichten der Ägypter: das offenkundige Feilschen, die antiwestliche Propaganda und die Anerkennung Rotchinas im Mai. Die Türkei, der Iran und Pakistan waren verärgert über solch eine Rosine für einen feindlichen Neutralisten. Damit sie nicht verfielen, waren die Hilfsgelder anderweitig ausgegeben worden.

Der tschechische Waffenankauf, der ursprünglich 80 Millionen Dollar betragen sollte, betrug tatsächlich 2 50 Millionen; und die Rückzahlung dieser Summe erlegte der ägyptischen Wirtschaft eine zu große Last auf, als daß gleichzeitig der Damm hätte gebaut werden können. Und außerdem gab es noch andere Gründe.

Alle diese Argumente traten deutlicher zutage, und in Washington überlegte man eine neue Politik. So erkannte Nasser mit der Zeit seinen drohenden Verlust und suchte ihn zu verhindern. Er drängte nachweislich Präsident Black von der Internationalen Bank (der während Schepilows Besuch für einen Tag in Kairo war), seinen Einfluß geltend zu machen für ein schnelleres Handeln der Vereinigten Staaten. Um die letzte Chance wahrzunehmen, schickte er Botschafter Hussein zurück nach Washington mit der Weisung, das Damm-Angebot anzunehmen. Er wollte „den amerikanischen guten Willen auf die Probe stellen“.

Es war zu spät. Als der ägyptische Botschafter beim Außenministerium vorsprach, erhielt er die brüske Auskunft, das Angebot sei zurückgezogen worden. Ägypten hatte (nach der Nilstaudamm-Erklärung vom 19. Juli) keine Übereinkunft über Nilwasserrechte mit anderen LIferstaaten erreicht (obgleich diese, streng genommen, keine Vorbedingung für die Hilfe-leistung während der ersten Bauperiode gewesen war), und Ägyptens Möglichkeit, „ausreichende Hilfsmittel bereitzustellen, um den Erfolg des Projektes zu sichern, sei weniger gewiß als zu der Zeit, als das Angebot gemacht wurde“. Peinlicherweise meldeten die Briten zur gleichen Zeit, daß sie ihr Angebot aufrecht-erhielten, aber als sie von der amerikanischen Aktion erfuhren, zogen sie sich sofort und bereitwillig zurück. Das Anleiheabkommen mit der Internationalen Bank, das noch im Juni erneut bestätigt worden war, wurde ebenfalls zurückgezogen, da es von der amerikanischen und britischen Hilfe abhängig war.

Eine Schock-und Zorneswelle ging über Ägypten, nicht so sehr wegen der Tatsache der Zurückziehung als wegen der Art ihrer Durchführung. Angesichts so vieler Möglichkeiten, sie zu verschieben oder zurückzutreten, war die amerikanische Aktion eindeutig eine absichtliche Beleidigung Ägyptens und ein wohlberechneter Versuch, Präsident Nassers Stellung zu unterminieren. Die angegebenen Gründe für die Zurückziehung wurden spöttisch abgetan. Wenn die Weltbank, die es doch wissen mußte, Ägyptens Möglichkeiten zur Fortführung des Damm-projekts nicht anzweifelte, warum sollten die Vereinigten Staaten dies plötzlich tun? „Der Grund ist zweifellos politischer Natur“, sagte die ägyptische Zeitung „Al-Akhbar“.

Als Außenminister Schepilow verneinte, daß Rußland eine Hilfe beim Dammbau plane, war das ägyptische Doppelspiel klar entlarvt; die Vereinigten Staaten und Großbritannien waren düpiert worden. Verständlicherweise gab die kontrollierte Presse in Ägypten der russischen Erklärung keinen Raum.

Nasser s Gegenstoß

Am 26. April, zwei Tage nach Nassers erbittertem Angriff auf die Vereinigten Staaten („Sie sollen an ihrem Zorn ersticken“), in dem er die gegen Ägyptens wirtschaftliche Möglichkeiten gerichteten Verleumdungen aufs schärfsie zurückwies, führte er den Gegenstoß, den jeder arabische Nationalist erwartet hatte; aber er richtete ihn gegen ein unerwartetes Ziel: die Suezkanal-Gesellschaft. Die Verstaatlichung der zum größten Teil in ausländischem Besitz befindlichen ägyptischen Konzessionen (44 Prozent in Händen der britischen Regierung) bedeutete, daß die Deviseneinkünfte des Kanals (jährliche Gesamteinnahmen: brutto etwa 100 Millionen Dollar, netto 30 Millionen Dollar)

für das Staudammprojekt verwendet werden konnten Nassers Aktion fand überschwenglichen Beifall in allen arabischen Ländern, Zustimmung und Unterstützung in Asien und den Ländern des Sowjetblocks, und sie brachte ihm in Ägypten zum ersten Male die überwältigende Popularität, die der „tschechische Waffenkauf“ ihm anderenorts eingebracht hatte. Der Gegenschlag war raffiniert, und Nasser war klarer Sieger.

Wenn es die Absicht des Außenministeriums gewesen war, ihn in Mißkredit zu bringen und seine Stellung zu unterminieren, so hatte sie keinen Erfolg.

Der allgemeine Zorn, mit dem Großbritannien und Frankreich reagierten (in diesen Ländern befinden sich 88 Prozent der Aktien der Kanalgesellschaft), entsprang nicht allein der einseitigen und unerwarteten Natur der Tat selbst. Die Franzosen waren schon erbittert über Nassers Propaganda und die militärische Hilfe, die er der blutigen und kostspieligen nationalistischen „Rebellion“ in Französisch-Nordafrika, trotz seines „Offiziers-Ehrenwortes“, leistete.

Die Engländer waren von selten Nassers veranlaßt worden, den Stützpunkt in der Kanal-zone aufzugeben (19 54); Jordanien war ihnen versperrt worden seit es im Jahre 1955 den Bagdadpakt verächtlich zurückgewiesen und im Jahre 1956 Glubb entlassen hatte. Außerdem waren die Engländer einer ständigen nationalistischen Haßpropaganda ausgesetzt, die in jedem Gebiet, das unter britischem Einfluß stand, antibritische Gefühle hervorrief. Jedem wurde klar, daß Nasser darauf aus war, eine panarabische ägyptische Hegemonie aufzubauen, zumeist auf Kosten Großbritanniens Daß all dieses geschah trotz wiederholter Beweise britischen guten Willens machte den Zorn nur um so größer. Der Schlag gegen die Kanalgesellschaft befreite die lang angestauten Gefühle Und zu Beleidigung und Unrecht kam die Drohung, Nassers Schachzug erinnerte nach-daran, daß fast alles Öl aus dem Mittleren Osten, auf das die Engländer und zur Deckung von 80 Prozent ihres Franzosen Verbrauchs angewiesen sind, durch den Kanal kommt, und daß Nasser in der Lage ist.den Ölstrom abzudrehen wann er will „Wenn Oberst Nassers Aktion erfolgreich wäre“ sagte Sir Anthony Eden, „wäre jeder von uns um der für uns lebenswichtigen Güter willen der Gnade eines Mannes ausgeliefert. Das können wir niemals akzeptieren.“

Mit Ausnahme der Kommunisten stand die öffentliche und parlamentarische Meinung, zu-nie am Anfang, in beiden Ländern in dagewesener Weise hinter der „Politik der Stärke“, die Premierminister Eden und Mini-Mollet gegen den „Ägyptischen Hitler“ und seinen Akt „internationalen Banditentums“ vorschlugen. Als unmittelbare Vorsichts-und Strafmaßnahme wurden alle Guthaben der Kanalgesellschaft und alle ägyptischen Konten in Großbritannien und Frankreich eingefroren, ebenfalls der Rest der ägyptischen Kriegsguthaben (in der Größenordnung von etwa 300 Millionen Dollar). Das bedeutete ein Export-Embargo aus dem Sterlingraum nach Ägypten (aus dem normalerweise der größere Teil der ägyptischen Einfuhren kommt). Gleichzeitig wurden militärische Vorbereitungen ostentativ vorangetrieben.

Da die diplomatische Konvention Zorn und Furcht nicht als ausreichende Basis für Zwangsmaßnahmen gegen eine Angreifer-Nation anerkennt, war es notwendig, rechtliche und moralische Gründe zu finden. Aber hier gab es eine gewisse Schwierigkeit. Der Kanal war schließlich, wie es die Engländer im Suez-abkommen von 1954 ausdrücklich anerkannt hatten, „ein integraler Bestandteil Ägyptens“, und die Gesellschaft war auch ägyptisch.

Die ägyptische Regierung konnte ganz legal verstaatlichen, vorausgesetzt, daß die ausländischen Aktionäre eine angemessene Entschädigung erhielten — das versprachen die Ägvpter zu tun, sobald sie über die ausländischen Guthaben der Gesellschaft verfügen könnten.

Man redete viel über gebrochene Verträge, trotzdem war, streng genommen, kein Vertrag verletzt worden. Im Kanalzonen-Abkommen von 19 54 hatte Ägypten die Konvention von 1888 bestätigt, die die Freiheit der Schiffahrt auf dem Kanal garantierte. Aber eine Verstaatlichung, wenngleich sie den Geist des Abkommens von 1954 verletzen mochte verletzte nicht unbedingt das Prinzip der freien Schifffahrt; und die Ägypter versicherten in aller Form, das Prinzip nicht anzutasten unter Hinweis darauf, daß ein ungehinderter Verkehr im Interesse aller, vor allem im Interesse Ägyptens liege. Zwar war der Kanal für israelische Schiffe gesperrt, aber für sie war er seit 1948 gesperrt, ein Zeitraum von mehr als sechs Jahren, und während des größeren Teiles hatten die Engländer die Kanalzone kontrolliert. Das Durchfahrtsverbot ‘ für israelische Schiffe, das durch israelische Kriegshandlungen gegen Ägypten und seine arabischen Verbündeten in gewisser Weise gerechtfertigt war, konnte jetzt nicht für die Rechtfertigung britischer und französischer Aktionen gegen Ägypten verwendet werden.

Sir Anthony Eden verwies auf den Grundsatz, daß ein internationaler Wasserweg von solch lebenswichtiger Bedeutung für seefahrende Nationen nicht unter die ausschließliche Kontrolle eines Mannes oder einer Nation kommen dürfe — eine ungeschickte Argumentation, denn gerade das hatte er in dem zwei Jahre vorher geschlossenen Abkommen über die Räumung des Kanalzonen-Stützpunktes anerkannt. Eine solche Argumentation konnte sich auch ungünstig auswirken auf Großbritanniens NATO-Verbündete, die Türkei und die Vereinigten Staaten, die die ausschließliche Kontrolle über die Türkische Meerenge bzw.den Panamakanal ausüben. Durch die Unterzeichnung der Konvention von Montreux vom Jahre 1936 hatte Großbritannien das Prinzip der Internationalisierung der Türkischen Meerengen (wie es im Internationalen Meerengen-festgelegt war) zugunsten aus-Kontrolle durch die Türkei aufge1946, und als die Türkei gezwungen werden sollte, die Kontrolle mit anderen „Schwarzmeermächten" zu teilen, hatten sich Großbritannien und die Vereinigten Staaten nachdrücklich und erfolgreich dem russischen Druck entgegengestellt. Wenn die Konvention von Montreux einmal neu verhandelt oder revidiert wird (die ursprüngliche Laufzeit des Vertrages endet im November dieses Jahres), wird die Sowjetunion Sir Anthony Edens Prinzip wahrscheinlich nicht übersehen.

Die Dreimächteerklrung

Trotz dieser Nachteile wurde die Internationalisierung die Grundlage der britisch-französischen Position in der Suezkrise. Außenminister Dulles eilte nach London und stimmte mit den Engländern und Franzosen in der Dreimächteerklärung vom 2. August überein, daß bei Anerkennung des Rechtes zur Verstaatlichung die „willkürliche und einseitige Besitzergreifung zu rein nationalen Zielen“ der ägyptischen Regierung „die Freiheit und Sicherheit des Kanals, wie sie in der Konvention von 1888 garantiert wird, bedrohe“. Die drei Mächte waren der Ansicht, daß „unter Wahrung legitimer ägyptischer Interessen“ Schritte unternommen werden sollten, um in wirksamer Weise durch ein internationales System die Voraussetzung für die Sicherung der Benutzung des Kanals zu schaffen. Für Mitte August wurde eine Konferenz der Signatarmächte von 188 8 und anderer interessierter Staaten nach London einberufen Während dieser Zeit wurden die britischen und französischen militärischen Vorbereitungen im östlichen Mittelmeer fortgesetzt Dem Wortlaut nach war die Dreimächteerklärung der Aufruf zu einer Aktion gegen Ägypten, nicht für etwas, das Ägypten schon begangen hatte, sondern für einen Rechtsbruch, der noch gar nicht begangen (immer mit Ausnahme des Falles von Israel) und ausdrücklich abgelehnt worden war: Eingriff in die Freiheit der Schiffahrt auf dem Kanal. Vielen schien das kein sehr fester Boden für eine Aktion Er wurde auch durch Edens Rundfunkrede eine Woche vor dem Zusammentreten der Konferenz nicht fester. Diese Rundfunkrede bedeutete einen persönlichen Angriff auf Oberst Nasser und damit eine weitere Stärkung seiner Stellung in Ägypten; sie gewann ihm anderenorts Sympathien und festigte (nach seinen eigenen Worten) seinen Entschluß, nicht an der Londoner Konferenz teilzunehmen.

Im Gegensatz dazu war die ägyptische Erklärung eine formal-juristische, gut durchdachte Darstellung der ägyptischen Position. Als eine seit Jahrhunderten zum ersten Male freie und unabhängige Nation (die letzten britischen Truppen waren im Juli abgezogen), gestatte Ägypten keine neue Beeinträchtigung seiner „heiligen Unabhängigkeit“. Der Kanal sei ägyptisch und werde ägyptisch bleiben. Der Verkehr gehe unter ägyptischer Kontrolle weiter. Freiheit der Schiffahrt sei allen Nationen (außer Israel) unterschiedslos garantiert. Der Kanal werde unterhalten und verbreitert. Ägypten war bereit, eine neue 1888er Konvention zu befürworten und zu unterzeichnen und über angemessene Gebührensätze zu verhandeln. Ägypten erwäge die Zusammenarbeit mit einem Gremium der Benutzer-Staaten, das beratende aber keine überwachende Funktion habe. Ägypten werde sich nicht dem Urteil einer begrenzten Gruppe unterwerfen, deren Mitglieder von seinen Gegnern einzeln ausgesucht würden, vor allem nicht unter Gewaltandrohung; und Ägypten fragte, warum die Angelegenheit, wenn sie so ernst sei, nicht an die UNO verwiesen würde. (Die Briten und Franzosen glaubten während der ersten Wochen der Auseinandersetzung, dies sei zu zeitraubend und wegen des sowjetischen Vetos im Sicherheitsrat in jedem Falle zwecklos. Im übrigen hatte Ägypten bereits einen Verweis der UNO bekommen für das Durchfahrtsverbot durch den Kanal für israelische Schiffe — ohne Erfolg.) Im Falle von Gewaltanwendung werde Ägypten sich bis zum äußersten verteidigen.

So war das Problem Mitte August klargestellt: Internationalisierung (oder „kollektiver Kolonialismus“) gegen souveräne ägyptische Kontrolle. Von da an ist die Geschichte der Ereignisse bekannt. Die Konferenz trat zusammen und spaltete sich sofort in zwei Gruppen: die Majorität unterstützte den Plan von Dulles für eine internationale Leitung; Indien, Ruß-land, Indonesien und Ceylon unterstützten Nehrus Plan für ägyptische Leitung mit einem internationalen beratenden Organ. Die Mission Menzies, der Nasser die Empfehlung der Majorität unterbreitete, erreichte nichts. Die militärischen Vorbereitungen gingen weiter, französische Truppen landeten auf Cypern; Rußland drohte, Freiwillige aus dem Sowjetblock würden dem ägyptischen Widerstand gegen Gewalt zu Hilfe eilen. Ein ägyptisches Angebot, einer erneuerten Konvention von 1888 beizutreten, wurde als „zwecklos" abgelehnt.

Durch die Umleitung einer Zahl britischer und französischer Schiffe überstand Ägypten triumphierend die Massenabreise von hundert europäischen Kanallotsen („ein widerrechtliches Komplott“) Mitte September; und neue Lotsen aus der Sowjetunion, den Vereinigten Staaten und aus anderen Ländern kamen und erleichterten die Last, die auf den etwa 70 restlichen ägyptischen und anderen Lotsen lag. Der Kanalverkehr erreichte wieder normalen Umfang und normale Geschwindigkeit. Die Frage, ob man ohne vorherige Zustimmung der LINO Gewalt anwenden sollte, spaltete das englische Volk entsprechend den Parteilinien in steigendem Maße in zwei Gruppen. Die von Mr Dulles vorgeschlagene Kanalbenützer-Organisation, die von den Briten und Franzosen schon früher für den Fall eines Versagens der Menzies-Mission als Waffe zur Durchsetzung der Kanalangelegenheit anerkannt war, wurde von Dulles selbst entschärft und abgeändert zu einem vieldeutigen Ganzen unklarer Verpflichtungen und unklarer Vollmachten: Dulles schlug nicht vor, sich „den Weg durch den Kanal freizuschießen“. — Im Gefühl der Ohnmacht und des Zorns gingen Großbritannien und Frankreich vor den Sicherheitsrat, und Ägypten folgte auf dem Fuße.

Und so bewegte sich im Oktober die Suez-krise einem Ende zu, das vorher festzuliegen schien: Annahme des ägyptischen fait accompli gegen einige Konzessionen an das Prinzip der Internationalisierung, die gestatten, das Gesicht zu wahren. Im Bewußtsein der Sicherheit ihrer rechtlichen Position und ihrer Stärke durch die Unterstützung, die sie von arabischen Schwe-sternationen, asiatischen Neutralen, Ländern hinter dem Eisernen Vorhang und vor allem der Sowjetunion erhielten, war es den Ägyptern gelungen, ihre Position, trotz Überredungsversuchen, Drohung und wirtschaftlichen Drucks, intakt zu halten.

Für die Briten und Franzosen galten die Worte eines britischen Leitartiklers: „ein trauriges, langgezogenes, verebbendes Gebrüll“. Nachdem sie mit ihrer „Politik der Stärke“ und kriegerischen Gesten begonnen hatten und weder zu Hause noch im Ausland starke und ungeteilte LInterstützung fanden, standen die beiden Regierungen vor der Entscheidung, wie Mr. Gaitskell es ausdrückte, „entweder die Drohung bewaffneter Gewalt wahrzumachen oder die größte diplomatische Niederlage unserer Geschichte einzustecken.“ Gewalt schien, vor allem nach dem Mitte Oktober mit Ägypten geschlossenen Abkommen, das ein Sechs-Punkte-Programm als Grundlage künftiger Verhandlungen enthielt, keine mögliche Alternative — bis der verdächtig gut gewählte Zeitpunkt des Angriffs auf Ägypten Ende Oktober eine passende Gelegenheit bot. Da Großbritannien und Frankreich (wie auch die Vereinigten Staaten) durch das Dreimächteabkommen von 1950 verpflichtet waren zu sofortigem Eingreifen gegen jede Nation, die die arabisch-israelische Grenze verletzte, erschien Nassers gesamte Propaganda über die „perfinden Imperialisten“ den Ägyptern nur allzu wahr.

Großmacht im Mittleren Osten

Bei einer Betrachtung der die Suezkrise begleitenden Ereignisse ergibt sich die nicht zu übersehende Tatsache, daß die Sowjetunion, im wesentlichen durch die politischen Irrtümer anderer Staaten, eine Position beherrschender Macht im Mittleren Osten erreicht hat und nun durch den gemeinsamen Angriff auf Ägypten eine neue glänzende Gelegenheit und einen Anreiz erhalten hat, sie zu befestigen und auszubauen. Nachdem der Westen Nasser, Held und Vorbild eines Führers der arabischen Welt, um der Waffen willen in die Abhängigkeit vom Sowjetblock getrieben hat, ist der Westen nun einen Schritt weiter gegangen und hat ihn durch das Sterling-Embargo und andere wirtschaftliche und finanzielle Druckmittel nur noch fester ins kommunistische Wirtschaftsnetz verstrickt. Der Westen hat (nicht nur in den Augen der Araber) die Suezkrise provoziert, und dann hat der Westen mit seiner Reaktion von Feindseligkeiten und Drohungen Nasser gezwungen, sich auf sowjetische politische Unterstützung und sowjetische Berater zu verlassen. Und er verläßt sich jetzt so sehr darauf, daß man glauben könnte, die Sowjetunion kämpfe hinter der ägyptischen Maske mit dem Westen um den Suezkanal. Jedenfalls hat die warmherzige sowjetische Unterstützung für die Ägypter, auf dem Hintergrund der lauten Drohung der „Imperialisten , die Abkühlung vergessen lassen, die frühere Beweise russischer Neutralität bewirkt hatten und die sowjetische psychologische Eroberung der arabischen Welt einen großen Schritt weitergebracht. Nachdem der Westen im April mit der LIdSSR übereingekommen ist, den arabisch-israelischen Konflikt vor die UNO zu bringen und damit den Sowjets eine Stimme und ein mögliches Veto gegen westliche Aktionen eingeräumt hat, ist der Westen noch weiter gegangen und hat die Russen eingeladen, bei der Entscheidung über die Zukunft des Suezkanals — Westeuropas Öl-Lebensader — mitzuwirken. Gleichzeitig berief sich der Westen auf ein Prinzip der Internationalisierung, das zum Vorteil der Russen an anderen Orten angewandt werden könnte, und das trug zu einem Mangel an Kanallotsen bei, dem der Sowjetblock mit Freuden abhalf. Rußlands schneller Aufstieg zur Großmacht des Mittleren Ostens wurde wider seinen Willen vor allem durch den Westen beschleunigt: das ist um so ironischer, als sich Rußland öffentlich für ein langsames Vorgehen entschieden hatte.

Der Angriff hatte und wird zweifellos auch weiterhin unheilvolle Folgen in anderen Gebieten haben. In der arabischen Welt hat er die sowjetische Unterdrückung Ungarns bagatellisiert und Rußlands Stellung als die einzige freundschaftliche Großmacht verstärkt. Wenn es der UNO gelingen sollte, „Gerechtigkeit zu üben“ nach dem Angriff auf Ägypten, wird die sowjetische Bereitschaft zur Gewaltanwendung nach dem westlichen Beispiel in Korea den Russen großes Ansehen eintragen. Wenn die UNO versagt, können die Russen zumindest ein gesteigertes Gefühl anti-westlicher Verbitterung und der Ohnmacht in der arabischen Welt erwarten, das sich ausnutzen läßt; und wenn sie sich, trotz der UNO, zur Gewaltanwendung entschließen sollten, dann haben sie die israelisch-französisch-britischen Pläne fertig zur Hand. Wenn England und Frankreich durch die Entsendung von Truppen in den Mittleren Osten (die Furcht davor hatte zur sowjetischen Neutralitätspolitik in der arabisch-israelischen Auseinandersetzung beigetragen) und dadurch, daß sie den Russen zu guten moralischen Gründen verhalfen, Rußland in die dem Kalten Kriege entsprechende Rolle gezwungen hätten, die der Westen so sehr fürchtete, nämlich die der unbegrenzten Unterstützung der arabischen „Opfer der Aggression“, dann wäre das der Höhepunkt der Ironie.

Akte der Schwäche und der Verzweiflung

Eine Folge des sowjetischen Aufstiegs im Mittleren Osten war die Schwächung Großbritanniens und Frankreichs. In den Augen der Araber fehlte der Position dieser Staaten die gesunde rechtliche und moralische Basis. Sie hatten Drohungen ausgestoßen, aber sie hatten nicht die Entschlußkraft und die Macht, sie auszuführen. Sie waren nach ihren eigenen Maßstäben diplomatischen Verhaltens gemessen worden und als zu leicht befunden. Ihre Macht, Einfluß und Zwang auszuüben, war entsprechend verringert und damit ihre Möglichkeit, ihre „Interessen" zu schützen. Bei dem weitverbeiteten nationalistischen Ressentiment gegen den britischen und französischen „Imperialismus", den diese Interessen symbolisieren, war als Resultat ein gesteigertes Tempo der Über-griffe zu erwarten. Wenn es England und Frankreich nochmals gelingt, eine starke Position in der Kanalzone aufzurichten, können sie die Herrschaft noch einmal ausüben, aber nur für eine begrenzte Zeit. Der Rückgriff auf die Gewalt unter dem Deckmantel eines israelischen Angriffs und die angegebenen Rechtfertigungen wird man als das erkennen, was sie sind: Akte der Schwäche und der Verzweiflung.

Die englischen und französischen Staatsmänner scheinen im Gegensatz zu den Russen noch nicht wirklich begriffen zu haben, daß der Nationalismus und seine Ziele, nationale Unabhängigkeit, Einigkeit und Macht, wirtschaftliche Entwicklung und soziale Gerechtigkeit die große neue soziale Kraft ist, die in der arabischen Welt wirkt. Als Antrieb derer, die ihre eigene Gesellschaft nach dem Muster einer modernen industriellen Zivilisation umgestalten wollen, ist der Nationalismus potentiell eine gewaltige konstruktive Kraft, aber er wird destruktiv, wenn seine Ziele durchkreuzt werden. Der Nationalismus hätte ein Verbündeter bei der Verfolgung legitimer Ziele der westlichen Politik im Mittleren Osten werden können (er hätte zumindest nicht zum Gegner werden müssen). Stattdessen stand man meist in Opposition gegen ihn als eine Bedrohung „lebenswichtiger Interessen“, eine Bedrohung von Besetzung, Besitz und Herrschaft, die angeblich treuhänderisch ausgeübt wurden, um die Nutzung und Nutznießung von Eigentum und Dienstleistungen in einem fremden Land zu ermöglichen. Palästina, Abadan, der Stützpunkt in der Kanal-zone, Jordanien, Cypern und Französisch Nordafrika gehören zur unglücklichen Geschichte dieser Opposition. Die Suezkrise zeigt bis jetzt keinerlei Zeichen eines Abweichens von dieser Tendenz.

Die amerikanische Politik

Eine andere Folge des Aufstiegs der UdSSR und des Niedergangs Englands und Frankreichs im Mittleren Osten besteht darin, daß die amerikanische Politik im Ausland weder Vertrauen noch Respekt genießt und nicht mehr den besonderen Interessen der Vereinigten Staaten dient. Zwar haben die Vereinigten Staaten gehandelt, um den Frieden zu erhalten; aber in den Augen der Engländer und Franzosen ist das auf ihre Kosten geschehen. „Die Vereinigten Staaten provozieren die Besitzergreifung des Suezkanals“, so könnten sie sagen, „und haben uns dann gehindert zu handeln. Wir haben einer Konferenz zugestimmt und man hat uns für den Fall eines Mißerfolgs der Konferenz Unterstützung für eine Politik der Stärke versprochen. Die Konferenz war ein Mißerfolg, und die Unterstützung erwies sich als ein Versprechen, keine Gewalt anzuwenden, eine Ablehnung der Unterstützung eines Kanalboykotts und eine Entsendung amerikanischer Lotsen, um den Ägyptern aus der Verlegenheit zu helfen! Und dann bezeichnete man den Versuch, unsere Rechte zu verteidigen, als „Kolonialismus“, von dem sich der amerikanische Außenminister distanzierte! Amerikanische Taktiken haben das westliche Bündnis ernstlich belastet!“ Eine offenkundige Folge der mangelnden Folgerichtigkeit der amerikanischen Politik war die englische und französische Entscheidung, Ägypten ohne vorherige Beratung mit den Vereinigten Staaten anzugreifen.

Eine ägyptische Ansicht über die amerikanische Friedenspolitik war ebenso wenig schmeichelhaft. Die Kairoer Wochenzeitung „Rose elYussef“ schrieb in einer Augustausgabe, die Vereinigten Staaten hätten die Briten daran gehindert, in der persischen Ölkrise von 19 51 Gewalt anzuwenden — mit dem Erfolg, daß die Amerikaner jetzt großen Stiles am Verkauf des persischen Öls beteiligt seien. Also ziele die amerikanische Politik in der Suezkrise darauf ab, unter dem Deckmantel der Internationalisierung eine Teilnahme an der Kontrolle und den Gewinnen des Kanals zu erreichen.

Das überzeugte die Ägypter, denn sie waren sich nicht mehr sicher, ob die amerikanische Politik nicht rein von kurzfristiger Zweckmäßigkeit diktiert sei. Eine ägyptische Analyse der jüngsten amerikanischen Politik könnte etwa zu folgendem Bild kommen: Unter zionistischem Druck nahmen die Vereinigten Staaten ihr Waffenangebot zurück — bis zum tschechischen Waffenlieferungs-Abkommen. Dies führte zu einer panikartigen Reaktion, die zeigte, daß der Schlüssel zur amerikanischen Politik im Mittleren Osten die Furcht vor sowjetischem Eindringen war. Das amerikanische Staudamm-angebot als Antwort auf das fingierte sowjetische Angebot zeigte, daß das stimnite; und als die Vereinigten Staaten erfuhren, daß die Russen nicht wirklich interessiert waren, verloren sie ebenfalls ihr Interesse, obgleich Ägypten angenommen hatte. Soviel über die hochherzige Großmut der Amerikaner und ihr scheinheiliges Geschwätz über die Einhaltung von Verträgen.

In beiden Standpunkten ist genug Wahrheit, um darauf hinzudeuten, daß in der amerikanischen Politik im Mittleren Osten etwas fehlt. Walter Lippmann hat das Hauptproblem erkannt: der völlige Mangel an positiven, beherrschenden Zielen einer Politik auf lange Sicht mit Ausnahme des Zieles, Ungelegenheiten zu vermeiden. AIs Grundlage der Politik führt die bloße Verhinderung des Krieges, die an sich wünschenswert ist, zu einer gewissen Auslaugung, zur Aufgabe einer Stellung nach der anderen. Sie ist auch die Ursache mancher Verwirrung in der und über die amerikanische Politik.

Aber selbst im Hinblick auf die Vermeidung von Ungelegenheiten hat die amerikanische Politik nicht ausgereicht, offensichtlich auf Grund der Unkenntnis der wirklichen Stellung Nassers in Ägypten. Man hat allgemein angenommen, Nasser als Diktator schwebe frei im Raum und seine Handlungen seien lediglich aus dem Charakter eines vom ,. Machtwahn“ Besessenen zu erklären. Das stimmt nur in begrenztem Umfang. Nasser ist der ergebene phantasiereiche Führer des nationalistischen Aufbruchs in Ägypten; er ist auch dessen Gefangener. Der ägyptische Nationalismus existiert auch unabhängig von Oberst Nasser, und er kann nur an der Macht bleiben, solange er an der Spitze marschiert. Wenn er von diesem Wege abweicht, wird er von allen, die er in Ägypten fanatisiert hat, als Verräter bezeichnet werden, und damit wäre sein Untergang sicher. So engt der patriotische Nationalismus seine Handlungsfreiheit beträchtlich ein. Die Engländer aus der Kanal-zone hinauszubringen, Waffen zu bekommen für den Kampf gegen die Israelis, die amerikanische „Beleidigung“ mit gleicher Münze heimzuzahlen — das waren zwingende Notwendigkeiten, die Nasser nicht übersehen durfte und mit Erfolg nicht übersehen hat. Angesichts westlicher Drohungen, kompromißlos für ägyptische „Rechte“ am Suez einzutreten, war eine ähnlich zwingende Notwendigkeit. Hätte sich Washington von der Erkenntnis von Nassers Charakter und seiner Stellung in Ägypten leiten lassen, dann wäre die Suez-Krise mit all ihren Verlusten für den Westen vielleicht gar nicht entstanden.

Hauptnutznießer Israel

Eine letzte Schlußfolgerung, die sich aus den Ereignissen des letzten Jahres ergibt: der Haupt-nutznießer im Mittleren Osten war (bis jetzt) Israel. Ägyptische und westliche Aktionen scheinen gleicherweise den Israelis in die Hände gespielt zu haben. Vermutlich war das nicht reiner Zufall, und man erführe gern Genaueres über die Rolle, die Israel und seine Helfer im Westen gespielt haben, z. B. bei der Anschwärzung Nassers in der westlichen Presse, bei dem amerikanischen Versagen, das Waffenangebot zu realisieren, bei der Zurückziehung des Staudammangebots und bei der britisch-französischen Entscheidung, Ägypten anzugreifen-Die Rolle kann beträchtlich gewesen sein. Aber was auch die Einflüsse und Provokationen von außen und der Druck im eigenen Lande gewesen sein mögen, es war Nassers Unaufrichtigkeit, Arroganz und öffentliche Feindseligkeit gegenüber dem Westen, die ihren Höhepunkt erreichten in der Besitzergreifung des Kanals und der Ablehnung eines Kompromisses bei der Lösung der Krise, die ihn selbst die Brücken zum Westen hinter sich verbrennen ließen, und das mit einer Gründlichkeit, die beim englischen und französischen Angriff deutlich wurde. Solange er an der Macht bleibt, wird er daher wahrscheinlich nicht mehr in der Lage sein, seine Politik ausgewogener Ausnützung von Ost und West, seinen „positiven Neutralismus“, wieder aufzunehmen. Infolgedessen wird Ägypten, auch weil es so sehr abhängig ist von ausländischen Märkten und ausländischen Gütern und Kapitalien, wahrscheinlich weiter in der Wirtschaft und Politik des Sowjetblocks verstrickt bleiben.

Aber von den Menschen in Ägypten, die die kommunistische Umarmung fürchten und die gegen die Entfremdung des Westens sind, zusammen mit all denen, die gegen die Unterdrückungsmaßnahmen der Herrschaft Nassers sind, darf man erwarten, daß sie einen Versuch, ihn zu entfernen, immer begrüßen, wenn es patriotisch möglich ist — und das kann schon bald sein. Seine Politik und seine Führung kann man doch als eine Niederlage für den ägyptischen und arabischen Nationalismus betrachten. Aber er kann an der Macht bleiben (von der Kugel eines Mörders abgesehen), wenn er weiterhin das Symbol für die erfolgreiche Verfolgung ägyptischer nationalistischer Bestrebungen bleibt (zu denen jetzt auch die Rache für die Niederlage auf der Sinaihalbinsel und in der Kanalzone kommen muß). Mit sowjetischer Hilfe mag er dazu in der Lage sein.

Außerhalb Ägyptens ist die Hauptgrundlage von Nassers Prestige („der größte Held seit Saladin") nicht, daß er dem Westen Trotz geboten hat, als vielmehr die Tatsache, daß er den Schutz vor Israel verkörpert und die Verteidigung arabischer „Rechte“ in Palästina. Israels vielpropagierter Mangel an Waffen ist aus nicht näher bezeichneten Quellen offenkundig beträchtlich reduziert worden, und so hat Israel, zusammen mit Großbritannien und Frankreich, zu dem Zeitpunkt, wo dies geschrieben wird (im November) diesen Anspruch sehr eingeschränkt, trotz der ägyptischen Propaganda über einen „siegreichen Rückzug“ von der Sinaihalbinsel und aus der Kanalzone. Das bedeutet insbesondere für Jordanien und Syrien, angesichts der immer länger werdenden Liste der von der LINO zwar gerügten, aber bis jetzt nicht bestraften Aggressionen auf Israel, daß sie sich nun anderweitig nach Hilfe umsehen müssen. Ihnen möge verziehen sein, wenn sie nicht erwarten, solche Hilfe im Westen zu finden.

Fussnoten

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