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Die Nationalitäten | APuZ 31/1957 | bpb.de

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APuZ 31/1957 Die Expansion des Reiches Die Nationalitäten

Die Nationalitäten

WALTER KOLARZ

A. Propagandaschlagworte

Abbildung 1

§ 1. DAS VORGESPIEGELTE BILD Die Kommunisten versuchen vor der Außenwelt den Anschein zu erwecken, ihr Regime trachte einerseits danach, alle unterdrückten Völker von fremder Vorherrschaft zu befreien, und andererseits, Freiheit, Gleichheit und Harmonie den verschiedenen Völkern zu sichern, die unter kommunistischer Herrschaft leben.

„Die Gleichberechtigung der Bürger der UdSSR auf sämtlichen Gebieten des wirtschaftlichen, staatlichen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Lebens, unabhängig von ihrer Nationalität und Rasse, ist unverbrüchliches Gesetz. Jede wie immer geartete direkte oder indirekte Beschränkung der Rechte oder, umgekehrt, eine Festlegung direkter oder indirekter Bevorzugungen von Bürgern mit Rücksicht auf ihre Zugehörigkeit zu einer Rasse und Nationalität, ebenso wie jegliche Propagierung einer rassenmäßigen oder nationalen Exklusivität oder eines Rassen-oder Nationalitätenhasses und der Mißachtung einer Rasse oder einer Nationalität werden gesetzlich geahndet.'

(Verfassung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Artikel 123.)

„Die Völker unseres Landes haben der ganzen Welt die machtvolle und unbesiegbare Stärke gezeigt, die dem sowjetischen sozialistischen Vielvölkerstaat zur Verfügung steht, aufgebaut auf der Stalinistischen Freundschaft der Nationen." (Berija auf dem 19. Kongreß der sowjetischen KP, P r a w d a , 9. X. 1952.)

„In ihrer Nationalitätenpolitik geht die Partei nach wie vor von der Weisung des großen Lenin aus, daß , nur eine äußerst sorgsame Beachtung der Interessen der verschiedenen Nationen Konflikten den Boden entzieht und das gegenseitige Mißtrauen beseitigt .. (Lenin, SW 33, S. 349). Es ist unserer Partei gelungen, das zwischen den Völkern des zaristischen Rußland herrschende Mißtrauen zu beseitigen sowie alle Völker der Sowjetunion durch die Bande brüderlicher Freundschaft zu einen, und zwar deshalb, weil sie den Interessen dieser Völker, ihren nationalen Besonderheiten und Wünschen stets höchste Aufmerksamkeit schenkte und gleichzeitig die Werktätigen aller Nationalitäten im Geist der sozialistischen Gemeinschaft, im Geiste der Sorge um die Interessen des Gesamtstaates erzog." (Chruev, Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XX. Parteitag, XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Düsseldorf 1956, S. 85.)

B. Theorie Der Ausdruck „Nationalitätenpolitik" hat verschiedene Bedeutungen im kommunistischen Sprachgebrauch; aber dennoch ist die Nationalitätenpolitik des Kommunismus auf eine Reihe von Grundprinzipien gegründet, die für alle kommunistischen Parteien zu allen Zeiten ihres Bestehens verbindlich gewesen sind. Diese Prinzipien jedoch sind in verschiedener Weise interpretiert worden. Es ist notwendig, der historischen Entwicklung dieser Interpretationen zu folgen, um den wahren Gehalt der Theorie zu erfassen.

§ 2. DAS GRUNDPRINZIP:

DIE LENINISTISCHE NATIONALITÄTENPOLITIK Die Kommunisten fügen stets zur „Nationalitätenpolitik" die Adjektiva „leninistisch“ oder (in den Jahren der Herrschaft Stalins) „leninistisch-stalinistisch" hinzu. Was das heißt, ist von Stalin gesagt worden:

„Die Frage nach den Rechten der Nationen ist keine isolierte, in sich abgeschlossene Frage sondern ein Teil der allgemeinen Frage der proletarischen Revolution, der dem Ganzen untergeordnet ist und vom Standpunkt des Ganzen aus betrachtet werden muß.' (Stalin, Uber die Grundlagen des Leninismus, WW 6, S. 125.)

Jenes Ganze ist der Kampf um die Macht der Arbeiterklasse. Wie in jedem anderen Bereich erkennen die Kommunisten kein absolutes

Recht von Völkern an — diese Rechte werden ausschließlich als Werkzeug der Partei betrachtet.

I N H A LT A. Propagandaschiagworte § 1. Das vorgespiegelte Bild B. Theorie § 2. Das Grundprinzip: die leninistische Nationalitäten-politik § 3. Nationale Selbstbestimmung § 4. Führerschaft der Arbeiterklasse § 5. Sowjetpatriotismus und der Begriff des „Älteren Bruders“

§ 6. Die verfassungsmäßige Lage § 7. Die „Internationalisierung" der Sowjetunion C. Praxis I. Die fünfzehn Sowjetrepubliken § 8. Überblick § 9. Die RSFSR — Das Schicksal der kleinen Nationalitäten § 10. Ukraine und Weißrußland — der Kampf gegen „bürgerlichen Nationalismus“

a. Ukraine b. Weißrußland § 11. Moldau — eine künstliche Sowjetrepublik in Europa § 12. Georgien und Armenien — Nationen als Mittel zum Zweck § 13. Die mohamedanischen Republiken — Europäische kommunistische Kolonisation a. Wirtschaftlich-politische Kolonisierung b. „Ideologische" Kolonisierung c. Kulturell-sprachliche Kolonisierung § 14. Die Baltischen Staaten — Die Behandlung annektierter Territorien § 15. Der Sowjetkommunismus und die Juden II. Die europäischen Volksdemokratien § 16. Überblick § 17. Bevölkerungsverschiebungen § 18. Die Minderheitsrechte § 19. Nationale Autonomie § 20. Die totalitären Minderheitsorganisationen III. Die Chinesische Volksrepublik § 21. Von der Selbstbestimmung zur Selbstverwaltung § 22. Tibet § 23. Die Innere Mongolei § 24. Sinkiang D.

Gesamtwertung § 25. Positive und negative Aspekte der kommunistischen Nationalitätenpolitik § 3. NATIONALE SELBSTBESTIMMUNG Lenin proklamierte das Recht der Völker auf Selbstbestimmung; aber die Kommunisten betrachten es, entsprechend ihrem Grundprinzip, als ein relatives Recht.

Lenin selbst bestimmte es näher, indem er unterstrich, daß die Forderung nach Selbstbestimmung „nicht der Forderung der Abtrennung, der Zerstückelung, der Bildung kleiner Staaten gleich ist .. . * (Lenin, AW 5, S. 286). 1917 erklärte er, daß die Arbeiterpartei darum kämpfe, einen Staat so groß wie möglich zu schaffen (Lenin, AW 6, S. 63), eine Feststellung, die eindeutig gegen die volle Ausübung des Rechts auf Selbstbestimmung gerichtet ist.

Die endgültige theoretische Feststellung des Sowjetkommunismus zu dem Problem finden wir in der Rede, die Stalin auf dem 12. Parteitag der russischen kommunistischen Partei am 23. April 1923 gehalten hat, wo er sagte:

„Es gibt Fälle, wo das Selbstbestimmungsrecht in Widerspruch zu einem anderen höheren Recht gerät, dem Recht der zur Macht gekommenen Arbeiterklasse auf Festigung ihrer Macht. In solchen Fällen — das muß man offen aussprechen — kann und darf das Selbstbestimmungsrecht nicht zum Hindernis für die Verwirklichung des Rechls der Arbeiterklasse auf ihre Diktatur werden." (Stalin, Der XII. Parteitag der KPR (B), WW 5, S. 232.)

Schließlich wurde das Recht auf Selbstbestimmung im kommunistischen Denken mit der Ideologie des „bürgerlichen Nationalismus" identifiziert, welche auch das Verteidigungsrecht der einzelnen Völker gegen die Übergriffe eines totalitären Regimes und der führenden Partei in sich begreift. Das wird von der offiziellen Lehre her als „unversöhnlich feindlich" gegenüber dem „proletarischen Internationalismus" angesehen (Lenin, Socinenija 20, S. 10).

Stalin sagte am 18. V. 1925:

„Hat denn nicht Lenin bereits vor dem Kriege gesagt . . . daß die Losung der nationalen Kultur eine reaktionäre Losung der Bourgeoisie ist, die bestrebt ist, das Bewußtsein der Werktätigen mit Gift des Nationalismus zu verseuchen? Wie läßt sich der Aufbau der nationalen Kultur . . . mit dem Aufbau des Sozialismus, mit dem Aufbau der proletarischen Kultur vereinbaren? Besteht da nicht ein unüberbrückbarer Widerspruch? Natürlich nicht! Wir bauen die proletarische Kul. tur auf. Das ist vollkommen richtig. Richtig ist aber auch, daß die ihrem Inhalt nach sozialistische, proletarische Kultur bei den verschiedenen Völkern die in den sozialistischen Aufbau einbezogen sind, verschiedene Ausdrucksformen und eine unterschiedliche Ausdrucksweise annimmt, je nach den Unterschieden der Sprache, der Lebensweise usw. Proletarisch ihrem Inhalt, national ihrer Form nach — das ist die allgemeinmenschliche Kultur, der der Sozialismus entgegengeht.“ (WW 7, S. 119 f.)

§ 4. FÜHRERSCHAFT DER ARBEITERKLASSE Diese „allgemein-menschliche Kultur" erscheint auf den ersten Blick als ein höheres universalistisches Prinzip. Aber nach einiger Zeit wurde es immer mehr mit starkem russischen Übergewicht ausgestattet und ein ideologisches Instrument zentralistischer russischer Herrschaft. Der erste Schritt war die Interpretation der „Führerschaft der Arbeiterklasse".

„Jetzt hält das Proletariat die Macht in seinen Händen und leitet sie.

Es leitet die Bauernschaft." (Lenin, Schlußwort zum Bericht über die Naturalsteuer vom 2 7. V. 1921, AW 9, S. 238.)

S. 238.)

Als die Sowjets an die Macht kamen, war die Arbeiterschaft in den meisten der nichtrussischen Provinzen des russischen Reiches schwach. Deshalb mußte die Führerschaft von der russischen Arbeiterklasse ausgeübt werden.

„Es war das Ziel der Sowjetpolitik", sagte Kalinin, „die Völker der Kirgisensteppe, die kleinen usbekischen Baumwollpflanzer und die turkmenischen Gärtner zu lehren, die Ideale der Leningrader Arbeiter zu übernehmen.“ (M. Kalinin, Za Ety Gody — Moskva-Leningrad, 1929, 3, S. 385 ff.) Daraus folgt, daß die Bauern und Viehzüchter in Asien Objekt der sowjetischen Politik wurden, anstatt Partner der russischen und anderer, hauptsächlich europäischen Proletarier. Diese „Führerschaft" nahm mitunter die Form einer militärischen Intervention an.

Das Aserbeidschanische Revolutionskomitee bat die Regierung der Russischen Sowjetrepublik, den Arbeitern Aserbeidschans zu helfen und Einheiten der Roten Armee nach Aserbeidschan zu entsenden. Auf Befehl W. I. Lenins kam die 11. Rote Armee dem aufständischen aserbeidschanischen Volk zu Hilfe (B a k i n s k i j R a b o c i j , 27. IV.

1956), in Buchara „verhalf" der russische Kommandeur M. V. Frunse zur Befreiung (O. I. Chistjakov, Vzaimnotnoosenija Sovetskich Respublik do Obrazovanija SSSR, Moskva 1955, S. 109).

Andere Formen der Vorherrschaft waren die Ansiedlung russischer Kolonisten und die Errichtung von „Patenschaften" (sefstvo) russischer Fabriken über ganze bäuerliche Gegenden im sowjetischen Zentralasien.

1929 gingen die Arbeiter der großen Textilwerke in Moskau, Leningrad und Ivanovo, dem „russischen Manchester", in „ökonomischpolitische Beziehungen" mit den Baumwollfarmern von Turkmenistan, Usbekistan und Kasakstan ein. Sie schickten Abgesandte, die den Aufbau von Kollektivfarmen in jenen Republiken leiteten und den Klassenkampf in den asiatischen Dörfern entfachten (Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Institut für Geschichte, Istoriceskije Zapiski, Bd. 48, 1954, S. 150).

§ 5. SOWJETPATRIOTISMUS UND DER BEGRIFF DES „ÄLTEREN BRUDERS"

Die ständig anwachsende Bedeutung der russischen Bürokratie führte zu der Bildung des Begriffes „Sowjetpatriotismus" und später zu dem Begriff des „Alteren Bruders".

Der Sowjetpatriotismus, der auf die Mitte der dreißiger Jahre zurückgeht, hatte zuerst einen übernationalen Charakter, aber dann nahm er alles in sich auf, was großartig in der russischen Geschichte gewesen war, während nichtrussischen Völkern nicht erlaubt wurde, ihre Vergangenheit zu verherrlichen. Die Bedeutung des Begriffes des „Alteren Bruders" ist die, daß die Führung nicht nur der russischen Arbeiterschaft, sondern dem russischen Volke als ganzem zukommt. Mit dem Entstehen jenes Begriffes wurde der Sowjetpatriotismus in einer Weise umgestaltet, die ihn sich von russischem Jingoismus und Chauvinismus nicht mehr unterscheiden ließen. Jene, welche die Forderungen der Russen zurückwiesen in allen Bereichen den Vorrang zu besitzen, wurden „ausländischer Hörigkeit" und des neuen Verbrechens des „Kosmopolitismus" beschuldigt. Dieser wurde als eine „reaktionäre bürgerliche Weltanschauung definiert", welche die nationalen Traditionen und die nationale Souveränität ablehnt, eine gleichgültige Haltung gegenüber Heimat und Volkskultur predigt und die Errichtung eines Welt-staates und einer Weltbürgerschaft fordert". (BSE, 2. A. 23., S. 113)

In einer während des Frühstadiums der Naziinvasion gehaltenen Rede rief Stalin das sowjetische Volk auf, sich von seinen großen Ahnen „Alexander Newskij, Dmitry Donskoi, Kusma Minin, Dimitrii Pozarskij, Alexander Suworow und Michail Kutuzow“ anfeuern zu lassen (Soviet War News, 8. XL 1941).

Am 24. Mai 1945, auf der großen Siegesfeier im Kreml, proklamierte er die russische Vorherrschaft in direkterer Weise, indem er das russische Volk das „hervorragendste Volk" der Sowjetunion und die „führende Macht“ des Landes nannte (P r a w d a , 25. V. 1945).

„Das russische Volk und seine besten Vertreter", sagte Frau Pankratova, führende sowjetische Historikerin und Mitglied des kommunistischen Zentralkomitees, „halfen und helfen allen Völkern der Sowjetunion bei der Entwicklung ihrer Kultur — national der Form, sozialistisch dem Inhalt nach. Diese Rolle der russischen Kultur in der Entwicklung der Kulturen aller Völker der Sowjetunion bestimmt den führenden Einfluß des russischen Volkes innerhalb der Union der 'Sozialistischen Sowjetrepubliken." (A. Pankratova, Velikij Russkij Narod, Moskva 1952, S. 168.)

Daraus folgt, daß die Nichtrussen für die Hilfe und den Schutz, den sie erhalten haben, den „großen Russen" Dankbarkeit schulden. Sie sollten sogar dankbar sein, daß sie vom zaristischen Rußland erobert und annektiert worden sind, anderenfalls wären sie gar nicht mit der „fortschrittlichen Kultur des russischen Volkes" in Berührung gekommen. Der Begriff des „Älteren Bruders" hatte unheilvolle Auswirkungen auf die nationalen Kulturen der nichtrussischen Völker des Russischen Reiches. Sie hatten ihre völkische Geschichte umzuschreiben und alle unliebsamen Bemerkungen über russische Eroberer auszumerzen. Gleichzeitig hatten sie ihre eigenen Nationalhelden als reaktionäre und feudalistische Unterdrücker zu brandmarken, denen es an Verständnis für die fortschrittliche Rolle des russischen Volkes fehlte. Auf der anderen Seite hatte das Lob der Russen in jeder nur denkbaren Form ausgedrückt zu werden, in Schauspielen und Romanen, in Gedichten und in den Arbeiten junger Historiker.

Sogar die sogenannten Nationalhymnen der nichtrussischen Republiken der Sowjetunion enthalten eine besondere und ziemlich gleichförmige Anerkennung der führenden Rolle des russischen Volkes. Die Nationalhymne der Kasakhschen Sowjetrepublik sagt z. B.: „Wir drükken unsere Dankbarkeit dem großen russischen Volk aus, dem Bollwerk der Freundschaft zwischen den Völkern der Union." (P r a w d a , 20. XII. 1946.) Die Aserbeidjanische Nationalhymne spricht von dem „mächtigen russischen Bruder, der der Erde den Triumph der Freiheit bringt" (Voprosy Istorii, Nr. 3, 1952 S. 98). Die usbekische Nationalhymne beginnt mit den Worten „Heil dem russischen Volk, unserem großen Bruder . . ." (T. N. Kary-Nijazov, Ocerki Istorii Kultur y Sovetskogo Uzbekistana, Moskva 1955, S. 436).

Die historischen Helden der nichtrussischen Völker waren in vielen Fällen antirussische Helden, deshalb mußte ihre Verherrlichung unterdrückt werden. So wurde die Verherrlichung des Tatarenkhans Idegei im Jahre 1944 heftig kritisiert. Die Verherrlichung des Imam Shamil, des großen Führers der Bergbewohner von Dagestan, wurde 1950 gebrandmarkt (B o 1 s e v i k , Nr. 13, 1950, S. 24 f.). Bald darauf fiel Sultan Kenesary Kasimov, ein Nationalheld des Kasakhschen Volkes aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, beim Regime in nachträgliche Ungnade.

Er wurde ein „feudalistischer Räuber" und „grausamer Ausbeuter"

genannt. (Voprosy Istorii, Nr. 4, 1951, S. 9.) Und sein Aufstand gegen die Russen wurde eine „reaktionär-monarchistische Bewegung“

(Voprosy Istorii, Nr. 9, 1951, S. 176), obgleich die Macht, die Kasakhstan annektierte, zu jener Zeit selbst eine „reaktionäre Monarchie" war.

Die am schwersten wegen kosmopolitischer Tendenzen Angegriffenen waren meistens die nichtrussischen Völker, besonders die Juden und die Völker des sowjetischen Orients. Alle pantürkischen und pan-iranischen Bestrebungen wurden als Ausdruck des Kosmopolitismus gegeißelt.

Nach Stalins Tod ist der Begriff des „Älteren Bruders" im wesentlichen geblieben, wenn er auch nicht mehr in der gleichen unnachgiebigen und unversöhnlichen Weise durchgesetzt wird.

Einige der übelsten vom Sowjetregime während der letzten Lebens-jahre Stalins ausgeführten ideologischen Exzesse sind als solche zugegeben worden. Das bezieht sich besonders auf die Verleumdung des Iman Shamil (Voprosy Istorii, Nr. 3, März 1956, S. 75), und die negative Haltung, die vom Regime gegenüber den Nationalepen der Völker des sowjetischen Orients eingenommen worden war (S o -

vetskaja Etnografija, Nr. 1, 1955, S. 178).

§ 6. DIE VERFASSUNGSMÄSSIGE LAGE Im Hinblick auf die führende Rolle, welche die Ideologie im Leben des kommunistischen Rußlands spielt, ist die Verfassung der UdSSR als Leitfaden für die sowjetische Nationalitätenpolitik nur von zweitrangiger Bedeutung.

Zum Beispiel nennt Artikel 13 die UdSSR eine „freiwillige Vereinigung gleicher sozialistischer Sowjetrepubliken". In Wirklichkeit sind die meisten der 15 Sowjetrepubliken, die die Union bilden, entweder willkürliche Schöpfungen des Regimes, wie zum Beispiel die Republiken Sowjetisch-Zentralasiens, wurden als Folge oder bewaffneter Intervention oder diplomatischer Erpressung, wie die transkaukasischen und baltischen Republiken, in die Union eingebracht. Das schlagendste Beispiel einer künstlich geschaffenen Republik ist die Karelo-Finnische SSR (März 1940 — Juni 1956).

Artikel 17 garantiert jeder Unionsrepublik „das Recht auf freien Austritt aus der USSR". Weder hat eine Republik jemals von diesem Recht Gebrauch gemacht, noch enthält die Verfassung irgendwelche ins einzelne gehende Vorschriften, wie der Artikel in Kraft zu setzen sei. Entsprechend Artikel 53 des Strafgesetzbuches der RSFSR (auch in Kasakhstan, Kirgisien und den baltischen Staaten in Kraft) ist jede separatistische Propaganda ein konterrevolutionäres Verbrechen und gleichbedeutend mit Verrat.

Artikel 69 ist vielleicht der aufschlußreichste. Er besagt: „Der Ministerrat der USSR hat das Recht, in den Verwaltungs-und Wirtschaftszweigen, die in den Kompetenzbereich der USSR fallen, Verordnungen und Verfügungen der Ministerräte der Unionsrepubliken zu suspendieren . . Dementsprechend gibt es keinen Gegenstand, über den die Regierungen der Republiken ohne die Möglichkeit eines Einspruchs der Zentralregierung freie Entscheidungen fällen könnten.

Artikel 77 setzt fest, daß die bedeutendsten Zweige der Wirtschaft ausschließliche Angelegenheit der Zentralregierung sind. — Seit Stalins Tod-bestand eine Tendenz in Richtung auf eine Dezentralisierung in der Verwaltung vieler Industriezweige. (P r a w d a , 12. V. 1956.)

Jedoch hat solche verwaltungstechnische Dezentralisierung wenig Bedeutung, solange das politische Monopol der kommunistischen Partei strenge Gleichförmigkeit im ganzen Land garantiert, solange das Zentralbudget den Löwenanteil aller Kapitalanlagen und Ausgaben kontrolliert, und solange das Staatssicherheits-System zentralisiert ist.

§ 7. DIE „INTERNATIONALISIERUNG" DER SOWJETUNION Die „Internationalisierung" der Sowjetunion ist eine der bedeutsamsten obgleich am wenigsten bekannten Erscheinungen der kommunistischen Nationalitätenpolitik. Das Regime bemüht sich, die Bedeutung der verwaltungstechnischen Aufteilung der Union in fünfzehn Republiken zu verringern und sowohl die nationalen Gefühle als auch die nationalistischen Tendenzen durch dauernde Umschichtung der Bevölkerung zu schwächen.

Unter den Einwohnern der neuen turkmenischen Olstadt Nebit Dag gibt es acht Nationalitäten — Russen, Ukrainer, Turkmenen, Kasakhen, aserbeidshaner Türken, Georgier, Armenier und Tataren (P. Skosyrev Turkmenistan, Moskva 1955, S. 84). Angehörige von 35 Nationalitäten arbeiten in Rustavi, dem Zentrum der metallurgischen Industrie Georgiens. Unter ihnen waren Esten, Komi Chuvashen, Tadschiken und Usbeken zuzüglich aller Nationalitäten des Kaukasus (Z a r i a Vostoka, 17. V. 1956).

Ähnliche internationale Arbeiterstädte sind auch in anderen Teilen der Sowjetunion entstanden. Sie schließen Karaganda ein, das große Bergwerkszentrum von Kasakhstan, Kokhtla Yarve, das Zentrum des estnischen Olschiefergebietes — das schnell die drittgrößte Stadt Estlands geworden ist — und Workuta, die arktische Stadt, deren Bevölkerung in der Hauptsache aus Strafgefangenen besteht. In einem der Lager wurde die Anwesenheit von 36 verschiedenen Nationalitäten berichtet, wobei die Ukrainer, Letten, Russen, Litauer und Esten zahlenmäßig führten (Joseph Scholmer, DieTotenkehrenzurück, Berlin 1954, S. 120 ff.). Der lettische Parteisekretär erwähnte die Lokomotiven-Ausbesserungswerke von Daugavpils, wo sieben verschiedene völkische Gruppen in einer einzigen Arbeitsbrigade vertreten sind (Kommunist, Oktober 1955, Nr. 15).

In den internationalen Städten und Fabriken der Sowjetunion verlieren alle Menschen außer den Russen allmählich ihre nationalen Merkmale. Es ist eine Tatsache, daß die letzteren sogar an Boden gewinnen, wenn man einen engen nationalistischen Maßstab anlegt, denn die vielsprachige Menge wird durch die russische Sprache zusammengehalten, die als lingua franca dient. Vom kommunistischen Gesichtspunkt aus ist diese Stärkung der Rolle der russischen Sprache eine fortschrittliche Erscheinung, seitdem das Endziel des Kommunismus die Verschmelzung aller Sprachen zu einer einzigen Weltsprache ist.

Stalin stellte sich die Bildung einer Weltsprache in zwei Etappen vor:

zonale Sprachen würden durch die Verschmelzung lokaler Sprachen gebildet, und später würden diese zonalen Sprachen in der internationalen Sprache des Weltkommunismus aufgehen (B o 1 s e v i k , Nr. 14, August 1950). Die russische Sprache wird als die erste der neuen „zonalen Sprachen" angesehen, oder, wie der sowjetische Publizist David Zaslavskij es ausdrückt, „die erste Weltsprache des Internationalismus". (Literaturnaja Gazeta, 1. I. 1949.)

Die russische kulturelle Vorherrschaft in der USSR kann an der Tatsache bemessen werden, daß im Jahre 1955 79 % aller in der Sowjetunion gedruckten Zeitungsexemplare in russischer Sprache abgefaßt waren (Pecata SSSR v 1955 godu, Moskva, S. 172). Im gleichen Jahre waren 88, 4% aller Zeitschriftenexemplare in russischer Sprache gedruckt (ebd. S. 154), Der Anteil der Großrussen an der Gesamtbevölkerung der Sowjetunion ist ungefähr 50 %. Mehrere Millionen nichtrussischer Schulkinder werden in russischen Schulen erzogen. Der Prozentsatz der Schulkinder, die 1955 in russischen Schulen unterrichtet wurden, war 65 % im Gesamtgebiet der Sowjetunion, 94% in der RSFSR, 66% in Kasakstan, 49% in Kirgisien, 33% in Lettland und der Moldaurepublik. (Kulturnoje Stroitelstvo, Statisticeskij Sbornik, Moskva 1956, S. 187.)

C. Praxis Die fünfzehn Sowjetrepubliken

Abbildung 2

§ 8. ÜBERBLICK Ungeachtet der Gleichförmigkeit der kommunistischen Zwangsherrschaft gibt es Unterschiede im Nachdruck, mit dem die kommunistische Lehre auf die einzelnen Sowjetrepubliken angewandt wird. Jede Republik, oder wenigstens jede regionale Gruppe von Republiken veranschaulicht einen anderen Aspekt sowjetischer Nationalitätenpolitik. 1. Die sowjetrussische Föderation (RSFSR) erscheint in erster Linie als ein gewaltiges System, das zur Kontrolle der kleinen und verstreuten Minderheiten bestimmt ist, die im großen russischen Lebensraum eingekeilt sind. 2. Die Ukraine und Weißrußland liefern klassische Beispiele für den kommunistischen Kampf gegen „bürgerlichen Nationalismus".

3. Moldau, Karelo-Finnland, Georgien und Armenien zeugen von der gegenseitigen Bedingtheit sowjetischer Nationalitäten und kommunistischer Diplomatie.

4. Die Fälle von Kasakstan und den Moslem-Republiken zeigen, daß das Fortschreiten europäischer Kolonisierung eine der bedeutungsvollsten Äußerungen sowjetischer Nationalitätenpolitik ist.

5. Schließlich enthält das Beispiel der baltischen Staaten den Tatsachenbeweis für die Methoden kommunistischer Aufsaugung ehe-malig unabhängiger europäischer Staaten, wie sie in der Zeit während und nach dem Zweiten Weltkrieg durchgeführt worden ist.

§ 9. DIE RSFSR — DAS SCHICKSAL DER KLEINEN NATIONALITÄTEN Gebiet: 6 491 000 Quadratmeilen (16 811 000 km 2)

Bevölkerung: 112 600 000 (1956)

Sowohl der Name der RSFSR (worin „Rossijskaja" ein Gebiet und nicht eine Nation bezeichnet — also eher dem deutschen „rußländisch" als dem „russisch" entspricht), als auch ihr föderalistischer Aufbau (12 Autonome Republiken, 6 Autonome Provinzen, 10 Nationalgebiete) würden an sich eine weitgehende Selbständigkeit der 40 nichtrussischen Völker nahelegen, welche ein Viertel der Bevölkerung dieses Landes ausmachen. Das ist jedoch nicht der Fall: die RSFSR wurde zum Werkzeug russischer Vorherrschaft über die anderen Nationalitäten.

Kein Vertreter einer nichtrussischen Nationalität hatte jemals eine bedeutende Funktion in der Regierung der RSFSR inne. Das im Februar 1956 geschaffene Sonderbüro der kommunistischen Partei bestand nur aus Russen. Viele autonome Republiken und Provinzen sind so gestaltet, daß sie eine russische oder russisch-ukrainische Mehrheit haben.

Die Nationalitäten der RSFSR haben durch Massenkolonisation, Massendeportation und auf andere Weise Einbuße erlitten.

Die Khakassen (52 000 im Jahre 1939) bildeten die Hälfte der Bevölkerung der Khakassischen Autonomen Republik (Südsibirien) während der Frühzeit der sowjetischen Herrschaft; im Jahre 1938 waren es weniger als 20% (L. P. Potapov, „O nacjonalnoj konsolidacji narodov Sibirii, Voprosy Istorii, Nr. 10, 1955, S. 26). Kleinere Völkerschaften (Teile der Selkupen, der Keten, der Kumanditsen, der Nordshorianen und der Meletsker Tataren) „gehen Schritt für Schritt in den größeren sozialistischen Völkern auf" (ebd. S. 65).

Einige Völkerschaften erlitten durch administrative Maßnahmen schweren Schaden.

Zu nennen sind die Tschetschenen (407 000), die Kalmücken (134 000), die Karatschaier (75 000), die Inguschen (92 000), die Balkaren (42 000), die Krimtataren (140 000) und die Wolgadeutschen (380 000). Diese Völkerschaften wurden von der ethnographischen Karte der Sowjetunion getilgt, ihre politischen und kulturellen Einrichtungen zerstört, einschließlich der von ihnen bewohnten autonomen Republiken und Gebiete.

N. S. Chruev stellte auf dem XX. Parteitag fest:

„. . . als Ende 1943 während des Großen Vaterländischen Krieges ein dauernder Durchbruch an allen Fronten zugunsten der Sowjetunion einsetzte, wurde ein Beschluß gelaßt und ausgeführt, der die Deportation aller Karatschaien aus dem Land betraf, in dem sie lebten. Im gleichen Zeitraum, Ende Dezember 1943, widerfuhr das gleiche Los der gesamten Bevölkerung der Autonomen Kalmückischen Republik.

Im März 1944 wurden alle Tschetschenen und Inguschen deportiert und die Tschetschenische-Inguschische Autonome Republik aulgelöst.

Im April 1944 wurden alle Balkaren aus dem Gebiet der Kabardino-Balkarischen Autonomen Republik nach weitentlegenen Gegenden deportiert und die Republik selbst in Autonome Kabardinische Republik umbenannt." (Die Rede Chruevs über Stalin auf der Geheimsitzung des 20. Parteitages der KPdSU am 24. und 25. Februar 1956; zit. u.

übers, nach Boris Meissner, Das Ende des Stalin-Mythos, Frankfurt/M. 1956, S. 189 f.).

Die Autonome Republik der Wolgadeutschen wurde am 2. September 1941 aufgehoben (Bulletin des Obersten Sowjets der U d S S R , 2. Sept. 1941, Nr. 8) und die der Krimtataren am 26. Juni 1946 (I s w e s t i j a , 26. Juni 1946). Beide Gruppen wurden deportiert.

Noch lange Zeit nach den Deportationen wurden die davon betroffenen Völker als geächtet betrachtet. Sie waren aus der Familie der Sowjetvölker wegen ihres angeblichen Verrats an Sowjetrußland in der Kriegszeit ausgestoßen. In der zweiten Ausgabe der Großen Sowjetischen Enzyklopädie fehlt die Erwähnung solcher Völkerschaften wie die Karatschaier, die Inguschen und Balkaren, sogar in rein historischem und etnographischem Zusammenhang. Alles, was an diese Völkerschaften erinnern könnte, wurde in ihrer früheren Heimat ausgerottet. Auf der Krim zum Beispiel wurden alle tatarischen Ortsnamen außer zweien in russische umgewandelt (Th. Shabad, Geographyof the USSR, A Regional Survey: Columbia University Press, New York 1951, S. 51).

Die Wiedergutmachungsmaßnahmen, die nach Stalins Tod zugunsten der deportierten Völker getroffen wurden, brachten keine volle Wiederherstellung des Status quo von 1941. Die nationale Autonomie der Krimtataren und Wolgadeutschen wurde nicht erneuert. Die Kalmücken erhielten nur eine autonome Provinz statt einer autonomen Republik zugewiesen. Die Kartschaier wurden mit den Tscherkessen in eine autonome Provinz zusammengeschmolzen. Nur den Tschetschenen, Inguschen und Balkaren wurde der frühere verfassungsmäßige Status in vollem Umfange zurückgegeben. (W edomosti Werchownogo Soweta, 24. II. 1957.)

§ 10. UKRAINE UND WEISSRUSSLAND — DER KAMPF GEGEN „BÜRGERLICHEN NATIONALISMUS" a. Ukraine Gebiet: 233 000 Quadratmeilen (603 400 km 2) Bevölkerung: 40 600 000 (1956) Die Geschichte der Ukraine unter sowjetischer Herrschaft ist ein langer Bericht von der Unterdrückung des ukrainischen Nationalismus in verschiedenen Formen und unter verschiedenen Vorwänden. Während der dreißiger Jahre wurde der ukrainische Wunsch nach einer lockeren Konföderation an Stelle des starren russischen Zentralismus durch die Austilgung der nationalistischen Organisationen und die Liquidierung der ukrainischen kommunistischen Führer bekämpft. Zur selben Zeit waren sowohl Massendeportationen von Ukrainern und die Hungersnot, die der Zwangskollektivisierung folgte, als auch die wesentliche Liquidation der ukrainischen Orthodoxen Kirche schwere Schläge für das ukrainische Volk. Der Nationalismus wurde gründlich durch die Vernichtung solcher Organisationen, wie der „Union für die Befreiung der Ukraine“ (1929), des „Ukrainisches Nationales Zentrum" (1931) und der „Ukrainische Militärorganisation" (1933) ausgerottet. Die Führer der nationalistischen Abweichung innerhalb des kommunistischen Lagers wurden entweder liquidiert oder zum Selbstmord getrieben (so der bekannte Schriftsteller Chvylovy und der Volkskommissar für Erziehung, Skrypnik, im Jahre 1933, und der Premierminister Ljubsenko im Jahre 1937), oder in Gerichtsverfahren verurteilt und hingerichtet (so Hrinko, Oberster Planungschef der UdSSR, der im März 1938 als ukrainischer Nationaltst erschossen wurde) oder einfach ohne Gerichtsverfahren in Konzentrationslager gebracht. Es scheint, daß die zuletzt erwähnte Kategorie am größten war. Die Liquidierung der ukrainischen kommunistischen Führer wurde mit einer solchen Gründlichkeit durchgeführt, daß von den dreizehn Mitgliedern, die im April 1937 das ukrainische Politbüro bildeten, im April 1938 keines übrig geblieben war. Die Kollektivierung war in der Ukraine gründlicher als anderswo. Sie führte zu weitverbreiteten Bauernaufständen, Massendeportationen und einer Hungersnot, welche sogar Fälle von Kannibalismus zur Folge hatte (W. E. D. Allan, The Ukraine, Cambridge, Mass., 1940, S. 327— 333). Das Schicksal der Orthodoxen Kirche ist in Kapitel XIII beschrieben. Es soll hier nur angemerkt werden, daß die religiöse Verfolgung in der Ukraine keine Parallele in anderen Teilen der Sowjetunion hat. Diese Unterdrückungspolitik erzeugte nur geringe ukrainische Begeisterung für die Sache der Sowjets während der Nazi-Invasion. Es scheint, daß Moskau das verstanden hat. Man suchte die Ukrainer durch verschiedene Zugeständnisse während des Krieges zu besänftigen. Aber nach 1946 wurden erneut Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Äußerungen nationaler Gefühle gerichtet — und in den neuen ukrainischen Gebieten (Ostgalizien) wurden wiederum Deportationen, Verhaftungen von nationalen Führern und die Verfolgung der Kirche dazu angewandt, um die nationalistischen Bestrebungen zu brechen. Im Jahre 1943 wurde eine neu geschaffene Auszeichnung nach dem ukrainischen Hetman Bohdan Chmelnickij genannt — der in der ersten Ausgabe der GroßenSowjetischenEncyklopädie (Bd. 59, 1935, S. 816) als ein „Verräter" und „grausamer Feind der ukrainischen Bauernschaft" bezeichnet wurde. Im Jahre 1944 wurde eine Amnestie für ukrainische nationale Widerstandskämpfer gewährt. Im Jahre 1945 erlangte die Sowjetregierung die Aufnahme der Ukraine (und Weißrußlands) in die Vereinten Nationen. Nach 1946 jedoch genügte es, „Liebe zur Ukraine" anstatt „Liebe zur sowjetischen Ukraine" zu sagen, um sich verdächtig zu machen (Der Fall des Dichters Sosyura, Prawda, 2. VII. 1951). Die Unterdrückung des ukrainischen Nationalismus in Ostgalizien nahm eine ähnliche Form an, wie in der früheren Ukraine nach 1930. Erst nach dem Tode Stalins änderte sich diese Politik, und Leonid Melnikov, der ukrainische Parteisekretär, wurde geopfert. Es wurde offiziell zugegeben, daß er den „Unterricht in den westukrainischen höheren Erziehungsanstalten der russischen Sprache nahezu vollständig übertragen hatte" (Tass, 12. VI. 1953). Nach Stalins Tod sahen die sowjetischen Führer ein, daß beides — praktische Politik und Ideologie — revidiert werden mußte, um die deutliche Unzufriedenheit der Ukrainer, sogar der kommunistischen Funktionäre, zu zügeln. Die neue Ideologie der russisch-ukrainischen Brüderschaft wurde als ein Versuch ins Leben gerufen, das Stalin folgende Regime zu festigen.

Seine Nachfolger erwarteten Schwierigkeiten vom brutalen zentralistischen Despotismus, der sich zur Zeit Stalins als Faktor oberflächlicher Verfestigung erwiesen hatte. Die Überwindung dieser Schwierigkeiten erforderte die Erweiterung der Basis des Regimes durch engere Bindung der ukrainischen Kommunisten an die Zentralregierung und durch Übertragung größerer Machtbefugnisse an die ukrainische kommunistische Regierung in Kiev.

Seit 1953 wurden den Ukrainern Schlüsselpositionen in der Zentralverwaltung eingeräumt. Februar 1954 die Krim, Gegenstand Im wurde territorialer Wünsche der Ukrainer, der Ukrainischen Republik einverleibt. Die offizielle Propaganda begann, von den „beiden großen Nationen" zu sprechen (P r a w d a , 12. I. 1954) und ließ die frühere gönnerhafte Haltung fallen.

b. Weißrußland Gebiet: 80 000 Quadratmeilen (207 600 km 2)

Bevölkerung: 8 000 000 (1956)

Es gibt zwei Hauptperioden in der kommunistischen Nationalitätenpolitik in Weißrußland: zuerst halfen die Kommunisten eine weißrussische Nation und Kultur aufzubauen und dann, seit 1930, gingen sie dazu über, die Eigenständigkeit von beiden zu zerstören.

In der ersten Periode schlossen die Kommunisten einen Waffenstillstand mit dem linken Flügel der weißrussischen Intelligenz und halfen ihr beträchtlich bei der „Weißrussifizierung" des Landes. Sie waren dazu gezwungen, um es später mit dem kommunistischen Geist erfüllen zu können Die Folgen waren bemerkenswert: eine weißrussische Kultur wurde geboren. Ein weites Netz von Schulen, einschließlich einer weißrussischen Universität, wurde aufgebaut (allein 400 promovierten in Pädagogik in einem einzigen Jahr). (H. Namieha, Education in Byelorussia before the Rout of National Democracy, Byelorussian Review, München 1955, S. 49— 53.)

Seit ungefähr 1930 ist jene Politik vollständig ins Gegenteil verkehrt worden. Die Weißrussen wurden mit Hilfe von Deportationen rücksichtslos unterdrückt, und ihre Kultur einschließlich der Sprache umgestürzt.

Im August 1929 wurde Anton Balicki, der Volkskommissar für Erziehung, entlassen und 1931 ins Exil geschickt (S. Krushinsky, Byelorussian Communism and Nationalis m. P e r s o -

nal Recollections, New York 1953, S. 23). Ein ähnliches Schicksal traf die anderen führenden weißrussischen kulturellen Persönlichkeiten, an der Spitze den Rektor der Universität und Mitglieder der Akademie der Wissenschaften, deren Präsident, Professor Ignatowski, vor seiner Verhaftung Selbstmord beging (ebd., S. 75— 79). Die tüchtigsten Schullehrer wurden von der Säuberung betroffen. Im Jahre 1933 und besonders im Jahre 1937 wurden einige der verhafteten Nationalisten erneut verurteilt und auch noch neue Opfer gefunden.

Sogar die weißrussische Sprache wurde durch einen Erlaß des Volks-kommissars der B. S. S. R., veröffentlicht am 23. August 1933, von „Archaismen" und „Poionismen" gereinigt: ihre Orthographie, Aussprache, Grammatik und Wortschatz verändert. (The Language Policy of the Bolsheviks in the Byelorussian SSR, Byelorussian Review, Nr. I, 1955, S. 75— 78.)

§ 11. MOLDAU — EINE KÜNSTLICHE SOWJETREPUBLIK IN EUROPA Gebiet: 13 000 Quadratmeilen (33 670 qkm)

Bevölkerung: 2 700 000 Die Moldauische Republik wurde zunächst im Jahre 1924 als eine Autonome Republik gegründet und später im Jahre 1940 — um dem rumänischen Staat Schwierigkeiten zu machen — zur Sowjetrepublik erhoben. Es ist nicht bekannt, ob die Moldauer (ein Zweig des rumänischen Volkes) in dieser Republik die Mehrheit bilden, aber eines steht fest, nämlich, daß das Land von Russen und Ukrainern regiert wird.

Auf den Kongressen der Moldauischen Kommunistischen Partei sind die moldauischen Delegierten immer in der Minderheit geblieben. Auf dem VI. Kongreß im Januar 1956 waren von einem Total von 665 Delegierten nur 265 Moldauer oder etwas mehr als 40 Prozent (S o v e t s -

kaja Moldawija, 21. I. 1956). Keiner von den ersten Partei-sekretären der Moldau seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges — Kowal, Brezhnew und Serdyuk — ist moldauischer Nationalität gewesen. Die Moldau bietet ein sehr interessantes Beispiel des opportunistischen und unverantwortlichen Charakters der kommunistischen Haltung gegenüber nationalen Kulturen: ihre Sprache wurde mehrmals ganz willkürlich abgeändert.

Zuerst wurde ihre Sprache . latinisiert'; die slawischen Wörter wurden ausgemerzt und der Wortschatz mit Lehnwörtern aus dem Rumänischen, Italienischen und Französischen ergänzt. Nach 1945 wurde die Politik ins Gegenteil verkehrt: die Sprache säuberte man von „unnötigen westeuropäischen und erfundenen Wörtern" und zwang den.

Moldauern die russische Schrift auf. Eine Zeitlang mußte das Schrifttum in zwei Ausgaben veröffentlicht werden, eine in lateinischer Schrift, die andere in russischer. (Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Sektion für Literatur und Sprache, Voprosy Moldawskogo Jazykoznanija, Moskau, 1953, S. 161— 163.)

§ 12. GEORGIEN UND ARMENIEN — NATIONEN ALS MITTEL ZUM ZWECK Georgien: Gebiet: 27 000 Quadratmeilen (76 200 km 2)

B e v ö 1 k e r u n g : 4 000 000 (1956) Armenien: Gebiet: 12 000 Quadratmeilen (31 000 km 2)

Bevölkerung: 1 600 000 (1956)

Der Kommunismus nützt die nationalen Bestrebungen zum Vorteil des kommunistischen Staates aus, aber er ist ebenso bereit, sie der kommunistischen Sache zu opfern. Georgien und Armenien sollen hier als Beispiele dieser opportunistischen Haltung angeführt werden.

Sowohl die Armenier wie auch die Georgier führen Beschwerden gegen die Türkei.

Die historische Entwicklung dieser Beschwerden ist folgende: Bis 1945 war ihnen eine Äußerung ihrer Beschwerden nicht gestattet. Seit dem Sommer 1945 führten die Armenier (und seit Dezember 1945 die Georgier) mit Unterstützung durch die sowjetische Propaganda eine Kampagne für die Abtretung von Territorien aus dem Besitz der Türkei (S o v e t Monitor 27. IX. 1945; Prawda, 19. XII. 1945).

Diese dauerte an, solange die Sowjetregierung den „Kalten Krieg" mit der Türkei fortführte. Als aber der „Kalte Krieg" im Jahre 1953 nachließ, erklärte die Sowjetregierung der Türkei, daß sowohl Armenien wie Georgien auf ihre territorialen Ansprüche verzichtet hätten (Prawda, 13. VII. 1953). Es liegt kein Beweis dafür vor, daß die beiden Republiken jemals über diese Angelegenheit zu Rate gezogen wurden. Armenier und Georgier wurden gezwungen, hinsichtlich ihrer antitürkischen territorialen Ansprüche Schweigen zu bewahren.

Das Aufgeben der georgischen Ansprüche durch die Sowjetregierung läßt sich auch mit der Tatsache erklären, daß die Georgier mit dem Jahre 1953 aufhörten, als eine bevorzugte Nationalität in der UdSSR zu gelten. Es ist ein interessanter Aspekt der kommunistischen Praxis (der nicht in der kommunistischen Lehre wurzelt), daß nicht nur einzelne Individuen, sondern ganze Nationen die Gunst des kommunistischen Vielvölkerstaates verlieren können.

Bis 1953 erfreuten sich die georgischen Kommunisten außergewöhnlicher Vorrechte. Nicht nur war der höchste sowjetische Diktator, I. W.

Stalin, georgischer Abstammung, sondern der Georgier Beria stand an der Spitze der Sowjetpolizei und viele andere Georgier bekleideten führende Stellungen in der Verwaltung, besonders im Polizeiapparat.

Allerdings förderten die Georgier die rein russischen Nationalinteressen beharrlicher als die Russen selber. Stalin war weit davon entfernt, eine georgische Nationalpolitik zu führen. Die sechs mohamedanischen Republiken der Sowjetunion — fünf in Zentralasien und eine, Aserbeidschan, in Transkaukasien — sind sowjetische Kolonialterritorien par excellence. Diese wurden einer intensiven europäisch-kommunistischen Kolonisation unterworfen, die sich in drei verschiedenen Richtungen fühlbar machte. Einmal die äußere wirtschaftlich-politische Kolonisation; dann jene Kolonisation, die man mit „geistiger Kolonisierung" umschreiben könnte und die in der Aufdrängung der kommunistischen Ideologie und in der Verfolgung und Ausmerzung des Islams zum Ausdruck kommt; und schließlich — eng damit verbunden — die kulturell-sprachliche Kolonisierung. Diese Kolonisierung stand im Zeichen des politischen Grundsatzes „divide et impera". Die Völker Sowjetzentralasiens, vereint durch Kultur, Religion und Tradition, würden, sich selbst überlassen, den vereinigten Staat „Turkestan" gebildet haben. Doch im Jahre 1924 wurde das Territorium in einzelne Republiken aufgeteilt, von denen jede enger mit Moskau verknüpft ist als mit den Schwesterrepubliken. Auch wurden verschiedene Grenzberichtigungen nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten vorgenommen (z. B. die am 12. Februar 1956 angeordnete kasakische-usbekische Grenzkorrektur).

a. Die wirtschaftlich-politische Kolonisierung In einigen dieser Republiken gestaltete sich die Massenkolonisation so intensiv, daß die Eingeborenen in die Minderheit gedrängt wurden; in anderen wird eine große Anzahl führender Stellen von Europäern besetzt.

Kasakstan ist nicht mehr das Land der Kasaken. Die Kolonisation setzte im Jahre 1928 ein und erreichte ihren Höhepunkt im Jahre 1954, als 18 000 000 Hektar Land den europäischen Siedlern übergeben und 337 neue Staatsfarmen errichtet wurden. Der einzige kasakische Kommunist, der jemals auf den Posten des kasakischen Parteisekretärs vorrückte, Syakmethov, wurde entfernt und durch den Russen Pomarenko ersetzt (P r a w d a , 21. II. 1954). Im Jahre 1955 besaßen die Europäer die Mehrheit über die Asiaten, sowohl im Parlament (220 gegen 201) wie in der Regierung (Kasakstankaja Prawda, 2. IV. 1955).

In Kirgisien (Kirgisistan) wurde die Massenkolonisation fast im gleichen Ausmaß durchgeführt.

Auf dem Kongreß der Kommunistischen Partei Kirgisiens im Januar 1956 waren 45, 6% der Abgeordneten kirgisischer Nationalität, 34, 8% waren Russen, 3, 7% Usbeken und 15, 9% gehörten elf weiteren, meist europäischen Nationalitäten an (Sovetskaja Kirgizija, 28. I.

1956). Verglichen mit dem Parteikongreß vom Jahre 1952 senkte sich der Anteil der Kirgisen um vier Prozent. Im kirgisischen Parlament des Jahres 1955 besaßen die Kirgisen immer noch eine knappe Mehrheit über die Vertreter der zwölf anderen Nationalitäten — nämlich 174 gegen 162. Die Russen und Ukrainer allein stellten 114 Abgeordnete (Sovetskaja Kirgizija, 2. IV. 1955).

In Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Aserbeidschan wurde die Kolonisation nicht so weit vorgetrieben, doch eine große Anzahl wichtiger Ämter und Stellungen sind den Europäern vorbehalten. Wir führen folgende Beispiele an: der Vorsitzende des Komitees für Staatssicherheit, der Verkehrsminister für alle beteiligten Republiken (für die Zusammensetzung der Regierungen siehe Turkmenskaja Iskra, 20. III. 1955; Prawda Vostoka, 29. III. 1955; Kommunist Tadzikistana, 1. IV.

1955 und Sovetskaja Kirgizija, 4. IV. 1955); die Staatsanwälte und Bevollmächtigten für landwirtschaftliche Pflichtleistungen (die meisten Moslem-Republiken); die Direktoren der Sredazugol, Sredazneff und der Taselma — der großen usbekischen Fabrikbetriebe und Wirtschaftsorganisationen, der Turkmanneft und vieler anderer in Turkmenistan, der größeren Fabrikbetriebe in Stalinabad (der Hauptstadt Tadschikistans) sind alle Russen.

b. Die „ideologische" Kolonisierung Diese kam hauptsächlich in der heftigen Verfolgung des Islams zum Ausdruck. Der Islam ist engstens mit der nationalen Kultur und Tradition der betreffenden Völker verbunden, und die Versuche, diesen zu vernichten, haben eine starke Reaktion hervorgerufen.

Die sowjetische Presse beklagte sich ständig über die „hartnäckigen religiösen Überbleibsel" und die „religiösen Vorurteile“ nicht nur in den aserbeidschanischen Landgegenden (z. B. Bakinskij Rabocij vom 20. VI. 1954 und vom 27. VIII. 1954), sondern auch unter einem Bevölkerungsteil von Baku und in den Erdölarbeiter-Siedlungen auf der Apscheron-Halbinsel (Bakinskij Rabocij, 10. V. 1956).

In Usbekistan allein wurden im Jahre 1928 203 Frauen, die den Schleier abgelegt hatten, von „Reaktionären" getötet und weitere 165 in der ersten Hälfte des Jahres 1929 (T. N. Kary Nijazov, O c e r k i Istorii Kultury Sowejekogo Uzbekistana, Moskva, 1955, S. 59).

Das Schlußergebnis dieser antireligiösen Kampagne in den Moslem-Gebieten kann aus der Tatsache abgelesen werden, daß die Zahl der Moscheen im Gesamtgebiet der Sowjetunion von 26 000 im Jahre 1914 auf 1312 im Jahre 1942 sank (S o v i e t War News, 16. Mai 1942).

Von da an stellte sich eine gewisse Erholung ein, und im Jahre 1955 wurde nach Berichten die Zahl der Moscheen mit 3000 angegeben (Erklärung des Mufti von Taschkent, zitiert im Alger Republicain, 20. Dezember 1955).

Der islamische Widerstand gegen den Kommunismus verringerte sich in den letzten Jahren infolge des antireligiösen Unterrichtes der jungen Generation in den Schulen und weil das alte religiös durchdrungene Schrifttum nicht mehr zugänglich ist (Verbot des arabischen Alphabetes). c. Die kulturell-sprachliche Kolonisierung Das Hauptziel der kommunistischen Kulturpolitik in den mohamedanischen Gebieten besteht im Durchschneiden der Bande, die diese Völker mit dem Orient verbindet, und im Herstellen neuer Bindungen, welche die islamischen Territorien eng mit der Welt des Kommunismus verknüpfen. Dies wurde erreicht durch die Einführung der lateinischen und später der hyrillischen Schrift für alle Sprachen des sowjetischen Orients, und vor allem durch Abänderungen in den Wortschätzen und Sprachen.

Die Usbeken, das zahlenmäßig mohammedanische Volk der Sowjetunion, bietet hierfür das beste Beispiel. Die Zwangseinführung des lateinischen Alphabetes erfolgte am 1. Dezember 1929, diejenige des kyrillischen Alphabetes im Mai 1940. Professor Kary Nijazov beschreibt die Auswirkungen dieser Änderungen auf die usbekische Sprache:

„. . . Die Zahl der Wörter arabisch-persischen Ursprungs nahm von Jahr zu Jahr ab, und der Wortschatz sowjetisch-internationalen Ursprungs nahm zu. Nach den von A. K. Borovkov angestellten Berechnungen enthielt z. B. die Ausgabe der Samarkander Zeitung „Zeravsan"

vom 25. März 1923 37, 4 % Wörter sogenannten arabisch-persischen Ursprungs und 2 % sowjetisch-internationale Wörter (einschließlich die russischen). V. V. Resetov, der im Jahre 1934 eine Berechnung auf der Grundlage von vier Ausgaben der Zeitung „Kzyl Uzbekistan“ anstellte, fand 27 % arabisch-persische Wörter vor und 12 % sowjetisch-internationale. Und schließlich nach der Berechnung von A. K. Borovkov, der diese auf der Grundlage derselben Zeitung „Kzyl Uzbekistan“ anstellte (Ausgabe vom 6. II. 1940), sank die Zahl der Wörter arabisch-persischen Ursprungs auf 25% und diejenige der sowjetisch-internationalen Wörter stieg auf 15 %.“ (T. N. Kary Nijazov, ebd., S. 276.)

„Dank der erfolgreichen Entwicklung der sozialistischen Kultur des usbekischen Volkes sterben die Wörter religiösen und rituellen Ursprungs aus und verschwinden aus dem gebräuchlichen Wortschatz;

die zeitgenössische Jugend versteht sie nicht mehr." (T. N. Kary Nijazov, ebd., S. 266.)

Nach der zweiten und erfolgreichen Annexion der Baltischen Staaten im Jahre 1944 (die erste und erfolglose fand in den Jahren 1918 bis 1919 statt) wandten die russischen Kommunisten in diesen Ländern die Methoden der Massendeportation und der Kolonisation an, um den starken Widerstand der Bevölkerung zu brechen.

Nehmen wir Estland als Beispiel. Nach Berichten des Roten Kreuzes wurden in den Jahren 1940— 1941 59 967 Personen verhaftet, hingerichtet oder nach Rußland deportiert (A. Thoma und Dr. V. Raud, Estland 1919 — 1952, S. 23). In einer einzigen Nacht vor der Invasion durch die Nazis, vom 13. auf den 14. Juni wurden 10 000 Menschen in Viehwagen nach Rußland abtransportiert (Jaak Survel, Esthonia Today, London, 1947, S. 50— 51). AIs die Kollektivierung der Landwirtschaft einem starken Widerstand zum Trotz erfolgte (1947— 1950), konnte diese nur mit Hilfe neuer Deportationen durchgesetzt werden.

Der Widerstand gegen den Kommunismus war in diesen Ländern überaus heftig. Nach Berichten sollen im Jahre 1944 fast 100 000 Esten versucht haben, das Land in kleinen Booten und behelfsmäßigen Fahrzeugen zu verlassen (Arthur Voobus, Communism’s Challenge to Christianity, Maywood, Illinois, 1950, S. 45— 50).

Der Widerstand und die „Liquidierung“ der der Kollektivierung unterworfenen Bauern wurde öffentlich zugegeben. . Die Kulaken und bürgerlich-nationalistischen Elemente störten und hintertrieben auf verschiedene Weise die Entwicklung der Kollektivierung. Während der Vorbereitung und Durchführung der Kollektivierung der Landwirtschaft verschärfte sich der Klassenkampi. Er äußerte sich in Zerslörungs-und Sabotageakten, in Brandstiftung an , KoIchosen'-Eigentum, in dessen Verschleuderung, in Mordtaten an aktiven Kolchosenfunktionären, in Banditentum und anderen feindseligen Handlungen.“ (Akademie der Wissenschaften der Lettischen SSR, Istorija Latviskoj SSR, Riga 1955, S. 545, 546.)

Offizielle sowjetische Berichte gaben noch im März 1956 die Existenz von Mitgliedern der litauischen Widerstandsbewegung zu; (für diese war am 17. September 1955 eine Amnestie verkündet worden; S o -

vetskajaLitva, 22. III. 1956). Selbst lokale Kommunisten wurden einer . Säuberung’ unterworfen, besonders in Estland, z. B. Professor Hans Kruus, Außenminister und Präsident der estländischen Akademie, der Viziministerpräsident Nigol Andersen und der Erste Parteisekretär Karotamm.

Am Ende der estländischen Säuberung erklärte der neue Partei-sekretär Kaebin, daß in Zukunft die Kenntnis der estnischen Sprache bei der Rekrutierung von Beamten für die estländische Republik keine entscheidende Rolle spiele (Kaebins Rede auf dem VI. Kommunistischen Parteikongreß, Sovetskaj a Estoni ja, 18. April 1951).

Vom Ausmaß der russischen Kolonisierung, ihrer Verbreitung und qualitativen Bedeutung läßt sich aus folgenden Tatsachen ein Bild gewinnen: die Existenz eines russischen Theaters in Klajpeda (Memel), wo es vor 1945 überhaupt keine Russen gab; das Bestehen einer russischen Schule auf der kleinen baltischen Insel Wormsi (Estland), (Izvestija, 11. V. 1948); die große Anzahl von Russen unter den Betriebsleitern, Ministern und Parteibeamten. Zum Beispiel waren auf dem XII. Kongreß der Lettländischen Kommunistischen Partei im September 1952 360/0 der Abgeordneten Russen, 55% Letten und die restlichen 12 % unter zehn verschiedenen Nationalitäten aufgeteilt SovetskajaLatvija, 23. IX. 1952).

§ 15. DER SOWJETKOMMUNISMUS UND DIE JUDEN Das Problem der sowjetischen Juden geht nicht irgendeine Sowjetrepublik im besonderen an, sondern bietet sich der Sowjetunion als Ganzes dar. Da die Juden über die ganze UdSSR hin zerstreut leben, können ihre nationalen Interessen nicht durch eine territoriale Autonomie, sondern in erster Linie durch ein über das ganze Land ausgebreitetes Netz kultureller, politischer und wirtschaftlicher Institutionen gewahrt werden. Aus drei Ursachen ist es dem Sowjetregime nicht gelungen, eine solche Lösung für das jüdische Problem zu finden, a. Die totalitären Tendenzen des Sowjetregimes standen in Widerspruch mit den kulturellen und politischen Bestrebungen der überwiegenden Mehrheit des jüdischen Volkes in Rußland.

b. Die Kultureinrichtungen kommunistischer Natur, welche das Sowjetregime den Juden gewährte, kamen infolge der zunehmenden Assimilation des sowjetischen Judentums und der offiziellen Kampagne gegen den jüdischen Nationalismus außer Gebrauch.

c. Die Tatsache, daß das Sowjetregime den populären antisemitischen Tendenzen Vorschub leistete, führte nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer vollständigen Vernachlässigung des jüdischen Volkes.

Die sowjetische feindselige Gesinnung gegenüber den jüdischen Bestrebungen spiegelt sich im Niedergang und Verschwinden der jüdischen Organisationen wider. Um 1921 war die Auflösung aller jüdischen Parteien vollendet. Im Jahre 1930 wurden sogar die «Jüdischen Sektionen" der Kommunistischen Partei wegen nationalistischer Tendenzen liquidiert. Der „Ausschuß für die Landbesiedlung der jüdischen Werktätigen" (KOMZET) wurde 1939 geschlossen und das «Jüdische Antifaschistische Komitee" im Jahre 1948 aufgelöst (The Jews in the Soviet Union, von S. M. Schwarz, Syracuse University Press, SS. 102, 205).

Der kulturelle Niedergang des sowjetischen Judentums soll hier am Schicksal der jüdischen Presse in Sowjetrußland veranschaulicht werden. Im Jahre 1935 gab es immer noch 18 jüdische Zeitungen in der Sowjetunion. Mit dem Jahre 1938 sank ihre Zahl auf sieben mit einer Totalauflage von 38 000 für eine jüdische Bevölkerung von über 3 000 000 (Schwarz, O p. ebd., S. 144). Als infolge der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik sich die jüdische Bevölkerung auf 1 850 000 verringert hatte, blieben im Jahre 1947 noch zwei Zeitungen übrig und 1949 nur noch eine mit einer Auflage von 1000 Exemplaren. Von allem Anfang an war es nicht erlaubt, jüdisches Schrifttum in hebräischer Sprache zu veröffentlichen. Die Drucklegung literarischer Erzeugnisse in jiddischer Sprache wurde in den späten vierziger Jahren mit der Verhaftung der meisten jiddischen Schriftsteller eingestellt. Die hervorragendsten unter ihnen, Perets Märkisch, David Bergeisen und andere wurden hingerichtet (Folksztyme, eine kommunistische War-schauer Zeitung, 4. IV. 1956).

Die einzige größere, dem Namen nach jüdische Institution, welche in Sowjetrußland weiter bestand, ist die „Jüdische Autonome Provinz’ (Birobidzan) im sowjetischen Fernen Osten. Diese Provinz wurde im Jahre 1934 als eine Art kommunistisches Konkurrenzunternehmen zu Palästina gegründet. Laut einer offiziellen sowjetischen Erklärung von 1936 sollte sie ein jüdischer „nationaler Staat" und ein „Zentrum der sowjetisch jüdischen Kultur für die gesamte jüdische Arbeiterklasse der Sowjetunion" werden (Revoljucija i Nacjonalnosti, Nr. 80, Oktober 1936, S. 56, Walter Kolarz, Russia and her Colon ies, London, 1952, S. 175). Doch die „Jüdische Autonome Provinz" wurde weder das eine noch das andere. Die jüdische Einwanderung in diese Provinz erfolgte nur in geringem Maße, und ihre Bevölkerung blieb mehrheitlich russisch. Mitte 1948 schätzte man die jüdische Bevölkerung in dieser Provinz auf ungefähr 35 000 (Schwarz, ebd., S. 187). Diese kleine jüdische Gemeinde war weder in der Lage noch war es ihr erlaubt, eine jüdische Kultur aufzubauen, die für die Juden der Sowjetunion als ganzes von Geltung wäre. Sofern überhaupt die Jüdische Autonome Provinz ein kulturelles Zentrum ist, dann ist sie eher ein russisches Kulturzentrum als ein jüdisches. Die russische Zeitung von Birobidzan besaß zehnmal so viele Abonnenten als ihr jiddisches Gegenstück. Das jiddische Theater der Provinz wurde wegen „Uneinträglichkeit“ geschlossen. Die lokale Funkstation sendet nur zweimal in der Woche jiddische Programme (Harrison E. Salisbury Bericht in der New York Times, 22. VI. 1954). Noch auffallender ist, daß irgendwelche äußere Anzeichen eines religiösen Judaismus in der „Jüdischen Autonomen Provinz" eigentlich fehlen. Die Provinz besitzt nur eine einzige Synagoge, „eine kleine baufällige Baracke ohne Rabbi“ (Jewish Chronicle, London, 13. VII. 1956).

IL Die europäischen Volksdemokratien mung, welches sogar die Pläne der extremsten Nationalisten der Minderheitsvölker zu überbieten suchte.

Abbildung 3

Doch sobald sie in diesen Ländern die Macht in den Händen hatten, erledigten sie diese Nationalitätenfragen in den meisten Fällen in einem konservativen, chauvinistischen und sogar imperialistischen Geiste. Auf sowjetische Veranlassung hin und unter sowjetischer Leitung vollführten sie große Bevölkerungsverschiebungen, um so die Minderheiten zu eliminieren; sie suchten geradezu das Vorhandensein von Minderheiten wenigstens eine Zeitlang zu ignorieren; das System der territorialen Autonomie, wie es in Sowjetrußland zur Anwendung kam, wurde hier nicht zum Vorbild genommen; totalitäre Minderheitsorganisationen wurden als Instrumente in den Dienst der kommunistischen Sache gestellt.

§ 17. BEVOLKERUNGSVERSCHIEBUNGEN über 1 200 000 Polen wurden aus den früher polnischen Ostterritorien westwärts abgeschoben (Ekonomista, Warschau, Nr. 5/6, 1955, p. 9). über 500 000 Ukrainer und Weißrussen wurden aus Polen nach der UdSSR evakuiert (W. Parker Mauldin und Donald S. Akers, The Population of Poland, Washington, 1954, S. 117). Laut offiziellen westdeutschen Statistiken lebten in der deutschen Bundesrepublik im Jahre 1952 8 258 000 „Vertriebene" aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie, der Tschechoslowakei und in geringerem Ausmaß aus Ungarn, Rumänien und Jugoslawien. Ostdeutsche Statistiken erwähnten 2 345 000 „Rücksiedler". Diese Zahlen enthalten sowohl die Opfer der Vertreibungen wie auch die Personen, die aus verschiedenen Gründen ihre früheren Wohnsitze verließen oder vor den heranführenden Sowjetarmeen die Flucht ergriffen.

Andere von den Kommunisten ins Werk gesetzte Völkerwanderungen waren weniger erfolgreich. Dies trifft besonders auf die Ungarn in der Slowakei und die Deutschen in Ungarn. Als der Sieg des Kommunismus in Ungarn gesichert war, stellten die tschechoslowakischen Kommunisten ihre Deportationspolitik ein und die ungarische Minderheit erhielt einen neuen Status. Das geschah im Frühjahr 1949.

Auf der anderen Seite waren die ungarischen Kommunisten nur deshalb gezwungen, ihre Vertreibung der deutschen Minderheit einzustellen, weil die amerikanischen Behörden in Süddeutschland sich weigerten, weitere Vertriebene aus Ungarn aufzunehmen.

Aus Bulgarien wurden über 150 000 türkische Flüchtlinge nach der Türkei umgesiedelt.

§ 18. DIE MINDERHEITSRECHTE Trotz aller Bevölkerungsverschiebungen gibt es immer noch mehrere Millionen Menschen in Zentral-und Osteuropa, die Minderheiten angehören, und deren Schicksal und Status irgendwie „geregelt" werden müssen. Die Verfassungen der „Volksdemokratien" zeigen, daß ihre kommunistischen Parteien zum Minderheitsproblem nicht in gleicher Weise Stellung genommen haben.

Der Schutz der Minderheit ist in der Verfassung der polnischen Volksrepublik (22. VII. 1952) nicht verbürgt, aber sie sichert allen Staatsbürgern Rechtsgleichheit zu (Artikel 69). Derselbe Artikel verbietet Ausbrüche des Hasses und der Verachtung aus nationalen, rassischen und religiösen Gründen. Bis 1956 wurde offiziell die These vertreten, daß Polen ethnisch „vollständisch homogen" sei (R o c z n i k Polityczny i Gospodarczy 1948, S. 377).

Doch im Jahre 1956 wurde die Existenz „Zehntausender" in Polen lebender Ukrainer (Trybuna Lu du, 6. VI. 1956 und von 100 000 bis 500 000 Weißrussen in Polen (Zycie Literackie, Nr. 31, VII.

1956) offiziell zugegeben. Diesen Minderheiten wurde es schließlich gestattet, Zeitungen herauszugeben und kulturelle Vereine zu gründen — ein Recht, das ihnen vorher zum großen Schaden der beiden Nationalitäten abgesprochen war.

Die Verfassungen Albaniens (4. VII. 1950, Art. 39), Bulgariens (4. XII. 1947, Art. 79), Ungarns (18. VIII. 1949, Art. 49) und Rumäniens (24. IX. 1952, Art. 82) anerkennen die Rechte der nationalen Gruppen — wenn auch nicht bis zum gleichen Grad; die rumänische Verfassung ist in dieser Hinsicht die ausführlichste und spezi-

fischste (Zitiert aus russischen Texten: Konstitucii jevropejskikh stran Norodnoj D emo k r a cii, Moskva, 1954, SS. 22, 33, 35, 100, 115, 148 und 179).

Die tschechoslowakische Verfassung (8. V. 1948)

ignoriert das Minderheitenproblem ebenfalls. Die Tschechoslowakei wird als ein „vereinigter Staat zweier slawischer Völker — der Tschechen und der Slowaken" definiert (Art. 2). Den Deutschen der Tschechoslowakei wurde die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erst am 24. April 1953 gewährt (Aufbau und Frieden, 22, V. 1953).

Es ist zu bemerken, daß selbst da, wo eine Minderheit unterdrückt ist, einige ihrer Angehörigen hohe Stellungen bekleiden können, sofern sie vertrauenswürdige Kommunisten sind. So stehen an der Spitze der rumänischen Partei z. B.der aus Ungarn gebürtige Moghiorosh und der Ukrainer Bodnarash, beide Erste Stellvertreter des Ministerpräsidenten. Die in Moskau und Peking akkreditierten Gesandten der Tschechoslowakei waren zeitweilig Sudetendeutsche.

§ 19. NATIONALE AUTONOMIE Im allgemeinen ahmten die Satellitenländer nicht die in Sowjetrußland angewandte Staatsform der territorialen Autonomie nach. Eine Ausnahme macht Jugoslawien — aber in diesem Fall hat sich der Charakter dieser Einrichtungen gänzlich verändert und eine weitgehende Dezentralisation wurde nach dem Bruch mit der Kominform vollzogen. In Rumänien wurde nach langem Zögern im Jahre 1952 ein Autonomes Ungarisches Gebiet im nördlichen Siebenbürgen errichtet als eine „starke Waffe im Kampf gegen den Nationalismus* (Lupta de Clasa, Nr. 10, X. 1952). Selbst die Tschechoslowakei ist kein Bundesstaat; die Slowakei genießt eine beschränkte Autonomie, aber alle echten nationalen Bestrebungen wurden niedergehalten: Die Slowakische Demokratische Partei wurde in den Jahren 1947 bis 1948 aufgelöst (Joseph Lettrich, H i s t o r y of Modern Slowakei, New York, 1954, SS. 249— 260) und eine große Säuberung in den Reihen der slowakischen Kommunisten in den Jahren 1950 bis 1954 durchgeführt.

§ 20. DIE TOTALITÄREN MINDERHEITSORGANISATIONEN Die Hauptmittel kommunistischer Minderheitspolitik in den Ländern Zentral-und Osteuropas sind spezielle Vereinigungen, welche das gesamte wirtschaftliche und soziale Leben der Minderheiten an sich reißen. Ihre Führer sind zuverlässige Kommunisten, die in Wirklichkeit von den Regierungen dazu ernannt worden sind. Die Kommunistische Partei bedient sich ihrer, um die begüterten Gruppen unter den nationalen Minderheiten zu bekämpfen und deren nationalistische oder andere „unerwünschte" Bestrebungen im Zaum zu halten.

So soll z. B. das „Jüdische Demokratische Komitee" in Rumänien den Zionismus unter den rumänischen Juden bekämpfen (The Jews in the Soviet S a t e 11 i t e s by Peter Meyer, Bernard D. Weinryb, Eugen Duschinsky, Nicolas Sylvain, Syracuse University Press, 1953, S. 537). Die „Domovina", die Organisation der lausitzischen Sorben, eines kleinen slawischen Volkes in der Sowjetzone Deutschlands, wurde gezwungen, an der Kampagne für die „Deutsche Einigung" teilzunehmen. Die lausitzische sorbische Jugendorganisation mußte sich mit der ostdeutschen kommunistischen Jugendorganisation verschmelzen (M. I. Semirjaga, L u z i c a n e , Moskva, 1955, SS. 56— 57). — Von den 70 000 jugoslawischen Staatsbürgern Rumäniens wurden 8000 von ihren Wohnsitzen an der rumänisch-jugoslawischen Grenze nach der Baragan-Gegend nördlich von Bukarest, ein Gebiet mit schlechtem Klima und unfruchtbarem Ackerboden, deportiert (Borba, 1. und 9. X. 1955; und Forced Labor in the People's Democrac i e s , New York, 1955, SS. 154— 155).

Das Schicksal der jugoslawischen Minderheit in Rumänien zeigt, daß der Kommunismus das Minderheitsproblem in Südosteuropa nicht gelöst hat.

III. Die chinesische Volksrepublik

Gebiet: 3 931 000 Quadratmeilen (10 180 000 km 2)

Gebiet d e r a u t o n o m e n P r o v i n z e n (Tibet, Innere Mongolei, Sinkiang):

1 500 000 Quadratmeilen (3 900 000 km 2) Bevölkerung: über 582 000 000 Minderheiten: 35 000 000 (6 °/o) § 21. VON DER SELBSTBESTIMMUNG ZUR SELBSTVERWALTUNG Das Nationalitätenprogramm der chinesischen Kommunisten hat seit 1931, als es zum ersten Male ausführlich formuliert wurde, sehr beträchtliche Abänderungen erlebt. Je näher die chinesischen Kommunisten der Macht über ganz China kamen, um so weniger zeigten sie sich geneigt, den Minderheitsrassen wesentliche Zugeständnisse zu machen. Der ursprüngliche leitende Grundsatz der Selbstbestimmung wurde gänzlich fallen gelassen.

Die Chinesische Sowjetrepublik, welche im November 1931 in dem beschränkten Territorium der Provinz Kiangsi, wo es keine bedeutende Minderheitsgruppen gibt, ausgerusen wurde, war in ihren Versprechungen sehr großzügig. Ihre Verfassung vom 7. November 1931 anerkannte „das Recht der nationalen Minderheiten in China auf Selbstbestimmung und deren Recht auf vollständige Trennung von China“

(zitiert aus: Conrad Brandt, Benjamin Schwartz und John K. Fairbank, A Documentary History of Chinese Communism, London, Allen, and Unwin, 1952, S. 223).

Tm Jahre 1937 machten die chinesischen Kommunisten weniger maßlose Versprechungen (ebd. S. 243). Auf dem VII. Nationalkongreß im April 1945 wurde zwar das Recht auf Selbstbestimmung nicht gänzlich aufgegeben, hingegen das Recht auf Trennung von China abgesprocben (Selected Works of Mao-Tse-Tung, Bd. 4, London, 195S, S. 301). Dies wurde wiederum beträchtlich gemildert im sogenannten Gemeinprogramm des Jahres 1949, der ersten Verfassung des chinesischen kommunistischen Staates (P r a w d a , 2. X. 1949) und im ersten Verfassungsentwurf, der im Juni 1954 veröffentlicht wurde (Bulle-t inder Nachrich tena gentur . Neues China', 20. X. 1954).

Das Gemeinprogramm sagte doppelsinnig aus, daß die Minderheiten das Recht „auf Bewahrung oder Abänderung ihrer Bräuche, Traditionen und religiöse Glaubensanschauungen''genießen werden (Artikel 53). Die Verfassung von 1954 wiederholt in Artikel 3 diese Stelle, wobei jedoch die „religiösen Glaubensanschauungen" ausgelassen werden. Sowohl die Verfassung von 1949 wie auch der Entwurf von 1954 rügen den „stolzen Nationalchauvinismus" der Chinesen und den „lokalen Nationalismus" der Minderheiten selber.

Die Führer des kommunistischen China erklärten bei verschiedenen Gelegenheiten, daß sie sich in ihrer Nationalitätenpolitik das sowjetische System zum Vorbild genommen haben (For a Lasting Peace for a People's Democracy 14. V. 1954). Mag der Unterschied zwischen der praktischen Politik der sowjetischen Kommunisten und derjenigen der chinesischen Kommunisten auch gering sein, so besteht doch eine beträchtliche Verschiedenheit in der Theorie, wobei die Sowjets mehr Großzügigkeit an den Tag legen.

Die chinesische kommunistische Gesetzgebung stellt ausdrücklich fest, daß alle Minderheitsterritorien unveräußerliche Bestandteile der CVR sind (Artikel 3). Das neue China ist ein zentralistischer (offiziell „vereinigter multi-nationaler") Staat, welcher eine Anzahl Territorien mit einem besonderen Status auszeichnet wie autonome Provinzen, autonome „Tschou" (Gegenden) und autonome „Hsien" (Distrikte). Eine Direktive des Staats-Rates schaffte 106 dieser kleinen autonomen Einheiten ab (Bericht der Nachrichtenagentur „Neues China", 5. I. 1956), welche in den ersten Jahren der chinesischen kommunistischen Herrschaft für propagandistische Zwecke errichtet wurden.

§ 22. TIBET Gebiet: 465 000 Quadratmeilen (1 200 000 km 2)

Bevölkerung: 1 270 000 (1953)

Der Tibet war bis 1951 so gut wie unabhängig, als er seine „friedliche Befreiung" und seine Umwandlung in die „Tibetanische Autonome Provinz" erlebte, die von da an ihre Autonomie verlor.

Die tibetanische Armee wurde der chinesischen „Volksbefreiungsarmee“ eingegliedert; das „Tibetanische Militärgebiet" der Führung eines aus neun Mitgliedern bestehenden Komitees unterstellt, wovon deren sieben, einschließlich des Befehlshabers General Chang Kua-hua, Chinesen waren (Bericht der Nachrichtenagentur „NeuesChin a", 10. II. 1952). Ein „Auswärtiges Amt" (Vorsitzender und erster Vizevorsitzender sind Chinesen) wurde errichtet. Im Jahre 1952 entfernte man die beiden Ministerpräsidenten Laptsang Tashi und Lukhangwa, die Hauptvorkämpfer der Selbstverwaltung. Die chinesische Währung ersetzte die tibetanische. Das für die Errichtung von Landstraßen verantwortliche Komitee hatte sich vor Peking zu verantworten. Der Dalai-Lama und der Taschi-Lama behielten ihre Stellungen und wurden mit Ehrerbietung behandelt, um sie als willfährige Werkzeuge für den Kommunismus zu gewinnen.

Diese „friedliche Durchdringung" ging jedoch nicht ganz reibungslos vonstatten: im März 1955 wurde offiziell zugegeben, daß das chinesische Personal sich „Mangel an Respekt vor der Religions-und Glaubensfreiheit des tibetanischen Volkes, vor dessen Freiheit der Sitten und Bräuche" zuschulden kommen ließ" (Bericht der Nachrichtenagentur „Neues China", 3. III. 1955).

§ 23. DIE INNERE MONGOLEI Gebiet: 382 000 Quadratmeilen (990 000 km 2)

Bevölkerung: über 5 000 000 (1951)

Mongolen: weniger als ein Viertel In der Inneren Mongolei, welche als eines der ersten chinesischen Territorien unter kommunistische Herrschaft geriet, verachtete und verhöhnte die Kommunistische Partei den Willen des Volkes schon vor der Gründung der Chinesischen Volksrepublik.

Auf dem ersten Volkskongreß der Inneren Mongolei (Januar 1946)

beriefen sich 522 Abgeordnete auf die Atlantik-Charta und nahmen eine Verfassung an, nach welcher das Land eine eigene Volksarmee besitzen und eigene Handelsabkommen treffen sollte. (S. D. Dylykov, Demokraticeskoje dvizenije Mongolskogo Naroda v K i t a j e , Moskva, 1954, S. 61.) Zwei Monate später lösten die Chinesen die National-Revolutionäre Partei auf. Ein neuer Kongreß im April 1947 gab der Inneren Mongolei ihren gegenwärtigen untergeordneten Status einer „Autonomen Provinz". Die Opposition der Nationalisten wurde überstimmt und konnte seither nie mehr ihre Ansichten in der Öffentlichkeit verteidigen. Im Dezember 1947 wurde ein Ausschuß gebildet, welcher „die zerstörende Tätigkeit der mongolischen Untergrundbewegung entlarvte und Maßnahmen für deren Liquidation ergriff" (Dylykov, ebda., S. 98). Im Januar 1954 verschmolz die Innere Mongolei mit der Provinz Suijüan (ursprünglich mongolisch, aber jetzt zu 90 °/o chinesisch) zu einer Einheit. Somit wurden drei Millionen Chinesen dem Lande einverleibt (People's Diary, 28. II. 1954), § 24 . SINKIANG Gebiet: 656 000 Quadratmeilen (1 700 000 km 2)

Bevölkerung: 4 874 000 (1951)

Uiguren: 75 % In der Autonomen Provinz Sinkiang-Uigur fanden die Kommunisten nicht die gleichen festen nationalen Traditionen vor wie im Tibet und in der Inneren Mongolei. Die chinesischen Kommunisten waren die ersten, welche das Völkeramalgam in Sinkiang mit Ausnahme der Kasaken organisierten.

Peking errichtete in Sinkiang fünf autonome „Tschou": eine für den Volksstamm der Dunganen oder Huis (chinesische Moslems); eine für die Kirgisen; zwei für die Mongolen und eine für die Kasaken. Letztere umfaßt 770 000 Bewohner und ist bei weitem die größte. Ferner entstanden sechs autonome „Hsien".

Die chinesische kommunistische Führerschaft blieb anscheinend von all dem unberührt. Eine in Kasakstan (welches über eine lange Strecke an Sinkiang grenzt) herausgegebene Broschüre über das „Neue Sinkiang" führt aus: „Die Chinesen machen die grundlegende Macht der Arbeiterklasse und der Angestellten der staatlichen Betriebe und Institutionen aus. Sie spielen eine führende Rolle im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben Sinkiangs" (K. Kotov, Novyj Sintszyjan — Kasakischer Staatsverlag, Alma-Ata, 1955, zitiert aus Kommunist Kazachstana, Februar 1956, Nr. 2, S. 61).

D. Gesamtwertung

§ 25. POSITIVE UND NEGATIVE ASPEKTE DER KOMMUNISTISCHEN NATIONALITÄTENPOLITIK Eine Prüfung der kommunistischen Nationalitätenpolitik muß notgedrungen die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des russischen Faktors in der Sowjetunion und des chinesischen Faktors in der Chinesischen Volksrepublik lenken. Diese scheinbar gegenseitige innere Verbindung zwischen dem Kommunismus einerseits und den russischen und chinesischen Völkern anderseits ist jedoch nur ein zufälliges Resultat der geographischen Ausbreitung, die das kommunistische System bis jetzt gefunden hat. Die Russen oder Chinesen haben nicht etwa den Kommunismus in den Dienst ihrer Interessen gestellt — wenn es auch an der Oberfläche einen solchen Anschein erwecken mag —, sondern der Kommunismus bediente sich der russischen und chinesischen Völker als der zahlenmäßig bedeutendsten Faktoren dieser vielvölkischen Reiche; er machte Gebrauch von ihrem gewaltigen Menschenmaterial, ihren Sprachen und ihren Volks-traditionen. Geriete irgendeine andere große Nation, zum Beispiel die deutsche oder die französische, unter die kommunistische Herrschaft, dann würde der Kommunismus diese in der gleichen Weise ausbeuten, um die Kontrolle über kleine europäische oder koloniale Nationalitäten auszuüben.

Unsere Skizze der Theorie und Praxis der kommunistischen Nationalitätenpolitik enthält keine Statistiken über die kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungen in den Minderheitsterritorien, Stati-stiken, welche konstant in jeder kommunistischen Darstellung der Nationalitätenfrage eine größere Rolle spielen. Dies soll nicht heißen, daß die positiven Elemente in der kommunistischen Nationalitäten-politik ignoriert werden sollen; aber diese haben selbst vom Standpunkt der kommunistischen Lehre aus nur einen Übergangs-und Opportunitätscharakter und sind gleichsam beiläufiger Natur. Wir müssen bedenken, daß es zwei verschiedene kommunistische Nationalitätenpolitiken gibt: die eine für die Gegenwart, wo positive Leistungen wichtig, und die andere für die Zukunft, für welche solche Errungenschaften belanglos erscheinen müssen. Im gegenwärtigen Stadium müssen Kulturen „national in der Form und sozialistisch im Gehalt" geschaffen werden, wenn auch nicht für alle, so doch wenigstens für die wichtigsten Nationalitäten. Aber in einer zukünftigen Ära des flügge gewordenen Kommunismus, nach dem Siege des Sozialismus von weltumspannendem Ausmaß, werden die nationalen Kulturen verschwinden und eine vollständige Gleichförmigkeit wird selbst im Formalen überhandnehmen.

Dieser Dualismus der kommunistischen Nationalitätenpolitik wurde von Stalin in seinem Bericht an den XVI. Kongreß der Sowjetischen Kommunistischen Partei (Juni 1930) klar herausgearbeitet (s. Stalin WW 13, S. 3 ff.), und gehört seitdem zum geltenden Bestand der kommunistischen Theorie. „Die Nationalitäten werden in der Zukunft verschwinden", so lautet eine maßgebende chinesische kommunistische Darlegung. „Das Ziel des Sozialismus beschränkt sich nicht auf das Wegschaffen der Feindseligkeiten und Absonderungstendenzen zwischen den Nationalitäten, sondern schließt auch die Ausmerzung der Unterschiede zwischen den Nationalitäten ein, indem alle Nationalitäten in ein einziges Wesen umgeschmolzen werden" (25. Vortrag in der Reihe von Vorlesungen über den grundlegenden Marxismus-Leninismus, von Radio Peking am 2. Mai 1956 gesendet). Diese eschatologische Erwartung eines Zeitalters, in welcher die Nationalitätenfrage sich nicht mehr stellen wird, kann ihre ausschlaggebende Wirkung auf die kommunistische Geisteshaltung selbst im gegenwärtigen geschichtlichen Stadium nicht verfehlen. Sie muß die Tagespolitik der kommunistischen Führer beeinflussen, ihre Verachtung des Nationalismus größer werden lassen und ihre Entschlossenheit, diesen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen, bestärken. Der kommunistische Glaube an eine letztendliche Aufhebung der nationalen Kulturen läßt oft eine gänzlich negative Haltung gegenüber der nationalen Frage seitens der einzelnen Kommunisten aufkommen. Im Interesse des kommunistischen Regimes und seiner Stabilität muß eine solche Haltung unter den gegenwärtigen Umständen als eine Erscheinung des „nationalen Nihilismus" verworfen werden; aber eine solche Haltung wird immer wieder auftauchen, entspricht sie doch recht eigentlich dem kommunistischen Endziel. Die kommunistische Nationalitätenpolitik sowohl in ihrem negativen wie positiven Aspekt ist nur ein Mittel zum Zweck, ein Bestandteil der kommunistischen Strategie, welche, je näher wir der Verwirklichung des kommunistischen Endzieles kommen, abgestreift wird.

Eine Weltnation, die alles Wertvolle der großen Weltkulturen in sich ausgenommen hätte, ist keineswegs eine Vorstellung, die von vornherein im moralischen Sinne als schlecht zu bezeichnen wäre. Die Überwindung aller nationalen Schranken, die Bildung einer großen universalen Civitas Dei wäre ja die Erfüllung des kühnsten Traumes, der Menschlichkeit. Was daran schlecht ist, ist das Anstreben einer Weltnation, das auf der Verleugnung einer höheren Wahrheit beruht, ist eine Weltnation, welche das Endprodukt des kommunistischen Totalitarismus und das Endergebnis aus allen furchtbaren menschlichen Leiden darstellte, wie es die kommunistische Praxis in Rußland, China und in den kleineren kommunistischen Staaten gezeigt hat. Nationalitäten können zur größeren Ehre Gottes untergehen, sie können aber auch als Resultat menschlicher Tyrannei zum Verschwinden gebracht werden.

Literatur: Die wichtigsten Gesamtdarstellungen der kommunistischen Nationalitätenpolitik sind: F. C. Barghoorn, S o v i e t Russian Imperialism, New York 1956; H. Kohn, Nationalism in the Soviet Union, New York 1933; W. Kolarz, Die NationalitätenpolitikderSowjetunion, Frankfurt/M. 1956 (engl.: Russia and her Colonies, New York 1952); R. Pipes, The Formation of the Soviet Union. Communism and Nationalis m, 1917 — 192 3, Cambridge, Mass., 1954.

Zu Einzelfragen: M. Kirimal, Der nationale Kampf der Krimtürken mitbesondererBerücksichtigung derJahre 191 7— 1 9 1 8, Emsdetten 1946; W. Kolarz, Rußland undseine asiatischenVölker, Frankfurt a. M. 1956 (engl.: The Peoples of the Far East, New York 1951); F. Lorimer, The Population of the Soviet Union. History and Prospects, Geneva 1946; C. A. Manning, Ukraine under the Soviet s, New York 1953; V. Monteil, Essai sur 1'Islam e n U. R. S. S., Paris 1953; A. Oras, Baltic Eclipse, London 1948; A. Ouralow, Staline au pouvoir, Paris 1951; S. M. Schwarz, The Jews in the Soviet Union, Syracuse 1951; J. A. Swettenham, The Tragedy of the Baltic States, London 1952.

AUS DEM INHALT DER BEILAGEN:

Handbuch des Weltkommunismus

J. M. Bochenski: „Die formale Struktur des Kommunismus"

J. M. Bochenski, E. G. Walter „Philosophische, soziologische und und G. Niemeyer: wirtschaftstheoretische Grundlehren"

Gerhart Niemeyer: „Politische Grundlehren"

John Reshetar: „Die Partei"

J. Reshetar, S. Possony und „Methodologie der Eroberung und des W. Kulski: Herrschens"

Jan Librach:

„Die Expansion des Reiches"

Walter Kolarz: „Die Nationalitäten"

Vladimir Gsovski: „Das Recht"

David J. Dallin: „Das Verbrechen und das Strafsystem"

Ralph James: „Die Wirtschaft"

Karl Wittfogel: „Die Bauern"

John Fizer: „Die Kultur"

J. M. Bochenski, J. Hay und W. Meysztowicz: „Die Religion"

W. W. Kulski: „Die Situation des Individuums"

Joseph M. Bochenski: „Zur Kritik des Kommunismus"

Fussnoten

Fußnoten

  1. In km'durch die Herausgeber umgerechnet.

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