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Der Reichsfreiherr vom Stein | APuZ 35/1957 | bpb.de

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APuZ 35/1957 Der Reichsfreiherr vom Stein

Der Reichsfreiherr vom Stein

PERCY ERNST SCHRAMM

1757 — 1831 -1957

Der Reichsfreiherr Carl vom und zum Stein hat viele Biographen gefunden.

Dank schulden wir noch immer Ernst Moritz Arndt, weil er seine „Wanderungen und Wandlungen mit dem Reichsfreiherrn vom Stein" aufzeichnete; denn er hat seine Eindrücke lebendiger, anschaulicher festgehalten als alle andere Zeitgenossen. Allerdings kannte er nur den Stein des Befreiungskampfes und der Nachkriegszeit, und das von ihm gezeichnete Bild des knorrigen, respektverbreitenden Alten wirkt wie ein Holzschnitt und läßt auch nur eine Seite erkennen.

Dank verdient auch noch Georg Heinrich Pertz, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts sechs Bände Briefe und Schriften, darunter vieles, was nur auf diese Weise erhalten geblieben ist, herausgab und deutlich machte, was im Laufe vieler Jahrzehnte hinter der mächtigen, zurück-gebogenen Stirn des Alten vor sich gegangen war.

Aus der langen Reihe der deutschen Forscher seien nur noch drei erwähnt: der im Sinne des liberalen Bürgertums die Feder führende Max Lehmann, Gerhard Ritter, dessen 1931 erschienene, noch heute maßgebende Biographie der Lehmannschen den Rang abgelaufen hat und jetzt in gestraffter, überarbeiteter Form wieder gedruckt werden soll, schließlich noch Erich Botzenhardt, dem wir außer Einzelstudien und Essays sieben starke Bände mit Steins „Briefwechsel, Denkschriften, Aufzeichnungen" verdanken. Erst diese vielen tausend Seiten, deren Neuauflage der im Vorjahre aus dem Leben geschiedene Herausgeber nur noch vorbereiten konnte, haben den ganzen Reichtum der Steinschen Gedankenwelt und die Weite seines geistigen Horizontes erkennen lassen.

Zwischen diesen Werken steht eine Biographie von Rang, die ein Ausländer verfaßte: John Robert Seeley’s „Life and Times of Stein". Dieser Cambridger Professor ist nicht durch dieses 1879 erschienene Werk, sondern erst durch die vier Jahre später herausgebrachte „Expansion of England" berühmt geworden — und zwar mit einem Schlag, weil er im rechten Augenblick ein antreibendes Wort an die Öffentlichkeit zu richten verstand: im rechten Augenblick, weil seine Landsleute empfanden, daß der verknöcherte Liberalismus des frühviktorianischen „Stockengländertums" beim Eintritt in die Hochphase des Imperialismus neuer Losungen bedurfte, und ein antreibendes Wort, weil Seeley den Engländern zeigte, daß die scheinbar richtungslose Geschichte ihres Weltreiches ein in sich sinnvoller, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenschließender Prozeß gewesen sei, der die Zeitgenossen verpflichte, das Erbe der Väter den Söhnen gestärkt zu hinterlassen. Hm diese Sicht der Geschichte sich selbst und anderen überzeugend zu machen, war es für Seeley erforderlich, den auf das Individuum ausgerichteten, Ausgaben und Nutzen gegeneinander abwägenden Standpunkt der vorausgehenden Generation zu überwinden. Das ist der tiefere Grund, weshalb er die siebziger Jahre an die Abfassung seiner vierbändigen Stein-Biographie drangab; denn was ihn an dem preußischen Minister, an Humboldt und den anderen Reformern anzog, war eben dies, daß so reich entfaltete Individualitäten sich im Dienst einer großen Sache zusammengefunden und bewiesen hatten, daß „Volk“ nicht eine Summe von Einzelnen, sondern ein geschichtliches „Wesen“ sei.

Seeley’s Stein-Biographie hat in England keine nennenswerte Wirkung ausgeübt, aber durch das anschließende Buch ist Stein doch eine Art geheimer Patenrolle beim Ausbau der britischen Commonwealth zugefallen.

Diese Feststellung führt uns auf die Tatsache, daß die Biographie der Großen nicht mit ihrem Tode abschließt. Für Stein bedeutet das, daß er zwar 18 31 starb, daß sich daran aber die Frage hängt, ob und wie er unter den Deutschen weiterlebte. Dieses Erinnerungsjahr berechtigt uns dazu, diese Frage so zuzuspitzen: Ehren wir heute Stein nur als einen großen Toten? Oder hat er uns noch etwas zu sagen? Können wir uns noch an ihm, dem nun schon vier Menschenalter in seiner Gruft Ruhenden, orientieren, etwas von ihm lernen?

Es wäre instruktiv zu verfolgen, wer alles im letzten Jahrhundert versucht hat, Stein als Bannerträger zu reklamieren: die Konservativen und die Liberalen, die Nationalen, der Verfechter der Selbstverwaltung usw. — die vollständige Liste wäre lang. Aber die Aufzählung lohnte nicht, denn kein Versuch war legitimiert. Insofern ist in Arndts Bild des knorrigen Alten etwas Richtiges: er läßt sich schlechterdings nicht in die gängigen Schemata hineinpressen. Das liegt nicht einfach daran, daß der Reichsfreiherr im Gegensatz zu Hardenberg, der ihn schließlich in den Schatten drückte, und erst recht zu Metternich, eine sehr kantige Persönlichkeit war, nicht daran, daß Stein jener Machttrieb und zugleich jene Überlegenheit bei der Behandlung der Gegenspieler fremd waren, die es Bismarck ermöglichten, die führende Rolle nicht nur zu übernehmen, sondern sie ein Menschenalter lang festzuhalten. Die Gründe liegen tiefer: Das Schicksal stellte Stein in eine Konstellation politischer, wirtschaftlicher und sozialer Gegebenheiten hinein, die es vorher noch nie gegeben hatte, zwang ihm geradezu auf, die entscheidende Rolle zu übernehmen, und vergönnte ihm nur für eine ganz kurze Frist, sie auszufüllen und dadurch über-sieh empor zu wachsen. So gesehen ist das ganze Leben Steins von Anfang bis Ende höchst seltsam verlaufen.

Das offen zu legen, soll unser Bemühen sein. Wir beleuchten deshalb nur einzelne Augenblicke in Steins Leben, die für die Seltsamkeit dieses Lebens symptomatisch sind.

Die Seltsamkeit seines Lebens

Wir stellen zunächst fest: der Reichsfreiherr Carl vom und zum Stein wurde am 21. Oktober 1757 im väterlichen Schlosse zu Nassau als dritter Sohn und neuntes Kind des mainzischen Kammerherrn und Geheimen Rats Karl Philipp vom Stein geboren. Was bedeuten diese Fakten? Wie legten sie Steins weiteres Leben fest?

1757t das heißt acht Jahre, nachdem in Frankfurt der Enkel des Gastwirts Goethe und des patrizischen Stadtschultheißen Textor zur Welt gekommen war, andererseits acht Jahre, bevor in Ajaccio aus dem Bund der korsisch-italienischen Familien Buonaparte und Ramolino der unheimlich große Gegenspieler hervorging, der Steins Lebensweg vom Negativen her bestimmen sollte. 1757 selbst ist das Jahr der Schlachten von Kolin, Roßbach und Leuthen, in dem Friedrich II. Europa demonstrierte, daß Preußen keine “ quantite negligable“ menr sei.

Vom und zum Stein: das heißt, daß die Familie sich nicht nur nach ihrer Burg auf steilabfallender Kuppe am Hang des Nassauer Burg-berges nannte, sondern diese bzw. das im 17. Jahrhundert an ihrer Stelle jenseits der Lahn errichtete Schloß bewohnte, daß das Geschlecht also bereits seit über einem halben Jahrtausend an ein und derselben Stelle saß, verzankt mit den Nassauer Grafen, aber zäher im Boden verwurzelt als sie, zäher selbst als die Bauern ringsum.

Reichsritter bedeutet, daß Stein zu einem noch rund 3 50 Familien umfassenden Stand gehörte, den es nur in Deutschland und hier auch nur noch im Westen und Südwesten des Reiches gab. Seine Existenz verdankte er der für Deutschland unheilvollen Tatsache, daß durch den Wegfall der Herzogtümer Franken und Schwaben ein Teil der darunter stehenden Adelsschicht reichsunmittelbar geworden war. Die Zugehörigkeit der Freiherrn vom Stein zur Reichsritterschaft war allerdings nur auf zwei Dörfer begründet, deren Ertrag für den Unterhalt der Familie nicht ausreichte. Durch zusätzliche Lehen, die der Eigenständigkeit Gefahr brachten, kamen zwar noch Einnahmen hinzu, aber auch sie langten nicht aus. Die männlichen Sprossen waren daher gezwungen, durch Ämter an den geistlichen Höfen Westdeutschlands oder durch den Eintritt in den Dienst des Kaisers sich zusätzliche Revenuen zu verschaffen. Das vergrößerte den Horizont, schuf weitreichende Beziehungen, verhalf zu weltmännischer Sicherheit — Vorteile, die Stein zeitlebens einen Vorsprung vor den von ihm oft scharf getadelten Junkern Osteibiens gab, dem „genus hydridum“, in welchem noch ein Stück von einem wilden, längst ausgestorbenen Tier stecke. Trotz diesem durch die Zugehörigkeit zur Reichsritterschaft gegebenen Ansporn hat jedoch keiner von Steins Vorfahren je eine Rolle gespielt, die ihn irgendwie nennenswert in der Geschichte gemacht hätte —Goethes Frau von Stein gehörte einer ganz anderen Familie an.

Reichsritter hätte für Stein bedeuten können: Adelstolz und Hang zu seigneuralem Leben. Davor schützte ihn jedoch das Elternhaus. Der Vater verkörperte seinen Stand in altfränkischer Weise, und die Mutter, die der am Rhein und im Hannoverschen ansässigen Familie Langwerth v. Simmern entstammte, sprach tadelnd von der Epidemie der Reichs-ritterschaft, die sich über die andern erhaben dünke, weil sie einige chimärischen Privilegien und Prärogative besitze, die mehr kosteten, als sie wert seien. Die reichsständische Herkunft, die Stein auf dem Weg in das Leben zur Gefahr hätte werden können, ist daher für ihn zu einem gar nicht zu überschätzenden Vorteil geworden, weil sie ihn den Großen gegenüber aufrecht machte und ihm von Jugend auf eine Selbstsicherheit verlieh, kraft deren er sich in jedem Kreise durchsetzte.

Aber weiter: was heißt der dritte Sohn und doch Erbe jener beiden Dörfer und allen weiteren Zubehörs? Es handelte sich um einen Besitz, der gerade für den einigermaßen standesgemäßen Unterhalt eines Sohnes, aber nicht für mehrere ausreichte. Wie das fürstliche Familien vorgemacht hatten, erbte daher nur ein Sohn mit der stillschweigenden Verpflichtung, sich wiederum standesgemäß zu verheiraten und die Familie fortzupflanzen. Der Vater entschied sich 1774, endgültig 1779, für den Sohn Carl, überging also die beiden Vorhergehenden, von denen der ältere es zum preußischen Gesandten in Mainz, der zweite es zum österreichischen General brachte. Sie stellten also etwas dar. Wenn der Vater sie trotzdem beiseite schob, ist das der eindeutigste Beweis aus Steins sonst nur schlecht erleuchteter Jugendzeit, daß die Eltern auf den später Geborenen die größten Hoffnungen setzten — berichtet wird, daß die Mutter bei diesem Entschluß stark mitgewirkt habe. Der eine der beiden älteren Brüder trat in den deutschen Ritterorden ein, beide verzichteten auch auf eine Ehe zur linken Hand. Da Stein selbst nur zwei Töchter beschert wurden, starb daher — gerade wegen der zu ihrer Erhaltung getroffenen Maßnahmen — die Familie aus.

Schließlich noch dies: Das neunte Kind von zehn. Arndt berichtet, Stein habe gelegentlich beklagt, daß er zu feurig sei und oft reizbarem Jachzorn nachgebe. Er habe hinzugesetzt: „Ohne meine fromme Mutter und meine ebenso fromme wie gute Schwester Marianne hätte ein Erz-bösewicht aus mir werden können.“ Arndt setzte hinzu: „In solchen Superlativen sich auszusprechen, lag einmal in seiner Art;“ denn er durchschaute nicht, was Stein zu diesem Ausspruch trieb. Das jüngste Kind, der vierte Sohn, hatte nämlich der Familie Unehre gemacht und war gescheitert. Obwohl die Familie ihm zunächst noch weitergeholfen hatte, war er schließlich unter einem bürgerlichen Namen untergetaucht und fristete sein Leben als Sprachlehrer in Hamburg. Erst Erich Botzenhardt hat ein Konvolut Briefe wiederentdeckt, das bezeugt, daß Stein dem angeblich Verschollenen insgeheim noch weiter seine Hilfe hat angedeihen lassen. Den Biologen überrascht die Tatsache nicht, daß aus demselben Mutterschoß zwei Sprossen hervorgehen, von denen der eine zum Inbegriff menschlicher Würde und Rechtschaffenheit, der andere zu dessen bösem Spiegelbild wird, und er wird bei diesem Befunde die divergierenden Anlagen der Vorfahren aufzuspüren trachten, in Steins Falle wohl auch die Tatsache in Rechnung stellen, daß die Eltern durch die Herkunft ihrer Mütter aus der traditionsreichen Familie v. Gemmingen Vetter und Kusine gewesen waren, die guten und die schlechten Erbanlagen sich bei den Kindern also potenzieren konnten. Stein wußte noch nichts von Mendels Gesetzen und sagte sich, daß ein oder zwei falsche Schritte auch seinem Leben zum Verhängnis hätten werden können.

Zusammenfassend stellen wir fest, daß Steins Leben seltsam begann. Die nächste Feststellung, die wir zu machen haben, lautet:

Ein Adliger als Fachbeamter

Am 2. Februar 17SO ernannte König Friedrich II.den nunmehr 22jährigen Carl vom Stein zum Kammerherrn, zwei Tage danadt zum Referendar am Bergwerks-und Hüttendepartement. Bereits nadt zwei Jahren beförderte er ihn zum Oberbergrat.

Also ein Adliger als Fachbeamter — der also Ausgezeichnete hatte allerdings die Universität Göttingen ohne Abschlußprüfung, ohne akademischen Titel verlassen, da er als Adliger solcher Ausweise nicht bedurfte. Außerdem hatte Stein nur noch eine kurze Tätigkeit beim Reichskammergericht in Wetzlar sowie am Regensburger Reichstag und zwei längere, für die Ausbildung des Adels als unerläßlich angesehene Kavalierstouren nach Frankreich, Süddeutschland, Österreich und Ungarn anzuführen. Außer seinem Namen war es also nicht viel, was ihn auswies. Aber bei adligen Bewerbern wurde auch sonst nicht mehr vorausgesetzt.

Nicht die Tatsache, daß Friedrich der Große ihn einstellte, ist also überraschend, sondern daß Stein — statt sich der Verwaltung der väterlichen Güter zu widmen — sich für die Beamtenlaufbahn entschied und gegen die Tradition seiner Familie nach Preußen ging. Das erste Faktum erklärt sich durch den Charakter: Stein brauchte Tätigkeit, brauchte Wirksamkeit über den herkömmlichen Rahmen der Familie hinaus, verabscheute jedoch die Diplomatie mit ihrem Flitterwerk und ihren Intrigen und kam so für die am meisten standesgemäße Karriere nicht in Frage. Warum aber Preußen, wo er sich mit Hilfe seiner Mutter bewarb, und nicht — wie es der Familientradition entsprochen hätte — eine Stellung im Dienst des Kaisers oder an einem der süddeutschen Höfe? Wäre er eine Generation früher geboren, wäre er sicherlich nie auf diesen Gedanken gekommen. Aber Friedrich „der Einzige“, für den Stein auffallenderweise nie eine Affektion zu erkennen gegeben hat, hatte Preußen nicht nur politisch zu Ansehen gebracht, sondern auch — das Werk des Vaters ausbauend — die durchgreifende preußische Verwaltung selbst für solche anziehend gemacht, die jenseits der Landesgrenzen geboren waren.

Was König Friedrich nicht wissen konnte, war, daß er auf diese Weise zu einem trotz der nach unseren Begriffen unzulänglichen Ausbildung hervorragenden Beamten kam, noch dazu zu einem sehr gebildeten, für die Zeit aufgeschlossenen.

Die kurzen Göttinger Semester hatten nämlich Stein einen unverlierbaren Gewinn eingebracht, den er durch Lesen sowie im Umgang mit adligen und bürgerlichen Freunden im Laufe der Jahre noch zu mehren verstand. Das Wichtigste holte er sich jedoch selbst heran. Insofern darf man ihn einen großen Autodidakten nennen. Bezeichnend ist dabei jene erstrebenswerte, aber selten erreichte Verschränkung von Wissen und Erfahrung, bei der die Theorie die in der Lebenspraxis erworbenen Einsichten durchleuchtet und ordnet und die Praxis dazu führt, die Theorie ständig zu überprüfen und gegebenenfalls abzuändern.

Gerade das macht es unmöglich, Stein in irgendeine der geistigen Richtungen seiner Jugend-und Mannesjahre einzuordnen. Er war aufgeklärt, von der Würde des Menschen durchdrungen und glaubte an den Fortschritt, aber er war kein Aufklärer. Er war eingenommen für die alte Reichsidee, für Mösers „Patriotische Phantasien“, begriff — ganz unrationalistisch — die ihm umgebende Welt in ihrer geschichtlichen Tiefendimension, aber er war kein rückwärts gewandter Romantiker, suchte vielmehr zu bessern und zu vervollkommnen im Sinne der gemeinnützigen Gesellschaften, die in dieser Zeit entstanden, war also in seiner Zeit ein moderner Mensch. Er schaute scharf nach England hinüber, aber er war nicht anglophil. Erst recht nicht läßt sich Stein kirchlich irgendwo rubrizieren. Er stammte aus einer Familie, die seit der Reformation evangelisch war und trug die Spuren dieser geistigen Herkunft. Er vertrug sich jedoch gut mit aufgeschlossenen Katholiken. Dogmatisch war er weder ein Freigeist noch ein Orthodoxer. Daß Glaubensskrupel ihn je geplagt hätten, ist nicht ersichtlich; aber sicher ist, daß er zeitlebens ein religiös wacher Mensch war. In seinem schlimmsten Jahre erklärte er, der Glaube an eine Vorsehung erhalte seinen inneren Frieden und gebe ihm einen sehr ruhigen Blick in die Zukunft.

Schließlich: Stein seit 1782, also vierundzwanzigjährig, kgl. Oberbergrat. Was heißt das?

Seit dem 17. Jahrhundert war im Zuge der merkantilistischen Politik der Staat zu dem vorwärtstreibenden Dirigenten des Bergbaus geworden, der auf handwerklich-genossenschaftlicher Grundlage aufgebaut und seit dem 16. Jahrhundert unter den Einfluß der Fugger und anderer großer Geldgeber geraten war. Auch die preußische Regierung hatte erkannt, welche Chancen sich hier boten. Die Bergbauverwaltung legte sie in die Hände sachkundiger Beamter, für deren Ausbildung Berg-akademien geschaffen waren. Das Gemeinwohl fuhr gut dabei; denn die nunmehr erforderlichen Mittel gingen über die Leistungsfähigkeit privater LInternehmer hinaus, und die Technik des Bergbaus war dank ständiger Verbesserungen und neuer Erfindungen in schnellem Fortschritt begriffen, was sich nur bei straffer Anleitung ausnutzen ließ. In dem sächsischen Freiherrn von Heinitz hatte sich Friedrich der Große zudem die beste deutsche Autorität auf dem Gebiete des Bergbaus gesichert. Diesem Minister ist es zu verdanken, daß das oberschlesische Revier systematisch erschlossen wurde und dadurch dem vorwiegend agrarischen Preußen ganz neue Möglichkeiten erwuchsen. Heinitz wurde nicht nur der Förderer Steins, sondern war auch der einzige, den man mit Fug und Recht als seinen Lehrer bezeichnen darf.

Der Minister ermöglichte seinem Bergrat weit ausgedehnte Besuchs-reisen bis nach Polen und übertrug ihm 1784 den gesamten Bergbau in den westlichen Provinzen, von denen man damals höchstens ahnen konnte, daß sie einmal noch wichtiger als Oberschlesien werden würden. Stein bestätigte sich also in dem Sektor des Staates, in dem dieser durchaus modern war. Der Pikanterie wegen sei verzeichnet, daß Stein, der sich nicht gescheut hatte, Fachvorlesungen nachzuholen, 1786/87 auch noch neun Monate lang zu Studienzwecken in England weilte — man könnte auch sagen: zwecks Industriespionage. Denn England war noch moderner im technischen Bereich. Es hatte vor anderen Ländern einen Vorsprung von etwa einem Menschenalter und trachtete begreiflicherweise danach, seine Kenntnisse für sich zu. behalten.

Vom Bergwesen wechselte Stein 1787 in die allgemeine Provinzverwaltung hinüber und stieg in ihr zum Oberpräsidenten auf — erst in Minden, dann in Münster, also immer in den Westprovinzen der Monarchie. Ein hervorragender, die Vielzahl der Geschäfte überblickender, auch weiterhin mit dem Bergwesen befaßter Beamter, aber kein Bürokrat oder — wie Stein sagte — kein Buralist, der von seinem Büro aus, gestützt auf Papiere, im Geiste des Absolutismus das Leben zu schematisieren und die ihm Anvertrauten zu gängeln trachtete. Andererseits ereiferte er sich über den privaten Eigennutz, mochte er auf ihn bei seinen Standesgenossen, bei den Gewerken der Bergarbeiter oder bei den westfälischen Bauern stoßen. Immer dachte er vom Gemeinwesen aus. Er war daher gegen die Überspannung des staatlichen Absolutismus und förderte die alten genossenschaftlichen Einrichtungen wie z. B. die in Westfalen noch bestehenden Erbentage. Es wäre daher verfehlt, ihn als einen Frühliberalen zu bezeichnen, wenn damit gemeint sein soll, daß ihm im Sinn gelegen hätte, das Individuum auf Kosten des Staates zu fördern.

Wir machen abermals von dem Recht zu springen Gebrauch und stellen fest: Am 27. Oktober 1804 wurde der Oberpräsident als Minister in das Generaldirektorium berufen, in dem er die Steuer-, die Zoll-und Gewerbefragen, das Salzmonopol, die Staatsbank sowie die Leitung der Kgl. Seehandlung übernahm, was ihn zwang, das ihm vertraut gewordene Westfalen mit Berlin zu vertauschen.

In diesem Augenblick ist das Seltsame, daß Stein dem König darlegte, weshalb er zu diesem Amt nicht ausreiche und deshalb bitte, die getroffene Entscheidung noch einmal zu überprüfen. Die Antwort war die Ernennungsurkunde. Der König von Preußen sah sich für besser befugt als seine Untertanen an, über deren Befähigungen ein Urteil abzugeben — und in diesem Falle war er auch völlig im Recht. Wäre der damals 47jährige Stein in diesem Augenblick gestorben, so stünde sein Name allenfalls in einer Geschichte des preußischen Bergbaus oder der westfälischen Verwaltung, und selbst wenn man noch die beiden nächsten Jahre einschließt, was auf über zwei Drittel seines Lebens hinausläuft, so würde ein preußischer Geschichtsschreiber seiner doch nur am Rande unter vielen anderen tüchtigen, für Reformen eintretenden Männern zu gedenken haben.

Immerhin: jetzt war es der Landfremde — wie vorher Heinitz und mancher andere — zum preußischen Minister ernannt, obwohl er ein notorisch unbequemer Untergebener war, der durch seine am Herkommen rüttelnden Auffassungen die Hüter der Tradition vor den Kopf stieß, ja — bei allem schuldigen Respekt vor dem Träger der Krone — selbst diesem gegenüber seine Kritik nicht zurückhielt.

Im magnetischen Kraftfeld der Reformer

Die überraschende Tatsache, daß Stein trotzdem berufen wurde, erklärt sich dadurch, daß ähnlich gesinnte Männer in Berlin tätig waren und beim König seine Berufung durchgesetzt hatten, um ihre Reihen zu verstärken. Das ist ja das Erregende an diesen Jahren, daß so viele tüchtige, einsichtige, von bestem Willen beseelte Männer, geprägt durch die Klarheit der Aufklärung, das Menschenbild der deutschen Klassik, das Ethos Kants, in den leitenden Stellen tätig waren. Das Phänomen, daß einer den anderen nachzog, sollten die Soziologen einmal auf breiter Basis untersuchen, wobei dem Gegenbild noch größere Aufmerksamkeit zu widmen wäre; denn ein entscheidender Faktor bei der Gruppierung der Menschen, der in bestimmten Augenblicken der Geschichte viel stärker ist als Sonderungen auf Grund regionaler, sozialer oder kultureller Unterschiede, ist der Magnetismus, der einerseits von den Guten, andererseits von den Bösen ausgeht.

Durch seine Berufung wurde der bisher auf einem Außenposten isolierte Stein in das magnetische Kraftfeld der Reformer hineingezogen. Es dauerte jedoch noch drei Jahre, bis er dessen Zentrum war. Denn noch lag das Land im Frieden — im Gegensatz zu Österreich. Noch wiegte sich die Berliner Regierung im Gefühl neutraler Sicherheit, voll Vertrauen auf den Staat Friedrichs des Großen. Aber seit dessen Tod, seit dem Ausbruch der Französischen Revolution hastete Europa auf allen Gebieten weiter, und daher entsprach Preußen in keiner Weise mehr den Erfordernissen der Zeit. Aus der Fülle der ungelösten Probleme sind hier vier aufzuzählen:

Die lange Liste der Stein als Ressortminister zugefallenen Aufgaben offenbart eine Crux der preußischen Verwaltung, deren Beseitigung seit längerem, jedoch bisher ohne Erfolg, angestrebt wurde. Es gab nämlich einerseits Minister für die einzelnen Provinzen, andererseits Minister für bestimmte, ganz Preußen umfassende Ressorts. Dieser zu vielen Kompetenzkollisionen und Unklarheiten führende Zustand, der an sich einen Widerspruch zum Prinzip des Absolutismus bildete, erklärt sich aus der Geschichte des preußischen Staates, der sich ja aus Kernprovinzen, Gewinnen aus Erbschaften und Eroberungen von verschiedener Struktur zusammensetzte — in Frankreich hatte die Revolution ähnliche Verhältnisse durch das straff aufgezogene Departements-und Präfekten-system radikal beseitigt. Die preußische Verwaltung war außerdem noch dadurch behindert, daß — im Gegensatz zu England, wo die Minister das Kabinett des Königs bildeten — die Hohenzollern mit Hilfe eines aus bürgerlichen Sekretären gebildeten „Kabinetts“ regierten, zu dem nur einzelne Minister, die „Kabinettsminister“, Zutritt hatten. Es gab also kein verantwortliches Ministerium, sondern nur einzelne Minister, die Werkzeuge des Königs waren — d. h.des der Theorie nach noch uneingeschränkt regierenden, de facto von seinen Sekretären, Männern seines persönlichen Vertrauens oder Adelscliquen geschobenen Herrschers. Das magnetische Kraftfeld des guten Willens konnte sich daher nur in Einzelheiten auswirken.

Bei den drei anderen Problemen handelte es sich um das Heer, die Bewohner der Städte und die Bauern.

Das Heer war, noch zusammengesetzt aus Gezogenen und Geworbenen und angeführt durch ein rein adliges Offizierskorps, obwohl die Franzosen mittlerweile mit einer sozial völlig anders strukturierten, schlagkräftiger gegliederten und beweglicher operierenden Armee einen Erfolg nach dem andern errungen hatten.

Die Stadt war gegängelt durch die staatliche Verwaltung, deren Eindringen in die ehemalige Selbstverwaltung gerechtfertigt gewesen war, weil diese seit dem 17. Jahrhundert versagt hatte. Aber dank der Manufakturen und anderer Neuerungen in Handel und Wirtschaft war die Stadt mittlerweile ein so komplizierter Organismus geworden, daß sie nicht mehr vom grünen Tisch der Zentrale aus dirigiert werden konnte. Vor allem: auch in Preußen bildete sich jetzt ein Bürgertum, für das im öffentlichen Leben noch kein Platz gefunden worden war.

Schließlich das flache Land. Hier war bereits manche Vorarbeit geleistet durch die den Domänenbauern schrittweise gewährte Aufhebung der Erbuntertänigkeit und die durch einzelne einsichtige Adlige durchgeführte private Bauernbefreiung. Aber die Grundprobleme, ohne die die Eingliederung aller Landbewohner als rechtlich Gleichberechtigten in den Staat unmöglich war, waren noch ungelöst: die Beseitigung der unbezahlten, nur durch das Herkommen legitimierten Dienste, die Trennung von Guts-und Bauernland, die sogenannte „Regulierung“, und die rechtliche Verselbständigung aller jener, deren Leibeigenschaft noch nicht aufgehoben war.

Alle diese ungelösten Probleme konzentrierten sich um die Grundfrage, wo der bisher allmächtige Staat sich selbst Grenzen setzen müsse, und wie er die Untertanen zur Mitwirkung gewinnen, wie er sie zu Staatsbürgern erheben könne.

Den drohenden Hintergrund für die angestellten Überlegungen gab die Französische Revolution ab, die so verheißungsvoll begonnen und daher zunächst auch von Stein begrüßt worden war, weil sie ungeahnte Kräfte geweckt und dem Staate nutzbar gemacht hatte. Aber aus ihr war ein Schreckensregiment und schließlich eine Militärdiktatur hervorgegangen, die drohend jedem Reformer demonstrierte, wie gefährlich es sei, das Bestehende zu ändern.

Das also war die Lage, die Stein bei seinem Eintreffen in Berlin vorfand. Wollten wir aufzählen, was er in den beiden folgenden Jahren als Minister bewirkte, wäre manche verdienstvolle Maßnahme anzuführen. Vieles tat Stein, aber nichts Entscheidendes, vor allem nichts Radikales.

Erst dadurch, daß der preußische Staat sich durch die Annektion Hannovers England zum Feinde gemacht hatte und daher Napoleon isoliert gegenüberstand, wurde Stein dazu gedrängt, zu den allgemeinen Fragen Stellung zu nehmen, und das hieß für ihn: anzugehen gegen eine von ihm im Endeffekt für verfehlt gehaltene Außenpolitik. Daß sie in eine falsche Richtung geglitten war, lag für Stein in der Kabinetts-politik begründet, und so kam er dazu, diese mit wachsendem Nachdruck anzugreifen und ein verantwortliches Ministerkollegium zu fordern: ein an England orientierter, jedoch nicht zum ersten Male vorgebrachter Vorschlag, durch den der König gewarnt wurde, so wie zwei Jahrzehnte vorher durch Turgot, Necker und andere der König von Frankreich rechtzeitig gewarnt worden war. Über die bisherigen Reformgedanken ging jedoch Steins Vorschlag hinaus, da im Falle der Verwirklichung der König vom Ministerkollegium abhängig geworden wäre. Stein wurde ungnädig beschieden, wuchs aber gerade dadurch in die Stellung eines Führers der Reformpartei hinein, die ja selbst Prinzen wie Louis Ferdinand zu den ihren zählte.

Der 14. Oktober 1SO 6 bewies, daß Stein und seine Gesinnungsgenossen mit Recht gewarnt hatten — aber diese jetzt für alle offen-liegende Einsicht war allzu bitter erkauft. Stein verlor nach Jena keinen Augenblick den Kopf, half mit, daß Preußen nicht schlechterdings kapitulierte, sondern sich an Rußland anschloß. Aber — und das ist ein großgeschriebenes Aber — er lehnte es trotz allem Drängen, ja trotz dem ausdrücklichen Befehl des Königs ab, das Ministerium des Auswärtigen zu übernehmen, weil er sich für dieses Amt als nicht qualifiziert ansah. Man hat nach tieferen Gründen gesucht, aber keine gefunden, und es liegt ja auch auf der Hand, daß Stein, von Jugend auf gegen die Diplomatie eingenommen, es ablehnen mußte, gerade dieses Ressort zu übernehmen, da er sich ja zwei Jahre vorher trotz seiner großen Erfahrung selbst als Minister in dem ihm gemäßen Bereich als nicht ausreichend angesehen hatte. Stein benutzte jedoch die Notlage des Königs und drängte erneut darauf, die Staatsspitze zu reformieren. Zur Erörterung gelangte der Plan eines Dreierkonzils, in dem Stein die führende Rolle zugefallen wäre. Er ging auch hierauf nicht ein und setzte sich dem Vorwurf des Ungehorsams aus. Über eine vom König verfügte Geldausgabe kam es zum offenen Bruch. Am 3. Januar 1807 erhielt der Minister mit schroffem Tadel seine Entlassung, wobei der König noch hinzusetzte, daß — wenn Stein nicht willens wäre, sein respektwidriges und gegen den Anstand verstoßendes Benehmen zu ändern — „der Staat keine große Rechnung auf Ihre ferneren Dienste machen kann."

Diese Kabinettsorder Friedrich Wilhelms III., ist teilweise zu erklären durch die Überreizung auf beiden Seiten infolge der Flucht über Königsberg nach Memel, bleibt jedoch eins der peinlichsten Zeugnisse absolutistischer Überheblichkeit gegenüber dem „Untertanen“, peinlich vor allem deshalb, weil im Purpur sich die Mittelmäßigkeit verbarg und der also Abgekanzelte diesmal sowohl sachlich als auch moralisch das Recht auf seiner Seite hatte.

Übergang zur Konstitutionellen Regierungsform

Ohne einen förmlichen Abschied gehalten zu haben, kehrte Stein dorthin zurück, woher er gekommen war: nach Nassau. Aber er war doch nicht mehr jener Reichsritter, der einmal vom Stammschloß aus nach Göttingen gezogen war. Er war inzwischen zum deutschen Patrioten emporgewachsen, wurde es in dieser Notzeit von Tag zu Tag mehr und fühlte sich als solcher trotz aller Kränkungen an Preußen als den politisch wichtigsten Teil Deutschlands gebunden. So setzte er sich hin und verfaßte in sorgfältiger Überlegung — halb Staatstheoretiker, halb Praktiker, wie es seine Art war — die „Nassauer Denkschrift“, in der er erst einmal sich selbst und dann auch den Gesinnungsgenossen klarlegte, was geschehen müsse, um den geborstenen Staat Friedrich des Großen wiederaufzurichten.

Diese Denkschrift, die nach menschlichem Ermessen dazu bestimmt war, auf unbestimmte Zeit im Schreibtisch liegen zu bleiben, ist — und das ist wohl die seltsamste Wendung in Steins Leben — in Kürze zum Konzept für den leitenden Minister geworden. Diese Wendung erfolgte, da Hardenberg wegen seiner russischen Politik Napoleon nicht mehr genehm war und deshalb vom König geopfert wurde. Hardenberg empfahl Stein; Friedrich Wilhelm setzte sich über das ein halbes Jahr vorher gefällte absprechende Llrteil hinweg und berief den in seinem Stammschloß Abgekapselten. Stein setzte sich seinerseits über die erlittene Kränkung, selbst über die Bedenken gegen sich selbst hinweg und diktierte seiner Frau vom Krankenbett aus: „In diesem Augenblick des allgemeinen Unglücks wäre es sehr unmoralisch, die eigene Persönlichkeit in Anrechnung zu bringen — umso mehr als Ew. Kgl. Majestät selbst einen so hohen Beweis von Standhaftigkeit geben." Sehr unmoralisch: dieses Wort in Steins Mund ist überaus gewichtig. Die Lage mußte so schlimm werden, daß es für ihn unmora-'lisch wurde, die Macht nicht zu ergreifen.

Wahrhaft grotesk ist, daß bei Steins Ernennung auch die Empfehlung Napoleons in die Waagschale gefallen war. Denn dieser glaubte, daß der neue Minister sich seinen Absichten gefügig zeigen werde. In dieser falschen Auffassung konnten ihn die nächsten Monate noch bestärken; Stein gab sich nämlich der verfehlten Hoffnung hin, die Härte der französischen Besetzung durch Bezahlung der geforderten Kontributionen lockern und dadurch womöglich die Räumung herbeiführen zu können. Er dachte sich in den Geist Napoleons hinein, nahm an, daß ein total ausgesogenes Preußen gegen dessen Interessen sei, ein bei einigen Kräften gehaltenes ihm als Bundesgenosse erwünscht sein müsse. Stein machte Angebote, erzielte Scheinerfolge, sah sich enttäuscht und mußte sich schließlich eingestehen, daß seine außenpolitische Rechnung falsch gewesen war. Er erwog deshalb im Sommer 1808, als der Widerstand Spaniens allen besetzten Ländern Mut machte, eine antifranzösische Wendung der preußischen Politik.

Es handelt sich hier um zwei in sich verschränkte Mißverständnisse, die zu den seltsamsten der Weltgeschichte gehören. Stein war niemals ein Werkzeug, erst recht keines in der Hand eines ausländischen Eroberers, und Napoleon richtete sein Kalkül nach ganz anderen Erwägungen ein, als Stein sie ihm unterlegte. Das Mißverständnis war unausbleiblich, weil Stein aus einer noch vor kurzem festgefügten, jetzt aber durcheinander geratenen Welt stammte, Napoleon dagegen aus einer revolutionären, erst von ihm gebändigten, die sich nur mit machiavellistischen Methoden zusammenhalten ließ — nach Stein: weil der Kaiser ein Verächter der Idee war, der das Chaos im Kopf trug.

Trotz nutzloser Vergeudung von Zeit und Arbeitskraft in diesen Verhandlungen trieb der Minister die Reform voran.

Seinen dem König suspekten Gedanken, die Minister zu einem verantwortlichen Gremium zusammenzuschließen, stellte Stein zunächst zurück. Er hielt sich an die von Hardenberg geschaffene Lösung, daß ihm als leitendem Minister die Kabinettssekretäre unterstellt waren, daß also er die laufenden Angelegenheiten an den König heranbrachte und nicht sie, daß er anderseits den Immediatvorträgen der übrigen Minister als deren Vorgesetzter beiwohnte. So war Steins Ideal nicht verwirklicht, aber es war doch gesichert, daß die Leitung aller Angelegenheiten in seiner Hand blieb.

Das mutet — modern gesprochen — wie die Umstellung einiger Weichen vor dem Bahnhof an, so daß die Züge anders einliefen. Aber im Endeffekt führte das zwangsläufig schließlich doch zu einem Kollegium aus verantwortlichen Ministern, ohne deren Gegenzeichnung der König keine Rechtsakte in Kraft setzen konnte, also zum Übergang von der absoluten Monarchie zur konstitutionellen Regierungsform.

Ergänzt wurde — um im Bilde zu bleiben — die Umstellung der Weichen durch eine straffere Streckenführung hinaus in die Provinzen. Es gab jetzt nur noch sachkundig gegliederte Ressortministerien, auf die die Geschäfte nach rationellen Überlegungen aufgeteilt waren. Dem Staate auch das erforderliche Widerlager zu verschaffen, d. h. die Mitwirkung der Stände zu sichern und König und Parlament durch eine Verfassung zu verklammern, ist Stein dagegen nicht mehr beschieden gewesen. Ja, die preußische Regierung hat sich erst unter dem Druck der Revolution von 1847/48 zu den erforderlichen Konzessionen bereit gefunden. Wie viel besser wäre Preußen und — falls dieses Vorbild sich bewährt hätte — auch Deutschland gefahren, wenn Steins so-genannte Verwaltungsreform, die in Wirklichkeit eine leider fragmentarisch gebliebene Regierungsreform war, gleich in einem Zuge zu Ende geführt worden wäre!

Wir brauchen die übrigen Reformgesetze nicht aufzuzählen; denn jeder kennt sie, jeder weiß, daß wir noch heute von ihren Früchten zehren. Auch auf die genau untersuchte Frage ist nicht einzugehen, welche Gedanken von Stein selbst und welche von seinen Mitarbeitern stammten, wie weit die Gesetze bereits vorbereitet waren und von Stein nur unterzeichnet wurden, wieviel Teilreformen — wie z. B. auf dem Gebiet der Bauernbefreiung — den von ihm ausgelösten Maß-nahmen bereits vorgearbeitet hatten. Denn vor der Geschichte trägt nur der, der das Neue in Kraft setzt, die Verantwortung; er ist es, der in ihr gepriesen oder von ihr verdammt wird. Erst recht nicht können wir gleichfalls die viel erörterte Frage anschneiden, ob die Steinschen Reformen besser anders in Kraft gesetzt worden wären, ob sie in der Folgezeit verwässert wurden oder schließlich zu nicht vorher berechneten ungünstigen Ergebnissen führten — sie wäre im Rahmen der preußischen Geschichte zu erörtern, denn sie greift über das Problem „Stein“ weit hinaus.

Statt darauf einzugehen, was aus den befreiten Bauern, was aus den mit Selbstverwaltung ausgestatteten Städten wurde, was die — nicht von Stein, sondern von Gesinnungsgenossen im Heer bewirkte, aber von seinen Maßnahmen garnicht zu trennende — Heeresreform bedeutete, stellen wir fest, was in Steins Ministerzeit Stein bewirkt oder doch eingeleitet war: das Vaterland nicht mehr verteidigt durch Gezogene und Angeworbene, sondern durch alle, die Adligen und die Gebildeten eingeschlossen; die Bewohner der Städte nicht mehr gelenkt von einer ihnen vorgesetzten Obrigkeit, sondern selbst verantwortlich für das Gedeihen ihrer Gemeinwesen, beteiligt bei der Bestallung ihrer städtischen Beamten; die Bewohner des flachen Landes alle frei bis zum letzten Kätner und — zunächst erst nur dem Prinzip nach — die bisher geleisteten Dienste ablösbar, die Möglichkeit geschaffen, daß der Hof gewechselt, Land gekauft oder verkauft werden konnte. Das hieß, um Stein selbst anzuführen: Der unerschütterliche Pfeiler jedes Thrones, der Wille freier Menschen war begründet.

Das alles bewirkte der Minister, der sich 1804 noch selbst für ungeeignet erklärt, und den der König erst vor wenigen Monaten mit grobem Tadel davon gejagt hatte. Jetzt besaß er Vollmacht zu handeln, und er handelte so schnell, so intensiv wie noch nie ein preußischer Minister vor ihm und bis zu Bismarck auch keiner nach ihm.

Was mußte alles ineinander greifen, damit diese einmalige Konstellation zusammentraf: die politische Lage, die die altfeudalen Gegenkräfte lahmgelegt hatte und die Friedrich Wilhelm III. zwang, zu Stein als dem letzten sich bietenden Halt zu greifen, die geistige Situation, die die Ansichten, vor allem die Gesinnung des Reformkreises geprägt hatte, und nicht zuletzt die Wandlung in Stein selbst, der — von außen gezwungen — jetzt über sich hinauswuchs und der der einmaligen, ihm vom Schicksal angebotenen Chance in großartiger Weise entsprach. Der Reichsritter mit seinen beiden Dörfern, der Ressort-minister mit seinen gediegenen Fachkenntnissen — und jetzt der für kurze Zeit den Ausschlag gebende Staatsmann: gleichsam ein dritter Stein. Jedoch blieben die beiden anderen in diesem eingeschlossen. Denn wenn Stein nicht der seiner selbst sichere, zum Führen geborene Reichsfreiherr gewesen wäre, hätte er nicht so viel Respekt und Vertrauen um sich verbreitet, so leiten können, und wenn er nicht die lange Beamtenlaufbahn durchmessen hätte, würde er sich in dem Wust der Vorschläge und Gegenvorschläge nicht mit solcher Sicherheit zurechtgefunden haben. Dazu aber gehörte auch die Denkarbeit seit der Studienzeit; denn sie hatte vor Stein ein einfaches, festes, klares Ziel gerückt, das es zu erreichen galt — er trug gleichsam einen auch im Sturm nicht versagenden Kompaß in der Tasche. Nicht zuletzt aber war es das sittliche Erbe des Elternhauses, das jetzt auf die Probe gestellt wurde und sich imponierend bewährte: Preußen gedemütigt wie noch nie, zum großen Teil besetzt, ringsum Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, im Zentrum des Geschehens jedoch Stein aufrecht, unerschüttert, trotz aller Demütigungen voll Glauben an die Kraft des Guten und daher voll Glauben an die Zukunft.

Von Napoleon geächtet

Im November 1808, also nach einem Jahr und 41/2 Monaten, beendete eben der, der Stein den Weg ins Amt geebnet hatte, seine Tätigkeit als leitender Minister: Napoleon. Da den Franzosen ein Brief in die Hände fiel, der Steins nunmehrige Einstellung erkennen ließ, verlangte der Kaiser die Entlassung des Ministers, und der König fügte sich. Der Korse hatte also einerseits Stein die Chance zugespielt, daß er sich einmal in seinem Leben auszuwirken vermochte; anderseits war er es auch, der veranlaßte, daß Stein sein Werk nicht zu Ende führen konnte.

Stein durfte sich nicht einmal mehr als Privatmann in Preußen aufhalten. Von Napoleon geächtet, lebte er als Flüchtling auf österreichischem Boden, geplagt durch Krankheit, in berechtigter Sorge um seine Besitzungen und ohne Einwirkung auf den Gang der Dinge. Manch einer würde sich vor Wut und Verzweiflung den Kopf eingerannt haben: 161/2 Monate die Hand am Hebel, 161/2 Monate lang die Möglichkeit nachzuholen, was die letzte Generation versäumt hatte, 161/2 Monate dem zögernden König ein Gesetz nach dem anderen abgezwungen, um aus dem ihm zum Vaterland gewordenen Preußen einen modernen Staat zu machen, einen die Untertanen zu Staatsbürgern erhebenden, die Menschenwürde garantierenden, das Gute aus der deutschen Vergangenheit neu belebenden Staat — und nun außer Landes getrieben, von der österreichischen Polizei mit perfektem Raffinement bespitzelt.

Vor allem: nie ist es Stein vergönnt gewesen, wieder die Hand an den Hebel zu legen — nie wieder in einem Leben, das 73 Jahre währen sollte. Das ist vielleicht das Seltsamste an Steins Biographie, daß dieses Leben sich in weniger als anderthalb Jahren konzentrierte — in einer Zeitspanne, die trotzdem ausreicht, daß wir Stein noch heute feiern und ehren.

Einen kurzen Augenblick sah es so aus, wie wenn Stein noch einmal eine wesentliche Rolle, wenn auch nicht die Hauptrolle übernehmen dürfte. 1812 berief ihn der Zar nach Rußland, und 1813 ging er in dessen Auftrag nach Königsberg, wo er mit Yorck die ostpreußischen Stände zur Erhebung antrieb. In Breslau trat er erneut vor seinen König, diesmal in der Funktion eines russischen Unterhändlers. Welche innere Sicherheit muß dazu gehört haben, um in dem zweimal Davon-gejagten kein Ressentiment hochkommen zu lassen und diese seltsame Rolle zur Zufriedenheit beider Monarchen zu Ende zu führen! Das ist einer der Augenblicke, in denen Stein seine die Selbstsicherheit verbürgende Abstammung zum Guten ausschlug. Dann trat er an die Spitze des Zentralverwaltungsrats, dem die Napoleon entrissenen Gebiete bis zur Wiedereinsetzung der ehemaligen Regenten unterstellt wurden — wir würden heute von einem „Hohen Kommissar für die befreiten Gebiete“ sprechen. Aber die Ereignisse überstürzten sich: Im Nu war ganz Deutschland befreit, und schon waren sie alle wieder da, die einst regiert hatten und nun wieder regieren durften, nach Stein einst „Amtsmänner des Kaisers“, aber — auch dies sein Wort — zu „ 36 kleinen Despoten“ geworden. Der Zentralverwaltungsrat löste sich sang-und klanglos auf, und Stein hatte nichts mehr zu tun.

Doch tritt nunmehr ein positives Ergebnis der letzten Jahre heraus. Stein war mittlerweile zum Inbegriff der „Patrioten“ geworden: eine Bezeichnung, bei der im 18. Jahrhundert noch der Ton auf der uneigennützigen Betätigung für ein Gemeinwesen — mochte es groß oder klein sein — gelegen'hatte. Durch Unterdrückung und Befreiung der deutschen Lande war jetzt „patria“ zu einer erlebten Realität, zu „Vaterland“ geworden. Als Patriot in diesem vertieften und erweiterten Sinne war Stein eine öffentliche Macht, an die sich die Gesinnungsgenossen anlehnten, von der die Geister zweiten und dritten Ranges zehrten, eine Macht, die durch ihr Beispiel erzieherisch auf die Jugend ausstrahlte. Diese Wirkung Steins ist unmeßbar, war auch nicht mit seinem Tode beendet.

Ein Vorbild

Worauf beruht diese Geltung? Nicht wie bei Arndt und Görres auf zündenden Schriften, nicht wie bei Blücher auf dem Ruhm der Schlachfelder und einem den gemeinen Mann ansprechenden Wesen, auch nur zum Teil auf den Reformen, die Stein eingeleitet hatte. Das Wesentliche, das ihm Hochachtung und Bewunderung eintrug, war der lautere, eindeutige, über allen Eigennutz, über alle Intrigen erhabene, keiner Partei verschriebene Charakter, dieser im Glück und Unglück, in Zeiten der Macht und der Ungnade stets gleiche, männlich ausgewogene Charakter Steins, der im tieferen Sinne berechtigt war, sich „Freiherr“ zu nennen. Denn mit den Worten „frei“ und „Herr“ ist das Wesentliche seines Inneren gefaßt, insofern man „Herr“ im Sinne des mittelalterlichen Lehnsherrn begreift: der auf Grund seiner Überordnung verantwortlich für alle ihm Untergebenen wirkende „Dominus“, der diesen stets ein Vorbild zu bieten hat.

Im Hinblick auf diese Auswirkung darf man sagen, daß Stein auch noch dann Geschichte machte, als wendigere, daher geschicktere, daher erfolgreichere Diplomaten die Führung der Geschäfte übernommen hatten. In deren Hand fiel die Entscheidung über die Vorschläge, die Stein vor und während des Wiener Kongresses machte, um eine Reichs-reform herbeizuführen. Stein nahm Österreich und Preußen als gegebene Faktoren hin, wollte aber die Mittel-und Kleinstaaten zu einem dritten Faktor neben den beiden Vormächten zusammenfügen, der mit ihnen zusammen das Reich binden sollte. Dagegen stemmten sich natürlich die Betroffenen, für die der seit 1648 geltende Zustand sakrosankt war; dieses Ziel war aber auch für Hardenberg und Metternich nicht erstrebenswert, da man nicht vorauszusehen vermochte, ob dieser Faktor nicht eines Tages eigene Politik machte oder die eine der Vor-mächte schwächte, indem er die andere stützte.

So erlebte die Welt das Schauspiel, das Stein zwar während des Kongresses in Wien weilte, aber nicht in amtlicher Eigenschaft, sondern nur als Berater des Zaren, über dessen Ideen die Diplomatie hinwegging.

Auch auf die weitere Geschichte der Reichseinigung sind Steins Vorschläge ohne Wirkung geblieben; seinem Grundgedanken hat die Geschichte jedoch recht gegeben, und der lautete — so steht es in einem seiner Briefe der Befreiungszeit: „Ich kenne nur ein Vaterland, das heißt Deutschland“.

Ein Angebot, nach dem Kriege in österreichische Dienste zu treten — ob es ganz ernst gemeint war, ist zweifelhaft —, lehnte Stein aus Loyalität gegen seine Wahlheimat ab; aber auch die preußische Monarchie hatte in den 16 Jahren, die Stein noch zu leben hatte, kein ausfüllendes Amt mehr für ihn. Denn aus Hardenberg, den Stein früher als Mitstreiter geachtet hatte, war jetzt der Rivale geworden, der keinen Carl von Stein neben sich brauchen konnte.

Bismarck saß nur halb so lange im Sachsenwald und verzehrte sich, Blitze schleudernd, Galle verspritzend, mit Hilfe von Zeitungsartikeln und Reden Einfluß auf die Politik suchend und im Diktieren seiner „Gedanken und Erinnerungen“ posthume Rache an denen nehmend, die sich ihm in den Weg gestellt und ihn gestürzt hatten. Stein dagegen, dem an sich Haß und Verachten gleichfalls wohl vertraut waren, aber die Monarchie doch noch höher stand als Bismarck, reagierte ganz anders. Er zeichnete in den Jahren erzwungener Ruhe sein Leben in beamtenmäßig abgewogener, jedes ungerechte Wort meidender Art auf und auch das nur, weil der Kronprinz von Bayern ihn darum gebeten hatte. Das Konzept wurde 18 55 von Pertz bekannt gemacht, die Reinschrift erst 1954 aufgefunden. Sie läßt erkennen, wie Stein persönliche Erwägungen der ersten Niederschrift noch gedämpft hat, so daß die endgültige Fassung noch blasser ist. Dabei war Stein nie der Gedanke gekommen, daß jemand anders als der Kronprinz von Bayern seine Aufzeichnungen zu Gesicht bekommen würde. Der Versuch, durch Aufrufe und Reden auf die Öffentlichkeit zu wirken, hätte ihm völlig fern gelegen.

In seinen Altersjahren wechselte Stein zwischen dem angestammten Schloß in Nassau und dem von ihm gekauften, als Schloß ausgebauten Kloster Kappenberg in dem ihm lieb gewordenen Westfalen hin und her — eine Dotation anzunehmen, hatte er strikt abelehnt. Hier wirkte er als ein Hausvater alten Schlages, in dessen engstem Kreise es» nach dem Tode der Gattin und der Heirat der beiden Töchter stiller wurde, zu dem aber Vertraute und Fernerstehende kamen, um zu vernehmen, was die alte Exzellenz zu sagen hatte. Ein Hausvater auch in dem Sinne, daß er den Bauern ringsum seine Fürsorge widmete und als Landtagsmarschall von Westfalen für das Gedeihen der Provinz von neuem das Seine tat.

Höchstens im vertrauten Kreise bedachte Stein, die ihm mißfielen, mit den zu seinem Wesen gehörenden Sarkasmen — nicht zuletzt den Herzog von Nassau, dem die beiden Steirischen Dörfer zugefallen waren. Doch verliert dieses Abfinden mit erzwungener Ruhe seine Seltsamkeit, wenn man Steins ganzes Leben überblickt. Er mußte erst in eine Zwangslage geraten, in der er sich zu sagen hatte, daß er unmoralisch handele, wenn er nicht nach der ihm angebotenen Macht greife. Das Schicksal mußte ihn geradezu stoßen, daß er zeige, was in ihm angelegt war — und nach 1815 stieß oder zog ihn sein Schicksal nicht mehr. Napoleon, angeschmiedet auf dem Felsen von Sankt Helena, starb bereits 1821, zehn Jahre vor Stein, und Friedrich Wilhelm III. machte seinem Sohn, der Stein geistig näher stand als seinem Vater, erst 1840 Platz.

Was bedeutet uns Stein?

War also Steins Leben nach 1815 abgeschlossen wie das Karls V. nach dem Eintritt in das Kloster San Geronimo de Yuste? Die Frage ist zusammen mit der Doppelfrage-zu beantworten, was Stein in der Geschichte und was er uns bedeutet.

Historisch gesehen gehört Stein zu den Gestalten, die aus dem Ablauf der Geschichte nicht wegzudenken sind. Das ist eine sehr gewichtige Aussage: Denn bei allzu vielen Gestalten, die heute noch etwas gelten, muß man sich eingestehen, daß neben ihnen Zeitgenossen standen, die das Gleiche ebenso gut zu leisten imstande gewesen wären. Stein gehörte jedoch zu den eindeutig nicht Auswechselbaren, schlechthin Einmaligen. Wäre er nicht zum Zuge gekommen, wäre die Reform stecken geblieben, der Elan der Befreiung nicht in gleicher Weise entfacht worden. Und wenn die Reform auch nicht so weit geführt wurde, wie Stein gehofft hatte, so löste sie doch eine Lawine aus, die zwar anfangs noch aufgehalten wurde, aber schließlich doch alles hinwegfegte, was sich Stein in den Weg gestellt hatte.

Und nun: Was bedeutet uns Stein? Da ist zunächst zu sagen, daß die Wirkung, die er als Charakter bereits auf seine Zeit ausübte, noch andauert und sich hoffentlich auch noch auswirkt, wenn einmal unsere Nachkommen Steins 300. Geburtstag feiern. Denn die Politik ist ein gefährlicher Bereich, in dem die heterogensten Typen zum Erfolg gelangen: Machiavellisten, geschickte Manager, gelegentlich selbst erfolgreiche Hasardeure und dann jene unheimlichen Gestalten, für die Recht und Sitte nichts bedeuten. Sie viele andere, in denen Gut und und Böse gemischt waren, verzeichnet die Geschichte, und deshalb liegt der Kurzschluß nahe, daß Politik-Betreiben ein Geschäft bedeutet, bei dem man sich zwangsläufig die Hände beflecke und allzuviele moralische Skrupel den Erfolg nur schmälern. Deshalb ist es so wichtig, wenn ein Volk beim Rückblick auf seine Geschichte gewahr wird, daß es Männer gegeben hat, die gerade deshalb, nur deshalb Erfolg hatten, weil sie moralisch unangreifbare Charaktere waren. Wo gibt es Männer, die ohne dynastischen Glanz, ohne den Ruhm der Feldschlachten eine solche Autorität gewannen? Sie sind sehr selten — aber es gibt sie! Die Amerikaner besitzen eine solche beispielhafte Gestalt in Abraham Lincoln, wir im Reichsfreiherrn vom Stein — wir, d. h. alle Deutschen;

denn als Charakter ist er der Reichsfreiherr, der nicht nur den Preußen gehört.

Mit dieser Funktion, als moralischer Leuchtturm ein richtungweisendes Licht bis in unsere Zeit und über sie hinaus auszustrahlen, ist Steins Bedeutung für uns noch nicht erschöpft. Er hat uns noch etwas ganz Konkietes mitzuteilen — uns hier diesseits des Eisernen Vorhangs und erst recht den Deutschen auf der anderen Seite, denen die für Stein selbstverständlichen Grundvoraussetzungen staatlichen Lebens vorenthalten werden: Freiheit der politischen Entscheidung, Recht zur Kritik, Sicherung gegen die Allmacht des Staates, Rechtssicherheit, Toleranz, unvoreingenommenes Suchen nach der Erkenntnis. Vermutlich werden sie trotzdem Steinfeiern über sich ergehen lassen müssen. Doch das ist gewiß: würden diese Stein ins Leben zurückrufen, dann träte er unter die Gewalthaber mit einem heiligen Zorn wie Christus unter die Wechsler und Händler im Tempel, weil sie sein geistiges Erbe verschandelt haben. Für uns lautet daher die Losung: möge der Geist Steins wieder Besitz ergreifen können von der Hälfte unseres Vaterlandes, die gegen den Willen der Deutschen hier und drüben von uns abgetrennt ist!

Lind nun noch: Was hat Stein den diesseits der Zwangsgrenze Lebenden heute zu sagen? Man muß, was in den sieben Bände der Briefe, Denkschriften und Aufzeichnungen Steins vereinigt ist, aufmerksam lesen und hinter seinen zeitbestimmten und uns nicht mehr unmittelbar angehenden Ausführungen die Grundsorge aufspüren, die ihn beherrschte. Denn das ist eine Sorge, die auch die unsrige ist und auch unsere Nachkommen beunruhigen wird, weil es hier um eine Grundfrage staatlichen Lebens geht, nämlich um die Verschränkung von Rechten und Pflichten des Staatsbürgers.

In dem kritischen Sommer'1807 hatte Stein die Frage aufgeworfen: „Wie kann der Gemeingeist wiederhergestellt werden?" Für diese Belebung schufen seine Reformen die Voraussetzung, aber sie dünkte ihm ja nicht ausreichend, weil die zu Staatsbürgern erhobenen Untertanen noch nicht voll mitverantwortlich waren. Das schien ihm unerläßlich, und deshalb erklärte er Anfang der zwanziger Jahre: „Gemeingeist wurzelt nur da, wo Teilhabe am Gemeinwesen statthat.“ Waren aber die Zeitnossen würdig und gewillt, im Sinne des Gemeingeistes das zu verwalten, was Stein ihnen zudachte? hinter dem Eindruck der Industrialisierung, der durch die französische Revolution von 1830 ausgelösten Erregung schrieb er kurz vor seinem Tode: „Es reift ein neues Geschlecht heran, es drängt in alle Kanäle des bürgerlichen Lebens, es bildet sich unter dem Einfluß der neuesten Weltgeschichte, der Zeitungen, der politischen Schriften, es fühlt sich in Jugendkraft, Drang zum Handeln. Ehrsucht, Habsucht, Neid unter den verschiedenen Ständen der Nation beseelen es. Religiöse Gegensätze werden durch den Rationalism untergraben."

D. h. in moderne Begriffe übersetzt: zu befürchten ist, daß eine moralische Bindung nach der anderen zerreißt, daß die Individualitäten nivellierender Vermassung zum Opfer fallen, daß „pressure groups“ den Staat ihren Zwecken gefügig zu machen trachten und jede Berufsschicht auf Kosten der anderen einen größeren Anteil am Gesamtsozialprodukt zu ergattern sucht. Das Grauen vor einer solchen Entwicklung paarte sich in Steins Blickfeld mit der Sorge, daß der perfektionierte Staat mit seinen „Burealen", die er gelegentlich „Schreibmaschinen", auch eine Peitsche Gottes für Deutschland nannte, alles von oben dirigieren und schematisieren könne. .

Träte Stein heute unter uns, hier im Westen, so wäre er — daran ist gar kein Zweifel — aus anderem Grunde auch hier entsetzt. Denn er würde gewahr werden, wie weit die Lockerung der in seinerZeit noch vorhandenen Bindungen mittlerweile fortgeschritten ist. Aber das ist ein die ganze Geschichte durchziehender, unaufhaltsamer Prozeß. Da hilft kein Jammern, kein romantisierender Restaurationsversuch, keine „recherche du temps perdu", kein Spitzwegsches Liebäugeln mit der „Guten alten Zeit“. Es kommt vielmehr darauf an, die zerrissenen Bindungen durch neue zu ersetzen und zu verhindern, daß die Menschen wie Sandkörner im Winde hin und her gewirbelt werden. Und glücklicherweise ist ja der Mensch so angelegt, daß er sich in jeder Zeit neue Zusammenschlüsse schafft, die die Mitglieder freiwillig auf sich nehmen, weil sie ihnen nützen, sie ausfüllen, Ersatz für gelockerte Bindungen bieten. In diesem Sinne sind alle geordneten Gruppierungen nützlich, ja nach der von uns erlebten Katastrophe, die ja nicht zuletzt eine Katastrophe für die bestehenden Bindungen bedeutete, mehr als je erforderlich. Doch kommt es darauf an, daß die für die Teilhabe an solchen Zusammenschlüssen selbstverständliche Voraussetzung: Rechten stehen Verpflichtungen gegenüber, auch gegenüber dem Staate gilt, daß man also zu ihm im Steinschen Sinne „patriotisch“ eingestellt ist.

Die nicht an ihre Zeit gebundene Quintessenz dessen, was Stein uns heute zu sagen hat, lautet also:

Der Einzelne poche nicht auf seine durch die fortschreitende Geschichte vermehrten Rechte, sondern erkenne seine Verpflichtung gegenüber dem „Gemeinwesen“ an. Der Mensch darf nicht atomisiert, der Staatsbürger nicht schematisiert werden; aber jeder einzelne muß andererseits bestrebt sein, am „Gemeinwesen" teilzuhaben, um dazu beizutragen, daß der „Gemeingeist“ lebendig bleibe.

Für diese Grundeinstellung gibt es kein würdigeres, lauteres, überzeugenderes Beispiel als den Reichsfreiherrn Carl vom und zum Stein.

Anmerkung 3:

Percy Ernst Schramm, Dr. phil. o. Universitätsprofessor für mittlere und neuere Geschichte in Göttingen; geb. Hamburg 14. 10. 1894. Mitglied Akad. Göttingen, Wien, hist. Kommiss, bayr. Akad.der Wissenschaften.

Fussnoten

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