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Erkenntnistheorethischer und politischer Pragmatismus in der Philosophie Lenins | APuZ 17/1958 | bpb.de

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APuZ 17/1958 Erkenntnistheorethischer und politischer Pragmatismus in der Philosophie Lenins Jugoslawien und die Sowjetunion

Erkenntnistheorethischer und politischer Pragmatismus in der Philosophie Lenins

HANS-JOACHIM LIEBER

Einer der Hauptlehrsätze des dialektischen Materialismus postuliert die unaufhebbare Einheit von Theorie und Praxis. Zweifellos geht dieses Postulat auf Karl Marx zurück, und zwar insbesondere auf die berühmte zweite These über Feuerbach aus dem Jahre 184 5, in der es heißt: „Die Frage, ob dem meHsehlidren Denken gegenständliche Wahrheit zu-kontnre, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, d. h. die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen." Hält man sich nun vordergründig an den Wortlaut dieser Marxschen These, so muß Marx als Repräsentant eines philosophisch-erkenntnistheoretischen Pragmatismus erscheinen. Tatsächlich jedoch ist der von Marx in dieser These behauptete Zusammenhang von Denken und Handeln weit diffiziler und — man darf sagen — idealistischer gefaßt und gedeutet, denn Marx ist gerade hier echter Hegelianer.

Als Schüler Hegels ist ihm eines selbstverständlich: die Idee einer sich in der Identität von Vernunft und Wirklichkeit vollendenden Geschichte Sein Bruch mit Hegel besteht vor allem darin, daß er die Geschichte nicht in dieser Identität schon als erfüllt begreift, sondern unter dem Aspekt einer die Erfüllung erst noch begründenden Veränderung sieht.

Das philosophische Fundament dieses geschichtsrevolutionären Aspektes ist bekanntlich jene anthropologische Konzeption, nach der der wirkliche Mensch der arbeitende Mensch ist und nach der seine eigentliche Wirklichkeit in der sozialen Arbeitswelt besteht. Diese seine eigentliche Wirklichkeit als wahre Wirklichkeit zu finden, ist die geschichtliehe Aufgabe des Menschen. Angesichts der Sozialstruktur der bürgerlich-kapitalistischen Arbeitswelt, in der die Dialektik der Arbeit als Selbstentäußerung und Selbstgewinnung des Menschen durch den Antagonismus der Klassen, durch Ausbeutung und Privateigentum zu einem Verdinglichungs-und Entfremdungszusammenhang erstarrt ist, kann die Selbstverwirklichung, die Emanzipation des Menschen nicht ein Akt bloßer Bewußtheit, sondern muß sie ein Akt aktiv-revolutionärer Gestaltung der sozialen Arbeitswelt sein. Sie ist damit zugleich ein Akt, in dem sich die bisherige Geschichte als Geschichte vollendet und erfüllt. Das Bewußtsein der Geschichte, die Theorie, wird Medium einer Selbst-verständigung der die Wahrheit des Menschen begründenden und findenden sozialrevolutionären Aktion. Im Denken, in der philosophischen Analyse der Geschichte, versichert sich das die Geschichte vollendende revolutionäre Handeln seiner Legitimation aus der Geschichte.

Die Philosophie weist damit jedoch über ihre bisherige Gestalt, als bloße geschichtskontemplative Theorie hinaus; sie vollendet sich als Philosophie in ihrer echten humanen Funktion, indem sie sich als bloße Theorie aufhebt und in der sozialrevolutionären Aktion erfüllt. Diese Gedanken stehen hinter den bekannten Marxschen Worten: „Die Philosophenhaben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.“

Wird von hier aus verständlich, daß die Marxsche These einer notwendigen Einheit von Theorie und Praxis die Theorie nicht nur pragmatisch zum handlungsdienlichen Mittel degradiert, sondern den dialektischen Zusammenhang von Selbstverständnis und Selbstverwirklichung in der Geschichte begrifflich zu fassen sucht, so ist nun weiter daran zu denken, daß nach Marx auf Grund der bestehenden bürgerlichen Sozialstruktur sich nur das Proletariat als zur Erfüllung und Vollendung der Geschichte in Aktion und Bewußtsein befähigt und zugleich berufen erweist. Trägt es auf Grund seiner sozialen Situation die Wahrheit der Geschichte in seiner Existenz als Klasse potentialiter in sich, so ist ihm zugleich in seinem Selbst-und Missionsbewußtsein die Wahrheit garantiert. Lind diese potentielle Wahrheit in sozialer Existenz und Bewußtheit des Proletariats eben verwirklicht sich, indem sich das Proletariat im sozialrevolutionären Akt mit seinem Gegner zugleich selbst vernichtet und in der Gestaltung der kommunistischen Gesellschaft den Menschen zum Menschen befreit.

Zweifellos bildet das Fundament dieser Lehre von Marx der ihn voll und zutiefst erfüllende Glaube, daß die so gekennzeichnete Einheit von Theorie und Praxis, Gedanke und Tat etwas sich spontan im Geschichtsprozeß Durchsetzendes ist, daß das Proletariat geschichtsnotwendig in Aktion und Bewußtheit zu sich selbst und zu seiner über sich als Klasse hinausweisenden Mission finden wird. Damit ist aber nun auch die Stelle bezeichnet, an der Lenin, trotz seines Festhaltens an den geschichtsmissionarischen und sozialrevolutionären Grundsätzen von Marx gerade in bezug auf das Postulat einer Einheit von Theorie und Praxis die Akzente wesentlich anders setzt als Marx.

Die dialektische Einheit von Theorie und Praxis bleibt nicht etwas ursprünglich sich Gestaltendes, sondern wird bei Lenin recht eigentlic zu etwas Gefordertem, zu einer Norm, die durch einen bewußten Willenseinsatz allererst zu aktualisieren, und d. h. herzustellen ist. Seine Worte — aus der Schrift: „Was tun?“ —: „Ohne revolutionäre Theorie kann es keine revolutionäre Bewegung geben“ deuten diese Um-akzentuierung an: die Theorie bleibt nicht Element einer revolutionär-geschichtlichen Selbstverständigung des Proletariats, sondern sie wird zur richtungsweisenden Gestaltungskraft der revolutionären Aktion selbst, zum Instrument der Formierung des Proletariats als revolutionärer Klasse.

Grundlegend hierfür ist Lenins Unterscheidung zwischen dem „spontanen“ und dem „bewußten“ Element in der Gestaltung der Revolution und zwischen dem Proletariat als „Masse der Proletarier“ und dem Proletariat als klassenkampfbewußter, revolutionärer Einheit. Lenin ist soweit Marxist, daß er dem Proletariat auf Grund der geschichtlichen Entwicklungsgesetzlichkeit ein Gravitieren zum Sozialismus hin zuerkennt. Aus eigener Kraft, spontan, gelangt aber das Proletariat nach Lenin immer nur zu einer gewerkschaftlichen Einstellung und Organisation, sein Bewußtsein bleibe reformistisch und tradeunionistisch, im Mittelpunkt des Verhaltens und der politischen Aktion stehe der Kampf um die Verbesserung von Arbeitsund Lohnbedingungen. Insofern als sich dieser Kampf jedoch im Rahmen der bestehenden kapitalistischen Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung abspiele, im angezielten Kompromiß diese Ordnung recht eigentlich sanktioniere, und nicht negiere, stelle das Proletariat auf Grund seiner Lage aus sich heraus zwar eine revolutionäre Potenz, nicht aber schon eine revolutionäre Realität und Macht dar.

Erfolg der Revolution hängt vom Klassenbewusstsein ab

Inhalt dieser Ausgabe

Erfolg und Vollzug der Revolution hängen nämlich nach Lenin gar nicht primär von der Klassenlage, sondern vielmehr von der Klassenbewußtheit ab. Erst in der Einheit einer radikal kämpferischen, die Existenz des politisch-sozialen Gegners total negierenden Klassenbewußtheit formiert sich das Proletariat als revolutionäre Klasse. Ist die Klasse der Proletarier spontan zur Erringung eines solchen, ihre Einheit als Klasse konstituierenden Bewußtseins nicht befähigt, so resultiert daraus die Aufgabe einer breit angelegten Aufklärungsarbeit unter den Massen des Proletariats mit dem Ziel revolutionärer Bewußtseinserhellung.

In der Beantwortung der Frage, wem nun diese für die Revolution notwendige Aufklärungsarbeit als Aufgabe obliegt, entwickelt Lenin seine weithin bekannten Ansichten über Funktion, Charakter und Organisation der bolschewistischen Partei.

Wenn die erste Voraussetzung der Revolution und ihres Erfolges die proletarische Bewußtheit und wenn der Kernpunkt dieser Bewußtheit die Bedingungslosigkeit des Klassenkampfes ist, dann muß die vordringlichste Aufgabe einer proletarischen Partei darin bestehen, aus der Masse der zahlreichen, aber ungegliederten, ausgebeuteten Arbeiter überhaupt erst einmal eine einheitliche Klasse zu bilden, das heißt, das Proletariat zu einer Einheit zu formen. Eben deshalb kann diese Partei auch nicht das ganze Proletariat umfassen, sondern muß in einer kleinen, zentral gelenkten Führungsgruppe bestehen, deren Mitgliedschaft strengen Auswahlprinzipien und einer scharfen Kontrolle ihrer revolutionären Bewußtheit unterliegt. Nur diese zur Führung im revolutionären Kampf berufene Partei kann den Erfolg der Revolution garantieren.

Die Aufgabe einer sozialistischen politischen Partei ist der bedingungslose politische Kampf gegen die herrschende Klasse mit dem Ziel ihrer totalen Vernichtung. Ihr Ziel ist und bleibt also nach Lenin die totale gesellschaftliche Revolution: das Mittel dazu ist der schonungslose Ideologieverdacht, und der zu beschreitende Weg besteht in der Gründung und Organisation einer Partei der Berufsrevolutionäre, die in der Übergangsphase der Diktatur des Proletariats auch zur Führung berufen sei und alles Recht auf ihrer Seite habe. Mit diesen Gedanken hat Lenin dem Werk von Marx entschieden Neues und Eigenes hinzugefügt: die Theorie vom Führungsanspruch und den Führungsaufgaben einer proletarischen Elite.

Es ist hier nicht der Ort, die Differenzierungen dieser Theorie bis zu dem Buch „Staat und Revolution“ und bis zu den programmatischen Äußerungen während der Revolutionszeit, sowie die Bedeutung dieser Theorie für den Vollzug der Revolution, für das Verhältnis zwischen Bolschewiki und Sowjets und für Lenins Vorstellung einer „demokratischen“ Diktatur, eines demokratischen Zentralismus zu erörtern. Für uns handelt es sich um die Konsequenzen, die sich aus der Theorie vom Führungsanspruch einer parteilich organisierten proletarischen Avantgarde für die Lehre einer notwendigen Einheit von Theorie und Praxis ergeben.

Sie bieten sich von selbst an: da die Spontaneität, die Eigengesetzlichkeit des ökonomisch bestimmten Geschichtsprozesses die Revolution zwar vorbestimmt, aber das Proletariat als Gesamtheit der Proletarier auf Grund der sich nicht ebenso spontan herstellenden Einheit von sozialem Sein und Bewußtsein nur virtuell eine revolutionäre Kraft darstellen, wird das Bewußtsein für Lenin zum primären Gestaltungsund Vollzugselement der Revolution. Auch für diese These kann sich Lenin formal noch auf Marx berufen, hatte doch dieser davon gesprochen, daß das Bewußtsein selbst zur materiellen Gewalt wird, wenn es die Menschen ergreift. Aber gerade dieser Marxsche Satz wird im Denken Lenins zur Grundlage der Legitimation des Führungsanspruches der proletarischen Avantgarde, denn das Ergreifen der Massen durch die revolutionäre Bewußtheit ist eben nicht spontan sich herstellende Identität von Aktion und Reflexion, sondern es ist Ergebnis einer zielgerichteten politisdi-sozialen Aufklärung der Massen. Insofern als diese Aufklärung für Lenin nicht Selbstaufklärung des Proletariats sein kann, fällt sie als Aufgabe zielbewußter und gesteuerter Aktion jener besonders revolutionsbewußten Avantgarde des Proletariats anheim, in der sich der geschichtlich-revolutionäre Auftrag des Proletariats und sein Bewußtsein gleichsam inkarniert.

Das aber bedeutet: von einer ursprünglichen Identität von Bewußtsein und Aktion kann nach Lenin eigentlich nur in bezug auf die proletarische Avantgarde, d. h. aber konkret: in bezug auf die Partei der Bolschewiki gesprochen werden. In den Händen der Partei verwandelt sich demzufolge die Funktion der Theorie, sie wird zum Instrument einer steten revolutionären Aktivierung der Massen. Ohne die Partei gelangt das Proletariat weder zum Bewußtsein seiner historischen Mission, noch zu einer diese Mission erfüllenden Aktion. Es ist die Partei, die die geschichtlich notwendige und geforderte Einheit von Theorie und Praxis recht eigentlich erst schafft, ohne sie und ihre Aktivität ist diese Einheit im umfassenden Sinne nicht möglich. So findet das Proletariat eben nur durch die Partei in Bewußtsein und Aktion zu seiner eigenen geschichtlichen Wahrheit.

Es mag von hier aus verständlich werden, wieso die Lehre einer notwendigen Einheit von Theorie und Praxis bei Lenin in der bekannten Forderung einer bedingungslosen Parteilichkeit des Denkens kulminiert, und warum sich für Lenin Parteilichkeit und Wahrheit das Bewußtsein nicht ausschließen, sondern im Gegenteil gegenseitig bedingen, ja sogar identisch sind. Manifestiert sich die Wahrheit der Geschichte auf Grund der skizzierten Gedankengänge in der theoretisch profilierten Aktion der Partei, so ist die Bindung des Bewußtseins an die Partei mit logischer Konsequenz der einzige Garant einer Wahrheit des sozialen Seins und Bewußtseins des zur Erfüllung der Geschichte und seiner eigenen Aufhebung berufenen Proletariats. Ich spreche nicht zuletzt deshalb von einem berufenen Pragmatismus in der Philosophie Lenins, weil er auf die gekennzeichnete Weise die philosophische Theorie der Geschichts-und Sozialentwicklung zum dienstbaren Instrument einer Legitimierung von Führungs-und Herrschaftsansprüchen seiner eigenen Partei um-und ausgeformt hat. Die Einheit von Theorie und Praxis wird selbst zur Theorie politisch-pragmatischer Observanz, die ihren Hütern und Gestaltern in der geforderten Parteilichkeit des Denkens den eigenen Herrschaftsanspruch ideologisch sichert und sich in dieser Sicherung ihrer Wahrheit auch politisch vergewissert.

Doch kann bei den bisher dargestellten politisch-pragmatischen Elementen in Lenins Denken von einer umfassenden pragmatistischen Philosophie, und d. h. vor allem Erkenntnistheorie, noch keine Rede sein. Das Denken, das in pragmatischer Weise zum Instrument der Legitimierung politischen Wollens wird, ist das sozialphilosophische Selbstverständnis und Selbstbewußtsein einer revolutionären Gruppe.

Postulat einer Einheit von Theorie und Praxis

Dennoch ist Lenin in seinem Denken bei einer pragmatisch-politischen Philosophie der Geschichte und Gesellschaft nicht stehengeblieben, sondern hat sie durch eine umfassende Ontologie und Erkenntnistheorie, den eigentlichen dialektischen Materialismus, überhöht. Das im Mittelpunkt seines Denkens stehende Postulat einer Einheit von Theorie und Praxis läßt es jedoch nicht zu, diesen Sachverhalt lediglich als zufällige, äußerliche oder akzidentelle Bestimmung seiner geistig-politischen Existenz zu begreifen. Der Interpret'ist vielmehr gerade da gezwungen, hintergründige Motivationen aufzuspüren, die es gestatten, den inneren Zusammenhang von Theorie und Praxis der Politik, Ontologie und Erkenntnistheorie zu begreifen.

Ein solches Begreifen der strukturellen Verbundenheit von Politik. Ontologie und Erkenntnistheorie ist dabei von Lenin selbst gefordert, steht es für ihn doch unbezweifelbar fest, daß nur die umfassende Philosophie des dialektischen Materialismus die Wahrheit politisch-revolutionärer Selbstverständigung und Aktion garantiert. Lenin erweist sich damit als ein getreuer Anhänger der philosophischen Versuche Engels’, die ja auch darin gipfelten, den historischen Materialismus Marxens durch eine ontologische und erkenntnistheoretische Verallgemeinerung umfassend philosophisch zu fundamentieren.

Im Mittelpunkt dieser Versuche Engels stand dabei bekanntlich das Bemühen, die Dialektik — verstanden als Kampf der Gegensätze — als Gestaltungsprinzip alles Seienden und zumal auch der Natur nachzuweisen, und die These einer Abhängigkeit des Bewußtseins vom Sein zu einem übergreifenden sowohl ontologischen als auch erkenntnistheoretischen Postulat auszuweiten. Konkret war er dabei auf die Problemstellungen eines an den Naturwissenschaften seiner Zeit orientierten Materialismus hingewiesen. Er mußte die Thesen seines dialektischen Materialismus als mit den Ergebnissen naturwissenschaftlicher Erkenntnis vereinbar nicht zuletzt deshalb zu beweisen suchen, weil Eugen Dühring gerade diese Möglichkeit bestritten hatte und damit nicht ohne Einfluß auf die Führung der Berliner Sozialdemokratie geblieben war. Engels war die Lösung dieser Aufgabe — wenn auch unvollkommen — cndurch gelungen, daß er zunächst eine nicht ontologischmaterialistische, sondern erkenntnistheoretisch-realistische Definition der Materie vorlegt, diese dann jedoch Zug um Zug mit Bestimmungen einer dialektisch-materialistischen Ontologie anreichert und schließlich Forschungsergebnisse der zeitgenössischen Naturwissenschaften gemäß den vorgegebenen Deutungsschematismen seines dialektischen Materialismus interpretiert.

Lenin ist durch sein rückhaltloses Bekenntnis zur geistigen Welt von Marx und Engels, zum historischen und dialektischen Materialismus, zwar an die von Engels vorgegebenen ontologischen und erkenntnistheoretischen Postulate gebunden, er kann sich jedoch mit ihrer einfachen Annahme oder Übernahme nicht begnügen. Die Problemsituation der Naturwissenschaften hat sich gegenüber den Zeiten der Englsschen Konzeptionen nicht nur radikal geändert, sondern dahin zugespitzt, daß die Naturwissenschaftler selbst im Zuge der Entdeckung der energetischen Struktur des Atoms an der Gültigkeit des Materiebegriffes zu zweifeln begannen Die These vom „Verschwinden der Materie" steht nicht zufällig im Mittelpunkt der naturwissenschaftlich-philosophischen Diskussion seiner Zeit.

Indem sich dieses politisch-revolutionäre Selbstverständnis vermöge der behaupteten Einheit von Theorie und Praxis einerseits als zielgebendes Element der Praxis begreift, andererseits sich seine Wahrheit von eben dieser Praxis aus beweist, ist der Sanktionierungszusammenhang des politischen Pragmatismus eigentlich in sich geschlossen. Die Dialektik von Rechtfertigung der Aktion aus der Theorie und der Rechtfertigung der Theorie aus der Aktion, wie sie in Lenins politischer Philosophie vorliegt, ist eben wegen dieser Geschlossenheit im Grund einer weiteren philosophischen Fundamentierung nicht bedürftig.

Die Deutschen Mach und Avenarius zogen in ihrer empiriokritizisti-sehen Philosophie daraus die Konsequenz, indem sie behaupteten: die Welt ist dem erkennenden Menschen zunächst und unmittelbar in der Empfindung gegeben. Alle Begriffe, mit denen wir uns gemeinhin verständigen, sind nichts anderes als Zeichen für solche unmittelbaren Empfindungen und Empfindungszusammenhänge. Sie sind gleichsam nichts anderes als gedankliche Symbole, die der Verständigung unter den Menschen dienen und diese Verständigung erleichtern, die aber in der Wirklichkeit selbst keine Entsprechung haben.

Lind man behauptet nun, daß die Ausbildung solcher Begriffe und die Formulierung von Naturgesetzen im Leben wie in der Wissenschaft ein Prozeß sei, der darin seine Grundlage habe, daß der Mensch sich um eine Ersparnis seiner Gehirntätigkeit, um eine Ökonomie des Denkens bemühe. Wenn also schon alle Erkenntnis sich auf Empfindungen und Empfindungszusammenhänge zurückführen lasse, so sei doch die Begriffsbildung für den Menschen notwendig und seine eigentliche Erkenntnis-leistung. Denn Erkennen ist eigentlich nichts anderes als Ordnung der Empfindungen mit den Mitteln des Begriffes zum Zwecke einer möglichst einfachen Verständigung und einer möglichst großen Ersparnis der Geistestätigkeit. Die Leistung des wissenschaftlichen Denkens also beruht vor allem in einer Vereinfachung der Verständigung zwischen den Menschen über ihre Empfindungsinhalte.

Wie immer man die Leistung dieser Philosophie für die Lösung der naturwissenschaftlichen Problematik heute einschätzen mag, es ist nicht zu verkennen, daß der in ihr enthaltene Nominalismus jeder materialistischen Ontologie eigentlich den Boden entzog. Dennoch wäre der Kampf Lenins gegen diese Philosophie in der Schärfe, in der er von ihm geführt wurde, kaum verständlich, wenn nicht der Empiriokritizismus zum philosophischen Standort auch einer Gruppe von Bolschewik! geworden wäre, die unter Führung von Bogdanow stand, und wenn nicht gerade diese Gruppe von den Grundlagen dieser Philosophie aus auch zu einer von Lenin unterschiedenen Revolutionstheorie gelangt wäre.

Bogdanow greift den Empiriokritizismus auf und formt ihn dahingehend aus, daß Erkenntnis nicht anderes sei, als Organisation von Empfindungselementen. Insofern jedoch als uns die Wirklichkeit nur in Empfindungen vermittelt ist, ist sie als erkannte Wirklichkeit Produkt dieser organisierenden Tätigkeit. Ihre Objektivität gründet in der sozialen Übereinkunft über die Begriffe als Organisationsprinzipien. Philosophie als Lehre von der Wirklichkeit und ihrer Erkenntnis wird demzufolge zur Organisationswissenschaft, zur Tektologie. Lind daraus ergeben sich dann auch nach Bogdanow Konsequenzen für die politisch-revolutionäre Theorie.

Wenn Marx gefordert hatte, die Philosophie habe die Welt zu verändern, so glaubt Bogdanow dieser Forderung mit seiner Organisationswissenschaft gerecht zu werden. Wie das Denken ein Organisieren von Erfahrungselementen ist, so ist überhaupt jede menschliche Tätigkeit schlechthin eine organisierende. Der Sinn jeder Organisation liegt in der Herstellung von Gleichgewichtszuständen zwischen den verschiedensten gegeneinander gerichteten Kräften. Jedes einmal errungene Gleichgewicht jedoch kann immer wieder erneut dadurch gestört werden, daß Kräfte auftreten, die in dem bisherigen Gleichgewichtszustand nicht gebunden waren. In diesem Sinne wird ihm dann der Kampf um das Gleichgewicht nicht nur zum obersten Prinzip menschlich organisieren-der Tätigkeit, sondern auch zum Entwicklungsgesetz der Welt und der Geschichte. Dialektik ist nach Bogdanow ein Kampf um die Aufhebung von Gleichgewichtsstörungen, die sich aus dem Gegeneinander verschieden gerichteter Kräfte ergeben.

Das Bewußtsein ist dann nicht nur eine ideologische Widerspiegelung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern es ist — und das ergibt sich aus der Bedeutung, die Bogdanow der organisatorischen Erfahrung für die Gesellschaftsgestaltung zuerkennt — selbst die entscheidende gesellschaftsgestaltende Kraft. Das hat dann auch ganz bestimmte Konsequenzen für seine Gesellschafts-und Revolutionstheorie. Für Bogdanow ist die Aufspaltung der Gesellschaft in Klassen nicht primär das Ergebnis des unterschiedlichen Besitzes an Produktionsmitteln, sondern des unterschiedlichen Besitzes an organisatorischer Erfahrung. Die herrschende Klasse ist für ihn die Klasse der Produktions-Organisatoren. Und der Weg zur Aufhebung der sozialen Klassengegensätze, zur Herstellung des sozialen Gleichgewichtes, ist daher auch ein anderer als Marx meinte. Es kommt nicht so sehr auf die Sozialisierung des Eigentums an, auf die Überführung der Produktionsmittel in die Hand der Arbeiterklasse, sondern es kommt auf eine Sozialisierung der organisatorischen Erfahrung an, darauf also, daß das Proletariat zum Erwerb einer solchen Erfahrung befähigt wird und an den Schlüsselstellungen teilgewinnt, von denen aus die Gesellschaft organisiert wird Hieraus ist ersichtlich, wie Bogdanow von einer neuen philosophischen Grundlegung des Marxismus aus auch zu einer abweichenden Revolutionstheorie gelangt, die nicht mehr entschieden an dem Gedanken des bedingungslosen Klassenkampfes festhält.

Diese hier nur skizzierte, durch eine vom dialektischen Materialismus abweichende Philosophie begründete Revolutionstheorie Bogdanows ist der Schlüssel zum Verständnis von Lenins Bemühungen um die Grundlegung des dialektischen Materialismus angesichts einer gegenüber Engels veränderten naturwissenschaftlichen Problemsituation. Es erweist sich nämlich, daß politische Notwendigkeiten, daß Postulate der Revolutionstheorie die Ausarbeitung des dialektischen Materialismus durch Lenin begründen. Der philosophische Gedanke, der in dem so entstehenden Werk Lenins seine Darstellung findet, entfaltet sich nicht genuin an einer philosophischen Problemsituation, die ihn zur kritischen Bewährung aufruft. Er stellt sich vielmehr pragmatisch in den Dienst eines revolutionären Wollens, das in seiner Tendenz und Legitimierung sich als durch die veränderte naturwissenschaftlich-philosophische Problem-situation gefährdet ansieht.

Die Philosophie hat sich daher auch hier, d. h. in der Behandlung einer neuen, nicht unmittelbar politischen, sondern naturwissenschaftlich geprägten Problemsituation — gemäß der postulierten Einheit von Theorie und Praxis — als Element einer Gestaltung und Legitimierung der politisch-revolutionären Praxis zu bewähren. Und diese Bewährung, wie sie sich im Werk von Lenin abzeichnet, weist dabei nicht zufällig in die Richtung der Konstituierung einer Erkenntnistheorie, sind es doch Resultate der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, die die neue philosophische Problemsituation begründen.

Versuch einer philosophischen Sicherung des Materialismus

Lenins Versuch einer philosophischen Sicherung des Materialismus nämlich gipfelt primär gar nicht in einem Materialismus als Ontologie, sondern in einem Realismus als Erkenntnistheorie. In Verkennung der Tatsache, daß die von jedem philosophischen Materialismus im strengen Sinne behauptete Abhängigkeit des Bewußtseins vom Sein ein ontologisches Postulat ist, argumentiert Lenin erkenntnisrealistisch, und behauptet: der Begriff der Materie meint lediglich den Sachverhalt, daß es eine vom Bewußtsein unabhängig existierende Außenwelt gibt, die allem Bewußtsein vorgegeben, auf die es hingewiesen, von der es im Erkenntnisvollzug abhängig ist.

Lenin sucht diese Behauptung durch eine Unterscheidung zwischen einem philosophischen und einem naturwissenschaftlichen Materiebegrilf zu sichern und zu stützen. Der naturwissenschaftliche Begriff der Materie enthält, so meint Lenin, inhaltlich bestimmte Aussagen über die Eigenschaften des Seienden. Er betrifft allein das der naturwissenschaftlichen Erkenntnis zugängliche Aufbau-und Gliederungsgesetz der Welt. Was die Naturwissenschaften jedoch über die besondere Gestalt dieses Gesetzes und damit über die inhaltlich besonderen Eigenschaften der Materie (Wirklichkeit) im einzelnen aussagen, ist abhängig von den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln der experimentellen Gegenstandszergliederung und Gegenstandsbeobachtung. Wie sich die Erkenntnis-methoden der Naturwissenschaften ständig wandeln und zunehmend verfeinern, so wandelt sich fortschreitend auch unser Wissen um die besonderen Bestimmungen und Eigenschaften der Materie. Das aber bedeutet: der naturwissenschaftliche Materiebegriff ist nicht absolut, sondern nur relativ auf den geschichtlichen Erkenntnisfortsdiritt gültig. Die Geltung der in ihm enthaltenen, inhaltlich je besonderen Aussagen über die Eigenschaften der Materie ist von dem Erkenntnisfortschritt in der Zeit abhängig. Hier gibt es grundsätzlich kein endgültiges und fertiges Wissen von der Materie.

Anders verhält es sich jedoch nach Lenin mit dem philosophischen Materiebegriff. Er enthält keine besonderen Eigenschaftsbestimmungen der Materie, sondern nur die grundsätzliche Behauptung darüber, daß es eine unabhängig vom erkennenden Bewußtsein bestehende Wirklichkeit gibt, auf die alles Erkennen zugeordnet ist. Im philosophischen Sinne sei der Begriff der Materie nur eine Kategorie, das heißt, eine für das Denken verbindliche Aussageweise zur Bezeichnung der objektiven (bewußtseinsunabhängigen) Wirklichkeit der Welt und ihrem grundsätzlichen Vorrang vor allem Erkennen. Nur an diese Grundauffassung über das Verhältnis des Erkennens zum Gegenstand sei der philosophische Materialismus gebunden.

Die Bedeutung dieser Begriffsunterscheidung liegt auf der Hand: Lenin ist nicht gezwungen, den Erkenntnisfortschritt in den Naturwissenschaften zu leugnen, und er hat dabei zugleich die Chance, die für seine politische Theorie so eminent wichtige Behauptung einer durchgängigen Abhängigkeit des Bewußtseins vom Sein als umfassend gültig aufrechtzuerhalten, denn, das ist der Sinn der Unterscheidung: keine Einzelwissenschaft vermag die Geltung der These von einer dem Bewußtsein vorgegebenen, objektiven Wirklichkeit außer Kraft zu setzen. Die Wissenschaft tangiert hier die Philosophie nicht.

Konsequent zu Ende gedacht, würde das freilich zugleich bedeuten, daß sich die realistische Philosophie jeden Versuch einer eigenen Aussage über die Struktur des Seins versagen müßte, sondern dabei vom Erkenntnisfortschritt der Einzelwissenschaften abhängig wäre. Zu solchen Konsequenzen kann sich Lenin — wieder aus Gründen der politischen Position — nicht entschließen, denn für die politische Aktion ist die Annahme einer dialektischen Struktur des materiell bestimmten geschichtlichen Seins konstitutiv. Soll gemäß den Intentionen von Engels, denen sich Lenin anschließt, diese politische Aktion durch eine umfassende Philosophie ontologisch gestützt werden, dann ist es notwendig, die zunächst erkenntnisrealistische Begriffsbestimmung der Materie inhaltlich — und zwar unabhängig von den Resultaten der Einzelwissenschaften — so anzureichern, daß die Dialektik, verstanden als Kampf der Gegensätze, als Grundbestimmung der Materie, des bewußtseinsunabhängigen Seins, erscheint. In der Tat hat Lenin Zug um Zug — beginnend mit dem schon -erwähnten philosophischen Hauptwerk und aufgipfelnd in seinen philosophischen Heften — die zunächse eingenommene, realistische Position zu einer eben dialektisch-materialistischen Ontologie um-und ausgeformt.

Die eigentümlich doppelgesichtige Situation der sowjetischen Wissenschaften: im experimentellen Forschen politisch frei, in der allgemeinen Aussage politisch-dogmatisch gebunden zu sein, hat in dieser ontologischen Ausdeutung der zunächst realistischen Definition des Materie-begriffes ihren sachlichen Grund.

Die Thematik des Vortrages verbietet es, auf diese Ausgestaltung des Diamat zur Ontologie einzugehen. Die thematische Beschränkung auf den strukturellen Zusammenhang von politischem und erkenntnistheoretischem Pragmatismus im Denken Lenins bleibt jedoch aufschlußreich genug, denn sie zeigt, daß auch die Erkenntnistheorie im politisch-funktionalen Zusammenhang von Lenins Denken sich ihren Ort bestimmt, und wirft sie ebenfalls ein bezeichnendes Licht auf die erwähnte Situation der Wissenschaft.

Folgende These ist nämlich das erkenntnistheoretische Grundpostulat Lenins: „Vom lebendigen Anschauen zum abstrakten Denken und von diesem zur Praxis — das ist der dialektische Weg der Erkenntnis der Wahrheit, der Erkenntnis der objektiven Realität“. Dieses Postulat führt über die zunächst realistische Konzeption hinaus, indem die Praxis als Kriterium der Wahrheit jeder Erkenntnis angegeben wird.

Wie jeder konsequente philosophische Realismus zu einer erkenntnistheoretischen Position führt, die Erkenntnis als Abbild einer bewußtseinsunabhängigen Wirklichkeit im Bewußtsein begreift, so ist auch Lenin zunächst Vertreter einer solchen Abbild-oder Widerspiegelungstheorie. Lim aber nicht einem sensualistischen Realismus mit seinen subjektivistischen Implikationen zu verfallen, behauptet er, daß die Wirklichkeit zwar unmittelbar nur in der Empfindung gegeben oder vermittelt, diese Empfindung aber durch abstrahierende Akte des Denkens erst zur Erkenntnis im strengen Sinne gestaltet wird.

Ist dieser Sachverhalt der empfindungsordnenden Funktion des Denkens zuerkannt, dann erhebt sich mit innerer Folgerichtigkeit freilich die Frage, an welchen Kriterien sich dieses Denken der Wahrheit seiner erdenden Verarbeitung der Empfindung als Element der Erkenntnis vergewissert, seiner Wahrheit, d. h.seines Zutreffens auf die bewußtseinsunabhängige Wirklichkeit. Als alleiniges Kriterium dieser Wahrheits-Vergewisserung wird in dem erwähnten Zitat die Praxis angegeben. Das zeigt nicht nur. daß Lenin auch im Bereich der Erkenntnistheorie am Postulat der Einheit von Denken und Handeln festhält, sondern das führt auch zu einer — nicht einmal unfruchtbaren — Differenzierung des Wahrheitsbegriffes, zu einer Unterscheidung von absoluter Wahrheit und relativer Wahrheit.

Die absolute Wahrheit ist die Wahrheit des bewußtseinsunabhängigen Seins, der Wirklichkeit selbst. Die relative Wahrheit ist die Wahrheit des Erkennens in seiner fortschreitenden Annäherung an die absolute Wahrheit. Relativ ist-sie wegen ihres Annäherungscharakters, der ja schon in der Unterscheidung zwischen philosophischem und naturwissenschaftlichem Materiebegriff konzidiert war. Ihrer Wahrheit, auch als relative, vergewissert sie sich in der Praxis, Praxis aber wird von Lenin wieder im Anschluß an Engels konkret durch zwei Begriffe näher bestimmt: durch „Experiment" und „Industrie“.

Das zeigt, daß unter Praxis jenes Handeln zu verstehen ist, durch das sich der Mensch mit den Mitteln der Experimente, der Technik und Industrie planvoll einer Beherrschung der Natur zuwendet, diese Natur seinen selbst gesetzten Zielen entsprechend gestaltet und sie sich somit dienstbar macht. Wahr ist das Erkennen, das sich in diesem naturgestaltenden und -verändernden Handeln bewährt. Zugleich wird der Mensch durch ein solches Erkennen und Handeln frei, eben weil er sich die Natur unterwirft und ihr nicht mehr blind ausgeliefert ist. Die Praxis, in der sich eine Erkenntnis als wahr zu erweisen hat, ist also hiernach zunächst jenes auf Naturbeherrschung abzielende Handeln, das sich in der Technik, Industrie und Wirtschaft seine planvolle Ordnung gibt.

Mit anderen Worten: die Arbeitsordnung des Menschen ist als Inbegriff der Praxis Kriterium der Wahrheit des Erkennens. Diese konkrete Bestimmung dessen, was Lenin unter Praxis versteht, weist aber auf diese Weise zugleich darauf hin, daß er in seiner Erkenntnistheorie nicht bei einem beliebigen philosophischen Pragmatismus stehenbleibt, sondern ihn mit seinem politischen Pragmatismus zur Einheit verschmilzt — ja sogar verschmelzen muß. Ist die Praxis erst einmal als technisch industrielle Arbeitsordnung bestimmt, dann ist sie zugleich — nach dem Grundgedanken des historischen Materialismus, also der politisch-revolutionären Theorie — als sozial-politische Praxis bestimmt.

Die Revolution muß durch die Philosophie legitimiert werden

Die Art, in der der Mensch seine auf Naturbeherrschung abzielende Arbeit ordnet, ist ja, so meint Lenin im Anschluß an Marx, immer auch Grundlage seiner umfassenden Gesellschaftsordnung und seines gesellschaftlichen Bewußtseins. Die Befreiung des Menschen von der Natur durch ihre technisch-industrielle Beherrschung ist allein dann in einem umfassenden Sinne für den Menschen wahr, wenn sie ihn zugleich sozial befreit und das heißt, wenn sie im Dienst der Errichtung einer klassenlosen, sozialistischen Gesellschaft steht. Den Weg zur Errichtung dieser klassenlosen Gesellschaft aber habe wissenschaftlich allein gültig die Philosophie des dialektischen Materialismus gewiesen. Nur sie bestehe daher auch die Bewährungsprobe in der gesellschaftlich-politischen Praxis. Das bedeutet einmal: jede Philosophie, die für ihre Aussagen und Erkenntnisse den Geltungsgrad wissenschaftlicher W ahrheit und Objektivität in Anspruch nehmen will, ist gezwungen, sich zum dialektischen Materialismus zu bekennen, für ihn Partei zu ergreifen. Nur eine solche bewußt parteiliche Philosophie besteht die gesell-

schaftlich-politische Bewährungsprobe und ist damit wahr. Das bedeutet aber weiter zugleich, daß nicht nur die Philosophie parteilich sein muß, sondern auch jedes um gegenständliche Wahrheit und Objektivität bemühte einzelwissenschaftliche Erkennen. Nur wenn sich die Wissen-• schäften eindeutig an die Philosophie des dialektischen Materialismus binden, entgehen sie der Gefahr, einer falschen Gesellschaftsordnung dienstbar und damit Hilfemittel für eine soziale Unterdrückung des Menschen zu werden. Und da eine falsche Gesellschaftsordnung notwendig auch eine falsche Philosophie als Inbegriff einer umfassenden Weltorientierung erzeugt, verbürgt auch nur der dialektische Materialismus als wahre Philosophie der wahren Gesellschaft den Wissenschaften den einzigen Zugang zur wahren Erkenntnis der Welt.

Es steht für Lenin unbedingt fest: nur von den Vorausse. zungen einer wahren Philosophie aus kann fruchtbar einzelwissenschaftliche Forschung betrieben werden. Die Wahrheit einer Philosophie aber erweist sich in der gesellschaftlich-politischen Praxis und da eben besteht nur der dialektische Materialismus die Bewährungsprobe. Nur er weist sowohl den Philosophen als auch dem Wissenschaftler den richtigen Weg zur Wahrheit der Erkenntnis. Lind da man für die Wahrheit Partei ergreifen muß, muß man nach Lenin auf dem Boden des dialektischen Materialismus stehen.

Wenn also auch der erkenntnistheoretische Pragmatismus Lenins dem einzelwissenschaftlichen Erkennen eine politische Ungebundenheit der experimentellen Forschung zugestehen kann, die philosophische Behandlung einzelwissenschaftlicher Probleme bleibt dem DIAMAT Vorbehalten. Der erkenntnistheoretische Pragmatismus weist auf dem Umweg über einen durch den historischen Materialismus, also die politisch-revolutionäre Philosophie Praxisbegriff auf den politischen Pragmatismus zurück und legitimiert sich von dort aus.

Das aber bedeutet: die Leninsche Lehre von der Praxis als dem einzigen Kriterium der Wahrheit eines jeden Erkennens wird zur Grundlage einer eindeutigen Bindung des Denkens an die als unbedingt gültig und wahr behauptete Philosophie des dialektischen Materialismus. Nicht die Praxis des Experimentes und der Industrie entscheidet in letzter Instanz über den Wahrheitsgehalt und die soziale Anerkennung wissenschaftlichen Denkens, sondern die mögliche Einordnung der wissenschaftlichen Erkenntnisse in diese Philosophie und in die Zwecke des durch diese Philosophie gerechtfertigten bolschewistischen Staates. Wenn also auch Lenins Erkenntnistheorie in der Forderung nach unbedingter philosophischer Parteilichkeit des Denkens gipfelt und in der Parteinahme für den dialektischen Materialismus allein die Gewähr für Wahrheit und Objektivität des Denkens erblickt, dann mag das einem Unbefangenen als eine ungeheure Verfälschung des Wissenschaftsbe-griffes erscheinen. Im Rahmen von Lenins Philosophie ist diese Gleichsetzung von Wahrheit und Parteilichkeit kein Zufall, ja, in dieser Gleichsetzung vollendet sich erst seine Philosophie. Der unbedingte Führungsanspruch der bolschewistischen Partei, den Lenin für den Bereich politischen Handelns in seiner Revolutionstheorie begründete, ist durch eine sehr eigenwillige Theorie der Erkenntnis als für alles Denken verbindlich nachgewiesen. Es ist ja aus der ganzen dargestellten Gedankenführung heraus selbstverständlich, daß Parteinahme für den dialektischen Materialismus zugleich die Bindung an die Parteiorganisation einschließt, denn sie ist Inkarnation und Hüterin der wahren Philosophie. Die Partei ist damit zur letzten und höchsten Entscheidungsinstanz nicht nur in allen Fragen der politischen Taktik, sondern auch in allen Fragen der Theorie geworden. Sie verkörpert die Einheit von Theorie und Praxis, die Einheit von politisch-revolutionärem Handeln und philosophisch-wissenschaftlichem Denken. Nur wer in seinem Denken Partei ist, und d. h., sich an die Partei bindet, ist in der Wahrheit. Noch einmal zeigt sich in diesen Schlußfolgerungen aus Lenins Erkenntnistheorie der instrumentale Charakter seines ganzen Philosophie-rens. Die Philosophie Lenins ist instrumental deshalb, weil sie nicht nur in ihren Aussagen über die Gesetze und Antriebskräfte von Geschichte und Gesellschaft, sondern auch in ihrer Ontologie und Erkenntnistheorie unmittelbar und direkt der Rechtfertigung eines revolutionären Handelns des Proletariats unter der Führung der bolschewistischen Partei dient.

Der Sachverhalt ist also nicht, wie Lenin und nach ihm die sowjetischen Philosophen behaupten, der, daß sich aus einer vorurteilslosen Erkenntnis der Welt die politische Revolution als notwendig und gerechtfertigt ergibt, sondern umgekehrt, weil man die Revolution als politisches Ziel will, unterzieht man sich dem Zwang, sie durch eine entsprechende Philosophie zu legitimieren. Das revolutionäre Wollen begründet den dialektischen Materialismus, nicht umgekehrt, dieser das revolutionäre Wollen.

Gerade dieses aber berechtigt zu der abschließenden Folgerung: die Philosophie Lenins ist nicht der Ausdruck kritischen, seinszugewandten Fragens eines freien Geistes, der sich in diesem Fragen seiner Freiheit vergewissert, sondern sie ist instrumentale Ideologie, also geistiges Medium der Rechtfertigung und Konsolidierung von politischen Herrschaftsinteressen einer Minderheit.

Fussnoten

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Lieber, Hans-Joachim, Dr. phil., geb. am 27. 3. 1923 in Trachenberg/Schlesien, Ordentlicher Professor an der Freien Universität Berlin. Fachgebiet: Philosophie und Soziologie.