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Die Opposition gegen den Stalinismus in Mitteldeutschland | APuZ 23/1958 | bpb.de

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APuZ 23/1958 Die Opposition gegen den Stalinismus in Mitteldeutschland

Die Opposition gegen den Stalinismus in Mitteldeutschland

I. Einführung

Inhalt

Am 12. April dieses Jahres sagte der Präsident der mitteldeutschen Akademie der Naturforscher „Leopoldina“, Professor Mothes, anläßlich eines Ausspracheabends in Gegenwart von Walter Ulbricht u. a. folgendes: „Ich möchte sagen, daß die uns häufig entgegengehaltene Versicherung, der Staat gibt soundsoviel Geld aus, dann müsse doch endlich von der Wissenschaft aus einmal etwas geschehen, falsch ist, daß diese Meinung sehr falsch ist. Die größte Sorge, die wir Professoren haben, die es ernst meinen, ist die, daß wir trotz allem Beschäftigtsein nicht die innere Ruhe haben, die notwendig ist, um zu einem neuen, großen Gedanken zu kommen.

Idt möchte nicht davon sprechen, daß wir in einer Ruhe leben wollen, wo überhaupt kein Windelten weht, in so einer Grabesstille, sondern ich glaube schon, daß auch der Wissenschaftler seine großen Ideen hat in der Brandung des Lebens, in den großen Auseinandersetzungen, und keiner wird sich diesem entziehen können, und ich glaube, daß die meist sich diesem auch gar nicht entziehen können, und ich glaube, daß die meisten sich diesem auch gar nicht entziehen wollen.

Aber es gibt eine unfruchtbare Unruhe an unseren Universitäten und in unseren Forschungsinstituten, ein ständiges Beschäftigtsein. Das ist für unsere Professoren eine sehr wichtige Tatsache. Es liegt ihnen eine ganze Fülle von Felsen im Wege, die es sehr schwer machen, den Weg zu gehen, von dem der Herr Ministerpräsident gesprochen hat.

Wir Wissenschaftler müssen, um zu etwas Großem zu kommen, gewissermaßen alles in Frage stellen. Der Fortschritt in der Wissenschaft besteht darin, daß Vergangenes in Frage gestellt wird. Wenn aber unablässig solche Meinungen an uns herangetragen werden, daß die Mendelschen Gesetze falsch sind, daß die Welt unendlich sei, weil es Engels gesagt hat, und wenn die Physiker sagen, die Welt ist endlich, so ist es falsch, — so ist dazu zu sagen, daß wir Wissenschaftler nur existieren können, wenn wir alles in Frage stellen. Wir stellen nicht nur das Bild von der Schöpfung in Frage, sondern auch die Thesen von Engels, daß die Welt unendlich ist

Wir brauchen Professoren, die den Mut haben, einige eigene Wege zu gehen. Ich frage mich oft, ob bei diesem Zustand an unseren Universitäten heute Männer wie Karl Marx und Engels das Wort finden würden. Sie haben sich hart auseinandergesetzt. Heute wird von anderen Leuten in allen Fragen immer etwas besser gewußt. Es breitet sich eine Scholastik aus, die jeder wissenschaftlichen Entwicklung abträglich ist.

Nun noch ein zweites, viel schwierigeres Problem: Wir sollen nicht nur forschen, sondern auch Studenten erziehen. Es ist vor einigen Jahren gesagt worden, daß diese Erziehungsarbeit durch die FDJ geleistet wird, aber es hat sich in den Vorstellungen an den Universitäten eine wesentliche Änderung vollzogen.

Es ist in den letzten Wochen immer wieder gesagt worden, daß der Professor die Erziehungsarbeit der Studenten mit zu leisten hat, das heißt, die Erziehungsarbeit zum dialektischen Materialismus. Das ist für viele ein sehr ernstes Problem. Wenn der Herr Ministerpräsident gesagt hat, daß er nichts dagegen hat, daß ein Physiker in seiner Physik nach dialektischen Methoden arbeitet, so wie das seit Jahrhunderten der Fall ist, und außerhalb seiner Physik am Sonntag in die Kirche geht, so ist das nicht so einfach, Herr Ministerpräsident. Das ist kein sehr einfaches Problem, und Sie müssen uns schon zugestehen, daß die Professoren, die das Leben ernst nehmen, in den Anforderungen, die an sie gestellt werden, einen Konflikt in sich sehen, einen ernsten Konflikt.

Ich glaube, daß das gesagt werden muß. Sie können darüber denken wie Sie wollen. Ich wdl das nur sagen, daß die Dinge so sind und daß Sie vielleicht die Dinge zu einfach sehen.

Das Problem ist deshalb so ernst, weil tatsächlich viele Professoren mit den Bemerkungen, die auf der 3. Hochschulkonferenz gefallen sind, insbesondere auch mit der Rede von Herrn Hager, innerlich nicht zurechtkommen. Sie sind nicht in der Lage zu begreifen, daß Sozialismus identisch ist mit Atheismus. Für sie ist Sozialismus nicht identisch mit Atheismus. Was sollen diese Professoren tun? Sie meinen in drei bis vier Jahren ist das anders mit den Professoren. Ich glaube das nicht.

Wir sind heute dabei, alles zu nivellieren. Die Professoren leben in einer ständigen Unruhe. Entschuldigen Sie, wenn ich das offen sage, feit werden, und wir werden es erleben, daß Ihnen in Ihrem Sozialismus im Staat und in der Wirtschaft nach jeder Richtung hin geholfen wird.

Sorgen Sie dafür, daß wir wieder etwas ruhiger arbeiten können, und geben Sie uns etwas mehr Vertrauen, nicht nur mir, sondern auch anderen. Ich möchte mich hier jedenfalls nicht darüber beklagen — aber auch den übrigen Professoren, und dann werden Sie etwas anderes erleben, was Sie jetzt erleben, oder was Sie jedenfalls glauben, kritisieren zu müssen. Und das ist das, was ich Ihnen bei dieser Gelegenheit in aller Offenheit sagen wollte.“

Diese offenherzige Aussage eines Hochschullehrers, der mutig genug war, seine Position und vielleicht sogar seine Freiheit für das Recht der unabhängigen wissenschaftlichen Forschung und Meinungsäußerung aufs Spiel zu setzen, ist einer von vielen Beweisen dafür, daß trotz der Unterdrückungsversuche der stalinistischen Machthaber in allen Schichten der Bevölkerung eine breite Opposition lebendig ist, die bei jedem Anlaß hervorbrechen kann.

In dieser Opposition mischen sich westliche Einflüsse mit Tendenzen, die aus den wirtschaftlichen, politischen, sozialen und ideologischen Widersprüchen des stalinistischen Systems selbst erwachsen. Die Reste des Bürgertums etwa, die Bauern und jener Teil der Arbeiterschaft, für den der Standard westdeutscher Arbeiter überzeugender ist als jede stalinistische oder sozialistische Perspektive, streben für die Sowjetzone die wirtschaftliche und politische Struktur der Bundesrepublik an, die Reprivatisierung der volkseigenen Industrie und ein parlamentarisch-demokratisches System nach westlichem Vorbild. Diesen Gruppierungen fehlt jedoch zur Zeit jeder politische Einfluß. Ihre einzig legitime Basis, die sogenannten bürgerlichen Parteien, sind keine echte, sondern eine Pseudorepräsentanz, von der SED infiltriert und von einer system-hörigen Führung geleitet.

In einer zweiten, umfassenden, in sich wieder differenzierten Gruppe sind Arbeiterschaft und revolutionäre Intelligenz die treibenden Kräfte.

Sie verfolgen insgesamt sozialistische Ziele und stellen — nach der Ereignissen in Polen und Ungarn — auch in der Sowjetzone eine permanente und wachsende Gefahr für das System dar.

Die Opposition der Bauern richtet sich in erster Linie gegen die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und die Staatlichen Maschinen-Traktoren-Stationen, die ökonomischen und politischen Stützpunkte des stalinistischen Systems auf dem Lande. Dank einer bauern-feindlichen Politik ist es dem Stalinismus in der Sowjetzone so wenig wie im ganzen Ostblock gelungen, sich eine Basis in der Landbevölkerung zu schaffen.

Dieser hartnäckige Widerstand der Bauern in den Dörfern wird durch die Opposition einer Gruppe von Agrarökonomen in der Spitze der SED gestärkt, die für eine freie Entscheidung der Bauern über die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und für die Überführung des Maschinenparks der Maschinen-Traktoren-Stationen in das Eigentum der Bauern oder zur genossenschaftlichen Nutzung eintreten.

Dieser enge Zusammenhang zwischen dem Druck von unten, den die unzufriedenen Massen ausüben, einerseits, und den Forderungen einer intellektuellen Opposition im Überbau des Systems besteht nicht nur bei den Bauern, er ist typisch für den vielschichtigen Komplex der Opposition. So entsprechen den Forderungen der Arbeiterschaft die Theorien der Volkswirtschaftler Behrens und Benary, die eine Auflösung der zentralistischen Wirtschaftsbürokratie und die Lenkung der Betriebe durch die Organe der Arbeiterschaft proklamieren. Die Verwirklichung dieser Thesen würde das Wirtschaftsmonopol der SED vollkommen zerstören.

Zu Mittelpunkten der geistigen Opposition haben sich in den letzten Jahren völlig unerwartet die ursprünglich als stalinistische Bildungsstätten begründeten philosophischen Institute an den Universitäten entwickelt. Heute gehört die Elite der jungen, vom System materiell zum Teil großzügig geförderten Generation zu seinen aktivsten Gegnern. Sie sind Anhänger des Marxismus geblieben, aber sie vertreten — basierend etwa auf den Frühschriften von Karl Marx — einen humanitären Sozialismus. Eine weitere oppositionelle Gruppe gibt es unter der Künstlerschaft, sie kämpft gegen die unablässige und aufdringliche Bevormundung der SED in allen Fragen der künstlichen Arbeit. Die Forderung nach der sogenannten „Parteilichkeit" des Künstlers, die vom System zum Kriterium jeder künstlerischen Moral erhoben wird, hat gleichermaßen unter Schriftstellern, Malern und bildenden Künstlern den Widerstand gegen das System und den von ihm propagierten „Sozialistischen Realismus“ ausgelöst. Trotz aller materieller Förderung, die ihnen zuteil wird, kann man feststellen, daß der bei weitem überwiegende Teil in Opposition zur SED steht.

Auch an den Hochschulen gärt es weiter. Die Diskussionen unter Studenten und Professoren lassen sich weder mit Disziplinarmaßnahmen noch mit Verhaftungen unterdrücken. Der Versuch aber, Oberschülern und Studenten durch Einweisung in die Betriebe zur politischen Raison zu bringen, schafft letztlich nur jenen Kontakt zwischen Arbeiterschaft und Intelligenz, der in Polen und Ungarn zu einem Ferment der Revolution geworden ist.

Schließlich sind innerhalb der SED selbst oppositionelle Kräfte wirksam, besonders unter den einfachen Mitgliedern, aber auch unter kleinen und mittleren Funktionären, deren Gegnerschaft zum System von der Erfahrung der täglichen politischen Praxis bestimmt wird. Ihnen geht es darum, den zentralistischen Parteiapparat zu entmachten und eine innere Partei-Demokratie zu schaffen, in welcher der Parteitag als oberste Instanz die Parteiführung und die Spitzengremien kontrolliert und, wenn nötig, absetzen kann. Sie wollen die Kontrolle des Apparates durch die Mitglieder, nicht die Zerstörung und Auflösung der SED, sondern ihre Reform an Haupt und Gliedern.

Dieser innere Gärungsprozeß ist keineswegs auf den Apparat der SED beschränkt. Er vollzieht sich auch in den von der SED abhängigen Massenorganisationen, wobei FDJ und FDGB gegenwärtig im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stehen. Ähnliche Gruppen haben in den kommunistischen Parteien Polens und Ungarns bei den Oktober-ereignissen 1956 eine wesentliche Rolle gespielt. Für die weitere EntWicklung in der Sowjetzone sind diese Kräfte deshalb von entscheidender Bedeutung, weil sie allein in der Lage sind, unter entsprechenden Umständen eine innere Umformung und Demokratisierung der SED zu erzwingen.

Die stalinistische Führung dieser Partei hat gegen die Vielfalt oppositioneller Kräfte einen gewaltigen militärischen und polizeilichen Machtapparat aufgebaut; sie ist jedoch weder in der Lage, die ökonomischen, sozialen und ideologischen Ursachen der permanenten Krise des Stalinismus zu beseitigen, noch auch die Reste des Bürgertums oder der bürgerlichen Ideologie zu zerstören.

IL Die Opposition des Bürgertums

Wichtigen moralischen Rückhalt hat auch das Bürgertum der Zone in den beiden christlichen Kirchen.

In den letzten Monaten hat sich der Kampf zwischen der SED und den Kirchen wesentlich verschärft, wobei sich die Aktionen des Systems in erster Linie gegen die zahlenmäßig stärkere evangelische Kirche richten.

Diese Auseinandersetzung wird weniger mit geistigen Argumenten als mit propagandistischen und administrativen Maßnahmen oder mit Repressalien geführt; kirchliche Zeitungen werden beschlagnahmt, der Gesamtdeutsche Kirchentag 1957 wurde verboten, Verhaftungen erfolgten, von denen die des Leipziger Studentenpfarrers Schmutzler besonders bekannt geworden ist. Der Plan, die theologischen Fakultäten an den Universitäten aufzulösen und als Ersatz selbständige theologische Hochschulen zu err. chten, beweist, daß diese Fakultäten Zentren des geistigen Widerstandes darstellen, die dem System denkbar unbequem sind.

Die katholische Kirche hat mit dem am Sonntag, dem 4. Mai 195 8, in allen katholischen Kirchen der Zone verlesenen Hirtenbrief erneut ihre Entschlossenheit bekundet, dem Drude der SED mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln entgegenzutreten. In diesem Hirtenwort, in dem sich die katholische Kirche zum Sprecher aller Gläubigen macht, heißt es u. a.: „Der Druck auf die Freiheit des Gewissens und des Glaubens ist härter geworden. Die Philosophie der Gottlosigkeit als verpflichtende Richtlinie im gesamten öffentlichen Leben wurde rüdtsichtloser durchgesetzt. Über die Kirche, ihre Lehre und ihre führenden Männer ergoß sich eine Flut von Verleumdungen und Verzerrungen. Über die Maßen wird die heranwachsende christliche Jugend, zumal bei ihrer Schulentlassung, durch die Propaganda für die Jugendweihe bedrängt.

Schwer leiden gläubige Christen darunter, daß allerwärts, in Organisationen und auf dem Arbeitsplatz, in Schrifttum und Kundgebungen die Propaganda gegen Kirche und Religion immer stärker wird. Völlig aber wird das Mensdtenrecht mißachtet und auch die Verfassung übertreten, wenn ehrenhafte und gewissenhafte Staatsbürger ihre Stellung verlieren oder einen Beruf nicht ausüben können, nur weil sie nicht aus der Kirche austreten oder auf die aktive Betätigung ihres Glaubens nicht verzichten wollen.

Angesichts dieser eurer Not sollt ihr die Gewißheit haben, daß wir, eure Bischöfe, fest zu euch stehen.

Trotz alledem werden wir auch weiterhin für eure Rechte und die Freiheit der Kirclte eintreten.“

Gleichzeitig versucht das System — zum Beispiel auf der letzten Gesamtdeutschen Synode der Evangelischen Kirche Deutschlands —, durch öffentlichen und staatlichen Druck die Kirche zu spalten und zu schwächen. Als willkommener Vorwand dient dabei der Militärseelsorge-Vertrag und der Beschluß der Bundestagsmehrheit, im Falle des Scheiterns der Abrüstungsverhandlungen die Bundeswehr mit Atomwaffen auszurüsten.

Weiter wird versucht, mit der forcierten Propaganda für die Jugend-weihe die kirchliche Jugendarbeit zu beeinträchtigen, Verhaftungen von Geistlichen sollen die Repräsentanten der Kirche einschüchtern, die kirchliche Lehrtätigkeit wird begrenzt und eingeschränkt. Dabei geht es nicht nur um eine ideologische Auseinandersetzung zwischen Materialismus und Christentum, es handelt sich vielmehr gleichzeitig um eine zielbewußte Aktion gegen die stärkste moralische und organisatorische Stütze des Bürgertums überhaupt.

Dieses Bürgertum ist seit der Besetzung Mitteldeutschlands durch die sowjetische Armee systematisch seiner politischen, wirtschaftlichen und geistigen Positionen beraubt worden. Statt unabhängiger, demokratischer, bürgerlicher Parteien wurden von der SED und den Sowjets bürgerliche Scheinparteien geschaffen. Die großen und mittleren Betriebe wurden enteignet, viele Industrielle und Wissenschaftler verhaftet oder zur Flucht gezwungen. Großbauern und Gutsbesitzer erlitten das gleiche Schicksal. Aus den Geisteswissenschaften wurde die sogenannte „bürgerlich-idealistische Ideologie" ausgemerzt. Die bürgerliche Presse, die sich nach 1945 wieder unter demokratischen Grundsätzen zu entwickeln begonnen hatte, wurde gleichgeschaltet und gezwungen, stalinistische Prinzipien zu vertreten.

Bei einer Analyse des Bürgertums in Mitteldeutschland müssen zwei Gruppen unterschieden werden, die nur zu einem geringen Teil miteinander identisch sind: Eine relativ kleine, die auch heute noch ihrer wirtschaftlichen und sozialen Stellung nach zum Besitzbürgertum zählt — etwa die Reste der Unternehmer, freie Handwerker, Kaufleute, Gastwirte usw. —, und eine zweite, weitaus größere Gruppe von Menschen, die ihrer sozialen Stellung nach zur Arbeiterschaft, zu den Angestellten oder zur Intelligenz zählen, in ihrem Denken aber von einer „bürgerlichen Ideologie“ bestimmt werden. Diese Gruppe setzt sich aus allen Bevölkerungsschichten zusammen. Die sogenannte „bürgerliche Ideologie“ ist besonders stark unter der Facharbeiterschaft und der technischen Intelligenz, unter Akademikern und selbständigen Bauern, und nicht zuletzt unter den Rentnern verbreitet, die zum großen Teil verarmte Bürger sind. Die Einflüsse des bürgerlichen Denkens sind aber — wenn auch in etwas veränderter Form — ebenfalls unter der Jugend fühlbar Diese verschiedenen bürgerlichen Gruppierungen besitzen heute keine eigenen Organisationsformen. Von 1945 bis etwa 1949 waren die beiden größten bürgerlichen Parteien, die Christlich-Demokratische Union und die Liberal-Demokratisdie Partei, noch relativ selbständig. Ihre Gründung mit sowjetischer Lizenz war das Ergebnis einer politischen Initiative des Bürgertums, ihr Einfluß auf die Verwaltung der Länder, Kreise und Gemeinden war nicht unerheblich. Bei den Landtagswahlen 1946 erhielten die bürgerlichen Parteien in Brandenburg und Sachsen-Anhalt sogar die Mehrheit der Stimmen und Sitze.

Die bürgerlichen Parteien waren von der sowjetischen Administration nicht zuletzt mit der Absicht zugelassen worden, die bürgerliche Opposition leichter auffangen und kontrollieren zu können. Lim die bürgerlichen Kräfte zu zersplittern, wurden im Juni 1948 zwei weitere Parteien gegründet: die „Nationaldemokratische Partei“ und die „Demokratische Bauernpartei Deutschlands“. Sie waren im Gegensatz zu CDU und LDP Schöpfungen der Kommunisten. Für die Schlüsselstellungen dieser Parteien wurden noch vor ihrer Gründung von den Kaderkommissionen der SED und den Offizieren der sowjetischen Kontrollkommission zum Teil in der Sowjetunion ausgebildete, zuverlässige, aber wenig bekannte Kommunisten ausgesucht. Die Demokratische Bauernpartei sollte die politische Aktivität der Groß-und Mittelbauern absorbieren, die Nationaldemokratische Partei dem bürgerlichen Nationalismus entgegenkommen. Gleichzeitig wurden in CDU und LDP die selbständigen und unabhängigen Kräfte systematisch ausgeschaltet, die profiliertesten Politiker verhaftet oder zur Flucht gezwungen. Trotzdem besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden „alten“ und den „neuen“ Parteien.

Die „alten“ bürgerlichen Parteien sind in ihren unteren Einheiten auch heute noch Zentren des Widerstandes gegen das Regime, die CDU besonders unter den Bauern, während die später begründeten Schein-parteien nur eine geringe Rolle in der Bevölkerung spielen und gemieden werden. Bei den letzten Gemeinde-und Kreistagswahlen ist es oppositionellen Vertretern der CDLI in den ländlichen Gegenden Brandenburgs und Mecklenburgs sogar gelungen, bei der Aufstellung der Kandidaten die SED-Vertreter von den Listen zu verdrängen, da sie von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wurden. Die korrupten Parteiführungen sprechen auch immer wieder davon, daß sich sogenannte feindliche Elemente aus den Schichten des Bürgertums und der Bauernschaft in ihre Reihen eingeschlichen hätten und die Unterstützung zahlreicher Mitglieder und darüber hinaus der Bevölkerung besäßen. Diese unteren Einheiten könne man als organisatorische Kristallisationspunkte der bürgerlichen Opposition ansehen.

Neuerdings wird die bürgerliche Opposition auch in den Innungen, Handelskammern und anderen Berufsvereinigungen der selbständigen Handwerker und Gewerbetreibenden laut. Die Duldung offener Kritik läßt sich dabei nur aus der wirtschaftlichen Lage erklären. Der Lebensstandard der Bevölkerung kann gegenwärtig nicht ohne die Hilfe des privaten Sektors von Industrie und Handwerk gehoben werden. Dieser ist besonders in der Textil-und Lebensmittelbranche noch ziemlich groß. Die Enteignung auch dieser Betriebe würde zu empfindlichen Störungen in Produktion und Konsum führen. Da die SED dieses Risiko nicht eingehen kann, stärkt sie gegen ihr Prinzip die Positionen der privaten Wirtschaft. Als Resultat der ökonomischen und politischen Schwäche des Regimes kristallisieren sich nun aber in der Privatwirtschaft und im selbständigen Handwerk weitere Elemente der bürgerlichen Opposition. Neben solchen Organisationen steht die breite Masse des „ideologischen Bürgertums“. Seine Ziele sind nicht einheitlich und schwer auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Im Gegensatz zur Opposition der Intelligenz und der Arbeiterschaft, die verhältnismäßig klare Vorstellungen über ihre Ziele besitzt, hat diese bürgerliche Opposition teils verschwommene, teils sehr uneinheitliche und auseinandergehende Vorstellungen. Die Unterschiede sind abhängig von der sozialen und altersmäßigen Struktur, von der religiösen Bindung usw. Die junge bürgerliche Generation, die im Arbeitsprozeß oder in der Schule ständig in der Auseinandersetzung mit der Ideologie des Systems steht, nimmt zwar in ihrer Mehrheit eine oppositionelle Haltung ein, ist jedoch bereits von ar. tistalinistischen sozialistischen Gedankengängen beeinflußt. Bei gesamtdeutschen Veranstaltungen — etwa dem Treffen katholischer Studenten anläßlich des letzten deutschen Katholikentages oder dem letzten gesamtdeutschen evangelischen Studententreffen — offenbaren sich verblüffende Diskrepanzen zwischen der jungen bürgerlichen Generation aus West-und Mitteldeutschland. Die jungen Christen aus der Sowjetzone kennen keine Kompromisse mit dem Stalinismus oder dem antistalinistischen Sozialismus auf weltanschaulichem Gebiet, aber es entwickeln sich bei ihnen für den ökonomischen Sektor der Gesellschaft neue Vorstellungen, die sich in bezug auf die Verantwortung der Gemeinschaft gegenüber dem Individuum wesentlich von den ungebundenen wirtschaftlichen und sozialen Prinzipien des Westens unterscheiden. Ihre Opposition richtet sich in erster Linie gegen die Unterdrückung der geistigen Freiheit, die Diktatu: des SED-Apparates, die Einschränkung der Presse-, der Meinungs-und der religiösen Freiheit. In diesen und den rein wirtschaftlichen Fragen nähert sich ihr Standpunkt dem der jungen Intellektuellen aus dem marxistischen Lager.

Anders /erhält es sich mit der älteren bürgerlichen Generation. Ihre Opposition und Feindschaft gegenüber dem Stalinismus ist auf die Kategorien der freien Wirtschaft und der parlamentarischen bürgerlichen Demokratie gegründet. Sie erstrebt in der Mehrheit einen Anschluß der Sowjetzone an die Bundesrepublik unter Angleichung an deren wirtschaftliches und politisches System.

Eine besondere Stellung nimmt noch die aus der älteren Generation stammende technische Intelligenz ein, die auf Grund der wirtschaftlichen Dauerkrise, des ständigen Materialmangels, der Bürokratisierung und Fehlplanung das stalinistische System ablehnt und verachtet, obwohl ihr von dem gleichen System große materielle Privilegien eingeräumt werden. Die technische Intelligenz tritt zu einem großen Teil für die Wiederherstellung der freien Wirtschaft ein, weil sic aus ihrer früheren persönlichen Erfahrung heraus die freie Marktwirtschaft für die produktivste und damit beste Wirtschaftsform hält.

Die große Masse der Bürger und Kleinbürger zwischen diesen beiden extremen bürgerlichen Gruppen hat kaum eine feste Vorstellung von der künftigen Gestaltung Gesamtdeutschlands, noch ein Konzept zur Veränderung der bestehenden Verhältnisse. Sie beschränkt sich im wesentlichen auf eine Kritik am System, lehnt es ab und trägt zu seiner Isolierung in der Bevölkerung bei; ihre Opposition ist jedoch politisch kaum wirksam.

So steht das mitteldeutsche Bürgertum heute nach dem Verlust seiner wirtschaftlichen und politischen Positionen am Rande des gesellschaftlichen Geschehens. F kann letztlich nur Bedeutung gewinnen, wenn sich seine aktivsten Kräfte mit der Opposition der Arbeiterschaft und aer Intelligenz zu einer Aktionsgemeinschaft gegen den Stalinismus zusammenfinden.

III. Die Kritik an Ulbrichts Wirtschaftspolitik

Die permanente wirtschaftliche Krise der Sowjetzone, die den Aufstand des 17. Juni 195 3 letztlich ausgelöst hat, ist auch heute noch nicht behoben. Alle Faktoren, die bereits auf dem 30. Plenum des ZK der SED Veranlassung zu ernster Besorgnis der Zonenmachthaber gaben, sind im wesentlichen auch heute noch wirksam ) *.

Neue Faktoren sind hinzugekommen. Durch die überzentralisierte Planwirtschaft und das unbewegliche, einheitliche Normensystem steigerte sich die Unrentabilität der „Volkseigenen Industrie“ ständig. Daher sah sich das ZK der SED auf dem 33. Plenum am 20. 10. 1957 genötigt, eine generelle Erhöhung der Normen zu fordern. Das Regime aber fürchtet sich, in Erinnerung an die Tatsache, daß eine Normen-erhöhung den letzten Anstoß zum Juniaufstand 195 3 gegeben hat, mit Gewalt Normerhöhungen durchzusetzen. Audi sind die Arbeiter nicht bereit, auf den aus den z. T. veralteten Normen resultierenden Mehrverdienst zu verzichten. So kam es in vielen Betrieben schon zu schweren Auseinandersetzungen zwischen den Betriebsleitungen und der Arbeiterschaft, die nicht selten mit einem Sieg der Arbeiter endeten. Auch der am 13. 10. 1957 durchgeführte Geldumtausch hat seine wahren Ursachen in der permanenten Wirtschaftskrise des Systems.

Dieser Geldumtausch richtete sich keineswegs — wie Pankow behauptete — gegen westliche Spekulanten, es war vielmehr ein verzweifelter Versuch, der wirtschaftlichen Dauerkrise in der Sowjetzone entgegenzuwirken. Er beraubte die mitteldeutsche Bevölkerung jener Ersparnisse, die sie — aus Mißtrauen in die Stabilität der Währung — zu Hause aufbewahrt hatte. Mit diesem Geldumtausch suchte die Zonenregierung einen Kaufkraftüberhang zu beseitigen, der auf etwa eine Milliarde Ostmark geschätzt wird.

Die Maßnahme ist kennzeichnend für die bedrohliche wirtschaftliche Lage, die aus dem Mißverhältnis zwischen Geldumlauf und Produktion erwachsen ist. Letztlich handelt es sich dabei um die Bankrotterklärung eines Wirtschaftssystems, das den wirtschaftlichen und sozialen Ansprüchen der Bevölkerung nicht gerecht werden kann. Die wirtschaftliche Dauerkrise hat die verschiedensten Ursachen. Am wichtigsten sind: die Liquidierung der Privatwirtschaft, die Einführung einer zentralistischen Planwirtschaft, der dafür erforderliche aufgeblähte bürokratische Apparat, die Überführung des freien Handwerks in die Produktionsgenossenschaften der Handwerker, der gesteigerte Ausbau der Schwer-und Rüstungsindustrie auf Kosten der Konsumgüterproduktion und die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft.

Nach der Revolution in Polen und Ungarn beschränkte sich die Unruhe über die Wirtschaftskrise nicht auf die Arbeiterschaft, erstmals bildete sich auch eine theoretische Opposition unter den führenden Witschaftswissenschaftlern der SED, den sogenannten Politökonomen.

Sie nahm solche Ausmaße an, daß Ulbricht auf dem 30. Plenum des Zentralkomitees der SED Ende Januar 1957 gegen diese polemisierte:

Es seien bei den Politökonomen bestimmte ideologische Schwankungen und Schwächen offen in Erscheinung getreten. Das Wesen ihrer Theorien gehe dahin, die Rolle der Arbeiter-und Bauernmacht herabzusetzen und den demokratischen Sozialismus zu beseitigen. Die Notenbank solle die *) vgl. „Aus Politik und Zeitgeschichte", XI/57 v. 20. 3. 57: „Die Krise des Stalinismus in der Sowjetzone". ausschlaggebende Funktion bei der Leitung der Wirtschaft übernehmen, und zwar auf der Grundlage des Wirkens der Marktgesetze von Angebot und Nachfrage. Ihren Höhepunkt fänden diese Auffassungen in der Forderung, den Staat schrittweise absterben zu lassen und an seine Stelle die Selbstverwaltung im gesellschaftlichen Leben und in der Wirtschaft zu setzen.

Schließlich zog Ulbricht den Schluß:

„Trotz Sympatl-tiekiiiidgebitngeH dieser Genossen für die Arbeiter-und Bauernntad'it kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die Konsequenz solcher Maßnahmen geradezu die Preisgabe der Arbeiter-und Bauernmacht, ihre Liquidierung wäre."

Erstaunlich ist, daß nach dieser offiziellen Kritik im Frühjahr 1957 ein Sonderheft der Zeitschrift „Die Wirtschaftswissenschaft“ erschien, in dem die Theorien der oppositionellen Politökonomen — wenn auch umrahmt von stalinistischen Arbeiten — ausführlich dargelegt wurden. Ihre Autoren sind Professor Fritz Behrens, Leiter der staatlichen Zentralverwaltung für Statistik und Direktor des Instituts für Wirtschaftswissenschaften bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften, und Arne Benary, damals Oberassistent am selben Institut. Benary analysiert in seiner Arbeit „Zu Grundproblemen der politischen Ökonomie des Sozialismus in der Übergangsperiode" die sozialistische Produktionsweise. Den entscheidenden inneren Widerspruch in der Wirtschaftspolitik sieht er in dem Verhältnis zwischen Arbeiterschaft und Bürokratie:

„Wie ist das ständige Wachstum der schöpferischen Aktivität der Werktätigen bei gleichzeitig ständiger Verstärkung, Verbesserung und Vervollkommnung der planmäßigen Leitung des volkswirtschaftlichen Reproduktionsprozesses möglich; wie ist andererseits die ständige Verstärkung und Vervollkommnung der planmäßigen Leitung der Volkswirtschaft bei gleichzeitig stetem Wachstum der schöpferischen Aktivität der Werktätigen möglich? Auf welche Weise ist die Einheit beider Seiten herzustellen?"

Benary analysiert dann das spontane Verhalten der Arbeiter in der Normenfrage und stellt fest, daß im jetzigen Wirtschaftssystem die Werktätigen an einer niedrigeren Norm interessiert sein müssen. Er schreibt:

„Die materiellen Prozesse, die das Interesse der Arbeiter an schlechten Normen hervorrufen, werden sich immer als die stärkeren gegenüber den ideologischen erweisen. Marxisten sollte das nicht wundern. . . .

Aus dieser Feststellung entwickelt er die Konsequenz, den Nominal-lohn des Arbeiters unmittelbar nicht nur mit seiner eigenen Leistung, sondern auch mit der Rentabilität seines Betriebes zu verknüpfen. Damit werde ein Interesse an der Rentabilität des Betriebes und folglich auch an höheren Normen geschaffen.

Die zentrale Leitung und Planung der Volkswirtschaft einerseits und die schöpferische Aktivität der Werktätigen andererseits könnten, wie er weiter ausführt, in Konflikte geraten. Das liege nicht zuletzt daran, daß die Wirtschaft in den vergangenen Jahren weitgehend mit administrativen Methoden geführt worden sei; man wolle Institutionen des Verwaltungsapparates an die Stelle ökonomischer Gesetze setzen. Die administrative Methode der Wirtschaftsführung, die Verwaltung der Wirtschaft durch den Staatsapparat werde jedoch dabei zum Selbstzweck und zur Basis des Bürokratismus. Der Bürokratismus aber lasse sich nicht mit seinen eigenen Methoden, nämlich administrativ, bekämpfen.

Nicht weniger revolutionäre Thesen vertritt Professor Behrens in seinem Artikel „Zum Problem der Ausnutzung ökonomischer Gesetze in der Übergangsperiode“. Er konstatiert den Widerspruch zwischen der proletarischen Demokratie an sich und der Wirtschaftspolitik des Staatsapparates der proletarischen Diktatur, zwischen der Leitung der Wirtschaft durch den Staat und dem sich festigenden System einer sozialistischen Wirtschaft. Daraus entwickelt er die Forderung nach Dezentralisierung der Wirtschaft und der ökonomischen Selbständigkeit der Betriebe. Die Auswahl der optimalen technisch-organisatorischen Methode könne nicht zentral, sondern nur von den Betrieben selbst unter Mitwirkung der Werktätigen erfolgen. Auch die Auswahl der zu produzierenden Konsumgüter dürfe nicht zentral, sondern nur durch die im Handel tätigen Werktätigen erfolgen.

Behrens definiert dann, daß auch der sozialistische Staat ökonomischen Gesetzen unterworfen ist:

„Wenn der Staat alles könnte, dann könnte er natürlich auch das Wertgesetz ersetzen. Da der Staat nicht alles kann und da er besonders an die Stelle ökonomischer Gesetze nicht juristische Gesetze — auch nicht in Form von Preisveränderungen — setzen, da er ökonomische Prozesse nicht durch Verordnungen und Anweisungen ersetzen kann, kann er auch das Wertgesetz nidtt ersetzen."

Behrens schließt mit den Worten:

„leit bin mir bewußt, durch meine Ausführungen einige Dogmen angetastet zu haben. Das wird man mir sicher verzeihen, wenn ich dadurch den Anstoß zu einer Diskussion gegeben habe, die uns der Lösung einiger der von mir angedeuteten Probleme näher bringt."

In beiden Arbeiten, die einander ergänzen, wird der Untergang des Stalinismus mit den Methoden der marxistischen Politökonomie theoretisch entwickelt. Benary geht von der These aus, das gegenwärtige Wirtschaftssystem der zentralen Leitung und Planung behindere die schöpferische Aktivität und Initiative der Massen, die er als unerläßliche Voraussetzung für den Aufbau des Sozialismus ansieht. Er stützt sich dabei auf die These von Marx, wonach sich die ökonomischen Gesetze „durch spontane Handlungen der Menschen" durchsetzen, da diese Gesetze als wesentliche ökonomische Handlungsweisen der Menschen gelten und unabhängig von ihrem Willen und ihrem Bewußtsein wirken. Behrens stellt in seiner Arbeit fest, Sozialismus verlange Selbstverwaltung der Wirtschaft durch die Werktätigen, weil, so schreibt er wörtlich: „Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel ihre Ergänzung durch die Vergesellschaftung der Verwaltung erfordert". Gleichzeitig ziehen die Autoren Schlußfolgerungen der Staatstheorie, die den stalinistischen Machtapparat an seiner empfindlichsten Stelle treffen. Sie stellen fest: wenn die Wirtschaftsführung dezentralisiert und die wirtschaftliche und politische Selbstverwaltung verwirklicht ist, so beginnt der Staat zumindest auf einem Teilgebiet abzusterben. Diese Folgerung zerstört die theoretische Legitimation für den Machtapparat der Stalinisten. Behrens erklärt wörtlich:

.. wir können, wenn wir die ganze Übergangsperiode als einen Zeitabschnitt betrachten, insgesamt drei Etappen der Entwicklung der sozialistischen Produktionsweise unterscheiden:

1. die Etappe der Revolution, der Zerschlagung des alten und der Errichtung des neuen Staatsapparates;

2. die Etappe der Übergangsperiode, in der die staatliche Administration in der Wirtschaft allmählich abgebaut wird und an ihre Stelle in dem Maße die ökonomische Politik tritt, wie sich die sozialistischen Produktionsverhältnisse festigen und entwickeln;

3. die Etappe des Sozialismus, in der der Prozeß des Absterbens des Staates beginnt.

In diesen drei Etappen laufen zwei Prozesse ab: Der Prozeß der Erstarkung des revolutionären Staates, der die erste und den größten Teil der zweiten Etappe umfaßt, und der Prozeß des Absterbens des Staates, der bei bestimmten Funktionen je nach der internationalen und nationa len Situation bereits in der zweiten Etappe beginnt, und die ganze dritte Etappe einschließt. ... In dem Maße, wie die ökonomischen Gesetze der sozialistisdren Produktion zu wirken beginnen, d. h. in dem Maße, wie sich die sozialistisdten Produktionsverhältnisse festigen, muß die Leitung der Wirtschaft durch zentrale Weisung zurüdttreten, da sie sonst zu einem Hemmschuh der weiteren Entwicklung wird. Die wachsenden Produktiv-kräfte und das ökonomische System des Sozialismus geraten dann in Widersprudt zu der Leitung der Wirtsdtaft durch zentrale Weisung. Es ist deshalb unumgänglidt, von der Leitung der Wirtsdtaft durch zentrale Weisung zur ökonomisdten Leitung — d. h. zu einer Leitung mit einem Mindestmaß zentraler Anweisung und einem Höchstmaß an Initiative und Selbständigkeit von unten, auf der Grundlage der ökonomischen Gesetze, besonders des Wertgesetzes — überzugehen, sobald sich dieser Widersprudt herauszubilden beginnt.“

Diese Ausführungen, aus der Terminologie der Politökonomie in eine einfache Sprache übertragen, ergeben folgendes Resume:

Der bürokratische Apparat des Stalinismus (der von den Autoren beschrieben, aber nicht als stalinistisch bezeichnet wird) lähmt die Entwicklung der sozialistischen Wirtschaft. Die Arbeiterschaft muß den von ihr geforderten Einfluß auf die Produktion erhalten. Als logische Konsequenz ergibt sich die Forderung nach Arbeiterselbstverwaltung der Betriebe; dieses Postulat wird jedoch in beiden Artikeln nicht ausgesprochen.

Die Folgerungen aus der Verwirklichung dieser Forderungen sind naheliegend: Der stalinistische Apparat würde die Kontrolle über die Wirtschaft verlieren, der Verlust des politischen Einflusses müßte unvermeidlich folgen. Im wirtschaftlichen wie im politischen Sektor würden antistalinistische Kräfte die Oberhand gewinnen und eine ähnliche Entwicklung wie etwa in Polen einleiten können.

Es erscheint zunächst verblüffend, daß die beiden Arbeiten, in denen der Untergang des stalinistischen Wirtschaftssystems konzipiert wird, überhaupt erscheinen konnten. Es ist deshalb anzunehmen, daß die Autoren von einer Gruppe einflußreicher Wirtschaftler in der Führungsspitze der SED gestützt wurden. Zum anderen erwuchs ihnen aus der Sowjetunion eine Hilfe: Die von Chruschtschow proklamierte und vom Obersten Sowjet beschlossene Dezentralisierung der Wirtschaft bedeutete einen ersten Schritt in der gleichen Richtung, die von Behrens und Benary vertreten wird. Die Forderung nach Dezentralisierung wurde durch die Praxis der Sowjetunion sozusagen legalisiert. .

Noch andere Veränderungen in der Sowjetunion haben den Thesen der oppositionellen Politökonomen Gewicht verliehen. In den ersten Oktobertagen 19 57 beschlossen das Zentralkomitee und der Ministerrat der Sowjetunion die Aufhebung des auf den alten zentralistischen Grundsätzen aufgestellten laufenden Fünfjahresplanes. Sie gaben den Auftrag zur Ausarbeitung eines neuen wirtschaftlichen Perspektivplans für einen Zeitraum von sieben Jahren. Bis zum Eintritt dieser neuen Planperiode in einigen Jahren sollen nur noch provisorische Jahrespläne gelten. Damit hat der Stalinismus begonnen, einen wesentlichen Faktor seiner Machtpolitik, den starren, zentralistischen Plan zu beseitigen und an seine Stelle beweglichere, dem modernen Stand der Produktion entsprechende Produktionsformen zu setzen. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß diese Veränderungen im sowjetischen Wirtschaftssystem nicht ohne Auswirkungen auf die Wirtschaftsordnung der Sowjetzone bleiben werden, die mehr als die anderen Länder des Ostblocks von der Sowjetunion abhängig ist.

Durch solche Änderungen würde sich zwangsläufig die Stellung der SED wandeln. Die Partei müßte einen Teil der bei ihr konzentrierten Macht an die Wirtschaftsfunktionäre und auch an die Arbeiterschaft abgeben. Deren wachsendes Selbstbewußtsein drängt ohnehin den stalinistischen Partei-und Staatsapparat mehr und mehr in die Defensive.

Diese Gefahr ist von Ulbricht sehr schnell erkannt worden. Professor Behrens wurde am 1. März 1958, dem dritten Tag der Hochschulkonferenz der SED, gezwungen, eine öffentliche Selbstkritik abzulegen und seine Thesen zu widerrufen. Er tat das in einer Form, die keinen Zweifel über seine tatsächliche Haltung offen läßt. Auf dem 3 5. Plenum des ZK der SED wurde einer der Protektoren von Behrens, der führende Wirtschaftsexperte Fritz Selbmann, scharf angegriffen und des „Managertums" bezichtigt, weil er eigene Gedanken in die Wirtschaftsdogmen der SED hineinbringen wolle. Er versuche, die Kompetenzen der Wirtschaftsfachleute zu verstärken und den Einfluß der Partei zurückzudrängen. Auch er beugte sich der Kritik. Trotz dieser Schein-erfolge des Ulbrichtsystems bei der Unterdrückung der Kritik an seiner Wirtschaftspolitik wirkt die Krise weiter. Das System ist vor die Alternative gestellt: Entweder unterwirft es sich den Bedingungen der modernen Wirtschaft, lockert damit die zentralistische Kontrolle und verliert an Einfluß, oder aber die Krise spitzt sich weiter zu und beschwört neue Konflikte mit der Arbeiterschaft heraus.

IV. Das Regime und die Arbeiterschaft

Auf allen Tagungen des Zentralkomitees der SED ist die SED-feindliche Haltung der Arbeiterschaft Gegenstand ausführlicher und besorgter Diskussionen, die keineswegs zufällig sind.

Seit dem 17. Juni 195 3 verfolgt die SED-Führung die Stimmung der Arbeiterschaft mit Furcht und Mißtrauen. Gewiß sind heute die aktivsten sichtbaren Kräfte der antistalinistisch^n Opposition unter den Intellektuellen zu finden, aber jeder Versuch einer Änderung oder Beseitigung des Stalinismus ist in der Sowjetzone wie im Sowjetblock ohne eine entscheidende Mitwirkung der Arbeiterschaft undenkbar. Wer das Kräfteverhältnis zwischen dem System und der Opposition analysieren will, muß eine Untersuchung der politischen Einstellung der Arbeiterschaft miteinschließen.

Der materiell wirksamste und für das System gefährlichste Widerstand geht von der Arbeiterschaft aus, die ihre Ausbeutung mit Bewußtsein empfindet. Der Schwerpunkt ihrer Auseinandersetzung mit der stalinistischen Bürokratie liegt auf dem innerbetrieblichen Sektor, im Kampf um die gerechte Verteilung der Prämien, gegen die Herabsetzung der Löhne nach Einführung der 45-Stunden-Woche, gegen Normerhöhung und für höhere soziale und betriebliche Leistungen. Ein politisch bewußter, militanter Kern erstrebt die Einführung von Arbeiterräten nach jugoslawischem und polnischem Muster, für die SED deshalb eine tödliche Gefahr, weil ihre Einführung mit der Entmachtung der Bürokratie identisch wäre. Daneben sind sozialdemokratische Einflüsse, zum Teil aus den Traditionen der mitteldeutschen Arbeiterbewegung, ebenso wirksam wie die Auswirkung des westdeutschen Wirtschaftswunders. In einer Umfrage unter geflüchteten Arbeitern „Volkseigener Betriebe“ erklärten sich 3 8 Prozent für die Reprivatisierung der Industrie im Falle einer Wiedervereinigung.

Auch der Versuch, ein sozialistisches Bewußtsein zu schaffen, ist gescheitert; nur wenige Arbeiter fühlen sich als Mitbenutzer der Volks-eigenen Betriebe, das Gros bezeichnet sich als bezahlte Arbeiter und Ausgebeutete. Die Arbeitsnormen werden von der überwiegenden Mehrheit der Arbeiter abgelehnt, nur wenige bejahen das Normsystem. Obwohl die Mehrheit der Arbeiterschaft das System entschieden ablehnt, denkt sie in der Frage des industriellen Eigentums weitgehend in sozialistischen Kategorien. Sie ist gegen den Stalinismus, aber für eine ganz oder teilweise sozialisierte Industrie. Dabei wechseln die Auffassungen vom radikalen Marxismus über eine Sozialisierung mit Zugeständnissen an das Privateigentum, als eine dualistische Wirtschaftsordnung über die Sozialisierung der Grundstoffindustrie und die Beibehaltung eines umfangreichen privaten Sektors, oder eine begrenzte Marktwirtschaft bis zu einer Lösung, wie sie etwa der freien Marktwirtschaft der Bundesrepublik entspricht.

Die Ideologie der Arbeiterschaft bewegt sich in ähnlichen Kategorien: Sie reicht vom reinen Marxismus über eine teilweise, aber nicht überwiegend marxistische Haltung bis zum Antimarxismus. Über die marxistische Gruppe hinaus ist die kommunistische Ideologie in einer Mischung von Verstandenem und Einverstandenem weit verbreitet. Die Gruppe selbst ist für eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel sowie für eine entscheidende Mitbestimmung bei Löhnen, Investitionen und Gewinnverteilung. Sie lehnt die Ausbeutung durch das stalinistische System ab und sieht in der herrschenden Bürokratie eine neue Ausbeuterklasse. Wie mißtrauisch und unsicher die SED-Führung daher gegenüber der Arbeiterschaft ist, zeigt die Auflösung der Arbeiterkomitees, die der unzufriedenen Arbeiterschaft zugestanden worden waren, als die revolutionäre Bewegung von Polen und Ungarn auf die Zone überzugreifen drohte.

Deshalb hat Herbert Warnke der Vorsitzende des FDGB und Kandidat des Politbüros der SED auf der 3 5. Tagung des ZK der SED im Februar 195 8 die offizielle Auflösung der Arbeiterkomitees vorgeschlagen. Dieser Vorschlag basierte bereits auf einem Beschluß des Politbüros und hatte deshalb von Anfang an den Charakter einer Anweisung.

Die Bildung der Arbeiterkomitees wurde im November 19 56 verkündet, als die Ereignisse in Polen und Ungarn auch die Zone in tiefe Unruhe versetzte. Damals hielt es auch Ulbricht für geraten, den Forderungen der Arbeiterschaft nachzugeben. Anfang Dezember wurde auf einer eilig einberufenen „Arbeiterkonferenz“ beschlossen, zunächst in zwanzig Betrieben solche Komitees ins Leben zu rufen, um, wie die Begründung lautete, „Erfahrungen zu sammeln“. Von Anfang an waren diese „Arbeiterkomittes" ein Ablenkungsmanöver der SED, um ein Ventil für die erregte Arbeiterschaft zu schaffen. Schon die zu Beginn geplanten Aufgaben waren sehr beschränkt und hatten nur wenig mit denen der Arbeiterräte gemein, wie sie von der polnischen und ungarischen Arbeiterschaft entwickelt wurden.

Aber selbst die bescheidenen Rechte, die die SED in der damaligen Zeit den Komitees einzuräumen bereit war, schienen schon ihre Existenz zu bedrohen, obwohl die Komitees nur rein betriebliche Rechte wie Kontrolle des Betriebsplanes, Fragen des Produktionsprozesses, der Rationalisierung Verbesserung der Arbeiterorganisation, Sicherung der Rentablität und Senkung der Selbstkosten besaßen.

Die Arbeiterkomitees, die in 18 Betrieben tatsächlich auf Grund des Beschlusses der Arbeiterkonferenz eingerichtet wurden, sind jetzt wieder liquidiert worden. Diese Liqudierung macht kaum Schwierigkeiten, da einmal die Arbeiter wenig Interesse an den Komitees hatten, deren Befugnisse vor vorn herein sehr beschränkt waren und zum Anderen diese Ausschüsse auch schon vor dem Auflösungsbeschluß kaum tätig gewesen waren.

So entpuppte sich der Beschluß des 29. Plenums der SED, Arbeiter-komitees zu bilden, endgültig als ein Ventil für die Unzufriedenheit der Arbeiterschaft und ein Ablenkungsmanöver gegenüber ihren berechtigten Forderungen.

Um sich selbständige Organisationsformen gegen die neue „Bourgeoisie“ in den Betrieben zu schaffen, haben die Arbeiter in den meisten Betrieben die Arbeitsbrigaden zu ihrer organisierten Interessenvertretung ausgebaut Diese Brigaden — ursprünglich von der SED zur Kontrolle der Arbeiter eingerichtet — sind heute zu einem wesentlichen Teil Widerstandszentren der Arbeiter gegen ihre stalinistischen Ausbeuter geworden. In diesen Brigaden wird offen gesprochen. Wer sich nicht den Gesetzen der Brigade unterwirft, wird hinausgedrängt. Die Brigade-leiter sind auf einen guten Kontakt mit ihren Leuten angewiesen, wenn sie die Arbeitsnormen erfüllt sehen wollen. Die Brigaden entwickeln sich zu den kleinsten organisatorischen Einheit der Opposition, sie sind die eigentlichen Zellen des Widerstandes, schon am 17. Juni 19 5 3 spielten sie eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung der Arbeiter. Seit die Betriebskampfgruppen und das System der Geheimagenten jede direkte Aktion unmöglich machen, ist ihre Bedeutung für die pernanente Auseindersetzung zwischen Arbeiterschaft und Bürokratie im Betrieb noch gewachsen.

Audi die bescheidene Hebung des Lebensstandards hat die Opposition innerhalb der Arbeiterschaft nicht beseitigen können. Nach wie vor hat sie in erster Linie wirtschaftliche Ursachen, im Gegensatz zur oppositionellen Intelligenz, die von materiellen Sorgen weitgehend frei ist und sich vor allem mit theoretischen Widersprüchen des Lebensstandards, die Erhöhung der Konsumgüterproduktion, die Beseitigung der Normentreiberei, eine gerechte Verteilung der Prämien, die Abschaflung des Klassensystems in den Betrieben und den Abbau der parasitären Betriebsbürokratie. Die Mehrheit der Arbeiter erstrebt das Recht der Mit-Bestimmung in den Betrieben in Form von Arbeiterräten, die Einführung der Gewinnbeteiligung und die Dezentralisierung des Wirtschaftsapparates.

Die auf dem 33. Plenum des Zentralkomitees der SED unter dem Zwang der Krise eingeleiteten Maßnahmen zur Dezentralisierung der Wirtschaft kommen diesen Bestrebungen entgegen. Die Dezentralisierung verkleinert den bürokratischen Apparat, sie vergrößert die Befugnisse der Betriebsleitungen und bringt die Produktion näher an Produzenten und Verbraucher heran. Obwohl sie keine unmittelbaren Erleichterungen für die Arbeiterschaft enthält, birgt sie doch Elemente, die der Arbeiterschaft in ihrem Kampf um die sozialen Rechte zugute kommen. Zudem hat sie selbst nach den Erfahrungen der ungarischen Revolution realstische Vorstellungen von ihren Zielen und Methoden. Auch steht sie heute nicht mehr isoliert. Die Opposition in der Intelligenz und in der SED selbst gibt ihr ein größeres Gewicht als früher. Die halben Maßnahmen des Systems, wie etwa das Zugeständnis der 45-Stunden-Woche, erscheinen der Arbeiterschaft als Beweis für die Schwäche und Unsicherheit des Regimes und ermutigen sie zum Widerstand. Die Einschränkung der Macht der Geheimpolizei hat zwar die Furcht nicht beseitigt, doch soweit verringert, daß heute im Betrieb freie Diskussionen eher möglich sind als früher. Die SED ihrerseits aber ist bemüht, jede offene Auseinandersetzung mit der Arbeiterschaft im Betrieb zu vermeiden. Noch fehlt den Arbeitern jener enge Kontakt mit der oppositionellen Intelligenz, der in Polen und Ungarn die entscheidende Voraussetzung für die Oktoberrevolution gewesen ist. Die SED läßt nichts unversucht, beide Gruppen voneinander zu trennen und womöglich gegeneinander auszuspielen. Trotz allem vollzieht sich ein stetiger und ständig sich vertiefender Prozeß revolutionärer Bewußtseinsbildung, sowohl unter Zehntausenden von jungen Intellektuellen wie unter den fast zwei Millionen Arbeitern der Zone. Dies bedeutet nicht, daß es zu einer Wiederholung des 17. Juni, zu Ereignissen wie dem polnischen Oktober oder der Revolution in Ungarn kommen muß. Die Erfahrungen des 17. Juni und der ungarischen Revolution haben die Auseinandersetzung zwischen Arbeiterschaft und Stalinismus zunächst auf die innerbetriebliche Ebene verdrängt. Sie vollzieht sich im Rahmen einer gesetzmäßigen Entwicklung des Ostblocks, die evolutionäre Faktoren ebenso wie unbekannte revolutionäre enthält, an deren Ende jedoch die gleiche Emanzipation der Arbeiterschaft stehen wird — mit Koalitionsfreiheit und Streikrecht —, wie sie von den Arbeitern des Westens schon vor langer Zeit erkämpft wurde.

V. Der Widerstand gegen die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften

Im Oktober 1957 befaßte sich die 3 3. Tagung des Zentralkomitees der SED mit einer erneuten Reorganisation von Industrie und Landwirtschaft. Während für die Industrie erste Maßnahmen der Dezentralisierung nach dem Vorbild der Sowjetunion beschlossen wurden, wandte sich Ulbricht entschieden gegen jede Reform der bisherigen Agrarpolitik. Er kündigte an, die Kolchosierung der mitteldeutschen Landwirtschaft werde verstärkt weitergeführt. Damit wird eine Entwicklung fortgesetzt, die in den fünf Jahren ihres Bestehens zu katastrophalen Folgen für die Landwirtschaft und für die Versorgung der Bevölkerung geführt hat.

Der Kampf gegen die selbständigen Bauern trat in seine entscheidende Phase, als auf der zweiten Parteikonferenz der SED im Juli 1952 die Errichtung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) proklamiert wurde. Bis dahin war die Landwirtschaftspolitik nur auf eine indirekte Liquidierung der selbständigen Bauern angelegt. Zahlreiche bäuerliche Kleinbetriebe, aus der Aufteilung von Groß-und Mittelbetrieben entstanden, gerieten durch staatliche Kredite schon frühzeitig in materielle Abhängigkeit vom System. Die staatlichen Maschinen-Traktoren-Stationen (MTS) erhielten das Monopol für alle landwirtschaftlichen Maschinen und verschärften die Abhängigkeit der Bauern wesentlich. Schon vor der offiziellen Kollektivierung mußte der Einzelbauer seine gesamte Arbeitsplanung dem Arbeitsprogramm der MTS unterordnen. Durch gestaffelte Pflichtablieferungsnormen und MTS-Tarife die nicht von wirtschaftlichen, sondern von politischen Gesichtspunkten bestimmt waren, wurden alle selbständigen Bauernwirtschaften über 10 ha aufs äußerste benachteiligt. So mußte z. B. im Jahre 195 3 ein Bauernhof unter 5 ha 5, 2 Doppelzentner Getreide pro ha abliefern, ein Betrieb über 50 ha hingegen 18, 7 Doppelzenter. Noch krasser war die Staffelung bei den Tarifen der Maschinen-Traktoren-Stationen. Während 1954 die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften für das Pflügen eines Hektar 9, — DM bis 15, — DM an die MTS zu zahlen hatten, wurde der Privatbetrieb von mehr als 20 ha für die gleiche Tätigkeit mit 58, 50 DM bis 68, — DM belastet Getreidemähen kostete die Produktionsgenossenschaften 12, DM pro ha, den Privatbetrieb dagegen 40, — DM; Kartoffelroden die Produktionsgenossenschaften 16, — DM und den Einzelbauern 75, — DM pro ha.

Die Beseitigung der privaten Großbetriebe auf dem Lande durch die Bodenreform war der erste Schritt zur Umgestaltung der Landwirtschaft; der zweite war die Beseitigung jener Groß-und Mittelbauern mit einen Besitz bis 100 ha, die von der Enteignung der Bodenreform verschont geblieben waren. Schließlich wurde eine umfassende politische Kampagne gegen die bäuerlichen Mittelschichten eingeleitet. Zahlreiche Bauern wurden verhaftet, Zehntausende von ihren Höfen vertrieben. Von 1950 bis 195 3 verminderte sich die Zahl der Bauernhöfe in der Sowjetzone um mehr als 100 000 Betriebe mit rund anderthalb Mill, ha. landwirtschaftlicher Nutzfläche. Der Anteil der Mittel-und großbäuerlichen Betriebe ging in dieser Zeit um 59, 1 Prozent zurück.

Der Angriff auf die kleinbäuerlichen Betriebe begann unmittelbar nach der zweiten Parteikonferenz durch die gewaltsame Einführung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Im Dezember 1954 bestanden bereits 5108 solcher Genossenschaften mit 133 300 Mitgliedern und einer Gesamtfläche von 700 000 ha. Sie entstanden aus der Zusammenlegung von 60 000 Privatbetrieben. Viele Bauern, die dem Druck des Systems nicht standzuhalten vermochten, kamen nach dem Westen. 1950 flüchteten rund 4000, 1952 14 000 und 1953 über 37 000 Bauern. In den folgenden Jahren ging die Zahl wieder zurück, da das Regime nach dem Juni-Aufstand gezwungen war, die Lage der selbständigen Bauern zu erleichtern. Dennoch krankt die Landwirtschaft heute an einem dauernden Arbeitskräftemangel, der letztlich auf diese Bauernflucht zurückzuführen ist.

Aus allen diesen Faktoren entwickelte sich sehr bald eine permanente Krise der sowjetzonalen Landwirtschaft, die auch vom Zentralkomitee der SED nicht ignoriert werden konnte. 19 5 5 — drei Jahre nach Beginn der Kollektivierung — versuchte die SED-Führung, dieser Krise durch ein neues System der Agrarplanung Herr zu werden. Der Versuch scheiterte. Am 1. Januar 1956 mußte der Viehhalteplan offiziell abgeschafft werden. Der Gesamtplan der Landwirtschaft wurde nur zu 87 Prozent erfüllt. Dabei erbrachten die sog. „sozialistischen Betriebe nur 10 Prozent der Produkte, obwohl sie 20 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche bearbeiteten. Wie unrentabel sie sind, geht aus folgenden Zahlen hervor: im Jahre 1955 haben die-landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften 492 Millionen Mark an Subventionen erhalten, z. Zt. erhalten sie aus dem Steueraufkommen der Bevölkerung verlorene Zuschüsse und Kredite in Höhe von jährlich etwa 800 Millionen Mark. Bis zum Jahresende 19 56 wurde ihre Verschuldung mit 1, 2 Milliarden Mark angegeben.

Auch die Einnahmen der Maschinen-Traktoren-Stationen liegen weit unter den Ausgaben. Die staatlichen Investitionen für sie betrugen 1956 838 Millionen Mark, im Jahre 1957 964 Millionen. Der ständige Ausbau der Stationen steht in keinem Verhältnis zu ihren Leistungen.

Rund 25 Prozent der Traktoren fallen jährlich durch Reparaturen, fehlende Ersatzteile usw. aus. Die durchschnittliche Lebensdauer des sowjetzonalen Traktors beträgt nur ein Drittel der einer westdeutschen Zugmaschine. Trotz ihrer Kostspieligkeit werden die Stationen nicht aufgelassen, weil sie neben der wirtschaftlichen Ausbeutung der Bauern auch die politische Kontrolle über das Dorf sichern. Kämen die Einzel-bauern oder Genossenschaften in den Besitz eigener Maschinenparks, so würden sie weitgehend unabhängig und gefährdeten den Bestand des Systems in einem entscheidenden Sektor.

Es steht außer Frage, daß seit Beginn der Zwangskollektivierung die Agrarpolitik der SED von der mitteldeutschen Bauernschaft ge schlossen abgelehnt wird. Diese Ablehnung resultiert nicht aus einer ideologischen Überlegung, sie erwächst vielmehr aus dem täglichen Kampf um die Erhaltung der materiellen Existenz. Darum ist sie grundsätzlich und kompromißlos. Die Bauern sehen im System der Maschinen-Traktoren-Stationen ein Instrument der Ausbeutung. Sie streben heute mehr denn je nach dem privaten landwirtschaftlichen Betrieb. Wer ihn bisher zu erhalten vermochte, verteidigt ihn unter sehr oft sehr schweren persönlichen Opfern weiter und sucht die hohen Ablieferungsnormen nach Möglichkeit einzuhalten, um dem System keinen Vorwand für Kollektivierungsmaßnahmen zu geben. Trotz des starken wirtschaftlichen und politischen Druckes weigern sich die Bauern, dem landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften beizutreten, deren Nutzfläche sich in den letzten Jahren zum größten Teil nur durch Übernahme von Ländereien geflüchteter Bauern vergrößert hat.

Aus der täglichen Erfahrung heraus haben die Bauern sehr klare Vorstellungen davon, welche Veränderungen auf dem Lande erforderlich sind. An erster Stelle müßten die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften wieder in bäuerliche Einzelbetriebe aufgeteilt werden. Nicht weniger wichtig erscheint ihnen die Auflösung der Maschinen-Traktoren-Stationen und die individuelle oder genossenschaftliche Nutzung des Maschinenparks. Die Anbaupläne sollen der freien Entscheidung des Einzelbauern überlassen bleiben.

Die Ablehnung der stalinistischen Agrarpolitik hat die Partei auf dem Lande völlig isoliert. Das System wird nur durch eine kleine Funktionärschicht in den Genossenschaften und Maschinenstationen repräsentiert, die als neue herrschende Klasse die verfemte Kaste der Gutsbesitzer abgelöst hat. Dabei ist an die Stelle der partiellen Abhängigkeit der Bauern und Landarbeiter eine totale Unterdrückung getreten, deren Methoden und soziale Merkmale jenen der Leibeigenschaft durchaus ähnlich sind. Der bäuerlichen Opposition fehlen zum Unterschied von der Arbeiteropposition die betrieblichen Zentren, in denen sich das politische Bewußtsein schneller entwickelt. Im Gegensatz zur Intelligenz ist die Bauernschaft ohne Ideologie. Trotzdem haben die Bauern die Forderungen wohl begriffen, die von führenden Agrarwissenschaftlern der SED nach der Revolution in Polen und Ungarn erhoben wurden. Wie auf dem industriellen Sektor gibt es auch hier eine dem Druck der Massen entsprechende ideologische Opposition in der Spitze der SED. Ihr Repäsentant war der Leiter des Instituts für Agrarökonomie an der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften.

Prof. Kurt Vieweg. Vieweg hatte früher an führender Stelle bei Durchführung der Bodenreform mitgewirkt. Die stalinistische Agrarpolitik und ihre Ergebnissen trieben ihn jedoch in das Lager der Ulbricht-Opposition. Er flüchtete schließlich in die Bundesrepublik, ist aber Anfang 1958 wieder in die Zone zurückgekehrt, und wurde sofort verhaftet. Seine Ideen können aber als typisch für die Auffassungen der jungen Generation der Agrarwissenschaftler gelten.

Sie fordern zunächst die Auflösung aller unrentablen Landwirtschaftlichen Produktionsgemeinschaften; das sind rund 80 Prozent. Sie treten grundsätzlich für die freie Entscheidung der Bauern darüber ein, in welcher Form sie den Boden bewirtschaften wollen. Dieser Grundsatz würde zweifellos das Ende aller Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften bedeuten. Als rationellste Form des Einzelbetriebes wird der landwirtschaftliche Familienbetrieb von 40— 60 ha angesehen. Auf ihn soll die finanzielle und wirtschaftliche Hilfe der Regierung konzentriert werden, die auf der Grundlage einer freiwilligen Entscheidung vielleicht doch verbleibenden Genossenschaften sollen den Privatbetrieben völlig gleichgestellt werden und keine Sonderstellung mehr einnehmen. Besonderen Wert legen die Agrarwissenschaftler auf die Forderung, alle Maschinen-Traktoren-Stationen aufzulösen. Sie sollen zu Reparaturwerkstätten umgebaut und nach schwedischem Vorbild den Gemeinden unterstellt werden. Ihr Maschinenpark soll auf Einzelbetriebe oder bäuerliche Genossenschaften verteilt werden. Ein gesunder Wettbewerb bäuerlicher Betriebe wird als entscheidende Voraussetzung zur Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge angesehen.

Einen Schritt in dieser Richtung bedeutet die Mitte März 1958 vom Obersten Sowjet der UdSSR verkündete Auflösung aller Maschinen-Traktoren-Stationen in der Sowjetunion und die Überführung ihrer Maschinenparks in den Besitz der Kolchosen.

Zur gleichen Zeit, als Chruschtschow im Januar 195 8 das Programm zur Auflösung der MTS proklamierte, hat die SED in Güstrow auf der II. MTS-Konferenz (24. bis 26. Januar 1958) den verstärkten Ausbau dieser Stationen beschlossen. Die Erklärung der SED für diese unterschiedliche Entwicklung zeigte deutlich, daß die MTS in erster Linie Instrumente zur Beherrschung der Bauern sind, daß sie dem Dorf nicht helfen, wie von der Parteiagitation stets behauptet wird. In der UdSSR — so wird begründet — habe der Klassenkampf auf dem Dorf aufgehört, die überwiegende Mehrheit der Bauern sei in Kolchosen erfaßt, damit habe die MTS ihren Zweck erfüllt und können aufgelöst werden. In der DDR dagegen sei dieser Zustand noch nicht erreicht, deshalb müsse die Tätigkeit der MTS gesteigert werden. Der SED geht es also weniger um die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion, sondern mehr um die Realisierung eines Dogmas auf Kosten des Lebenstandards der Bevölkerung.

Aus der einheitlichen stalinistischen Struktur des Ostblocks ergibt sich, daß die Opposition der Bauern in der Sowjetzone mit den Bestrebungen der bäuerlichen Opposition in allen Ostblockstaaten übereinstimmt. Die Entwicklung in Jugoslawien und Polen hat bereits zum Freiwilligkeitsprinzip der Kolchosen geführt. Ihm ist in diesen Ländern die überwiegende Mehrzahl der Kolchosen zum Opfer gefallen. Wohl tendiert der neue Kurs der SED vorerst zu verschärfter Kolchosierung. Er widersteht damit aber den Entwicklungsgesetzen im Ostblock, die seit dem Tode Stalin sichtbar geworden sind, und deren Auswirkungen sich früher oder später auch in der Agrarpolitik der Sowjetzone zeigen werden. Denn noch immer haben sich die grundsätzlichen politischen Kursänderungen im Ostblock — gewiß bisweilen mit großer Verspätung — auch in der Sowjetzone durchgesetzt.

VI. Die Gegner innerhalb der SED

Vom 3. bis 6. Februar tagte in Ostberlin das 3 5. Plenum des ZK der SED. Seit der Spaltung des Politbüros anläßlich des Juniaufstandes 1953, die mit dem Ausschluß der Politbüro-Mitglieder Herrnstadt, Zaisser, Jendretzky, Ackermann usw. endete, gab es in der Führungsspitze der SED keine so folgenschwere Auseinandersetzung wie anläßlich der Diskussion um die „revisionistischen“ Abweichungen der Gruppe Schirdewan, ÖIßner, Wollweber u. a. auf diesem 3 5 Plenum. In beiden Fällen — im Juni 1953 und im Februar 1958 — hat es sich um die politischen Auffassungen einzelner Parteiführer gehandelt. Ihre Opposition gegen den starren stalinistischen Kurs von Ulbricht und seinen Anhängern war nur der sichtbare Ausdruck der Opposition breiter Teile der Mitgliedschaft und des Funktionärkörpers der SED. Aus dem Bericht des Kandidaten des Politbüros und ergebenen Anhängers Ulbrichts, Erich Honecker, ergibt sich klar, daß die Fraktionskämpfe bereits seit Jahren bestanden haben. Honecker sagte in seiner Rede u. a.: „Das Politbüro sieht sich verpflichtet, das Zentralkomitee über Auseinandersetzungen mit einer Gruppe von leitenden Genossen zu unter richten, die fraktionsmäßig gearbeitet haben und das Ziel verfolgten, die politische Linie der Partei zu ändern.

Im Oktober 1956 kam es im Zusammenhang mit der Vorbereitung des 29. Plenums des Zentralkomitees unserer Partei in zwei Sitzungen des Politbüros zu scharfen Auseinandersetzungen mit Genossen Schirdewan. Bei der Beratung des Entwurfes des Bericlttes des Politbüros an das 29. Plenum des Zentralkomitees, der vom Genossen Schirdewan vorgelegt wurde, gab es am Entwurf des Berichtes eine schaife Kritik. Zwei grundlegende Fehler waren darin enthalten:

1. eine nicht richtige Einschätzung der Lage, eine Unterschätzung der NATO-Politik und der umfassenden Versuche der deutschen Militaristen, die Deutsche Demokratische Republik zu unterminieren;

2. es wurde von Demokratisierung gesprochen, aber nicht von der Notwendigkeit, Sicherungsmaßnahmen gegen die Unterminierungsarbeit des Gegners zu treffen.

Genosse Schirdewan vertrat auch in Fragen über die Rolle der Partei im System der Arbeiter-und-Bauern-Macht andere Auffassungen als das Politbüro. Nach seiner Meinung sollte man die damaligen Erscheinungen von feindlichem Auftreten nicht sehr ernst nehmen, man sollte Auseinandersetzungen sielt entwickeln lassen. In der Konsequenz bedeutete das aber nicht anderes, als die feindliche Tätigkeit zuzulassen. Die Genossen des Politbüros haben gegen die vom Genossen Schirdewan vertretenen Auffassungen Stellung genommen.

In seinem kleinbürgerlichen Größenwahn sah Genosse Schirdewan nur eine Seite in der Entwicklung der Volksdemokratie. Er ging nicht klassenmäßig an die Frage heran. Genosse Schirdewan spitzte die Auseinandersetzungen noch dadurch zu, indem er die Politik der Partei, wie sie unter Führung des Zentralkomitees und seines Ersten Sekretärs durchgeführt wird, in verleumderischer Art und Weise herabsetzte. Anstatt daß Genosse Schirdewan sorgfältig die Entwiddung an Hand der Ereignisse und Tatsachen geprüft hätte, um zu einer richtigen Einschätzung der Lage zu gelangen, ging er zum prinzipienlosen Kampf über.

Hinzu kommt, daß es damals audt taktische Differenzen gab. Genosse Schirdewan war der Meinung, daß man die Taktik des Ventils, die ja damals in Polen und Ungarn angewandt wurde, anwenden müsse. Die Meinung des Politbüros aber war, daß man feindlidre Ansdiauungen entsdiieden bekämpfen und zugleich einen breiten Meinungsaustausdt entfalten muß.

Bei den Genossen Sdtirdewan, Wollweber und anderen bestand offenkundig die Meinung, daß die Politik der Partei, wie sie vom Zentralkomitee ausgearbeitet wurde, zu Schwierigkeiten führen würde Sie spekulierten auf die Schwierigkeiten, die mit der weiteren Entwiddung der sozialistischen Umgestaltung in der Deutsdten Demokratischen Republik verbunden sind. Die Ursadten für eine soldie Haltung liegen ohne Zweifel darin, daß Genosse Sdtirdewan und andere die Besdtlüsse des XX. Parteitages falsdi verstanden haben. Sie waren der Meinung, dajl die Politik der Entspannung audt ein Nadtlassen des Kampfes gegen den Klassenfeind bedeutet. Sie verstanden nicht, daß die erfolgreidte Durchführung der Besdtlüsse des XX. Parteitages und der 3. Parteikonferenz die Stärkung der Deutsdten Demokratischen Republik zur Voraussetzung hat. Das ganze Verhalten der Gruppe zeigte, daß sie eine opportunistische Position einnahm.

In weldten Grundfragen mußte sich die Partei seit Herbst 1956 hauptsächlich auseinandersetzen? Worin bestanden die Differenzen?

In der opportunistischen Auslegung der Ergebnisse des XX. Partei-tages der KPdSU;

in der Kurzsichtigkeit gegenüber den Erscheinungen ideologischer und materieller Diversionsarbeit der Feinde;

in der Unterschätzung der Einflüsse der bürgerlichen Ideologie, die bis in die Partei eingedrungen waren;

in dem Nichtverstehenwollen jener Gefahren, die sich aus der illusionären Auffassung ergaben, die Einheit Deutschlands um jeden Preis herbeizuführen.

Das Politbüro mußte sich auch mit Auseinandersetzungen an der Parteihochschule beschäftigen. Um was ging es dabei? Im Jahre 1956 waren unter dem Ded^mantel des Kampfes gegen den Dogmatismus bürgerliche Einflüsse in die Parteihochschule eingedrungen. In Verbindung mit der Auswertung der 3. Parteikonferenz wurde im Sekretariat des Zentralkomitees Kritik am Dogmatismus in der Durchführung des Studiums an der Parteihochschule geübt. Das war richtig. Die verantwortlichen Genossen im Zentralkomitee und der Direktor der Parteihochscltule wurden beauftragt, die notwendigen Änderungen herbeizuführen. Es war jedoch — wie das Politbüro des Zentralkomitees feststellte — nicht richtig, einseitig den Kampf gegen den Dogmatismus zu führen. Vertreter der Abteilung Leitende Parteiorgane, die vom Genossen Schirdewan orientiert wurden, führten an der Parteihochschule den Kampf einseitig gegen den Dogmatismus und dabei ist bei einigen Genossen Lehrern eine Revision der Leninschen Lehre von der Partei herausgekommen. Auf Grund der falschen Orientierung der damaligen Parteileitung der Grundorganisation Unterricht an der Parteihochschule konnte es geschehen, daß in der Parteigruppe „Dialektischer Materialismus“ starke Tendenzen der Koexistenz in ideologischen Fragen auftraten und eine parteifeindliche revisionistische Lektion zum Thema „Partei — Klasse — Masse“ ausgearbeitet wurde. Es wurde weiter ein prinzipienloser Kampf gegen die Leiterin der Schule, die Kandidatin unseres Zentralkomitees Genossin Hanna Wolf, geführt, die in den ideologischen Auseinandersetzungen auf der Parteihochschule gemeinsam mit anderen Genossen den Kampf gegen den Revisionismus führte. Das Politbüro traf Maßnahmen zur Änderung dieser Lage.

Das Politbüro sieht sich weiter veranlaßt, das Zentralkomitee darüber zu unterrichten, wie sich Genosse Oelßner bei diesen Auseinandersetzungen verhalten hat. Es ist so, daß Genosse Oelßner gegenüber den provokatorischen Ausfällen des Genossen Schirdewan nicht partei-mäßig aufgetreten ist. Statt die Provokationen des Genossen Schirdewan, gemeinsam mit den Genossen des Politbüros, zurückzuweisen, hat er seinerseits den Angriff geführt. Was war seine Konzeption? Es gab bei uns Diskussionen, wie sie in jeder Parteiführung normalerweise stattfinden. Genosse Oelßner bestand aber darauf, daß die Mehrheit verpflichtet ist, sich seiner Meinung zu fügen. Genosse Oelßner vertrat in bezug auf die sozialistische Umgestaltung auf dem Lande Auffassungen, die auf eine opportunistische Entstellung der Landwirtschaftspolitik der Partei hinausliefen. Es gab Diskussionen über die Frage der Vereinfachung der Leitung des Staates, in einigen Fragen hinsichtlich der Vereinfachung und Vervollkommnung der Leitung des Staates warf er dem Politbüro unter anderem vor, eine Linie zu beziehen, die er „als Rückfall auf die vormonopolistische Stufe des Kapitalismus" bezeichnen müsse.“

Soweit die Ausführungen Honeckers.

Die Opposition von Schirdewan und seinen Anhängern erwuchs aus marxistischen Vorstellungen, sie hat mit westlichen Kategorien wenig gemein. Als Kaderchef der SED, dem auch die Informationsabteilung der Partei unterstand, war Schirdewan besser als viele andere über die wirkliche Lage in der Zone und in der SED orientiert. Deshalb nahm er auch die Thesen des XX. Parteitages der KPdSU und die Ereignisse in Polen und Ungarn ernster. Ähnlich wie Gomulka wollte er die Politik des Ventils betreiben und der Entstalinisierung auch in der Zone Raum geben.

Zweifellos ist er der gefährlichste Gegner Ulbrichts, er verfügt über reiche politische Erfahrung und ist mit dem unteren Parteiapparat auf das engste verbunden. Dort vor allem sitzen seine Anhänger. Trotz großer Chancen mußte Schirdewan jedoch scheitern, weil er darauf verzichtet hat, mit seinen Thesen an die Öffentlichkeit zu treten. Isoliert von der Masse der Mitglieder und Funktionäre, hat er seine Auffassungen allein im Politbüro und Sekretariat der SED vertreten, aber weder die Presse noch seine zahlreichen Verbindungen nach unten ausgenutzt. Trotz seines Sturzes aber muß Schirdewan auch heute noch als der Kopf der inneren Parteiopposition bezeichnet werden, wobei die Tatsache besondere Beachtung verdient, daß er sich bis heute geweigert hat, die übliche Selbstkritik abzulegen. Er hat im Gegenteil — ein seltenes Beispiel in der Geschichte der stalinistischen Säuberungen — bei der Abstimmung gegen seinen eigenen Ausschluß gestimmt, er hat nicht kapituliert, in der genauen Kenntnis seines Einflusses im Parteiapparat der SED und in den Führungen der Massenorganisationen.

Auch Fred Oelßner, eine der intelligentesten Führungspersönlichkeiten mit guten Verbindungen zur Intelligenz innerhalb und außerhalb der SED, kennt seinen Einfluß. Beide sind heute Repräsentanten der Partei-organisation, die damit zum ersten Male seit 1945 eine profilierte Führung besitzt, unter den Parteimitgliedern und Funktionären Einfluß hat auch wenn sie zur Zeit ausgeschaltet sein sollte. Die Auseinandersetzung zwischen Wollweber und Ulbricht muß dabei ausgeklammert werden. Zwar war auch Wollweber — durch sein SSD-Spitzelsystem gut informiert — für eine Reform der SED. Ähnlich wie Beria in der UdSSR, strebte er nach einer begrenzten Reform von oben unter der Kontrolle der Geheimpolizei, deren Macht er ständig verstärkte. Schon allein daraus erwuchs der Konflikt zwischen ihm und Ulbricht, der durch den SSD seine eigene Machtposition gefährdet sah. Auch Wollweber wollte jede offene Opposition ausschalten, jedoch mit anderen Mitteln. Dennoch kann er nicht als Repräsentant der Opposition gewertet werden, da er durch seine Belastung als ehemaliger Chef des SSD auch in Kreisen der Partei isoliert ist.

Wie breit jedoch die Anhängerschaft von Schirdewan und Oelßner ist, zeigen viele Beispiele aus den Grundorganisationen der SED nach Bekanntwerden der Beschlüsse des 35. Plenums. Die Verwirrung in vielen Einheiten war groß. Es kam zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen den Referenten der Kreisleitungen, von denen die Beschlüsse begründet wurden und den unteren Funktionären und Parteimitgliedern. Noch stärker als nach dem 17. Juni 195 3 wurden die von den Kreis-leitungen vorbereiteten Begrüßungsadressen seitens der Mitglieder abgelehnt. Selbst Parteigruppen, in denen bisher nie ideologische Auseinandersetzungen stattgefunden hatten, wehrten sich gegen die Verurteilung von Schirdewan und Oelßner. Die Bewegung aber beschränkte sich nicht nur auf die unteren Organisationen. Schirdewan hatte viele Anhänger auch in den Bezirksleitungen und Kreisverbänden. Auch hier lief bereits die Säuberung an.

In Halle wurde eine Brigade des ZK der SED eingesetzt, der SED-Bezirsksekretär Bruß und der Bezirksratsvorsitzender Becker wurden ihrer Funktionen enthoben. Ähnliche Maßnahmen wurden auch im Bezirk Magdeburg durchgeführt. Auch der erste Sekretär der Schweriner Kreisorganisation der SED, Zorn, wurde abgesetzt und in einen Betrieb geschickt. Zahlreiche Professoren und wissenschaftliche Assistenten wurden gemaßregelt. Gleichzeitig griff die Säuberung auf die der SED angeschlossenen Massenorganisationen über.

Auf der 20. Tagung des Zentralrates der FDJ (18. bis 20. März 195 8) wurde der langjährige und bewährte Redakteur des Zentralorgans der FDJ „Junge Welt“ Dieter Schmotz ausgeschlossen und aller Funktionen enthoben. Im Beschluß heißt es wörtlich: „Auf Grund seiner opportunistischen Haltung zur Auswertung des XX. Parteitages der KPdSU in der DDR, seinen zeitweisen Schwankungen in Grundfragen der Politik von Partei und Regierung, der Leugnung der führenden Rolle der SED und des Verstosses gegen Beschlüsse der FDJ wurde der Jugendfreund Dieter Schmotz einstimmig — bei Stimmenthaltung von Dieter Schmotz aus dem Zentralrat ausgeschlossen."

In den Verlagen der FDJ sind gegenwärtig „zur Förderung der Auseinandersetzungen“ tätig.

Nun kann kein Zweifel daran bestehen, daß auch die oppositionellen Spitzenfunktionäre Schirdewan und Oelßner an der Erhaltung kommunistischer Grundelemente interessiert sind, auch sie würden ihre Politik nur in Anlehnung an die Sowjets fortführen. Trotzdem würde die Verwirklichung ihrer — begrenzten — Ziele einen Fortschritt für die Bevölkerung selbst darstellen. Zudem bleibt offen, ob nicht eine Anti-Ulbricht-Fraktion vor allem unter dem Druck der Opposition in der Partei selbst zu weiteren Konzessionen gewungen würde, die zwar keineswegs westlichen Zielsetzungen entsprechen, aber für die mitteldeutsche Bevölkerung mit wirtschaftlichen und politischen Erleichterungen verbunden sein würden.

Der entscheidende Druck in Richtung dieser Entwicklung kann natürlicherweise nur von der Opposition der Mitglieder und Funktionäre in der SED selbst erfolgen, die unter dem Einfluß der Revolutionären in Polen und Ungarn erstmalig aktiviert wurde. Seit damals zwingt sie die Parteiführung zu Maßnahmen gegen ihre oppositionellen Genossen.

Bei den damit verbundenen Verhaftungen und Verurteilungen handelt es sich nicht um Einzelfälle, selbst offizielle Verlautbarungen sprechen vom Bestehen einer breiten wenn auch nicht organisierten Parteiopposition. So erklärte schon auf dem 3 2. Plenum des Zentralkomitees der SED im Juli 1957 der Betriebsleiter der Leuna-Werke, Professor Wolfgang Schirmer:

„Sowohl unter den Arbeitern als auch unter den Meistern und der Intelligenz gab es Zweifel an der Richtigkeit des von uns eingeschlagenen sozialistischen Weges . . . Der Unglaube an den Endsieg besteht bei fielen“.

Ähnliche Berichte liegen aus anderen Betrieben vor. Hier stehen die Mitglieder und untergeordneten Funktionäre der SED täglich unter dem Einfluß der materiell unzufriedenen Arbeiterschaft. Sie fühlen sich von der Parteiführung im Stich gelassen, für deren unsoziale und arbeiter-feindliche Politik sie von den Werktätigen verantwortlich gemacht werden. Da auch die kleinen SED-Funktionäre zur Arbeiterschaft gehören, deren soziale Anliegen sie zu einem großen Teil aus Überzeugung vertreten, geraten sie zwangsläufig in wachsenden Widerspruch zu ihrer eigenen Parteiführung.

Die Opposition äußert sich zunächst durch Passivität in der Partei-arbeit. In vielen Betrieben weigern sich die Mitglieder, an den Veranstaltungen der SED-Betriebsgruppen teilzunehmen. Sie entziehen sich jeder sogenannten „ideologischen Offensive“ mit ihren gelenkten Diskussionen ebenso wie den Übungen der Kampfgruppen, die für den Bürgerkrieg gedrillt werden. In seinem Bericht über eine Kreisparteiaktivtagung konstatiert das Erfurter SED-Organ „Das Volk“: . . Die Genossen Parteiaktivisten stellten fest, das sich in der verbreiteten Tendenz, nur einen ungenügenden Kampf um die Durdtsetzung der gefaßten Beschlüsse zu führen, fauler Liberalismus ausdrückt. ..."

Die „Sächsische Zeitung“ schreibt: „. . . Man muß sich mit den inaktiven Genossen und denen, die nicht allseitig unsere Politik vertreten, auseinandersetzen. . . . Sie gehen den Auseinandersetzungen aus dem Wege und sind der Meinung, das solle nur der Parteisekretär machen. ..."

Charakteristisch ist die Entwicklung der Opposition in dem von der SED gelenkten und kontrollierten Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, dessen Funktionäre fast ausschließlich SED-Mitglieder sind. Im Verlauf der Diskussion um die Einführung der 4 5-Stunden-Woche kam es in den Betrieben zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Belegschaften und den oppositionellen SED-Mitgliedern einerseits und den linientreuen Funktionären andererseits. LInter dem Druck der Werktätigen wagten diese Funktionäre nicht mehr, den Standpunkt von Partei und Regierung über die Ablehnung der Fünf-Tage-Woche und des vollen Lohnausgleichs bei gleicher Arbeitsleistung zu vertreten. Sie beschworen ihre zentralen Leitungen wörtlich: „doch nur ja nicht dadurch, daß man sich wiederum über die Forderungen der Arbeiterschaft hinweggesetzt, einen neuen, verhängnisvollen Fehler zu machen“. Auch auf der 32. Tagung des Zentralkomitees berichtete der ZK-Sekretär Neumann: „In vielen Gewerkschaftsleitungen, besonders einiger Industriezweige wie Schwerchemie und Metall, zeigte sich eine starke Tendenz, sich nur mit sozialen und ökonomischen Fragen zu befassen und — grob gesagt — eine Position der politisd-ien Neutralität zu beziehen. Gegen bestimmte Auffassungen des Revisionismus bei Gewerkschaftsfunktionären haben die Parteiorganisationen in den Vorständen eine ungenügende Auseinandersetzung geführt. Es ist deshalb notwendig, das Zentralkomitee auf einige ungesunde politische Entwicklungsmomente in den Gewerkschaften aufmerksam zu machen.“

In allen diesen offiziellen Verlautbarungen offenbart sich eine Opposition der SED-Mitglieder und der kleinen Funktionäre, die innerlich auf Seiten der Arbeiterschaft stehen und deren Ablehnung des gegenwärtigen Zustandes vollauf teilen.

Die SED-Opposition in den Betrieben ist das Ergebnis der wirtschaftlich und sozial schlechten Lage der Arbeiterschaft. Neben ihr hat sich die Opposition der'Parteiintelligenz entwickelt, die aus den Widersprüchen zwischen marxistischer Ideologie und stalinistischer Praxis resultiert. Diese oppositionelle Intelligenz verkörpert für das System deshalb eine besondere Gefahr, weil sie die unzufriedene, aber führungslose Masse — ähnlich wie in Polen und Lingam — in eine revolutionäre Entwicklung lenken könnte. Ulbricht selbst hat auf dem 30. Plenum des Zentralkomitees der SED vom 30. Januar bis 1. Februar 19 57 die wesentlichen Forderungen der intellektuellen Parteiopposition kurz umrissen. Als wichtigste nannte er die Forderung nach nationaler Unabhängigkeit der Volksdemokratien. Der parteifeindliche Charakter zeigte sich laut Ulbricht weiter: . . in der Ablehnung der Staatstheorie des Marxismus-Leninismus, in der Herabminderung der führenden Rolle der revolutionären Partei der Arbeiterklasse, in der Auflösung der Planwirtschaft und ihrer Ersetzung durch die „. Selbstverwaltung der Produzenten , in der Ablehnung der marxistisch-leninistischen Bündnispolitik der Arbeiterklasse mit den werktätigen Bauern, in der Ablehnung der festen Zusammenarbeit der marxistisch-leninistischen Parteien in den volksdemokratischen Ländern unter der Führung der Sowjetunion.“

Die Akademie für Staats-und Rechtswissenschaft — in den Augen der Machthaber ein Zentrum der Parteiopposition — forderte nach Ulbricht: eine Wendung zur Orientierung auf die Spontaneität der Massen in der Wirtschaft, weld^e durch Instrumente der Marktwirtschaft und einige Reste der Planung geleitet werden sollte. . . . Ihren Höhepunkt finden diese Auffassungen in der Forderung, den Staat schrittweise absterben zu lassen und die Selbstverwaltung im gesellschaftlichen Leben und in der Wirtschaft an seine Stelle zu setzen. . . . Der demokratische Sozialismus sollte nach Meinung einiger Genossen durch die Selbständigkeit und die Entscheidung allgemeiner Fragen, durch Diskussion und Stellungnahme in den Grundorganisationen beseitigt werden. ... Es traten Genossen gegen die Parteidisziplin auf, zu der sich nach dem Parteistatut jedes Mitglied verpflichtet hat. . . . Andere Genossen verwistFiten das Verhältnis zwischen der Partei und den Massen, sie faßten die Verbindung mit den Massen so auf, daß die selbständige Rolle der Partei aufhört. Bei einigen Genossen zeigte sich das Streben nach Unabhängigkeit von der Partei. ..."

Soweit Ulbricht auf dem 30. Plenum des ZK der SED.

So unterschiedlich nun die verschiedenen Gruppen innerhalb der SED sein mögen, in einer Reihe Fragen sind sie sich einig.

Das Hauptanliegen der Parteiopposition ist eine Reform der SED durch Demokratisierung des Parteiapparats, größere Rechte für die Mitglieder, Mitbestimmung bei der Politik der Parteiführung und personelle Änderungen der Parteispitze. Die Herrschaft des Parteiapparats über die Mitglieder soll beseitigt, er soll verkleinert, entbürokratisiert und der Kontrolle durch die Mitglieder unterworfen werden. Diese Forderungen werden zum Teil bis in Einzelheiten ausgeführt. Ein Teil der oppositionellen Funktionäre verlangt die Urwahl aller Parteiorgane von unten nach oben, andere wollen vor allem die Parteizelle zur wichtigsten Einheit der Partei machen. Aus allen Vorschlägen aber geht die Grundtendenz hervor, der stalinistischen Führung ihre Allmacht zu nehmen und ihre Politik von den unteren Parteieinheiten abhängig zu machen. Eine weitere wichtige Forderung ist die Auflösung der soge-nannten Kaderabteilungen, die ohne jede Kontrolle durch die Mitgliedschaft alle Funktionäre auswählen, ernennen, absetzen und engstens mit dem Staatssicherheitsdienst zusammenarbeiten. Die Rechte dieser Abteilungen sollen ebenfalls auf die Grundorganisationen übergehen. Kein von der Mitgliedschaft gewählter Kandidat soll von den übergeordneten Leitungen seiner Stimme und seiner Funktion beraubt werden dürfen.

Viele dieser Forderungen sind im Parteistatut der SED verankert. Doch dieses wird von der Parteiführung nicht eingehalten und dient nur zur Tarnung ihrer diktatorischen Politik. Nicht zuletzt erfahren die SED-Mitglieder auf diese Weise die Widersprüche zwischen Theorie und Praxis des Stalinismus. Nach dem Statut hat zum Beispiel jedes Mitglied die Pflicht zur Kritik an allen Mängeln der Arbeit ohne Ansehen der Person. Es soll gegen jeden Versuch, die Kritik zu unterdrücken, Stellung nehmen. Laut Statut haben die Parteimitglieder das Recht, in ihren Parteiorganisationen, auf Parteiversammlungen und in der Parteipresse an der Erörterung aller politischen Fragen teilzunehmen, Vorschläge zu unterbreiten und die Tätigkeit aller Funktionäre unabhängig von deren Stellung zu kritisieren.

In Wirklichkeit aber beherrscht das Politbüro der SED den Parteiapparat und bestimmt — in Zusammenarbeit mit den Sowjets — die gesamte Politik der Partei und des Staates. Weder die unteren oder mittleren Leitungen noch die Mitglieder haben irgendeine Möglichkeit, die Parteiführung zu kritisieren oder ihre Zusammensetzung zu beeinflussen. Zwar wird das Politbüro alle vier Jahre von dem Zentralkomitee gewählt, das selbst jeweils von den Delegierten der Parteitage in offener Wahl bestätigt wird, doch es handelt sich dabei um eine Scheinwahl. Es gibt keine Gegenkandidaten gegen die vorgesehenen Spitzenfunktionäre, die von Ulbricht und den Sowjets bestimmt worden sind. Jede Opposition gegen diese Vorschläge würde als Verrat an der Partei mit Geheimpolizei und Justiz unterdrückt. Das Politbüro kontrolliert den gesamten Parteiapparat und sichert mit Hilfe der Kader-abteilung die Verwendung nur linientreuer Funktionäre. LInter dem Vorwand, die Einheit der Partei wahren zu wollen, kann die Parteiführung jede Opposition zerschlagen. Durch ein weitverzweigtes Instrukteur-und Spitzelsystem sichert sie die Kontrolle über die untergeordneten Leitungen und verhindert die Bildung legaler oppositioneller Fraktionen.

Dieser Apparat erschwert es natürlich der Parteiopposition, eine legale Basis zu finden und eigene Organisationsformen zu entwickeln. Deshalb beschränkt sie ihre Tätigkeit meist auf kleine, zum Teil private Zirkel, die in der Regel voneinander isoliert sind — mögen sie auch die gleichen Grundauffassungen vertreten. Der Parteiapparat drängt die Opposition absichtlich in die Illegalität. Angesichts der Unmöglichkeit, offen vor das Forum der Parteimitglieder zu treten, muß die innere Zersetzung des Funktionärsapparates zum Hauptanliegen der Opposition werden.

Die Umformung der SED ist heute die entscheidende Frage für die weitere Entwicklung der Sowjetzone. Denn das gesamte gesellschaftliche Leben wird unmittelbar von der SED gesteuert und kontrolliert. Jede grundsätzliche Änderung im wirtschaftlichen, politischen oder kulturellen Sektor ist von der Reform der Staatspartei abhängig.

Die Prognose, in welcher Weise die antistalinistische Opposition in der SED ihre Ziele erreichen wird, läßt sich heute ebensowenig stellen wie etwa eine Prognose für Polen zur Zeit von Stalins Tod möglich war. Die Voraussetzung für jede Änderung besteht darin: der Drück der oppositionellen Mitglieder und Funktionäre der SED auf die Parteiführung muß so stark werden, daß diese zu Konzessionen gezwungen ist. Anders als die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei besteht die SED-Führung aus moskauhörigen Kreaturen. Dennoch schließt diese Tatsache nicht aus, daß infolge der zunehmenden Widersprüche im Stalinismus eine Aufspaltung auch der SED-Führung in Fraktionen erfolgt, von denen die eine — im Prinzip vielleicht nicht weniger stalinistisch als die Ulbricht-Gruppe — unter dem Druck objektiver Notwendigkeiten zu Teilzugeständnissen an die Opposition bereit ist. Die entscheidende Auseinandersetzung, deren Zeitpunkt niemand vorauszusagen vermag, müßte sich auf einem Parteikongreß abspielen, auf dem die Opposition — die Mehrheit der Mitglieder und Funktionäre vertretend — sich gegen den Apparat durchsetzt und eine neue Parteiführung wählt.

Für uns im Westen scheint wichtig, zu verstehen, daß diese Opposition für die Zukunft der Sowjetzone andere Ziele verfolgt als etwa das westdeutsche Bürgertum oder die westdeutsche Sozialdemokratie. Ihr Programm ist vielleicht am besten mit der kurzen Formel „Sozialistische Demokratie“ zu umschreiben. Ihre politischen Vorstellungen sind kein Rezept für die Beseitigung des Stalinismus, aber sie charakterisieren die Tendenz der Opposition in Intelligenz und Partei, die einen entstalinisierten Marxismus verwirklichen will.

VIL Die Opposition der Intelligenz

a) Literatur und Kunst.

Ende 1956 brachte die Ostberliner Kulturzeitschrift „Sonntag“ das Manuskript eines Rundfunkvortrages von Professor Hans Mayer, dem namhaften Leipziger Literaturwissenschaftler. In dieser Arbeit setzt sich Hans Mayer kritisch mit der deutschen Gegenwartsliteratur, insbesondere der sowjetzonalen, auseinander und kommt zu dem Urteil:

„Der Tisch unserer Literatur ist kärglich geded^t. Wir durchleben magere Jahre."

Diesen Zustand vergleicht Mayer mit vergangenen Zeiten:

„Die zwanziger Jahre waren sicherlich reicher und literarisch ergiebiger. Man möge sich erinnern. Im Zeitraum zwischen 1914 und 1933 wurde in Deutschland jährlich der Kleist-Preis verliehen, der jeweils das bedeutende Erstlingswerk eines bis dahin unbekannten Schriftstellers auszeichnen und der Öffentlichkeit anempfehlen sollte. Fast alle Namen, die damals zuerst als Kleist-Preisträger bekannt waren, gehören seitdem zum eisernen Bestand unserer deutschen Gegenwartsliteratur. Kleist-Preisträger waren etwa Leonhard Frank mit der , Räuberbande , Hans Henny Jahn mit seinem ersten Drama . Pastor Ephaim Magnus , Berthold Brecht mit , Trommeln in der Nadtt , Carl Zuckmayer mit dem , Fröhlidten Weinberg, Alfred Neumann mit dem Roman , Der Teufel , Alexander Lernet-Holenia mit einem dramatischen Erstling . Ollapotrita und Anna Seghers mit dem , Aufstand der Fischer von St. Barbara . Man könnte neidisch werden, vergleicht man die Fülle der damals neu auftauchenden Talente mit unserer gegenwärtigen Dürftigkeit.“

Bei der Untersuchung, warum von dem Reichtum der zwanziger Jahre heute in der Literatur der Sowjetzone nichts mehr zu finden ist, kommt Hans Mayer zu der Erkenntnis, daß das sterile Schema des „Sozialistischen Realismus“ die mitteldeutschen Schriftsteller gehindert hat, die großen Leistungen der modernen Literatur zu verarbeiten. Provokativ fragt er: „ man immer noch nicht zur Kenntnis nehmen, daß sich seit Georg Trakl und Georg Heym, also seit dem Vorabend des ersten Weltkriegs, in den modernen Vorstellungen vom Gedicht einiges geändert hat? Will man immer noch so tun, als habe Franz Kafka nie gelebt, als sei der , Ulysses“ von James Joyce nie geschrieben worden, als sei das sogenannte , epische Theater“ bloß ein Hirngespinst des im übrigen recht achtbaren Berthold Brecht? Will man also das literarische Klima bei uns ändern, so muß die Auseinandersetzung mit der modernen Kunst und Literatur im weitesten Umfang endlich einmal beginnen. Es muß aufhören, daß Kafka bei uns ein Geheimtip bleibt, und daß das Interesse für Faulkner oder Thornton Wilder mit illegalem Treiben gleichgesetzt wird.“

Diese Worte, mit denen Hans Mayer nicht nur seine eigene Meinung, sondern die des überwiegenden Teils der mitteldeutschen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler aussprach, waren ein mutiger Vorstoß gegen die Isolierung und Rückständigkeit des vom Kommunismus beherrschten Geisteslebens. Seine Forderungen hätten, konsequent in die Tat umgesetzt, einen Aufschwung der sowjetzonalen Literatur bewirken können. Aber zu dem Zeitpunkt, da sie niedergeschrieben wurden, war die kulturpolitische Diskussion in der Zone schon auf Parteibefehl gestoppt worden. Der Vortrag wurde vom Ostberliner Rundfunk nicht mehr gesendet. Die Ausgabe des „Sonntag“, in der Mayers Manuskript noch versehentlich publiziert wurde, enthielt schon die Anweisung des zuständigen SED-Sekretärs, die jede freie Meinungsäußerung als staatsfeindlichen Akt abstempelte. Die leitenden Redakteure des „Sonntag“ wurden bald darauf verhaftet, außer ihrem Blatt wurden die Zeitungen und Zeitschriften „Aufbau“, „Wochenpost“, „Eulenspiegel“, „BZ am Abend“, „Bildende Kunst“, „Deutsche Zeitschrift für Philosophie“, „Neue Deutsche Literatur“, „Pädagogik“ usw. gemaßregelt und gesäubert. Professor Hans Mayer geriet — ebenso wie sein Leipziger Kollege, der zwangsemeritierte Ernst Bloch und sein Berliner Kollege, der in den Westen geflüchtete Alfred Kantorowicz — in die Mühlen der Parteiinquisition. Das letzte Wort in dieser intellektuellen Auseinandersetzung sprach der Minister für Staatssicherheit: „Es ist selbstverständlich, daß in der DDR keine freie Diskussion geduldet kann und darf, die zur Einschmuggelung fremder, antisozialistischer Ideologien führt. . .

In den beiden Prozessen, die inzwischen in Ostberlin gegen die aufrührerischen Intellektuellen veranstaltet wurden — einmal gegen Wolfgang Harich und seine Freunde, zum anderen gegen den Verlagsleiter Janka und die „Sonntag“ -Redaktion —, versuchte das SED-Regime den Anschein zu erwecken, als ob hinter der ganzen kulturpolitischen Diskussion eine heimtückische Verschwörung von Partei-und Staatsfeinden steckte, die vom Westen animiert und unterstützt worden seien. In Wirklichkeit war der Initiator der Diskussion kein Geringerer als der sowjetische Parteichef Chruschtschow. Von ihm stammte, auf dem XX. Parteitag im Frühjahr 1956 in Moskau demonstrativ verkündet, die Idee einer „Leninistischen Renaissance". Chruschtschow hoffte, daß der Kommunismus nach der Absage an Stalin, nach der Reinigung von den stalinistischen Verwirrungen und Fehlern wie ein Phönix aus der Asche emporsteigen würde. In diesen Zusammenhang gehört die Besinnung auf die zwanziger Jahre, die Hans Mayer aufgegriffen hat, denn in jener Zeit strebte der Kommunismus noch relativ unbefleckt seinen welt-revolutionären Idealen nach, damals gab es noch die faszinierende Kunst eines Eisenstein, eines Meyerhold, eines Piscator, die in der ganzen Welt für den Kommunismus Propaganda machte.

Der Gedankengang, der die sowjetische Führung zu dieser Kursfestsetzung bewegte, scheint einleuchtend. Man war sich darüber klar geworden, daß der Stalinismus, indem er die in den zwanziger Jahren blühende Sowjetkunst zerstörte und ihre repräsentativen Vertreter tötete oder verfolgte, dem kulturellen Leben der Sowjetgesellschaft und dem internationalen Ansehen des Kommunismus unermeßlichen Schaden zufügte. Wenn man nun die kleinlichen Schikanen und ständigen Eingriffe in den schöpferischen Prozeß der Künstler unterläßt — so ging die Überlegung der Nachfolger Stalins — müßte man doch die große Kunst der kommunistischen Frühzeit wiedererwecken können. Sollen die Schrift-steiler und Künstler ruhig experimentieren und formalen Extravaganzen nachgehen, wenn sie nur zu Ruhm und Ehre des kommunistischen Regimes schaffen.

So hat man denn in Moskau im Zuge einer Restauration der Revolutionskunst die Satiren Majakowskis, um deretwillen der Dichter vor fünfundzwanzig Jahren in den Tod gehetzt wurde, wiederaufgeführt, den großen Theaterregisseur Meyerhold und andere von Stalin ermordete Künstler rehabilitiert, die Werke Picassos ausgestellt und erstmals einen Artikel veröffentlicht, der das so lange als „formalistisch“ verschriene Epische Theater Brechts rühmte. In der Sowjetzone wurde die revolutionäre Agitprop-Bewegung der zwanziger Jahre wiederbelebt; agitatorisch-propagandistische Truppen dieser Art, bis dahin als Ausgeburt des Formalismus und des Proletkults verdammt, wurden bei der Vorbereitung der Einheitswahlen, bei der Kollektivierungskampagne usw. eingesetzt. Piscator wurde in die Ostberliner Akademie der Künste berufen. Kurz vor seinem Tode erlebte Brecht noch, daß die Repressalien gegen seine Stücke aufgehoben wurden; die 19 51 verbotenen Werke „Verhör des Lukullus“ und „Tage der Kommune" durften wieder aufgeführt werden. Brechts Berliner Ensemble gastierte zum erstenmal in der Sowjetunion. In den Ausstellungen sowjetzonaler Maler tauchten abstrakte und expressive Bilder auf; das malerische Werk von Otto Dix, das bislang als dekadent galt, die Fotomontagen von John Heartfield, die als formalistisch galten, wurden repräsentativ ausgestellt.

Das Vortragskonzept von Hans Mayer verfolgte — ebenso wie die meisten anderen Beiträge der sowjetzonalen Kunstdiskussion — nur diese von der Partei legitimierte Tendenz. In wohlweislicher Erkenntnis der Grenzen, die der Diskussion unter kommunistischer Herrschaft nun einmal gesetzt sind, forderten die Intellektuellen formale Freiheit bei Loyalität im Inhalt. Am weitesten ging in dieser Hinsicht der inzwischen zu Zuchthaus verurteilte Redakteur des „Sonntag“ Gustav Just. Er forderte die sowjetzonalen Künstler auf, kühner an die Fragen der Gestaltung heranzugehen: „Die Erneuerung der Operette, das , musical“, kommt aus dem Westen, obwohl seine Elemente, die Songs und Szenen der Agitproptruppen, in unserem Scltoße entstanden. In der Elektronenmusik, die auf der Nutzbarmachung modernster physikalischer Erkenntnisse beruht, hinken wir hinterher. Was die Gestaltungsprinzipien im Roman betrifft, halten wir im wesentlidten im 19. Jahrhundert. Was eine moderne, aus edttem Neuerertum geborene Gebrauchsgraphik, Möbelgestaltung, Mode und dergleidten betrifft, so haben wir uns jetzt erst der Diktatur des altmodisdien Plüschgeschmacks entledigt — aber müßte nidtt naturgemäß jeder Anstoß zur Erneuerung der angewandten Kunst aus dem sozialistischen Lager kommen? Ist das ein Zustand, daß in der bürgerlichen Welt neben vielem versnobtem Unsinn immer wieder schöne, neue Dinge hervorgebradit werden, angesidtts deren uns gar nichts anderes übrigbleibt, als sie schleunigst nadizumachen?“ Über die Forderung nach bloß formaler Freizügigkeit ging Dr. Wolfgang Harich hinaus, der für seine Rebellion mit zehn Jahren Zuchthaus bestraft wurde. Er warf die Problematik mit letzter Konsequenz auf: „Ich glaube, daß wir bei der Beurteilung unserer Gegenwartsliteratur oft an falsdie oder zweitrangige Probleme angeknüpft haben, z. B. an das Problem der formalen Meistersdiaft. Dieses Problem ist nidit sehr zentral. Es ist durchaus am Platze, sich auf den Primat des Inhalts zu besinnen und der Frage der ästhetisdien Form eine zwar widttige, aber doch nur abgeleitete Bedeutung beizumessen. . . . Das Schlimme ist gewesen, daß in der Gegenwartsliteratur auch inhaltlich vieles nicht gestimmt hat. ..."

Dieser Gedanke kam auch in den Äußerungen einiger junger Künstler zum Ausdruck, die zum Kreis der FDJ gehörten. Über sie sagte der Denunziant Rodenberg auf der Kulturkonferenz der SED im Oktober 1957: „Unsere Feinde . . . verherrlichen Armin Müller, der so weit ging, daß er ein Gedicht nach dem Muster bestimmter polnischer und ungarischer Schriftsteller schrieb, die sich beklagten, daß sie vor lauter Sdtmerz über die Entwicklung nidtt mehr schreiben können. Ich glaube, daß dieses Nichtmehrschreibenkönnen ein Symptom ist. . . . Eine weitere Gruppe, von der unsere Feinde glauben, daß sie ihnen besonders nahesteht, sind die Schriftsteller Kaltlau, Biehler, Streubel, Gerlach und Zwerenz. Sie waren von dieser Gruppe besonders angetan, weil sie ihnen Träger von Tendenzen zu sein schienen, die in Polen zur Gründung und zur Schließung der Zeitschrift , Po prostu geführt haben.

Sie liebäugelten auch mit Künstlern, die eine Zeitschrift für junge Künstler gefordert hatten, deren Programm in der Forderung gipfelte, der Zentralrat der FD] dürfe zwar diese Zeitschrift herausgeben, habe aber kein Recht, auf Text, Inhalt und Form einzuwirken. Diese Fragen wurden mit vollem Ernst und großer Sachlichkeit diskutiert. . . . Es war geradezu ein Hätscheln der Jugend, die am stärksten durch die polnischen und ungarischen Ereignisse zersetzt war. Diese Zeitschrift ist nicht erschienen, aber es war doch Paul Wiens, der nicht nur eine, sondern mehrere solcher Zeitschriften gefordert hat. . . .

In unseren jungen Schriftstellern ist sicher Sturm und Drang. Aber wohin stürmt es? Nach was drängt es? Die Partei sagt ihnen, was richtig und was falsch ist. Daran kann niemand deuteln. ... Es ist also an der Zeit, einmal Fraktur zu sprechen.“

Der Partei ist es inzwischen gelungen, die oppositionellen Stimmungen in der Kunst durch nackten Terror in das Unterbewußtsein bzw. in den Untergrund zu verscheuchen. Einer der Verfolgten, der Lyriker und Bloch-Schüler Gerhard Zwerenz, der nun im Westen wieder schreiben kann, hat die Tragik der Kunst unter der Diktatur ausgesaot: „Es regnet, aber man darf es niclrt sagen.

Einer sagt es.

Er wird davongejagt.

Es blitzt, aber man darf es nidrt sagen.

Einer zud^t zusammen.

Er wird davongejagt.

Die Erde weint, aber man darf es nicht sagen.

Einer will sie trösten.

Er wird davongejagt.

Wenn keiner mehr davongejagt werden kann, weil keiner mehr da ist, hat die Idee gesiegt.“ b) Wissenschaft In Bertolt Brechts Vermächtnis, dem „Leben des Galilei", sagt der Inquisitor: „Alun könnte sich fragen; weldi ein Interesse plötzlidi an einer so abliegenden Wissenschaft wie der Astronomie? Ist es nidtt gleichgültig, wie diese Kugeln sich drehen? Aber niemand in ganz Italien, das bis auf die Pferdeknechte hinab durch das böse Beispiel des Florentiners von den Phasen der Venus sd'iwatzt, denkt nidit zugleidt an so vieles, was in den Schulen und an anderen Orten für unumstößlich erklärt wird und so sehr lästig ist. Was käme heraus, wenn diese alle, schwach im Fleisd'i und zu jedem Exzeß geneigt, nur nodt an die eigene Vernunft glaubten, die dieser Wahnsinnige für die einzige Instanz erklärt! Sie möchten, erst einmal zweifelnd, ob die Sonne Stillstand zu Gibeon, ihren schmutzigen Zweifel an den Kollekten üben. . “

Bertolt Brecht kannte zwar nicht die Inquisitoren der Renaissance, wohl aber die seiner eigenen Zeit sehr gut. Er legt in dem Stück, während dessen Inszenierung in Ostberlin er starb, den Finger auf eine immer schwärende Wunde am Körper jedes totalitären Systems. Einerseits braucht man die Wissenschaft, denn wer soll sonst die Grundlagen für die Erfüllung der Wirtschaftspläne schaffen, die interkontinentale Rakete bauen und die Sputniks zum Himmel schicken?! Das SED-Regime wird nicht müde, die technische Intelligenz, die akademischen Lehrkräfte zu umwerben; es zahlt diesen Experten Gehälter, die die der Arbeiter um ein Vielfaches übersteigen, baut ihnen Intelligenzvillen und Intelligenzheime, gewährt ihnen im Unterschied zu der dürftigen Altersversorgung, die im Osten üblich ist, stattliche Pensionen. Auf der anderen Seite lebt das Regime in panischer Angst, die Gelehrten könnten mit ihrem vorurteilslosen Denken andere Teile der Bevölkerung, insbesondere die akademische Jugend, infizieren. Deshalb wird die materielle Bevorzugung mehr als wett gemacht durch den geistigen Druck, dem die Wissenschaftler ausgesetzt sind. „Die größte Sorge, die wir Professoren haben“, so sagte der Präsident der Hallenser Naturforscher-Akademie „Leopoldina“, Prof. Dr. Kurt Mothes, zu Ulbricht, „ist die, daß wir trotz allem Besdräftigtsein nidit die innere Ruhe haben, die notwendig ist, um zu einem neuen, großen Gedanken zu kommen.“ Diese innere Qual ließ allein im ersten Quartal dieses Jahres sechzig akademische Lehrkräfte der Zone nach dem Westen flüchten — für das an Wissenschaftlern ohnehin schon arme SED-Regime ein fürchterlicher Schlag. Dennoch kann das Regime den Gelehrten nicht gestatten, zu neuen und großen Gedanken zu kommen, denn — um im Bilde Brechts zu bleiben —: Ist erst ein Galilei aufgetreten, wird der Giordano Bruno nicht lange auf sich warten lassen.

Der Stalinismus hatte den Widerspruch zwischen den Interessen der Partei und der wissenschaftlichen Wahrheit sehr einfach und radikal gelöst, nämlich im Sinne einer vollkommenen Unterordnung der Wissenschaft unter die Partei. Die Folgen waren nicht nur für die sowjetische Wissenschaft, sondern auch für die sowjetische Wirtschaft katastrophal.

Im Zusammenhang mit dem XX. Parteitag der KPdSU in Moskau (Frühjahr 1956) wurde daraufhin eine neue Direktive der Partei für die Wissenschaft ausgegeben. Ihr wichtigster Punkt war die scharfe theoretische und praktische Trennung von Natur-und Geisteswissenschaften. Die Einmischung der Parteiideologen in naturwissenschaftlich-technische Fragen wurde ganz zurückgepfiffen. Das Primat der Wissenschaft über die Ideologie wurde wiederhergestellt. Pseudowissenschaftliche Parteilehren wie die „Neue Arttheorie“ Lyssenkos und die „Neue Zellen-lehre" Lepschinskajas wurden verurteilt, Leistungen der westlichen Wissenschaft finden wieder Anerkennung, internationale Kongresse wurden wieder besucht. Den Gelehrten wurde lediglich nahegelegt, aus ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen keine eigenwilligen und ketzerischen Schlußfolgerungen im Hinblick auf die kommunistische Weltanschauung zu ziehen. Kurz gesagt: es wurde eine Trennung von Wissen und Glauben vorgenommen.

Auf dem Gebiet der Geistes-und Gesellschaftswissenschaften war eine so strikte Trennung nicht möglich; Wissenschaft und Ideologie sind da zu sehr verzahnt. Immerhin wurden alle marxistischen Theorien in Freiheit gesetzt, also alle wissenschaftlichen Lehren, die das Unfehlbarkeitsdogma der „Klassiker“ Marx, Engels und Lenin unangetastet lassen, den Marxismus-Leninismus aber den modernen Gegebenheiten gemäß weiterentwickeln wollen. Nicht eine Infragestellung und Abschaffung, wohl aber eine Renovierung des Marxismus wurde zugestanden.

So geschickt die Chruschtschowsche Regelung, die von der SED und allen Satelliten-Regimen sofort übernommen wurde, auf den ersten Blick auch scheint, sie steckte voller Konfliktstoff. Qas erste Fiasko lieferten die Gesellschaftswissenschaftler. Denn bei der vorurteilsfreien und aufrichtigen Weiterentwicklung des Marxismus kamen die Theoretiker zu Schlußfolgerungen, die mit dem Sowjetsystem kaum zu vereinbaren sind. Es mag genügen, einen Katalog von Theorien mitteldeutscher marxistischer Gesellschaftswissenschaftler anzuführen, die inzwischen samt und sonders von Ulbricht als „revisionistische“ Ketzereien gebrandmarkt und verurteilt worden sind: der ehrwürdige Philosoph Prof. Ernst Bloch lehrte einen menschlichen Sozialismus; die Politökonomen Prof. Behrens und Dr. Benary wollten den SED-Staat und seine Plan-bürokratie durch eine „Selbstverwaltung der Werktätigen ersetzen, ihr Kollege Prof. Jürgen Kuczynski trat für eine objektive Geschichtsschreibung ein; die Staats-und Verwaltungsrechtler Prof. Baumgart'n, Prof. Klenner, Prof. Bönniger, Prof. Such gerieten unter den Einfluß „abstrakter Rechtsnormen“, als da sind Gerechtigkeit, Wahrheit, Menschlichkeit und Freiheit; die Professoren für Pädagogik Becker und Fritz Müller, der Leiter des Pädagogischen Zentralinstituts Dr. Dorst wollten unter Hilfestellung des inzwischen abgesetzten Staatssekretärs im Volksbildungsministerium Laabs die kaderpolitische Auslese durch eine Begabtenförderung ersetzen; der Naturphilosoph Prof. Havemann plädierte für ein „Absterben" der Parteiphilosophie auf dem Gebiete der Wissenschaft; sein Kollege Dr. Herneck, inzwischen verhaftet, versuchte den von Lenin verdammten Positivismus zu rehabilitieren; der Blochschüler Dr. Zehm, inzwischen ebenfalls verhaftet, erarbeitete eine humanistische statt kommunistische Anthropologie; der Leipziger Dozent für Gesellschaftswissenschaften, Rudorf, ebenfalls ver-haftet, schmuggelte den Jazz in das mitteldeutsche Musikleben unter dem Vorwand ein, es handele sich doch um die Volksmusik der in den USA unterdrückten Neger; das gesamte Institut für Gesellschaftswissenschaften in Ostberlin und die Akademie für Staats-und Rechtswissenschaften „Walter Ulbricht“ in Babelsberg erwiesen sich als „Brutstätten des Revisionismus“ usw. usf. Zuchthausurteile, Vertreibungen von den Lehrstühlen, erzwungene Selbstkritiken waren die Quittung der Partei für die unerhörten Gedankenverbrechen.

Nach der Abrechnung mit den marxistischen Geisteswissenschaftlern kamen die Naturwissenschaftler an die Reihe, die meist nicht einmal Marxisten waren. Bei ihnen ging es weniger um die Lehren und Forschungsergebnisse, als um die persönliche Haltung. Der eine Professor tritt als gläubiger Christ für die verfolgte Kirche ein, der andere hat Sympathien für die westliche Lebensweise, der dritte ist unpolitisch und weigert sich, einen Appell gegen die Atomrüstung der Bundeswehr zu unterschreiben, ein vierter stellt sich schützend vor seine Studenten, die gegen die SED-Politik zu demonstrieren gewagt haben. All das kann die Partei nicht dulden, ohne ihre Herrschaft zu gefährden, und so zieht sie auch bei den Naturwissenschaftlern wieder die Zügel an. Sie verlangt nicht nur die Loyalität der Professoren in politischer Hinsicht, verlangt nicht nur ihre Mitwirkung bei der Erziehung der Studenten zum Dialektischen Materialismus, sondern greift — weil man politisches und wissenschaftliches Denken eben nicht trennen kann — schon wieder in die Wissenschaft selber ein; Prof. Mothes hat dafür anschauliche Beispiele angeführt. Das Experiment des XX. Parteitages ist — jedenfalls in der Zone — gescheitert. Ulbricht kehrt zu Stalin zurück.

Das ist die Ursache für die augenblickliche Krise der sowjetzonalen Wissenschaft: für die Vertrauenskrise einerseits, für die Massenflucht andererseits. Das Regime setzt dagegen Terror ein. Vielen Angehörigen der technischen Intelligenz ist verboten worden, Westberlin zu besuchen; Reisen in die Bundesrepublik, selbst zu Tagungen oder Ausstellungen, bedürfen der Genehmigung durch die Kaderabteilungen und Parteileitungen der Betriebe. Verwandtschaftliche oder bekanntschaftliche Beziehungen eines Intellektuellen nach Westdeutschland werden unter Kontrolle gehalten. Westliche Fachliteratur, die man aus Gründen der wissenschaftlichen Fortbildung und Information nicht unterdrücken kann, wird von SED-Funktionären zensiert, beispielsweise werden Stellenangebote im Inseratenteil herausgeschnitten. Geflüchteten Wissenschaftlern werden die akademischen Grade aberkannt. Aber können Isolierung und Verfolgung eine Dienstbarkeit des Geistes erzwingen?

Der sowjetische Schriftsteller Jewgeni Samjatin, der zugleich Ingenieur und Bolschewik war, ist dem Problem schon im Jahre 1920 auf den Grund gegangen. In dem utopischen Roman „Wir", der in der Sowjetunion nie erscheinen durfte und bei uns schier vergessen ist (obwohl er auf Huxley und Orwell einwirkte), hat Samjatin die Geschichte eines Ingenieurs erzählt, der — wie aktuell! — das erste Weltraum-Raketenschiff eines totalitären Staates konstruierte. Das Denken des Konstrukteurs bleibt bei der technischen Erfindung nicht stehen, er durchdenkt das Staatssystem und rebelliert. Aufgestört durch diesen Vorfall fassen die Funktionäre den Beschluß, daß sich alle Menschen ein höchst unbequemes und störendes Organ im Gehirn herausoperieren lassen sollen: die Phantasie. Und so marschiert denn auch der Konstrukteur in Marschordnung zum Operationssaal, um sich die Phantasie amputieren zu lassen.

Wer aber wird dann die Weltraumschiffe konstruieren? c) Studenten Voller Verärgerung mußte der sowjetzonale Staatssekretär für Hochschulwesen, der SED-Funktionär Dr. Wilhelm Girnus, konstatieren, daß nicht wenige der sowjetzonalen Studenten, obwohl zum größten Teil aus Arbeiter-und Bauernkreisen stammend, sich der sogenannten Arbeiter-und Bauernmacht entfremdet hätten, daß sie, wie er sagt, verbürgerlichten. „Worin kommt diese Verbürgerlidmng zum Ausdruck?“ fragt Girnus. „Darin, daß an die Stelle des Dranges nach wissenscltaftlidter Erkenntnis das Streben trat, möglichst viel Geld zu verdienen; daß die persönlichen privaten Interessen höher gestellt wurden als die Interessen des sozialistischen Staates, in dem die jetzigen Studenten eines Tages maßgebliche Funktionen einzunehmen berufen sind; daß der echte proletarisch-sozialistisdie Kampfgeist erlahmte und mehr und mehr vom Streben überdeckt wurde, manchen Professoren und Dozenten nach dem Munde zu reden, um nur möglichst glatt und ungesdnoren durchs Examen zu kommen; sddießlid^ und endlich nidrt am wenigsten darin, daß gewisse Studentenkreise kritiklos den Westen und die westlidre , Kultur’ anbeteten und überholten liberalistisdien Vorstellungen huldigten. . . Auch der unbezähmbare Reisedrang gewisser Studentenkreise nach der NATO-Atombomben-Republik und die Bedenkenlosigkeit, mit der dann dort oft redit zwielichtige und zweifelhafte Bekanntschaften angeknüpft werden, gehört zu diesen Verbürgerlidtungserscheinungen an unseren Universitäten.“

Das ist ein recht düsteres Bild, das der SED-Staatssekretär vom akademischen Leben der Zone entwirft. Es wird unterstrichen durch die aufsehenerregende Folge von Studentenunruhen, die an den meisten Universitäten und Hochschulen Mitteldeutschlands bis in die jüngste Zeit hinein aufgeflackert sind. Zwölf Jahre kommunistisches Hochschulwesen, zwölf Jahre Zuckerbrot und Peitsche haben nicht vermocht, den akademischen Nachwuchs für das Regime zu gewinnen. Die Kommunisten hätten gar zu gern die alte, „bürgerliche“ Intelligenz, der sie mißtrauen, durch eine neue, ihnen ergebene ersetzt. Nun ist unter ihren Augen, mit ihrer Förderung eine solche neue Intelligenz herangewachsen — doch sie zeigt sich nicht weniger widerspenstig als die alte.

Als offizielle Erklärung für die Opposition der Studenten mußte wieder einmal die alte Legende von einer Verschwörung imperialistischer Agentenzentralen herhalten. Natürlich glauben die SED-Funktionäre selbst nicht daran; denn es hat Studentenunruhen nicht nur in der Zone gegeben, sondern auch in Prag, Warschau und Krakau, in Budapest, Bukarest, Sofia, in Wilna, Riga, Kiew, in Leningrad, Moskau und Stalingrad. Doch lieferte das Argument imperialistischer Agententätigkeit einen bequemen Vorwand, um gegen die aufsässigen Studenten den Staatssicherheitsdienst in Aktion treten zu lassen. Hunderte von Studenten der mitteldeutschen Hochschulen, angebliche Rädelsführer, wurden relegiert oder gemaßregelt, wenn nicht gar verhaftet; eine Reihe der namhaftesten Dozenten und Professoren, denen man Sympathien für die oppositionellen Strömungen vorwarf, wurden verfolgt, ins Zuchthaus geworfen oder zumindest ihrer Lehrstühle enthoben, viele sind in den Westen geflüchtet.

Die SED-Funktionäre sind sich jedoch darüber im klaren, daß bloße Unterdrückungsmaßnahmen auf die Dauer wenig fruchten werden und die nun unterirdisch schwelende Empörung in jedem kritischen Augenblick aufs neue losbrechen kann. Sie haben daher einige Vorkehrungen getroffen, die ihrer Absicht nach das Übel an der Wurzel packen sollen. Am einschneidendsten sind zwei Maßnahmen: das Verbot von Westreisen für alle Schüler und Studenten und die Einführung einer einjährigen Arbeitsdienstpflicht vor Zulassung zum Studium.

Noch vor wenigen Jahren hatten die sowjetzonalen Machthaber ihre Jugendlichen massenhaft zu Agitations-und Infiltrationszwecken in die Bundesrepublik geschickt. Das Unternehmen erwies sich jedoch als ein Bumerang — „das Holzgewehr ging nach hinten los“, wie ein sowjetzonaler Nationalpreisträger sarkastisch sagte. Die jungen Menschen kehrten erfüllt von neuen Eindrücken und Ideen zurück, die ihr bisheriges, von kommunistischen Mythen umstelltes Weltbild sprengten. Im vergangenen Jahr hat nun der Bundestag in großzügiger Weise Mittel bereitgestellt, um den gesamtdeutschen Kontakt von Mensch zu Mensch zu fördern, nicht nur zwischen Jugendlichen, sondern überhaupt zwischen West-und Mitteldeutschen. Denn bislang scheiterten private Reisen in die Bundesrepublik, wenn sie nicht durch kommunistische Manipulationen begünstigt wurden, häufig an Währungsschwierigkeiten. Ausgabe eines Taschengeldes, Erstattung der Rückreisekosten, kulturelle Begünstigungen, Hilfsstellen für Touristen und Wanderer — das sind einige der jetzt eingeführten Einrichtungen, die unseren mitteldeutschen Landsleuten den Besuch der Bundesrepublik erleichtern sollen. Zwar ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, daß auf diese Weise auch kommunistische Emissäre unterstützt werden könnten, aber die Bundesrepublik fühlt sich mit Recht stark genug, ein solches Risiko in Kauf zu nehmen. Angst vor Zersetzung und Aufweichung haben jedoch die Erfinder der Infiltration, die Pankower Kommunisten, bekommen, sie reagierten mit Verboten und Schikanen auf die verblüffende Wendung der Dinge. „Die Studenten,“ so erklärte Girnus zynisch, „haben die Freiheit, zu wählen. Die wenigen Studenten, die glauben, die Freiheit zu haben, sich für Westreisen entscheiden zu können, sollen jedoch bedenken, daß wir die Freiheit haben, uns für unsere Universitäten d i e Studenten auszuwählen, die mit ganzer Kraft bestrebt sind, dem sozialistischen Aufbau in der DDR zu dienen.“ Es bleibt abzuwarten, rwas für einen Effekt das Verbot haben wird. Der Eiserne Vorhang hat sich in der Vergangenheit trotz aller Abdichtungsversuche als ziemlich porös erwiesen. Zum Beispiel haben die Studenten von Budapest, die am denkwürdigen 23. Oktober 1956 auf die Straße gingen, auch keine Reisen in den Westen machen dürfen. Lind doch haben sie ein Leben in Freiheit gefordert. Es ist anzunehmen, daß das Verbot den Westen in den Augen der jungen Menschen nur noch attraktiver macht.

Nicht weniger zwiespältig dürfte die Wirkung der zweiten Maßnahme sein, der Einführung einer Arbeitsdienstpflicht. Wer sich künftig in der Sowjetzone um die Zulassung zum Studium bewirbt, hat zuvor ein sogenanntes Praktisches Jahr in der Produktion abzuleisten. Staatssekretär Girnus erläuterte die Einrichtung: „Nicht als über den Dingen stehender vornehmer Beobachter, der überall im Betrieb ein bißchen herumschnuppert, wie früher die hochnäsigen Söhne der kapitalistischen Betriebsbesitzer. Der junge Student von heute soll in der DDR ein Jahr lang das Leben des Arbeiters führen; soll von dem gleichen Lohn leben wie der Arbeiter; soll die gleichen Schienen mit ihm schleppen, die gleichen Mauersteine mit ihm verladen, die gleichen Garben anfstellen. . . Es kann beispielsweise einen werdenden Germanisten gar nichts schaden, wenn er auf einem Volkseigenen Gut Mist streuen lernt. Er wird dann später in seinem Fachstudium ein viel tieferes Verständnis für die Bedeutung des Landarbeiters in der Literatur gewinnen. . .“

Was bezweckt die SED mit der Einführung dieses Praktischen Jahres? Wirtschaftliche Gründe dürften kaum eine Rolle spielen. Wohl sucht die sowjetzonale Staatswirtschaft billige Arbeitskräfte, und es hängt ganz gewiß mit den Bedürfnissen der Ausbeutung zusammen, wenn überall in der Zone Studenten und Schüler in ihren Ferien zum Arbeitseinsatz in den Braunkohlenbergbau oder in die Landwirtschaft kommandiert werden. Doch das sind Einsätze, die allein die Ferien betreffen, sie gehen ganz zu Lasten des einzelnen Studierenden. Anders sieht es aus, wenn die jungen Menschen ein ganzes Jahr aus dem Bildungsprozeß gelöst werden. Der geringe Nutzen, den die Studienbewerber als ungelernte Arbeiter in der Produktion bring•en können, wird bei weitem durch den Schaden ausgewogen,'daß die in der Zone so dringend benötigten wissenschaftlichen Nachwuchskräfte ein Jahr später ihre Ausbildung absolvieren. Für die spätere Fachtätigkeit der angehenden Wissenschaftler dürfte aus einer Arbeit, wie Girnus sie beschrieben hat — Schienen schleppen, Mist streuen — kein Gewinn entspringen; es ist vergeudete Zeit, denn ein fachgemäßes Praktikum, das den Studenten mit seinem künftigen Beruf vertraut macht, ist sowieso noch für jedes Studienjahr vorgesehen.

Auch propagandistisch wirkt die Maßnahme nur negativ. Bisher konnte man es als eine echte Errungenschaft ansehen, daß die Studenten im kommunistischen Machtbereich keine materiellen Schwierigkeiten kannten und nicht — wie leider noch zum großen Teil bei uns im Westen — gezwungen waren, zum Nachteil ihres Studiums einem Geld-erwerb nachzugehen. Mit diesem Vorteil, der übrigens den Verlust der Freiheit unseres Erachtens nie ausgewogen hat, ist es nun aus. Rechnet man das Praktische Jahr, die alljährlichen Berufspraktiken, die Arbeitseinsätze in den Ferien zusammen, so kommt für den sowjetzonalen Studenten eine studienfremde Arbeitszeit heraus, die der eines Werkstudenten im Westen nicht nachsteht. Die kommunistische Hochschulreform ist nun in keiner Weise mehr eine Errungenschaft.

Es sind ideologische und machtpolitische Gründe, die die SED zur Einführung des Arbeitsdienstes bewogen. Zuerst einmal sind die Kommunisten, die sich als „Avantgarde des Proletariats“ bezeichnen, soweit in ihrer Dogmatik befangen, daß sie glauben, die Studienbewerber müßten, wenn sie in Kontakt mit den Arbeitern kommen, Verständnis für die kommunistische Politik gewinnen. Diese ideologische Verblendung dürfte den Funktionären einen argen Streich spielen, denn es liegt auf der Hand, daß die angehenden Studenten bei der Arbeiterschaft, die überall im Ostblock antikommunistisch eingestellt ist, ganz etwas anderes lernen werden, als dem Regime lieb ist. Es besteht sogar die Aussicht, daß die Oppositionsbewegungen der Arbeiter und der Intelligenz, die bisher getrennt marschierten, sich unter staatlicher Förderung vereinigen — eine für das Regime höchst beunruhigende Perspektive.

Nun darf man freilich einem Lllbricht ideologische Scheuklappen zutrauen, kaum aber einem Realpolitiker wie Girnus, der viel zu intelligent und zu zynisch ist, um an die selbstfabrizierten Dogmen zu glauben. Wenn er seine Amtszeit dennoch mit einer so heiklen Maßnahme begann, dürfte er dafür auch praktische und realistische Beweggründe haben. Das Arbeitsjahr gestattet eine gründliche Gesinnnungsprüfung und politische Kontrolle durch die Betriebsparteiorganisationen; die Aufnahme an der LIniversität ist nun nicht mehr nur vom Reifezeugnis, sondern auch von der kaderpolitischen Beurteilung einer Parteiorganisation abhängig. Das Zentralorgan der FDJ brachte nicht zufällig ein Beispiel aus den Volkseigenen Berliner Metallhütten-und Halbzeugwerken: fünf Oberschülern wurde nach Abschluß des Betriebspraktikums trotz glänzender Facharbeiterprüfung und Aktivistenauszeichnung die Zulassung zur Fachschule für Hütteningenieure verweigert, weil sie sich in Westberlin schwarze Hemden und schwarze Cordhosen gekauft und somit als Anbeter des Westens entlarvt hätten. Doch ist anzunehmen, daß solche „Entgleisungen“ von Praktikanten Ausnahme bleiben werden: die jungen Menschen, die schon in der Schule gelernt haben, politische Ergebenheit zu heucheln, werden sich eben künftig in acht nehmen — zum Glück kann der raffinierteste Parteispitzel nicht ins Herz sehen.

Ein tückischer Hintergedanke mag bei der Einführung des Praktischen Jahres noch mitspielen: Die ungeübten Oberschüler werden den schweren physischen Arbeiten, die ihnen zugemutet werden, kaum gewachsen sein; sie werden — zumindest in der ersten Zeit — schlechte Leistungen zeigen. Das aber dürfte bei den Arbeitern Verachtung und Antipathie hervorrufen und das Vorurteil gegen die Intellektuellen verstärken, zumal innerhalb des östlichen Brigadesystems jeder schwache Arbeiter den anderen zur Last fällt. Dadurch wird der Praktikant an die Seite des Regimes gedrängt — die Funktionäre spekulieren also auf die Klassen-spaltung. Außerdem: Kann ein Praktikant nicht durch hervorragende Arbeitsleistungen einen Studienplatz erkämpfen, so bleibt ihm nur die Chance, sich politisch zu prostituieren; er wird dann nicht auf Grund seiner Leistung, sondern seiner Gesinnung delegiert.

Faktisch gibt es drei Möglichkeiten: Die Stärksten boxen sich durch und bewähren sich in der Produktion, finden Anerkennung bei den Arbeitern und — wenn sie sich vorsichtig verhalten — auch bei der SED; sie gehen ungebrochen und gestählt aus dem Praktischen Jahr hervor — künftige „Kader“ der antistalinistischen Revolution. Eine zweite Gruppe versagt zwar bei der Arbeit, verschmäht es aber, sich zum Ausgleich bei der Partei anzubiedern; diese Menschen werden, obwohl sie die höhere Schule besucht haben, in der Produktion bleiben müssen, sie verschmelzen nach einiger Zeit mit der Arbeiterschaft und werden zu einem äußerst unzufriedenen, beunruhigenden Ferment im gärenden Sauerteig des Volkes — Feinde des Regimes par excellence. Ein dritter Teil schließlich verkauft sich an die SED — es ist leistungsmäßig und vor allem charakterlich der Ausschuß, mit dem die Partei wenig Staat machen kann. Wer keinen Mut hat, den Verlockungen des Regimes zu widerstehen, wird später während des Studiums und im gesellschaftlichen Leben auch keinen Mut finden, das Regime zu verteidigen.

Das Praktische Jahr wird einen Ausleseprozeß innerhalb der jungen Intelligenz einleiten, das ist gewiß — aber er dürfte anders ausgehen, als sich die kommunistischen Hochschulfunktionäre träumen lassen.

VIII. Schlußfolgerungen

Trotz der Niederlage des Juni-Aufstandes 1953 ist die Opposition gegen den Stalinismus in Mitteldeutschland während der vergangenen fünf Jahre breiter und grundsätzlicher geworden. Ihr Widerstand erfolgt heute von verschiedenen gesellschaftlichen und geistigen Positionen aus, ihr unverändertes, gemeinsame. Ziel ist die Zerstörung des Systems. Das ist die Antwort eines unterdrückten Volkes auf das dreizehn Jahre währende Bestreben, Mitteldeutschland in den Sowjetblock zu integrieren. Der erste Versuch einer totalen Sowjetisierung, auf der II. Parteikonferenz im Sommer 1952 proklamiert, wurde von der Arbeiterschaft mit dem Juni-Aufstand von 195 3 beantwortet. Er zwang das System zu erneuten Konzessionen an die Bevölkerung. Die auf der 3 3. Tagung des Zentralkomitees der SED im Oktober 1957 wiederum verkündete Verschärfung des Kurses fällt in eine Phase, in der nicht nur die wirtschaftliche, sondern — im Gegensatz zu 195 3 — auch die politisch ideologische Basis des Systems erschüttert ist. Die Führungskrise von 195 8 um Schirdewan und Oelssner ist deshalb tiefgreifender als die von 1953 um Zaisser und Herrnstadt. Sie beschleunigt die Zersetzung eines Apparates, der sich schon jetzt und mehr noch in naher Zukunft auf allen Sektoren des gesellschaftlichen Lebens vor große, aus der erneut verschärften Sowjetisierung erwachsende Belastungen gestellt sieht.

Dieser Apparat ist einem . revisionistischen’ Zerfallsprozeß unterworfen, der sich aus den Widersprüchen des Stalinismus selbst ergibt und deshalb unlösbar ist. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die politische Basis des Systems — die Voraussetzung auch für die Stabilität des militärischen Status in Mitteldeutschland — einer fortschreitenden Unterminierung unterliegt.

Dieser Zerfallsprozeß ist letztlich auch für die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands von großer Bedeutung. Es ist unbestritten, daß jede Politik zur Wiedervereinigung Deutschlands unvoreingenommen alle wirksamen politischen Kräfte in West-und Mitteldeutschland in Rechnung stellen muß. Zweifellos sind die aktivsten Kräfte der Opposition unter Intellektuellen und Arbeitern zu finden, die das System von einer linken Plattform aus bekämpfen. Die Reste des Bürgertums und der selbstständigen Bauern sind zwar Gegner des Regimes, doch besitzen sie weder politische Organisationsformen noch wirtschaftliche Machtmittel, um ihre Ziele durchzusetzen. Es waren Arbeiter, die sich am 17. Juni 1953 in Mitteldeutschland und drei Jahre später in Posen gegen das System erhoben, es waren Arbeiter und Intellektuelle, die den polnischen Oktober und die Revolution in Ungarn auslösten. In der Sowjetzone zeigt dieser Teil der Opposition eine ähnliche Struktur wie in Polen und Ungarn.

Fussnoten

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