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Anglo-amerikanische Schwierigkeiten | APuZ 26/1958 | bpb.de

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APuZ 26/1958 Ein Blick nach innen Anglo-amerikanische Schwierigkeiten Alternativlösungen für die Sicherheit

Anglo-amerikanische Schwierigkeiten

MARQUIS V. SALISBURY

Weltkriege, des Kommunismus, des Nationalsozialismus und wie schließlich auch die Tatsache, daß Europa in seiner politischen und wirtschaftlichen Macht Einbußen erlitten hat. Diese Probleme scheinen mir auch deutlich darin zutagezutreten, daß die afrikanischen, asiatischen, mittelamerikanischen und südamerikanischen Völker entschlossen sind, sich Erziehung, Wissen, die Technologie und einen neuen Reichtum mit Mitteln anzueignen, die man einerseits noch gar nicht richtig entdeckt, andererseits aber auch überhaupt noch nicht verstanden hat. Diese Probleme spiegeln sich auch teilweise in der Unruhe wider, die erst in jüngster Zeit wieder unter den Intellektuellen des sowjetischen Machtbereiches, besonders wohl unter den Wissenschaftlern, in Erscheinung tritt. Sie lassen schließlich auch jede Aussicht auf einen Wandel von der Tyrannei zur Freiheit in diesem Machtbereich in einem besonders ernsten Licht erscheinen.

Es gibt somit für uns Amerikaner heute sehr zwingende, äußere Gründe dafür, daß wir uns endlich einer ernstlichen Neubesinnung unterziehen und das geistig-intellektuelle Potential, an dem es heute in einer so traurigen Weise zu fehlen scheint, wirklich zur Lösung der dringenden strategischen und politischen Probleme einsetzen. Wir brauchen dieses Potential für die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus; wir brauchen es, wenn wir die auf uns zukommenden, großen Veränderungen in der übrigen Welt ein wenig verstehen und auch ein wenig beeinflussen wollen. Wenn wir uns endlich bewußt werden, wie dringend wir dieses Potential bedürfen, dann ist uns damit schon geholfen. Wenn aber sich in unserem Volk ganz allgemein, wenn sich in unserer Regierung diese Erkenntnis sozusagen „amtlich" Bahn bricht, dann ist uns damit sehr geholfen. Auf diese Weise ließen sich größere Mittel für die Erziehung und den Unterricht bereitstellen. Dann wird man sich bei der Festlegung der Richtlinien unserer Politik genau so leiten lassen von den Erfahrungen der Gelehrten wie von den Erfordernissen der Praxis. Und dennoch: obwohl diese Maßnahmen so bitter nottun, und obwohl sie längst überfällig sind, wird — so fürchte ich das eigentlich Essentielle nicht alleine aus ihnen hervorgehen.

Es mag durchaus berechtigte Meinungsverschiedenheiten darüber geben, ob ein „amtliches“, oder selbst ein allgemeiner verbreitetes Verständnis dessen, was in unserem Volke vonnöten ist, in sich schon zu einer Antwort auf solche Herausforderungen führen wird. Was wir in der Tat brauchen, ist eine sehr viel potenziertere, geistig-intellektuelle Kraft und Disziplin; eine sehr viel mehr zur Gewohnheit werdende und weitverbreitetere Aufgeschlossenheit; und schließlich eine Art von Unermüdlichkeit, die nicht unvereinbar ist mit Erschöpfung, wohl aber mit jedem Gedanken an eine Kapitulation. Es ist ja nicht so, als ob unser Land arm wäre an Wissensdrang, an einem echten Gelehrtentum, an Veranlagungen zum Aufspüren von Selbsttäuschungen, oder an einem Verpflichtet-sein und einem Suchen nach Ordnung und Recht inmitten einer sich ständig wandelnden und stets differenzierter werdenden Welt. In Amerika werden der Gelehrte und der Experte respektiert. Genau so aber ist man sich bei uns auch der Rolle bewußt, die der Faktor Ignoranz spielen kann, und schließlich auch unserer Grenzen sowohl als Menschen überhaupt wie als einzelne Individuen. Alle diese Eigenschaften bedürfen jedoch noch sehr viel größerer Pflege und Wertschätzung von unserer Seite, wenn das Prinzip einer Regierung durch das Volk in dieser Welt nicht zum Untergang verurteilt sein soll.

Wer die Kühnheit besitzt, das so heikle, dabei aber überaus wichtige Thema der anglo-amerikanischen Beziehungen anzupacken, der sieht sich sofort vor die Frage gestellt, was er unter dem Begriff „anglo-amerikanisch“ verstanden wissen will. Versteht er darunter die Beziehungen zwischen den LISA und dem Britischen Commonwealth, oder aber die Beziehungen zwischen USA und Großbritannien? Obwohl beide Fragenkomplexe bekanntlich in einem engen Zusammenhang stehen, möchte ich mich in der vorliegenden Studie so weit wie möglich auf die zweite engere Auslegung des Begriffes beschränken. In einer freien Konföderation von Staaten erscheint es mir nämlich nicht angebracht, daß der Bürger irgendeines Mitgliedstaates kritische Betrachtungen über die Angelegenheiten der anderen Staaten anstellt. Was selbst die engere Auslegung des Begriffes anglo-amerikanisch betrifft, so würden glaube ich, nur ganz wenige Amerikaner oder Engländer die Allgemeingültigkeit der These in Frage stellen, daß enge Beziehungen zwischen den beiden Ländern die beste Garantie für die weitere Erhaltung des Weltfriedens darstellen.

In der Tat ist es nicht nur angebracht, sondern auch ganz natürlich, daß die Vereinigten Staaten und Großbritannien zusammenarbeiten;

schließlich haben sie ja in vieler Hinsicht dieselbe Vergangenheit und dieselben Anschauungen. Ihre parlamentarischen Regierungssysteme und ihre Gesetze gehen auf denselben Ursprung zurück. Beide Völker setzen ihr Vertrauen in freie Institutionen, da sie glauben, daß der Einzelne frei sein müsse, nach eigenem Ermessen zu denken, zu reden und zu handeln, und daß ihm dabei ein Mindestmaß an Beschränkungen auferlegt wird durch seine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Beide Völker „suchen und ersehnen den Frieden“, wie es in den Psalmen heißt, denn sie wissen, daß die wahre Freiheit nur im Frieden gedeihen, ja überhaupt überleben kann. Beide basieren ihr nationales Leben auf die christliche Ethik mit allem, was darin beschlossen liegt. Zweimal innerhalb der letzten 50 Jahre haben sie, als ihnen ein Krieg aufgezwungen wurde, Schulter an Schulter die Prinzipien verteidigt, an die sie gemeinsam glauben. Durch diesen ihren Kampf haben sie beide Male die Zivilisation gerettet. Schließlich werden nun heute beide Länder von derselben Gefahr des materialistischen Kommunismus der Sowjetunion bedroht.

Bei so vielen Gemeinsamkeiten müßte man eigentlich annehmen, daß auch eine gemeinsame Politik leicht zu verwirklichen sein sollte. Dennoch hat die Praxis erwiesen, daß der Pfad der anglo-amerikanischen Freundschaft keineswegs so eben ist, wie man sich dies gewünscht hätte.

Seit dem Ende des letzten Krieges sind unterschwellige Reibungen und Meinungsverschiedenheiten an der Tagesordnung gewesen. Die Amerikaner pflegen sich darüber zu beklagen, daß sie ständig gebeten werden, für England die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Die Engländer ihrerseits erheben gerne den Vorwurf, die Kastanien kämen nur dadurch ins Fuer hinein, daß sich die Amerikaner immer erst dann neu aufziehender Gefahren bewußt werden, wenn es bereits zu spät ist, diese noch abzuwenden. Die Amerikaner berufen sich auf Korea als Beispiel dafür, daß sie selber handelten, dabei aber von England keine genügende Unterstützung erhielten. Die Engländer antworten darauf, daß es in der Welt heute sehr viel „gesünder“ aussehen würde, wenn die Amerikaner Großbritannien am Suezkanal so geholfen hätten, wie umgekehrt die Engländer den Amerikanern in Korea Die Amerikaner behaupten, daß England seinen im Rahmen der LINO bestehenden Verpflichtungen keineswegs loyal nachgekommen sei. Darauf antworten dann die Engländer, daß die Vereinten Nationen nicht das tun, wozu man sie ins Leben gerufen hat. In diesem Stil geht die Auseinandersetzung weiter — eine Auseinandersetzung, die den Interessen beider Länder nur schaden kann, unseren Feinden jedoch sehr willkommen sein muß.

Wie kommt es, daß beide Länder, die so viel Gemeinsames aufweisen, immer wieder Schwierigkeiten haben, sich zu verständigen? Sind daran etwa kollidierende wirtschaftliche Interessen schuld? Das dürfte eigentlich nicht der Fall sein. Die Welt ist doch ohne allen Zweifel mehr als groß genug für beide. England hätte, selbst wenn es dies wollte, doch nicht die leiseste Chance, Amerika mit seinem Handelsvolumen Konkurrenz zu machen. Auch huldigt weder das eine noch das andere Land einem imgerialistisehen Ehrgeiz. Beide sind sie ja saturierte Staaten. Woher kommen also die Schwierigkeiten? Man gelangt zwangsläufig zu dem Schluß, daß diese Schwierigkeiten nicht so sehr sachlicher als psychologischer Natur sind, und daß die UrSachen hierfür mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart liegen: In England ist man nach wie vor mißtrauisch gegenüber dem Phänomen des amerikanischen Isolationismus — in Amerika hingegen mißtraut man immer noch einem britischen Kolonialismus.

Amerikanischer Isolationismus und britischer Kolonialismus

Meiner Ansicht nach sind in der Welt von heute beide Befürchtungen in keiner Weise mehr relevant. Gewiß, es ist gar nicht so lange her, daß man in den Vereinigten Staaten von einem starken Zug zum Isolationismus sprechen konnte. Daß dem einmal so war, ist auch völlig erklärlich. Schließlich überquerte ein sehr beachtlicher Teil derer, die das heutige amerikanische Volk ausmachen, früher einmal den Atlantik, gerade weil das Leben in Europa als unerträglich empfunden wurde. Die europäischen Auswanderer wollten diesem Leben bewußt den Rücken kehren und ein neues beginnen, in einer neuen Welt, unbeschwert von den jahrhundertealten Streitigkeiten und Eifersüchteleien der alten Welt. Ganz natürlicherweise schreckten die Amerikaner daher später vor jeder Politik zurück, die im Endeffekt dazu führen konnte, daß ihre neue Heimat wieder hineingezogen würde in dieselben Streitereien und Rivalitäten, denen zu entgehen sie einmal so weit gereist waren. Die Erfahrungen der letzten vierzig Jahre müssen jedoch mit wenigen Ausnahmen jeden Amerikaner davon überzeugt haben, daß die Hoffnung, die Vereinigten Staaten könnten sich für alle Zeiten aus einem Weltkonflikt heraushalten, trügerisch war und erst recht trügerisch ist; daß für Amerika im Grunde nur dann die Chance besteht, sich nicht engagieren zu müssen, wenn es den Ausbruch eines Krieges überhaupt verhindert; und daß es schließlich dies nur tun kann, indem es sein ganzes Gewicht in die Waagschale des Friedens wirft, bevor die Entwicklung außer Kontrolle gerät. Solche Ansichten hatten sich bereits in Amerika durchgesetzt, als die Russen ihre Sputniks abschossen. Dadurch erhielten diese Ansichten dann aber in den letzten Monaten ganz zweifellos einen neuen Auftrieb, weil nun der Zeitpunkt näher gerückt (wenn nicht bereits erreicht) ist, wo jede amerikanische Stadt in Reichweite eines direkten atomaren Angriffes liegt.

Warum machen sich unter solchen LImständen die Engländer eigentlich noch Sorgen um einen amerikanischen Isolationismus? Diese Frage läßt sich, wie ich glaube, folgendermaßen beantWorten: Die Sorgen der Engländer beziehen sich nicht auf die Entwicklung, die eintreten würde, wenn einmal ein Krieg ausbricht Sie wissen ganz genau, daß das große Machtpotential der Vereinigten Staaten in einem neuen Weltkrieg vom ersten Schuß an voll eingesetzt werden wird. Die Sorgen der Engländer beziehen sich vielmehr auf die Zeit vor Ausbruch eines Krieges, d. h. also, wenn sich ein solcher Krieg vielleicht noch vermeiden läßt. Die Engländer befürchten, daß der amerikanischen Regierung in einer solchen Phase der Entwicklung durch einen unter LImständen immer noch starken Einfluß des traditionellen Isolationismus eine abwartende Politik aufgezwungen werden könnte, gerade wenn Festigkeit und Entschlossenheit unbedingt am Platze wären. Vielleicht ist es ganz absurd, daß man sich in England immer noch solchen Gedanken hingibt. Man kann schließlich mit gutem Grund darauf hinweisen, daß die Geschichte der Berliner Luftbrücke, daß die Marschall-Plan-Hilfe oder die Anwesenheit einer großen Anzahl von amerikanischen Soldaten auf europäischem Boden sowie der 6. US-Flotte in europäischen Gewässern (wohlgemerkt in Friedenszeiten) der beste Beweis sind für den Mut und die Entschlossenheit, die Amerika eingedenk seiner heutigen Verantwortung für die ganze Welt an den Tag legt. Dennoch bestehen in England solche Befürchtungen. Diese wurden noch genährt durch den Kurs der amerikanischen Nahostpolitik in den Monaten unmittelbar vor Ausbruch der Suezkrise.

Wenn sich also in England immer noch hartnäckig ein gewisses Mißtrauen gegenüber einem amerikanischen Isolationismus hält, so glaube ich, daß es andererseits in den Vereinigten Staaten ein genau so hartnäckiges Mißtrauen gegen einen britischen Kolonialismus gibt. Auch das Vorhandensein dieses Mißtrauens ist keineswegs unnatürlich. Schließlich waren die amerikanischen Staaten einmal selber britische Kolonien. Wenn diese Staaten heute nicht mehr Glieder des britischen Commonwealth sind, so liegt das doch im wesentlichen an dem Auf-begehren der amerikanischen Kolonisten vor 180 Jahren, die unter einer ihrer Ansicht nach höchst ungerechten Kolonialherrschaft zu leiden hatten. So sind die Dinge jedenfalls seit dieser Zeit in den Schulen Amerikas gelehrt worden. Für die Amerikaner ist daher Kolonialismus gleichbedeutend mit allem Schlechten auf der Welt. Tatsächlich glaube ich nicht, daß der durchschnittliche Engländer geneigt ist, die Richtigkeit der amerikanischen Beurteilung vieler Ereignisse, die zu der Unabhängigkeitserklärung des Jahres 1776 führten, heute noch zu bestreiten. Die englische Regierung jener Zeit würde im Großbritannien des 20. Jahrhunderts eine sehr schlechte Presse haben. Eine solche Feststellung treffen heißt jedoch noch nicht (so möchte jedenfalls ich behaupten), daß man damit an einer Kolonialherrschaft als solcher kein gutes Haar mehr läßt. Das wäre meines Erachtens eine unangebrachte Verallgemeinerung. Wir brauchen nur auf das eine Beispiel hinzuweisen, daß zwischen der britischen Kolonialregierung des späteren 19. und des 20. Jahrhunderts auf der einen, und der Kolonialpolitik im 18. Jahrhundert auf der anderen Seite sehr große Unterschiede bestehen. Einmal sieht sich die heutige britische Kolonialpolitik völlig anders gearteten Problemen (nicht so sehr anders gearteten Völkern) gegenüber. Die Politik von Männern wie Lord North war deshalb so töricht, weil die Kolonisten von Nordamerika ja unsere eigenen Anverwandten waren, Männer und Frauen aus derselben, fortgeschrittenen Zivilisationsstufe wie die Einwohner des Vereinigten Königreiches. Das gleiche gilt natürlich für Kanada, Australien und Neuseeland. Alle diese Völker bilden jedoch heute in den Worten des Berichtes über die Empire-Konferenz des Jahres 1926 „autonome Gemeinschaften innerhalb des britischen Empire, einander völlig gleichgestellt in ihrem Status, das heißt, in der Führung weder ihrer Innen-noch ihrer Außenpolitik einander unterstellt, sondern in völliger Freiheit zusammengeschlossen als Mitglieder des britischen Commonwealth of Nations“. Auf gut Deutsch bedeutet dies, daß es sich heute um völlig unab-. hängige Staaten handelt, die allein aus ihrem freien Entschluß heraus im Verbände des Commonwealth verbleiben: sie alle haben die Ära der Kolonialherrschaft völlig hinter sich gelassen.

Bei den meisten der riesigen Gebiete, die das britische Kolonialreich jüngeren Datums ausmachen, liegen die Dinge völlig anders. Diese Gebiete sind überhaupt keine Kolonien in des Wortes strikter Bedeutung, da sie durch die Briten nicht kolonisiert wurden. Vielmehr handelt es sich hier überall um Gebiete, die beinahe ausschließlich von eingeborenen Völkern jeder Rasse, jeder Religion, Hautfarbe und Zivilisationsstufe bewohnt werden. Unter diesen Umständen war es das wesentliche Ziel der modernen britischen Kolonialherrschaft, diese Völker in einem für sie selber tragbaren Tempo die Sprossen zur nationalen Souveränität (Selfgovernment) hinaufzuführen, bis sie sich am Ende dieser Leiter zu vollgültigen Mitgliedern des Commonwealth entwickelt haben würden.

In einigen Fällen wird das Tempo dieser Ent-wicklung ein sehr schnelles sein, in anderen hingegen unvermeidlicherweise langsam, da es noch ehr primitive Kolonialvölker, vor allem im Raume des Pazifik gibt, die in absehbarer Zeit wahrscheinlich noch nicht reif sein werden für ein self-government. Selbst in einigen Gebieten Afrikas überlagern westliche Ideen im Grunde nur hauchdünn die Schicht „primitiver Wildheit". Das kann auch gar nicht überraschen, wenn man bedenkt, unter welchen Bedingungen die Völker Afrikas noch vor zwei oder drei Generationen lebten. Ihre Anschauungen von der Medizin waren genau so primitiv wie die von der Landwirtschaft: Von echter Freiheit wußten sie überhaupt nichts. Sir Harry Johnston gibt in einem amtlichen Bericht des Jahres 1890 eine sehr anschauliche Schilderung der Aufgaben, denen sich die europäischen Verwaltungsbeamten in Zentralafrika gegen Ende des vorigen Jahrhunderts gegenübersehen: „In diesem Chaos althergebrachter Wildheit und neu entstehender Zivilisation", so schrieb er, „muß irgendeiner die Ordnung aiffrechtcrhalten. Sonst werden wir Kriege der Araber und Kriege der Eingeborenen erleben, . Greueltaten'der Weißen und Vergeltungsakte der Wilden. Der Bürgerkrieg unter den Wilden muß unterdrückt werden, damit es überhaupt zu etwas wie einer richtigen Bestellung des Bodens und zu einer Aufzucht von Herden kommen kann. Aggres-sionen von seifen der Araber muß genau so ein Ende bereitet werden wie dem Sklavenhandel. Man muß skrupellose Männer daran hindern, daß sie die Eingeborenen betrügen oder mißhandeln."

Das war die Lage, der sich die Kolonialmächte noch vor weniger als 70 Jahren gegen-übersahen. Wenn man sich nun dagegen in der Gebieten von Britisch-Asrika heute überall die gut eingespielten Gesundheitsdienste und die landwirtschaftlichen Organisationen ansieht, wenn man bedenkt, wie diese wohlhabenden und friedlichen Völker alle mit großen Schritten auf eine volle Mitgliedschaft im Rahmen des Commonwealth zugehen, dann wird man doch sicherlich nicht sagen können, daß der Kolonialismus nur vom Bösen war. Ganz im Gegenteil zählt für die meisten Engländer das Abschneiden ihres Vaterlandes in der Kolonialpolitik der letzten 100 Jahre zu den großen Leistungen. Sie hegen allein daran Zweifel, ob das Tempo der verfassungspolitischen Entwicklung nicht zu schnell gewesen ist, — von einem zu langsamen Tempo spricht überhaupt niemand. Sie überlegen sich vielmehr, ob diese Völker wirklich schon erwachsen geworden sind, wirklich reif für die völlige Unabhängigkeit, ja ob für sie eine solche Unabhängigkeit nicht eher das Ende ihrer Freiheit bedeuten könnte.

Unwirksamkeit der Vereinten Nationen

Es gibt schließlich keinen gefährlicheren Irrtum als die Annahme, daß Unabhängigkeit und Freiheit einunddasselbe sind. Das kann so sein, braucht es aber nicht. Freiheit — die echte Freiheit, so wie ich sie verstanden wissen wollte — bedeutet Freiheit des einzelnen Individuums, nach eigenem Ermessen zu reden, zu denken und zu handeln — immer im Rahmen der durch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft auferlegten Mindestbeschränkungen. Länder wie Ungarn erfreuen sich einer nominellen Unabhängigkeit. Würde aber heute irgend jemand behaupten wollen, daß das ungarische Volk in dem Genuß der Freiheit steht, so wie wir im Westen diesen Begriff verstehen? Man fängt hier und da sogar schon an, im Hinblick auf Ghana unruhig zu werden, wenn man von gewissen Ereignissen liest, die sich dort abgespielt haben, und von dem Ton, den einige Minister dieses Landes seit der Erlangung der Unabhängigkeit anschlagen.

Damit wollen wir jedoch nicht andeuten, daß das Ziel der modernen britischen Kolonialpolitik ein Ziel, das wir die Politik der Stufenleiter nennen können — falsch war. Mit gutem Recht wird man vielmehr behaupten dürfen, daß dieses Ziel „liberal" und fortschrittlich gewesen ist.

Wenn das Tempo, mit dem dieses Ziel verfolgt wurde, manchmal Risiken in sich zu bergen schien, dann ist dies wahrscheinlich auf das Tempo zurüdezuführen, mit dem sich die Entwicklung in der ganzen Welt innerhalb der letzten 50 Jahre vollzogen hat. Auf jeden Fall war dieses Ziel alles andere als imperialistisch oder kolonialistisch nach der früher gültigen Bedeutung dieser Begriffe. Der beste Beweis für diese Feststellung ist durch die Tatsache gegeben, daß in den zwölf Jahren sei dem Ende des 2. Weltkrieges nicht weniger als fünf Länder (Indien, Pakistan, Ceylon, Malaya und Ghana) die letzte Sprosse der Leiter erklommen haben und zu vollen Mitgliedern des Commonwealth avanciert sind, während andere Länder sich diesem Ziel sehr schnell nähern. Es trifft auch keineswegs die manchmal aufgestellte Behauptung zu, daß die britische Politik in Ägypten oder Oman im Verlaufe derselben 12 Jahre bestimmt wurde von einem angeblich neu aufgelebten imperialistischen oder kolonialistischen Geist (man verwendet heute beide Begriffe synonym). In beiden Ländern war es vielmehr das oberste Anliegen Großbritanniens, die Herrschaft des Rechtes aufrechtzuerhalten: ohnen einen Rechtszustand könnte schließlich der Friede, ja die ganze Zivilisation, nicht lange überleben.

Was Zypern anbetrifft, so stellt sich hier im letzten überhaupt kein Kolonialproblem. Wie man heute endlich in aller Welt zu erkennen beginnt, handelt es sich dabei in erster Linie um eine türkisch-griechische Auseinandersetzung. Beide Länder sind bis vor garnicht allzu langer Zeit durchaus mit der britischen Souveränität auf dieser Insel einverstanden gewesen. Keines dieser beiden Länder ist jedoch bereit, die Herrschaft über die Insel auf den anderen übergehen zi lassen. Dieser Umstand macht es so schwierig. zu einer Regelung zu kommen.

Ich habe hier ziemlich ausführlich das behandelt, was ich als die Hauptsachen für die Spannungen zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten ansehe, weil es so überaus wichtig für beide Teile ist, daß diese Ursachen aus der Welt geschaffen werden. Ich bin fest davon überzeugt, daß weder die amerikanische Furcht vor einem britischen Kolonialismus, noch die britische Furcht vor einem amerikanischen Isolationismus eine echtes, d. h. ein wirklich vorhandenes Problem, darstellt. Beide Probleme gehören der Vergangenheit an und müßten längst zu Grabe getragen werden. Wenn man dis . nämlich nicht tut, dann werden diese Probleme auch weiterhin die Beziehungen zwischen den beiden Ländern vergiften. Weder Großbritannien noch Amerika, noch die übrige Welt, kann sich dies aber leisten. Geben wir uns doch keiner Täuschung hin: die Gefahren, vor denen sich die freie Welt heute gestellt sieht, sind sehr real und sehr furchtbar.

Der Völkerbund starb, weil die Nationen, die den Glauben an einen internationalen Frieden und an eine internationale Gerechtigkeit huldigten, nicht zusammenkommen konnten. Zur Zeit sieht es sehr danach aus, als ob die LINO denselben Weg gehen könnte, obwohl es in diesem Falle dann vielleicht richtiger wäre, nicht so sehr von einem Sterben zu sprechen, als davon, daß diese Organisation niemals wirklich lebendig gewesen ist. Tatsächlich waren die Chancen für den Start bei der UNO wesentlich besser als seiner Zeit beim Völkerbund. Einmal stellt die LINO in einem Ausmaße eine Welt-organisation dar, wie dies der Völkerbund niemals gewesen ist. Auch ist der Sicherheitsrat mit sehr viel drastischeren Exekutivbefugnissen ausgestattet, als sie der Rat des Völkerbundes besaß. Würden die Großmächte eine Überein-stimmung ihrer Ansichten erzielen, dann könnte dieser Sicherheitsrat sehr weitgehende Sofortmaßnahmen ergreifen, um eine Aggression gegebenenfalls einzudämmen. Die Charta der LINO sieht ja auch die Errichtung einer internationalen Truppe mit einem internationalen Generalstab zur Durchsetzung der Sicherheitsrat-Beschlüsse vor. Von Anfang an beruhte jedoch der Erfolg der UNO als eines Instrumentes zur Bewahrung von Frieden und Gerechtigkeit in der Welt auf einer essentiellen Voraussetzung: Die Großmächte mußten wirklich die ihnen nach der Charta im Sicherheitsrat zufallende Autorität zum allgemeinen Wohl, und nicht zu ihrem Vorteil, einzusetzen entschlossen sein. Unglücklicherweise hat Sowjetrußland von seinem Vetorecht nicht aus einem solchen Geiste heraus Gebrauch gemacht. Ganz im Gegenteil: Rußland suchte mit diesem Vetorecht nur seiner eigenen, und der Politik seiner Freunde zu dienen. Durch die Behinderung des Sicherheitsrates ist die Exekutivgewalt, die nach dem Willen der UNO-Gründer ursprünglich eben diesem Gremium innewohnen sollte, notgedrungen auf die Vollversammlung übergegangen. Diese ist aber nun ihrerseits so zusammengesetzt, daß jede Maßnahme zu Fall gebracht werden kann, die für den Ostblock unannehmbar ist. Und was sind die Folgen gewesen? Da sich die LINO im wesentlichen als unwirksam erwiesen hat in der Durchführung der Ziele, um deretwillen sie gegründet wurde, sind die Völker des Westens im Interesse ihrer eigenen Verteidigung dazu gezwungen worden, eine zusätzliche. wirkungsvollere Organisation ins Leben zu rufen. Darin müssen wir die tiefere Bedeutung der NATO erblicken.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Der Marqnis v. Salisbury, K. G. P. C. Lord Präsident des Kronrates 1952— 57, früher Kolonial-minister, Lordsiegelbewahrer und Commonwealth-Minister.