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Möglichkeiten und Grenzen sowjetischer Wandlungen | APuZ 27/1958 | bpb.de

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APuZ 27/1958 Möglichkeiten und Grenzen sowjetischer Wandlungen

Möglichkeiten und Grenzen sowjetischer Wandlungen

Bernhard Roeder

Seit dem Tode Stalins stellt sich immer von neuem die Frage, welche Wandlungen in der Sowjetunion stattgefunden haben und welche Bedeutung ihnen zukommt. Was in unserem östlichen Nachbarbereich vorgeht, kann uns nicht unbeteiligt lassen, zumal das Sowjetsystem Besatzungsmacht in einem Teil Deutschlands ist. In jedem Fall stellt die Auseinandersetzung mit einem wie immer gewandelten Sowjetsystem uns vor eine neue Lage und vor neue Aufgaben, die rechtzeitig erkannt werden müssen, die Frage nach den Möglichkeiten sowjetischer Wandlungen stellen, heißt nach Kräften fragen, die solche Wandlungen herbeiführen könnten: Gibt es im Sowjetsystem selbst oppositionelle oder doch wenigstens antistalinistische Kräfte und Tendenzen? Welcher Art sind sie und welches Ziel haben sie? Wieweit vermögen sie sich durchzusetzen? Die Frage nach den Grenzen sowjetischer Wandlungen stellen, heißt nach der inneren Struktur dieses Wandlungsprozesses fragen: Wie ist dieser Prozeß bisher verlaufen? Wieweit vermag er das Sowjetsystem zu wandeln und wieweit nicht? Was ist das Wesen dieses gewandelten Sowjetsystems?

Die Bevölkerung der Verbannungsgebiete als Modell

Auf diese Fragen können Antworten von den verschiedensten Gesichtspunkten und den verschiedenster Erfahrungsbereichen gegeben werden. Ich gehe von den Erfahrungen aus, die ich in den sowjetischen Verbannungsgebieten und ihren Arbeitslagern in der Zeit von Anfang 1950 bis Ende 195 5 gewonnen habe. Diese Erfahrungen sind verschieden von denen der ehemaligen Kriegsgefangenen, die in der Sowjetunion in einer weitgehenden Isolierung gelebt haben, während wir zivilen Gefangenen uns stets mitten unter Sowjetbürgern befanden, mit ihnen zusammen lebten und arbeiteten — in den Lagern bildeten die Ausländer eine Minderheit von höchstens 5 °/o —, auch standen wir auf den Arbeitsplätzen in täglichem engen Kontakt mit den „Halbfreien", den verbannten Sowjetbürgern, die teils als Kollegen, teils als Vorgesetzte mit uns zusammen arbeiteten. Dadurch haben wir bestimmte Einblicke in die sowjetische Wirklichkeit und Entwick’ no gewonnen, die weder die Kriegsgefangenen in ihren Lagern noch ue Beobachtern der russischen Entwicklung in Moskau erlangen konnten.

Der mögliche Einwand, daß ein so schmaler und abseitiger Erfahrungsbereich wie der der Verbannungsgebiete nicht ausreichen könne, um über sowjetische Fragen mitzureden, trifft m. E. nicht zu, jedenfalls nicht, soweit es um die Fragen unseres Themas geht. Denn die oppos tionellen bzw. antistalinistischen Kräfte und Tendenzen spiegeln sich in der Bevölkerung der Verbannungsgebiete am klarsten wider. Diese Gebiete sind gewissermaßen das Archiv der Opposition, in dem jede nur mögliche Gruppe . oder Richtung durch wenigstens einen ihr Zugehörigen in jedem Lager und jeder Ansiedlung der Verbannungsgebiete vertreten ist. Diese Vertreter der einzelnen Gruppen oder Richtungen repräsentieren ihrerseits wieder die Schicksals-und Gesinnungsgenossen außerhalb der Lager und Ansiedlungen. Die Verbannungsgebiete sind aber nicht nur das Archiv, sie sind auch die Schule der Opposition. In den Lagern und Siedlungen beeinflussen die einzelnen Gruppen und Richtungen einander, der Einzelne gewinnt zu seinen persönlichen Erfahrungen die der Kameraden hinzu und das gemeinsame Schicksal formt gemeinsame Grundsätze und Ansichten. Dieser Prozeß wird dadurch verstärkt, daß gerade politische Gefangene, die dem System besonders gefährlich scheinen, häufig von einem Lager ins andere versetzt werden, um zu verhindern, daß sie sich in einem Lager einen festen Anhang schaffen; dadurch aber können sic ihre Gedanken von einem Lager ins andere tragen. Aus diesen Gründen bildete sich in den Verbannungsgebieten eine Art gemeinsames Grundprogramm der Opposition, das aus den Lagern herausgetragen wurde, als von 1954 ab mit den Amnestien die Entlassungen einsetzten. So wie Ideen, die gewissermaßen in der Luft liegen, sich überall niederschlagen, so scheint mir dieses Programm der Lager im Kern all das widerzuspiegeln, was sich als geistiger Widerstand überall im Sowjetsystem und insbesondere in Ländern wie Polen und Ungarn erhob, als nach dem Tode Stalins eine vorübergehende Lockerung eintrat. Darum ist es gewiß kein Zufall, daß Gomulka ein ehemaliger Häftling ist: als ich seine ersten Reden las, war ich verblüfft, in ihnen vieles von dem wiederzufinden, was ich jahrelang von meinen sowjetischen Lagerkameraden in Workuta gehört hatte.

Darum glaube ich, daß von den einzelnen Gruppen und Richtungen, die in der Bevölkerung der Verbannungsgebiete vertreten sind, Rückschlüsse gezogen werden können auf die oppositionellen Strömungen, die im gesamten Sowjetsystem verdeckt vorhanden sind — so wie ein Ausländer, der sich während des Krieges in einem deutschen Konzen-trationslager befand, aus der Kenntnis der verschiedenen Gruppen und Richtungen, denen seine deutschen Kameraden angehörten, Rückschlüsse auf die innere Opposition im damaligen Deutschland ziehen konnte, auch auf jene breite Schicht, die das Hitlersystem zwar innerlich ablehnte, ihm aber äußerlich gehorchte und darum mit ihm nicht in Konflikt kam. Ein solcher Rückschluß bietet überdies den methodischen Vorteil, daß er sich auf einen konkreten und relativ überschaubaren Erfahrungsbereich stützt: die Wirklichkeit ist nur an Hand konkreter Modelle zu erfassen. Soll ein fester Boden der Deduktion und Diskussion im Glaubensstreit der Meinungen und Gegenmeinungen erhalten bleiben, so müssen konkrete Tatsachen zu Grunde gelegt werden. Was im folgenden über die innersowjetische Opposition ausgeführt wird, ist im Sinne eines solchen Rückschlusses zu verstehen.

Die sowjetischen Verbannungsgebiete unterscheiden sich jedoch von den Konzentrationslagern der Hitlerzeit sowohl durch ihre Struktur wie durch ihre Größe. Sie bilden einen wesentlichen Teil der neu erschlossenen Industrieprovinzen der Sowjetunion. Zu den Verbannungsgebieten gehören insbesondere der Hohe Norden mit den Zentren Archangelsk, Murmansk, Petschora, Workuta und Norilsk, der Ferne Osten mit dem Kolyma-Gebiet und Magadan, ferner Mittelasien mit den Zentren Kingir, Karaganda und Taischet, sowie Teile des Urals mit dem Zentrum Swerdlowsk. Die Verbannungsgebiete befinden sich demnach vor allem im asiatischen Teil Rußlands, in Sibirien, und im nördlichen subpolaren Teil des europäischen Rußlands, deren natürliche Reichtümer das Sowjetsystem durch eine Zwangskolonisierung mit Hilfe von Häftlingen und Verbannten erschlossen hat. Diese Zwangskolonisierung ist alte russische Praxis: schon der Zarismus hat Häftlinge und Verbannte sowie abkommandierte Leibeigne dazu benutzt, Teile Sibiriens und des Urals zu entwickelen. Die heutigen sowjetischen Verbannungsgebiete sind Zentren der Kohle-Erz-und Holzgewinnung und der auf sie gestützten Industrien. Die Verbannungsgebiete sind Arbeitskolonien, in denen Pioniere wider Willen industrielles Neuland zu erschließen haben; gegenüber dem Arbeitsprinzip ist das ursprüngliche politische Ziel der Isolierung und Liquidierung tatsächlicher oder möglicher Gegner allmählich in den Hintergrund getreten.

In den Verbannungsgebieten lebten beim Tode Stalins etwa 20 Millionen Menschen, nämlich etwa 5 Millionen politische Häftlinge — die Überlebenden jener 10 Millionen, die nach Kriegsende die Lager und Gefängnisse füllten — und etwa 3 Millionen kriminelle Häftlinge. Hier ist darauf hinzuweisen, daß die Unterscheidung zwischen politischen und kriminellen Häftlingen oft unscharf ist, weil nach sowjetischem Recht viele Straftaten je nach Ermessen der Staatsanwaltschaft als kriminelle oder politische Delikte angesehen werden können. Zu diesen 8 Millionen Häftlingen kamen hinzu etwa 12 Millionen Zivilbevölkerung, die sich aus verschiedenen Gruppen zusammensetzte: zum überwiegenden Teil aus den Verbannten, den Männern und Frauen, die insbesondere nach dem Kriege im Zuge der Säuberungen aus den wieder-eroberten Gebieten ausgesiedelt wurden, ferner aber auch aus Strafversetzten und Kommandierten. Seit dem Tode Stalins sind die in die Heimat entlassenen Häftlinge und Verbannten ersetzt worden durch Angeworbene, die freiwillig meist mit einem Fünfjahr-Kontrakt in die Industriezentren der Verbannungsgebiete kommen, weil sie hoffen, dort rascher als etwa im heimatlichen Kolchos zu Geld zu kommen. Diese 20 Millionen, durchweg Opfer des Systems und darum seine Feinde, bilden rund ein Zehntel der Bevölkerung der Sowjetunion und repräsentieren darüber hinaus den nicht exakt bestimmbaren Teil der Gesamtbevölkerung, der ebenso denkt und in der gleichen Lage ebenso gehandelt hätte wie sie. Wenn wir diese Bevölkerung der Verbannungsgebiete nach den Gruppen und Richtungen, denen sie angehören, analysieren, so werden wir damit ein reiches Material für den Rückschluß auf die innersowjetische Opposition gewinnen können.

Nationale, soziale und politische Gruppen

Die erste Frage, die wir an die Häftlinge und Verbannten stellen wollen, ist die nach der nationalen Herkunft. Die Antwort lautet: rund 40 Prozent sind Russen, 60 Prozent Nichtrussen. Ziehen wir den nichtrussischen Bevölkerungsanteil an der sowjetischen Gesamtbevölkerung zum Vergleich heran: er beträgt 48 Prozent. Daraus ergibt sich, daß der nichtrussische Bevölkerungsanteil in den Verbannungsgebieten bei weitem überwiegt. Wir müssen daher die Schlußfolgerung ziehen, daß die Russifizierungspolitik des Kreml, die brutale Unterdrückung der nichtrussischen Minderheiten einen erheblichen Teil dieser Minderheiten in den Widerstand gegen das System getrieben und schließlich in die Verbannungsgebiete geführt hat. Gleichzeitig sind die Verbannungsgebiete ein Instrument dieser Russifizierungspolitik, indem die aktivsten Elemente der nichtrussischen Minderheiten aus der Heimat entfernt, isoliert und in dieser Isolierung zum Aufbau neuer Industrieprovinzen verwandt werden. Durch die Zwangsansiedlung überwiegend nichtrussischer Nationalitäten in diesen Industrieprovinzen ergibt sich ein Völkergemisch, ein melting-pot, in welchem diese verschiedenen, ihrer Heimat entwurzelten Nationalitäten sich allmählich miteinander vermischen sollen. Die Ergebnisse dieses Prozesses sind zum Beispiel in den älteren Verbannungsgebieten des mittleren LIral deutlich zu erkennen: dort lebt bereits die zweite und teilweise die dritte Generation, Kinder ehemaliger Häftlinge und Verbannter, die durch die Verhältnisse gezwungen nationale Mischehen eingegangen sind. Aus solchen Mischehen, die durchaus nicht nur auf die Verbannungsgebiete beschränkt sind, geht ein neuer Menschentyp hervor, ein entwurzelter, überall einsetzbarer, russifizierter, aber nicht mehr russischer oder nichtrussischer Mensch — der sowjetische Mensch.

Die zweite Frage ist die nach der sozialen Herkunft der Häftlinge und Verbannten. Hierbei ergibt sich, daß etwa 75 Prozent ehemalige Bauern sind, 10 Prozent ehemalige Arbeiter und 10 Prozent Intelligenz, d. h. Absolventen einer Fach-oder Hochschule. Die restlichen 5 Prozent sind sozial nicht einzuordnen; sie stammen aus Schichten, die durch die bolschewistische Revolution bereits deklassiert wurden, wie die Groß-bauern, die Kulaken, durch die Kollektivierung der Landwirtschaft, oder das Bürgertum und Kleinbürgertum durch die Enteignung der privaten Handels-und Handwerksbetriebe.

Was sagen uns diese Zahlen?

Wir müssen ihnen die Anteilzahlen der betreffenden Gruppe an der sowjetischen Gesamtbevölkerung gegenüberstellen, um sie zum Sprechen zu bringen. Wenn sich die Bevölkerung der Verbannungsgebiete zu 7 5 Prozent aus ehemaligen Bauern zusammensetzt, aber der Anteil der bäuerlichen Bevölkerung an der sowjetischen Gesamtbevölkerung heute nur 42 Prozent beträgt, so müssen wir daraus folgern, daß das sowjetische Agrarsystem, das die Bauernschaft teils in den Kolchos preßt, teils zur Abwanderung in die Industrie zwingt, eine wesentliche Ursache der oppositionellen Einstellung bildet. Dagegen stellen die 10 Prozent ehemalige Arbeiter in den Verbannungsgebieten offenbar nur einen geringen Teil jener 24 Prozent der Gesamtbevölkerung dar, die als nichtlandwirtschaftliche Arbeiter tätig sind. Wir müssen daraus ableiten, daß die sowjetische Arbeiterschaft nur zum geringen Teil auf der Seite der Opposition steht: die Arbeiterschaft lebt relativ besser als die Bauernschaft und findet in der Hierarchie des sich immer weiter industrialisierenden Systems noch echte Aufstiegsmöglichkeiten. Demgegenüber übertreffen die 10 Prozent Absolventen von Fach-oder Huchschulen den Anteil der Intelligenz an der sowjetischen Gesamtbevölkerung, der etwa 7 Prozent beträgt. Daraus ist zu folgern, daß die Unterdrückung der geistigen und künstlerischen Freiheit erhebliche Teile der Intelligenz in die Opposition treibt und daß diese oppositionelle Intelligenz eine revolutionäre Unruhe in das System trägt.

Aus den Ergebnissen, die wir bei der Untersuchung der nationalen und sozialen Herkunft der Häftlinge und Verbannten gefunden haben, können wir einen Katalog der Bruchstellen des stalinistischen System-zusammenstellen. In diesem Katalog haben wir an die erste Stelle zu setzen den Widerstand der nichtrussischen Minderheiten gegen die nationale Unterdrückung sowie den Widerstand der Bauernschaft gegen das Kolchossystem. An zweiter Stelle folgt der Widerstand der Intelligenz gegen die Unterdrückung der geistigen und künstlerischen Freiheit und an letzterStelle steht der offenbar geringere Widerstand der Arbeiterschaft gegen die sowjetische Industriestruktur. Aus diesen Bruchstellen des stalinistischen Systems, aus diesen seinen gröbsten und drückendsten Mißständen erwächst die Unzufriedenheit, die Not und Verzweiflung großer Teile der Bevölkerung, so daß einzelne immer wieder zu einer Tat oder einem Wort des Widerstandes hingerissen werden oder sich doch mindestens in den Verdacht eines solchen Widerstandes bringen — so sinnlos dieser Widerstand auch angesichts der Übermacht des Systems zu sein scheint. Daraus ergibt sich die offensichtlich paradoxe und dennoch zutiefst logische Situation, daß das System des totalitären Terrors immer von neuem eine Opposition gegen sich selbst erzeugt, die es immer wieder zu liquidieren hat.

Die Angaben über die nationale und soziale Herkunft sind nunmehr zu ergänzen durch eine politische Analyse im engeren Sinne. Hierbei ergibt sich eine bemerkenswerte Tatsache: etwa 70 Prozent der Häftlinge gehören zur „unpolitischen“ Opposition, d. h. zu denjenigen, die nur gegen die gröbsten und drückendsten Mißstände des Systems, nicht gegen das System als solches rebelliert haben. Zu dieser großen Gruppe zählen die Bauern, die zufrieden wären, wenn sie auf dem Kolchos nicht hungern müßten, die Intellektuellen, wenn das System sich nicht immer wieder in ihre Arbeit einmischen würde, die Arbeiter, wenn sie genug verdienen würden und dafür kaufen könnten, was sie wollten. Die Unzufriedenheit der Massen ist die breite Grundlage der innersowjetischen Opposition, die zum überwiegenden Teil offensichtlich mit eben dieser Unzufriedenheit der Massen identisch ist. Die verbleibenden 30 Prozent bilden die echte politische Opposition, die gegen das stalinistische System nicht nur wegen seiner Mißstände, sondern aus Prinzip opponiert; diese echte politische Opposition aber zerfällt in eine Reihe verschiedener und zum Teil gegensätzlicher Gruppen und Richtungen. Diese Tatsachen, die wir in den Verbannungsgebieten feststellen und im Rückschluß auf das gesamte System übertragen können, haben bei der inneren Entwicklung des Systems seit dem Tode Stalins eine bedeutende Rolle gespielt. Der starke Druck der unzufriedenen Massen wurde nach 1953 durch wenige kleine Reformen aufgefangen. Die unpolitische Opposition, die nur gegen die größten und drückendsten Mißstände des Systems, nicht gegen das System als solches rebelliert hatte, trat dadurch aus der offenen Feindschaft in eine Art abwartende Neutralität. Die echte politische Opposition, die gegen das System als solches rebelliert hatte, geriet in die Isolierung und konnte, voA den breiten Massen abgeschnitten, das System nicht mehr zwingen, den Schritt von den kleinen Reformen zur großen Reform zu tun. Auf diese Entwicklung, deren Ergebnis hier vorweg genommen sei, werden wir später noch näher einzugehen haben.

Hierbei hat mitgespielt, daß die echte politische Opposition, wie bereits erwähnt, in verschiedene und zum Teil gegensätzliche Gruppen und Richtungen zerfällt. Diese Gruppen lassen sich in den Verbannungsgebieten deutlich unterscheiden; daraus dürfen wir folgern, daß sie auch in den oppositionellen Strömungen außerhalb der Verbannungsgebiete etwa in gleicher Stärke vorhanden sind. Die erste Gruppe ist die der politischen Opposition aus religiösen Motiven, zu ihr gehören etwa 5 Prozent der Bevölkerung der Verbannungsgebiete. Diese Gruppe setzt sich im wesentlichen aus den Angehörigen der zahlreichen Sekten zusammen, die sich nach dem Kriege in der Sowjetunion immer weiter verbreitet haben und die man im Lager die „Weruschij", die Gläubigen oder auch die „Evangelisten“ nennt, weil die Evangelien des neuen Testaments, in handgeschriebenen Exemplaren verbreitet, die Grundlage ihres Glaubens bilden. Sie lehnen die offizielle orthodoxe Kirche ab und leben in brüderlichen Gemeinschaften nahezu urchristlicher Art, in denen jeder Laie priesterliche Funktionen wahrnehmen kann. Besitz und Verdienst des einzelnen werden als gemeinschaftliches Eigentum behandelt. Die Reinheit ihrer Sitten, die Lauterkeit ihrer Gesinnung, ihre Opferbereitschaft und Zuversicht unterscheiden sie auf das schärfste von der deprimierenden Demoralisierung, die in den Notlagen, die die forcierte Industrialisierung nicht nur in den Verbannungsgebieten mit sich bringt, das Leben der großen Masse bestimmt; diese Umstände tragen dazu bei, die Anziehungskraft der Sekten zu verstärken. Die Sekten bilden eine echte Volksbewegung, in der die starken, von der orthodoxen Kirche oft nicht mehr gebundenen Glaubenskräfte des russischen Volkes Zuflucht und Ausdruck finden. Es liegt mir fern, damit eine Kritik an der orthodoxen Kirche aussprechen zu wollen, zumal ich aus Gesprächen russischer und ukrainischer Lager-kameraden weiß, daß ein reiches religiöses Leben, an dem auch Angehörige der jüngeren Generation teilhaben, innerhalb der offiziellen orthodoxen Kirche an vielen Stellen der Sowjetunion besteht. Allerdings scheint mir dieses Leben ein gänzlich unpolitisches zu sein, insofern es sich bewußt auf eine andere, vom Staat abgespaltene Ebene beschränkt. Darauf mag es auch zurückzuführen sein, daß ich in den Verbannungsgebieten niemals einen Priester oder einen Gläubigen der orthodoxen Kirche angetroffen habe, der aus religiösen Gründen verhaftet oder verbannt war. Demgegenüber haben die Angehörigen der Sekten eine offen oppositionelle Einstellung zum System, das sie als das „rote Tier“ der Apokalypse bezeichnen und dessen unausbleibliche Vernichtung sie erwarten. Ihre politische Haltung ist aber nicht das primäre Motiv, sie sind eine religiöse, keine politische Bewegung und gehören daher nur in einem weiteren und indirekten Sinne zur politischen Opposition.

Die verbleibenden Gruppen und Richtungen der echten politischen Opposition, die in den Verbannungsgebieten insgesamt 25 Prozent der Bevölkerung umfassen, lassen sich unterteilen in eine kleinere Gruppe von etwa 10 Prozent die sich zu den weiterentwickelten Ideen der Vor-kriegs-und Kriegsopposition bekennen, und eine größere Gruppe von etwa 15 Prozent, die eigentliche Nachkriegsopposition. Die Ideen der Vorkriegs-und Kriegsopposition haben sich nach dem Kriege in den Lagern und sicherlich auch außerhalb der Lager weiterentwickelt, so daß es zu einer gegenseitigen Beeinflussung und Verschmelzung des Trotzkismus, Bucharinismus und der Wlassowbewegung gekommen ist: um diese heutige Ideologie der weiterentwickelten Vorkriegs-und Kriegsopposition auf eine Formel zu bringen, könnte man sie als Ideologie des marxistischen Revisionismus bezeichnen. Ihr Ziel ist die Umwandlung des Sowjetsystems in eine echte sozialistische Demokratie und echte sozialistische Marktwirtschaft; in diesem Ziel stimmen die sowjetischen Intellektuellen, die dieser Richtung angehören, völlig überein mit dem Ziel, das viele Intellektuelle in Polen und Ungarn während der sogenannten Zweiten Oktoberrevolution proklamierten und mit Hilfe einer revolutionären Massenbewegung zu erreichen strebten. Wie sehr das heutige Sowjetsystem diesen Revisionismus fürchtet, enthüllt jede der großen Reden der Parteiführer in Moskau und Peking, die immer wieder den Revisionismus als den eigentlichen Feind des Systems angreifen.

Weniger ideologisch, mehr praktisch ausgerichtet ist das Programm jener Nachkriegsopposition, die vor allem unter der jüngeren Generation, den Soldaten und Offizieren des großen Sieges verbreitet ist. Das bedeutet freilich nicht, daß nicht auch viele Studenten und jüngere Professoren sich zum Revisionismus bekennen. Vom Revesionismus unterscheidet sich die eigentliche Nachkriegsopposition darin, daß ihr Programm, mit einem Wort gesagt, nichts anderes als ein sowjetischer Amerikanismus ist: Modernisierung und Liberalisierung des Sowjetsystems, Vollendung der Technisierung und Industrialisierung in einer Technokratie und dadurch ein Einholen und Überholen der Vereinigten Staaten. Wenn der Revisionismus eine Anziehungskraft vor allem auf die Intellektuellen ausübt, so diese Richtung vor allem auf die Ingenieure und Offiziere, auf die technischen und wirtschaftlichen Spezialisten. Sie haben keine ausgebildete Ideologie und kein dogmatisch festgelegtes Programm wie die Revisionisten; ihr Programm, dessen letzter Konsequenzen sie sich selbst oft gar nicht bewußt sind, ist vielmehr ein pragmatisches und elvolutionäres Programm, dessen Verwirklichung sie durch schrittweise aufeinanderfolgende Reformen in dem Maße erhoffen, in dem die Industrialisierung fortschreitet und die jüngere Generation in die Führung des Systems einrückt. Mit den Führern des heutigen Systems, den alten Männern, wie sie zu sagen pflegen, stim-men sie in dem Willen zur maximalen Industrialisierung und Technisierung völlig überein; dennoch ist ihre innere Einstellung zum System, dessen Rückständigkeit sie verspotten und dessen Unfreiheit sie hassen, eine durchaus oppositionelle. Die Tatsache, daß diese Gruppe die Revisionisten als Marxisten und als Dogmatiker ablehnt, spaltet die Stoßkraft der politischen Opposition; auf der anderen Seite wird gerade diese Gruppe nach meiner Überzeugung mit der Zeit einen zunehmenden Einfluß auf das System ausüben, zumal sich viele Revisionisten nach dem Fehlschlag der Zweiten Oktoberrevolution sicherlich dem evolutionären und pragmatischen Reformprogramm dieser Gruppe anschließen werden.

Aus diesen Ergebnissen unserer Untersuchung über die nationale, soziale und politische Gruppierung der Häftlinge und Verbannten dürfen wir den Rückschluß ziehen, daß zweifellos etwa die gleichen Gruppen und Richtungen auch in der breiten, aber nicht exakt bestimmbaren Bevölkerungsschicht der Sowjetunion bestehen, die mit dem Sowjet-system unzufrieden und darum oppositionell eingestellt ist: die Gruppen, die wir unter den Häftlingen und Verbannten angetroffen haben, repräsentieren die entsprechenden Gruppen der Gesamtbevölkerung. Das allgemeine Bild, das wir gewonnen haben, wird nun im einzelnen näher zu erläutern sein, wobei wir uns zunächst den nichtrussischen und sodann den russischen Gruppen zuwenden wollen.

Gruppen der nichtrussischen Opposition

Die nichtrussischen Gruppen, deren Angehörige in den Verbannungsgebieten, wie bereits erwähnt, eine Mehrheit von 60 Prozent darstellen, kämpfen um die nationale Selbstbestimmung, Freiheit und Unabhängigkeit gegen das Sowjetsystem so wie ihre Väter und Vorväter diesen Kampf gegen den Zarismus geführt — und verloren haben. Je nach dem Zeitpunkt, in dem die staatliche Unabhängigkeit unterging, die diese Völker beim Zusammenbruch des Zarismus vorübergehend errungen haben, können wir eine Reihe bilden. An der Spitze dieser Reihe stehen die Völker, die zuletzt d. h. 1940 ihre staatliche Unabhängigkeit verloren, nämlich die drei baltischen Völker, die Litauer, Letten und Esten. In einem'weiteren Sinne gehören hierher auch die 7 Millionen Westukrainer, die bis 1939 unter polnischer Herrschaft standen und in dieser Zeit, in der sie zeitweise eine gewisse Autonomie besaßen, die Basis des gesamtukrainischen Kampfes, des Freiheitskampfes eines 40-Millionen-Volkes gegen Sowjetisierung und Poionisierung waren. Während des Krieges haben die ukrainischen Partisanen einen Zweifrontenkampf gegen die Deutschen und gegen die Sowjets geführt, den sie unter der sowjetischen Besetzung fortgesetzt haben. In gleicher Weise haben viele Angehörige der baltischen Völker auch nach Kriegsende als Partisanen gegen die Sowjets gekämpft. Die Überlebenden des ukrainischen und baltischen Partisanenkampfes, von dessen Härte sich ein Westeuropäer kaum eine Vorstellung machen kann, wurden zumeist zu langjähriger Zwangsarbeit verurteilt, die übrigen wurden verbannt. Aber auch von denjenigen, die nicht aktiv am Partisanenkampf beteiligt waren, wurden viele in die Verbannungsgebiete ausgesiedelt. Daher bildeten die Ukrainer und Balten in den Verbannungsgebieten die stärksten nationalen Gruppen: etwa ein Drittel der Esten, Letten und Westukrainer und rund ein Fünftel der Litauer wurden nach dem Kriege in die Verbannungsgebiete verschickt.

An zweiter Stelle sind die Angehörigen der kaukasischen Völker, insbesondere die Georgier, Armenier und Aserbeidschanen zu nennen, die nach dem Zusammenbruch des Zarismus selbständige Staaten bilden konnten, bis ihre Gebiete im Jahre 1921 von der Roten Armee zurückerobert wurden. Während des Zweiten Weltkrieges haben sie zum Teil auf deutscher Seite den Kampf gegen die Sowjets wiederaufgenommen und ihn auch nach der Niederlage der deutschen Armeen in den Bergen des Kaukasus fortgeführt. In ähnlicher Weise sind viele Angehörige der mittelasiatischen Völker, insbesondere der Usbeken, Kasachen und Tataren als Gefangene oder Überläufer auf die deutsche Seite getreten, um den alten Kampf gegen die russischen Eroberer fortzusetzen. Angesichts der weitgehenden Sowjetisierung der mittelasiatischen Völker ist die Massenbasis dieses Kampfes allerdings schmaler als bei den Balten und Westukrainern.

Außerhalb unserer Reihe stehen die Volksdeutschen, deren erste Gruppen vor fast 300 Jahren nach Rußland kamen, teils im Zuge einer religiösen Bewegung, teils als Ansiedler. Unter dem Sowjetsystem haben sie eine doppelte Verfolgung als Deutsche und als Großbauern zu erleiden gehabt: diese Verfolgung hat kaum die Hälfte von ihnen überlebt. Für sie gibt es nur die Alternative der Assimilierung und das bedeutet der Sowjetisierung oder der Auswanderung. Ähnlich steht es mit den Juden, die seit jeher unter dem primitiven Antisemitismus, der im ukrainischen und russischen Volk weit verbreitet ist, zu leiden hatten.

Die Träger des nationalen Freiheitskampfes der nichtrussischen Völker sind vor allem die Angehörigen der Intelligenz, die Lehrer und Ärzte, die Ingenieure und Studenten; gegen die nichtrussische Intelligenz richtet sich daher die Unterdrückungspolitik des Systems in erster Linie. Die Ideen, mit denen dieser Freiheitskampf geführt wird, sind sozialdemokratische und nationaldemokratische, bei den Westukrainern auch Sozialrevolutionäre Ideen, deren Tradition weit in die Geschichte dieser Völker zurückreicht. Marxistische Ideen im eigentlichen Sinne haben unter diesen Gruppen der nichtrussischen Opposition so gut wie keine Anhänger. Die Mittel dieses Freiheitskampfes sind die passive Resistenz und die Sabotage. Der Partisanenkampf konnte nicht anders als eine Begleiterscheinung des Krieges sein und ist in dem Maße, in dem die Sowjets die vollständige Kontrolle über die wiederbesetzten Gebiete zurückgelangten, fast völlig erloschen. Die letzten Partisanengruppen, die als Häftlinge in das Workuta-Gebiet kamen, waren 1949 und 1950 gefangen genommen worden; als nach dem Tode Stalins die Verwandtenbesuche erlaubt wurden, erfuhren wir allerdings, daß auch seither von Zeit zu Zeit eine vereinzelte Partisanentätigkeit im Baltikum, in der Westukraine und im Kaukasus wieder aufgeflammt ist.

Die Tragik dieses nationalen Freiheitskampfes beruht darin, daß jedes dieser Völker ihn für sich und im Grunde gegen alle anderen geführt hat; sogar im Lager war es sehr schwer und zeitweise fast unmöglich die einzelnen Gruppen zu gemeinsamen Aktionen zusammenzuschließen. Dazu kommt, daß der Nationalismus auch im Osten bereits eine überholte Lebensform darstellt. Der Zug der Zeit ist auf die freie Integration in großräumige wirtschaftliche und politische Einheiten gerichtet. Auch wenn das Baltikum, die Likraine, der Kaukasus und Mittelasien wieder selbständige Staaten bilden könnten, so müßten sich diese Staaten aus wirtschaftlichen Gründen auch an den großrussischen Wirtschaftsraum anlehnen, vielleicht sogar in ihn eingliedern. Während die ältere Generation an den Idealen des nationalen Freiheitskampfes festhält, beginnt die jüngere Generation zu erkennen, daß eine Politik der Auflösung der Sowjetunion in ihre nationalen Bestandteile irreal ist. Das bedeutet nicht, daß der nationale Freiheitswille erlahmt, aber er ändert seine Richtung. Die jüngere Generation schließt sich an ihre sowjetischen Altersgenossen an und erhofft mit ihnen eine evolutionäre Politik der Reform, die allmählich das Sowjetsystem wandeln soll; in diese Reformpolitik bringt sie die Forderung einer möglichst weitgehenden nationalen Autonomie für die nichtrussischen Minderheiten ein.

Kategorien des russischen Selbstverständnisses

Die Einstellung der russischen Oppositionsgruppen zum Sowjetsystem und seiner künftigen Entwicklung, die sie erhoffen, bedarf einiger Vorbemerkungen über die Kategorien, mit denen die Russen sich selbst verstehen. Das Kennzeichnende der heutigen Situation liegt darin, daß die Russen den Ausweg aus der Sackgasse, in der das stalinistische System sich festgefahren hat, nur in der geschichtlichen Richtung nach vorn, nicht aber nach rückwärts glauben finden zu können. Eine Wiederherstellung des Zarismus und seines verhaßten Gutsbesitzersystems ist unmöglich. Eine bürgerliche Demokratie im westlichen Sinne hat es in Rußland nie gegeben; der breite bürgerliche Mittelstand, der eine solche Demokratie tragen könnte, existiert nicht, und die bürgerlichen Ansätze, die es in den großen Städten wie Leningrad, Moskau, Kiew und Tiblissi gegeben hat, sind von der Revolution liquidiert worden. Vom Kapitalismus kennt Rußland nur die negativsten Erscheinungen des Frühkapitalismus. So kommt es, daß sowohl die Anhänger wie die Gegner des heutigen Systems nach meiner Erfahrung darin übereinstimmen: eine Entwicklung Rußlands zum Zarismus, zur bürgerlichen Demokratie im westlichen Sinne oder zum Kapitalismus kommt aus objektiven wie aus subjektiven Gründen nicht in Betracht.

Die Russen verstehen sich selbst und ihre heutige Situation mit den Begriffen der russischen Revolution. Dem westeuropäischen Geschichtsbewußtsein sind nur die Begriffe der englischen und der französischen Revolution vertraut: aus den einander folgenden Wellen der englischen Revolution ist das parlamentarische und industrielle System der heutigen anglo-amerikanischen Welt hervorgegangen, aus der auslaufenden Flut der französischen Revolution das nationalstaatliche System des heutigen Europa. Die russische Revolution hat offenbar zum Ziel die Industrialisierung und Modernisierung des Ostens, wobei sie weit in die asiatisch-afrikanis'he Welt ausstrahlt. Jedenfalls sehen die Russen dieses Ziel und diese Ausstrahlung als den Inhalt ihrer Revolution an, die trotz einer mehr als hundertjährigen Geschichte sich zweifellos noch immer in einer aufsteigenden Bewegung befindet. Wenn man den Beginn der russischen Revolution mit dem Dekabristenaufstand von 182 5 ansetzt, so hat sie über die Bauernbefreiung von 1861 und den Fehlschlag von 1905 eine lange Wegstrecke bis zum Durchbruch von 1917 zurückgelegt. Seither grenzen sich die einzelnen Etappen klar gegeneinander ab: als erste der Kriegskommunismus bis 1921, sodann nach dem Fanal des Kronstädter Aufstandes und der Bauerunruhen der Kompromiß der NEP-Politik, als dritte Etappe der Stalinismus mit Fünfjahresplänen und Kolchossystem und seit dem Tod Stalins eine vierte Etappe des Kampfes für und gegen die Reform des Systems. Während die Stalinisten die Revolution in der Sowjetunion als abgeschlossen betrachten, so daß es ihnen nur um die zweckmäßigste Fortsetzung des eingeschlagenen Weges und die weitere Expansion nach außen geht, glauben die Antistalinisten, daß die Revolution in der Sowjetunion nicht abgeschlossen ist, sondern weitergeht: sie suchen im Kampf gegen die Mißstände des heutigen Systems den Ansatzpunkt für eine freiheitliche Weiterentwicklung der russischen Revolution. Nachdem das Sowjetsystem von außen kaum mehr zu beeinflussen ist, wird von dem Ausgang dieses Kampfes das Schicksal der östlichen Hälfte der Menschheit und damit der Menschheit überhaupt abhängen. Dieses Bewußtsein, an einem möglichen Wendepunkt der Geschichte zu stehen, an dem die Weichen neu gestellt werden können, gab den Jahren nach dem Tode Stalins ihre dramatische Spannung, die freilich in dem Maße nachlassen mußte, in dem die neue Einmannherrschaft im Kreml sich festigte.

Ein weiterer zentraler Begriff des russischen Selbstverständnisses ist der Begriff des Apparates. Für den einfachen russischen Menschen folgt der Bruch nicht aus den Ereignissen des Jahres 1917 — dies gilt nur für die ehemalige Oberschicht —, sondern aus den Ereignissen des Jahres 1929, aus der forcierten Industrialisierung der einander folgenden Fünfjahrpläne und aas der Kollektivierung der Landwirtschaft im Kolchossystem: seither lebt der russische Mensch „po novomu", auf neue Art, weil er im Apparat leben muß, den die Apparatschiki bedienen. Der Apparat ist das Monstrum aus Traktoren und Maschinen, Hochhäusern und Fabriken, Planung, Propaganda und Terror. Der Apparat hat das dörfliche und kleinstädtische Leben verändert, nun kann man im Dorf nicht mehr ohne Traktor, in der Stadt nicht mehr ohne Fabriken existieren. „Wenn Du wirklich verstehen willst, was der Apparat ist", sagte mir einmal ein Leningrader Student, „so stelle Dir ein riesiges Netz vor, in jeder Masche des Netzes ein Menschenhais: wenn einer aus der Reihe tanzt, dann zieht sich bei ihm und seinen Nachbarn das Netz zusammen und sie bekommen keine Luft mehr. Darum paßt jeder auf den anderen auf, so daß sie alle schön ordentlich in der Richtung marschieren, die die Führer vorne jeweils einschlagen. Aber auch die Führer haben den Hals im Netz: sie können nicht so, wie sie wollen, sondern nur so, wie sie müssen. Dieses Müssen bestimmen nicht Du und nicht ich, nicht Er, der Führer, sondern Es, das große Es, das Netz selbst, der Apparat.“ Denn der Apparat ist nicht pluralistisch aufgegliedert und demokratisch kontrolliert, sondern totalitär und terroristisch zusammengefaßt, so daß der Kreml die Zentrale der Macht ist, die große Fabrik, an die die Millionen ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, weil sie keine andere Wahl haben, und zugleich der einzige Tempel, in dem über Gut und Böse, Wahr und Falsch entschieden wird. Das alte marxistische Problem der Selbstentfremdung des Menschen kehrt ungelöst und in einem gigantischen Maßstab wieder.

Das stalinistische System hat den Beweis dafür erbracht, daß das Leben im Apparat in dieser totalitären und terroristischen Zusammenfassung für die Massen unlebbar wird. Darum mußten die Nachfolger Stalins im Kreml die Maschen des Netzes lockern, damit die Massen besser arbeiten können und der Apparat dadurch noch mächtiger wird. Aber mit diesen kleinen Reformen ist im Grunde niemandem gedient als nur dem Apparat selbst. Die Empörung möchte das Netz zerreißen und den ganzen Apparat sprengen und zurückkehren zum alten Leben. Aber die ruhigere Überlegung weiß, daß dies bereits unmöglich ist, es gibt keinen Weg zurück, es gibt nur den Weg nach vorn. Man muß den Apparat umbauen, so daß die Freiheit des Einzelnen und der Sinn des Ganzen in ihm Platz haben. Die Freiheit des Einzelnen und der Sinn des Ganzen sind im Grunde religiöse Kategorien: Lim mit dem Apparat fertig zu werden, bedarf es der Kraft der religiösen Erneuerung und eines großen Zeitraumes, in dem diese Kraft sich auszuwirken vermag. Darum sagten viele in den Lagern: Wenn Lenin seinen Sozialismus definierte als Sowjetmacht plus Elektrifizierung, so kann der neue russische Sozialismus, den wir suchen, nur sein „Tolstoistwo", Tolstoiismus plus Technisierung.

Gruppen der russischen Opposition

Nach diesen allgemeinen Bemerkungen über die Kategorien, mit denen die Russen sich selbst und ihre heutige Situation verstehen, wenden wir uns nun den beiden Richtungen der russischen Opposition zu, die wir bei der Analyse der Bevölkerung der Verbannungsgebiete bereits erwähnt haben: den marxistischen Revisionisten, die den weiterentwickelten Ideen der Vorkriegs-und Kriegsopposition, insbesondere der weiterentwickelten Wlassowbewegung folgen, und jener praktisch und technisch orientierten Gruppe, deren Leitbild ich als sowjetischen Amerikanismus bezeichnete. Beide Gruppen lassen sich nicht klar voneinander trennen, sie unterscheiden sich eher durch die gefühlsmäßige Einstellung zum letzten Ziel, das ihnen vorschwebt — ein moderner Marxismus bei der ersteren, eine moderne Technokratie bei der letzteren Gruppe. In den ersten Schritten, die zur Erreichung dieses Fernzieles führen sollen, stimmen sie völlig überein. So ist innerhalb des Sowjet-system selbst ein gemeinsames Grundprogramm der innersowjetischen Opposition entstanden — nicht nur in den Verbannungsgebieten, sondern in ganz Rußland und in den Satellitenländern. Das Vorhandensein dieser Opposition hat in den Satellitenländern die tiefe, noch immer ungelöste und nur gewaltsam unterdrückte Krise der Zweiten Oktoberrevolution ausgelöst, aber auch in der Sowjetunion selbst, wie sogar die sowjetische Presse berichten mußte, Erschütterungen hervorgerufen — z. B. an den Universitäten Leningrad und Moskau, im Baltikum, in der Ukraine und im Kaukasus. Daß eine solche innersowjetische Opposition vorhanden ist und ein gemeinsames Grundprogramm besitzt, ist ein unbestreitbarer und zugleich neuer und wichtiger Tatbestand. Denn in dem ersten Jahrzehnt der bolschewistischen Revolution gab es innerhalb des Systems nur Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Fraktionen der Partei, bis der stalinistische Terror sie zum Verstummen brachte; nur die Emigranten und die Kriegsgefangenen und Überläufer des Zweiten Weltkrieges vermochten noch für ihr Volk zu sprechen. Dies hat sich in der Nachkriegszeit geändert, und diese Änderung ist nach dem Tode Stalins offenbar geworden.

In diesem Zusammenhang ist eine weitere wichtige Tatsache zu erwähnen: in der innersowjetischen Opposition spielt die junge Generation eine führende Rolle. Dies hat sich in Polen und Ungarn erwiesen, gilt aber auch für die Sowjetunion selbst. Aus dem Kriege haben die jungen russischen Soldaten und Offiziere nicht nur das patriotische Selbstbewußtsein des Siegers mit nach Hause gebracht, sondern auch die scharfe Kritik, die der Vergleich zwischen dem Ausland und der Heimat ausgelöst hat. Diese Kritik ist auch in der jüngsten Generation nicht erloschen.

Wie kommt es, daß gerade die Jugend, die in diesem System groß geworden ist, kein anderes System kennt und jahrelang mit äußerster Intensität vom System geschult worden ist, sich gegen dieses System wendet?

Dies ist leicht zu erklären, es ist eine Folge der marxistischen Erziehung, die im Zusammenstoß mit der sowjetischen Realität dialektisch umschlägt. Vom Kindergarten bis zur Universität steht die Erziehung des Sowjetmenschen unter einer ungeheuren moralischen Anspannung: Aufopferung fü • das sowjetische Vaterland, für die Arbeiterklasse, für die Revolution, Heldentum des Bestarbeiters, das Hohe Lied des Pioniers, der Neuland erschließt oder Neuerungen in die Produktion einführt — an dieser lodernden Flamme eines revolutionären Idealismus entzündet sich das jugendliche Herz.

Wenn aber der junge Mensch aus der behüteten Welt der Schule und der Schulung in die Wirklichkeit des sowjetischen Arbeitslebens eintritt, wird dieser revolutionäre Idealismus zumeist erschüttert, zugleich aber bewahrt ihn dieser revolutionäre Idealismus vor dem Konformismus und Zynismus —, wenn die Verhältnisse nicht so sind, wie sie nach den Idealen sein sollen, die er zutiefst in sich ausgenommen hat, so muß man die sowjetische Wirklichkeit eben ändern, muß die Ideen und die Instrumente finden, durch die diese Änderung zu bewerkstelligen ist. Darum wird der junge Mensch so oft zum Rebellen und zum Revolutionär.

Wenn es also eine innersowjetische und innerrussische Opposition mit einem gemeinsamen Grundprogramm gibt und innerhalb dieser Opposition die Jugend eine wichtige Rolle spielt, so wird zunächst dieses Programm darzustellen sein, um dann zu prüfen, wieweit es unter den gegenwärtigen Verhältnissen verwirklicht werden kann. An der Spitze des oppositionellen Programms steht als erster Punkt die Beseitigung des Terrors oder, positiv ausgedrückt, die Garantie der Rechtssicherheit und die Garantie der Freiheit der öffentlichen Diskussion. Sie bilden die unabdingbare Voraussetzung für eine echte Politik der Reform und stellen in sich schon den Beginn der großen Reform dar. Denn auch das nachstalinistische System wird durch den Terror zusammengehalten. Wer diese eiserne Klammer nicht nur lockern, sondern lösen will, müßte sogleich das gesamte System so umbauen, daß es von der großen Mehrheit bejaht werden könnte. Die Beseitigung des Terrors bedeutet darüber hinaus die Beseitigung der Diktatur des Proletariats, die die Avantgarde des Proletariats, die Partei, nach den ideologisch-historischen Gesetzen ausübt, die allein die Partei kennen kann. Das würde ferner bedeuten den Klassenkampf und den bewußten Eingriff in die Klassenstruktur aufzugeben und die soziale Entwicklung ihrer eignen Spontaneität zu überlassen. Das würde schließlich bedeuten, die Zwangsjacke der Ideologie aufzureißen und die Ergebnisse der freien wissenschaftlichen Diskussion, so wie sie jeweils die Gesamtheit der geistigen Tradition erweitert, an die Stelle der Ideologie zu setzen. Diese letzten Konsequenzen zu ziehen, wäre die Gruppe des sowjetischen Amerikanismus vielleicht bereit; die russischen Revisionisten sind hierzu nach meiner Überzeugung keinesfalls bereit, weil sie bei allem Revisionismus sich aus den marxistischen Grundbegriffen nicht lösen können.

An zweiter Stelle im Programm der Opposition steht die Forderung einer Reform der sowjetischen Agrar-und Industriestruktur. Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß 70 Prozent der Häftlinge und Verbannten ehemalige Bauern sind, so wird klar, daß das stalinistische Kolchossystem einen der schlimmsten Mißstände des Systems bildete, gegen den sich immer wieder die Rebellion der Bauernschaft richtete. Dazu kommt, daß der Kolchos ein fehlgeschlagenes Experiment ist: Malenkow und nach ihm Chruschtschow haben öffentlich zugeben müssen, daß die Getreideerzeugung der Kolchosen mit der wachsenden Bevölkerung nicht Schritt gehalten hat und daß die Viehwirtschaft sogar hinter den Stand vor der Kollektivierung zurückgesunken ist Daraus resultiert der niedrige Ernährungsstandard der sowjetischen Bevölkerung. Darum war das Kolchosproblem stets eines der Hauptthemen aller politischen Diskussionen in den Verbannungsgebieten.

Während z. B. die Balten die Auflösung der Kolchosen und die Wiederherstellung eines freien Einzelbauerntums forderten, fanden sich sowohl unter den Ukrainern wie unter den Russen viele, die das Kolchossystem reformierten und aus ihm freie landwirtschaftliche Genossenschaften bilden wollten, weil sie an die wirtschaftliche Überlegenheit des technisierten Großbetriebes gegenüber der alten bäuerlichen Einzel-wirtschaft glaubten. Diese Reform sollte schrittweise erfolgen: zuerst die Senkung der Pflichtablieferungen, die Hebung der Preise, die Streichung der Kolchosschulden — unter Malenkow wurden diese Reformen teilweise verwirklicht —, sodann die Befreiung des Eigenlandes von den Pflichtablieferungen und die Eingliederung der MTS, der staatlichen Maschinen-und Traktorstationen in die Kolchosen — auch diese Forderungen scheint Chruschtschow seit Beginn dieses Jahres verwirklichen zu wollen, auf die Einzelheiten dieser angekündigten Reform werden wir später näher einzugehen haben. Vorweg dürfen wir schon hier feststellen, daß der stumme Druck der bäuerlichen Massen das System gezwungen hat, auf einem der wesentlichsten Gebiete nachzugeben und teilweise Reformen der stalinistischen Agrarstruktur durchzuführen.

Linerfüllt geblieben ist aber die weitergehende Forderung, das Eigen-land der Kolchosbauern zu vergrößern und es zum frei verkäuflichen und vererblichen Eigentum zu machen, was zu einem Nebeneinander von Großbetrieb und bäuerlichem Kleinbetrieb innerhalb des Kolchos führen würde. An diesem Punkt teilten sich die Auffassungen aller oppositionellen Gruppen: die einen meinten, daß damit der Kolchos als eine Art Zwangsgenossenschaft innerhalb der sowjetischen Planwirtschaft lebensfähig sein werde, den berechtigten Forderungen der Bauernschaft Genüge getan sei und die landwirtschaftliche Produktion sich heben werde. Andere hingegen meinten, daß die Kolchosen freie landwirtschaftliche Genossenschaften mit dem Recht zum Ein-und Austritt werden müßten, daß sie selbst ihre Produktion bestimmen und als Käufer und Verkäufer auf dem Markt austreten sollten. Während die Mehrheit der marxistischen Revisionisten zu der ersteren Auffassung neigte, • stand die Mehrheit der Gruppe des sowjetischen Amerikanismus der letzteren Auffassung näher.

In diesen gegensätzlichen Meinungen kommt zum Ausdruck, daß in den Reihen der russischen wie überhaupt der innersowjetischen Opposition nach meiner Erfahrung keine Übereinstimmung hinsichtlich des eigentlichen Zieles der Reform des stalinistischen Systems besteht. Dies erweist sich deutlich, wenn wir uns nun der Darstellung des industriellen Reformprogramms zuwenden. Übereinstimmung besteht lediglich darin, daß eine Privatisierung der sowjetischen Industrie nicht in Frage kommt, weil es private Rechtsansprüche auf die neu erstandenen Großbetriebe nicht gibt. Keine Übereinstimmung besteht darüber, ob die sowjetische Planwirtschaft wenn auch mit Modifizierungen beizubehalten ist oder ob eine sozialistische Marktwirtschaft anzustreben ist, in der vergesellschaftete Betriebe miteinander konkurrieren würden. Die Anhänger der letzteren Auffassung stützen sich auf das Argument, daß nur durch eine radikale Reform, durch die Schaffung einer solchen Marktwirtschaft eine Gesundung der sowjetischen Wirtschaft erreicht werden könne. Diese sozialistische Marktwirtschaft würde sich von einer kapitalistischen im Grunde nur dadurch unterscheiden, daß in ihr nicht private, sondern vergesellschaftete Betriebe auftreten. Diese Vergesellschaftung soll darin bestehen, daß das Eigentum am Betrieb nicht dem Staat, sondern der Gemeinschaft der Produzenten, der Arbeiter und Angestellten dieses jeweiligen Betriebes zusteht. Darum bezeichnen sich die Anhänger dieser Auffassung oft auch als Syndikalisten; es sei hier darauf hingewiesen, daß diese syndikalistische Forderung schon im Wlassow-Programm enthalten war.

Wenn also über die große Reform keine Übereinstimmung besteht, so herrscht im wesentlichen eine einheitliche Auffassung hinsichtlich der kleinen Reformen. Die Mehrheit ist der Ansicht, daß der Primat der Schwer-und Rüstungsindustrie, aus dem das Ungleichgewicht der sowjetischen Wirtschaft und die Unrentabilität so vieler Betriebe folgen, aufgegeben und ein Gleichgewicht zwischen der Entwicklung der Konsumgüterindustrie und der Schwerindustrie hergestellt werden müsse. Sie vertreten also die Auffassung, die auch Malenkow im Jahre 1953 vertrat, aber gegen den Widerstand der Armee und Partei nicht durchzusetzen vermochte. Die Konsequenz dieser Auffassung wäre sehr weittragend: sie müßte nämlich zum Verzicht auf die stalinistische Macht-und Expansionspolitik, die sich auf den Primat der Schwer-und Rüstungspolitik gründet, und damit zum Rückzug auf die friedliche Entwicklung des eignen Wirtschaftsgebietes führen. Eine Minderheit auch der russischen Oppositionsgruppen folgt allerdings dem System in der Auffassung, daß angesichts der „Einkreisung“ durch die kapitalistische Welt der Primat der Schwer-und Rüstungsindustrie vorerst nicht aufgegeben werden dürfe.

Völlige Übereinstimmung besteht in der Forderung einer Revision des geltenden Norm-und Lohnsystems, um die krassen und ungerecten Unterschiede zwischen den einzelnen Kategorien der Arbeiter und Angestellten zu beseitigen, ferner in der Forderung nach Wiederherstellung der Freizügigkeit der Arbeiter und Angestellten. Einen Schritt weiter geht die Forderung, das Streikrecht anzuerkennen, den Gewerkschaften eine unabhängige Stellung zu geben und der Belegschaft im Betrieb ein Mitbestimmungsrecht durch Arbeiter-oder Produzentenräte einzuräumen. Das System hat diese Forderungen bisher immer auf das schärfste zurückgewiesen. Eine weitere Forderung verlangt die Dezentralisierung der Wirtschaf'-und die Beseitigung des hemmenden Überbaues der Wirtschaftsbürokratie. In diesem Zusammenhang ist auch immer wieder die Forderung erhoben worden, den Betrieben ein Verfügungsrecht über einen gewissen Anteil der Werksproduktion zu geben; damit würde im Rahmen der staatlichen Planwirtschaft ein begrenzter freier Markt entstehen. Der Erlös, den die Betrieb«’ auf diesem freien Markt erzielen, soll vor allem für soziale Investierungen im Betrieb verwandt werden, so daß die besten Betriebe auch die besten Arbeiter gewinnen würden. Dadurch würden marktwirtschaftliche Gesichtspunkte betrieblicher Rentabilität in das bisherige starre Plansystem eingeführt werden. Chruschtschows Reformpolitik hat, wie später darzustellen sein wird, damit begonnen, bestimmte Punkte dieser Forderungen zu erfüllen, jedenfalls insoweit, als dies im Interesse des Systems und seiner herrschenden Klasse liegt.

Was die Reform der politischen Struktur des Sowjetsystems betrifft, so zeigen sich auch hier eine ähnliche Spaltung im Grundsätzlichen und eine ähnliche Übereinstimmung in den kleinen Reformen. Die radikalere Richtung, die die sozialistische Marktwirtschaft anstrebt, will auch die sozialistische Demokratie; ihr Programm deckt sich im wesentlichen mit den Auffassungen, die etwa Djilas vertritt. Diese sozialistische Demokratie will das Monopol der Staatspartei brechen und eine zweite sozialistische Partei zulassen, die sich die Errichtung dieser sozialistischen Marktwirtschaft und sozialistischen Demokratie zum Ziel setzt. Die Wählerschaft soll jeweils in freien Wahlen entscheiden können, ob sie dem Einparteiensystem und dem Planwirtschaftsprogramm der bolschewistischen Partei oder aber dieser Richtung den Vorzug gibt. Daß angesichts der bestehenden Struktur des Sowjetsystems die Verwirklichung eines solchen Programms eine Utopie ist, muß freilich auch den Anhängern dieser Richtung klar sein. Darum stimmen sie mit den Anhängern der gemäßigteren Richtung darin überein, daß zunächst nur kleine Reformen als erste Schritte Aussicht auf allmähliche Verwirklichung haben. Hierher gehören die Forderungen, daß alle Organe der Partei von unten nach oben von den Mitgliedern gewählt, nicht von der Zentrale eingesetzt werden sollen, ferner, daß gewerkschaftliche und bäuerliche Organisationen — letztere gibt es in der Sowjetunion bisher nicht — das Recht haben sollen, eigene Kandidaten für die Wahlen zum Obersten Sowjet aufzustellen und daß die Wähler bei allen Wahlen zwischen mehreren Kandidaten sollen auswählen dürfen — Forderungen also, die in Polen nach den Oktoberereignissen teilweise bereits verwirklicht waren. Auch in der Nationalitätenfrage, die zusammen mit dem Kolchosproblem den wundesten Punkt des Sowjetsystems bildet, bestehen scharfe Gegensätze. Während die ältere Generation der nichtrussischen Völker die völlige staatliche LInabhängigkeit fordert und die jüngere Generation wenigstens auf einer möglichst weitgehenden Autonomie besteht, will die überwiegende Mehrheit der russischen Oppositionsgruppen den Nichtrussen höchstens eine begrenzte Autonomie gewähren, weil sie an dem Primat der Union und dem historischen Prinzip der „Sammlung der russischen Erde“ festhalten.

Der Druck der Massen

Finden diese Programme, die nicht aus der Theorie, sondern aus der Not des täglichen Lebens geboren sind, in diesem täglichen Leben auch Instrumente ihrer Verwirklichung vor? Kann der Einzelne den Kampf gegen die Übermacht des Systems aufnehmen, können die Massen im Apparat ihre Forderungen zur Geltung bringen? Das alte Problem des Widerstandes gegen ein totalitäres System stellt sich hier in neuer Schärfe. Der direkte Kampf des Einzelnen ist sinnlos: im direkten Kampf würde er sich nur als Opfer vor die Räder der großen Maschine werfen, ohne damit den Gang der Maschine aufzuhalten; mit diesem Opfer ist niemanden gedient. Nur der indirekte Kampf der Massen kann, wenn er im richtigen Augenblick und mit der richtigen Taktik geführt wird, jeweils zu bestimmten Erfolgen führen. Das Sowjetsystem ist nämlich gegen den Druck der unzufriedenen Massen durchaus empfindlich: als Terrorsystem reagiert es zwar auf eine feindliche Stimmung von Teilen der Bevölkerung lediglich mit verschärftem Terror, als Staatswirtschaft aber ist es davon abhängig, daß alle Teile der Bevölkerung die Pläne erfüllen und übererfüllen, denn nach seiner Ideologie wie auch in der Praxis kann das System sich auf die Dauer nur durch seine wirtschaftlichen Erfolge legitimieren. Diese Abhängigkeit verschärft sich, je mehr das System sich industrialisiert: der Arbeiter, der eine komplizierte moderne Maschine bedient, kann nicht durch den Terror allein zur Arbeit angetrieben werden, er muß aus freien Stücken sein Bestes geben, wenn Höchstleistungen erreicht werden sollen. Aus diesen Gründen trat nach dem Tode Stalins eine Situation ein, in der der Druck der unzufriedenen Massen sich auszuwirken vermochte. Infolge der Beria-Krise war die Macht des Terrorapparates, des Staatssicherheitsdienstes zunächst gebrochen, gleichzeitig hatte die fortschreitende Industrialisierung die Abhängigkeit des Systems von der freiwilligen Mitarbeit der Massen erhöht. Diese Situation konnte ausgenutzt werden, daraus erklärt sich eine Reihe von Entwicklungen im Sowjetsystem, die seither stattgefunden hat.

Früher konnte die LInzufriedenheit der Massen sich nur in der passiven Resistenz und äußerstenfalls in der Sabotage zum Ausdruck bringen. Aber diese Waffe trägt nicht weit und schlägt überdies auf den, der sie handhabt und seine Arbeitskollegen zurück. Die große Maschine arbeitet unbehindert weiter, auch wenn hier und da Sand im Getriebe ist. Anders ist es, wenn die Massen erkennen, daß ihre Arbeit eine Waffe darstellt, die sie gegen das System kehren können, um Schritt für Schritt konkrete Reformen zu erzwingen, wenn sie ferner ein Grundprogramm solcher Reformen entwickeln und dazu eine äußere Situation •intritt, in der ein solcher Druck von unten sich auswirken kann. Diese ubjektiven und objektiven Faktoren wirkten nach dem Tode Stalins ind infolge der Beria-Krise zusammen, als vom 17. Juni in der sowjeischen Besatzungszone zu den Streiks und Aufständen in den sowjeischen Verbannungsgebieten, von den Entwicklungen in der Sowjetinion selbst zu den Oktoberereignissen in den Satellitenstaaten eine eue Taktik von den Massen spontan aber bewußt angewandt wurde, Jie die Planerfüllung von konkreten Besonnen abhängig machte. Diese Forderungen, die im Betrieb und im Kolchos gestellt wurden, mußte die örtliche Natschalstwo, die Werksdirektoren und Kolchosvorsitzenden nach oben weiterleiten, denn von der Erfüllung und Übererfüllung der Pläne hängen ihre Position und ihre Karriere ab, und das System mußte diesem Druck von unten bis zu einem gewissen Grade nachgeben, denn von der Erfüllung und Übererfüllung der Pläne hängen wiederum sein Weiterbestand und seine Legitimation ab. Die Reformen, die auf diese Weise erzwungen werden, gleichen einer Leiter, auf der eine Sprosse der anderen folgt — von den Verbesserungen der unmittelbaren Lebensbedingungen, der Verpflegung, Wohnung und Bekleidung bis zu den Reformen im Interesse der Arbeiterschaft in der Industrie und der Bauernschaft im Kolchos.

Aber der Aufstieg auf dieser Leiter ist begrenzt. Jede Reform wird durch bessere Arbeitsleistungen erkauft: der Pakt, einmal angeboten, muß eingehalten werden, soll die Waffe des Arbeitsdruckes nicht stumpf werden. Diese besseren Arbeitsleistungen kommen auch dem System zu Gute, das sich dadurch festigt, weiter ausgreifen kann und darum unnachgiebiger wird. Jede Reform, die verwirklicht ist, lindert überdies die Unzufriedenheit in bestimmten Kreisen der Bevölkerung und mindert dadurch den inneren Druck, unter dem das System steht. Wenn die gröbsten und drückendsten Mißstände teilweise reformiert sind, werden diejenigen, die nicht nur gegen diese Mißstände, sondern gegen das System selbst opponieren, von den Massen isoliert sein und werden den letzten Schritt von den kleinen Reformen zur großen Reform nicht mehr erzwingen können. Dazu kommt, daß die Natschalstwo, die neue herrschende Klasse in ihrer Mehrheit zwar für die Reform ist, soweit sie das System verbessert und dadurch das System und sie selbst noch mächtiger macht — aber gegen die Reform ist, soweit diese an die eigentlichen Grundlagen des Systems rührt, auf denen ihre eigne Existenz und Herrschaft beruhen; sie ist darum für die kleinen Reformen und gegen die große Reform. Der Druck der unzufriedenen Massen kann also das System wandeln, aber von sich aus nicht ändern. Hier liegen Grenzen, die nicht überschreitbar sind, es sei denn, eine innere oder äußere Krise des Systems träte ein, wofür keinerlei Anzeichen sprechen. Damit wird jedoch das Programm der großen Reform zur Lltopie, die große Hoffnung zum eitlen Traum. Aber wie der Tag sich vom Traume nährt, so wären auch die kleinen Reformen ohne die Idee der großen Reform nicht konzipiert und verwirklicht worden. Utopien haben eine geheimnisvolle Beziehung zur Realität, die sie begleiten und beeinflussen.

Der Kampf um die Reform

Diese Thesen werden durch die Entwicklung der Sowjetunion seit dem Tode Stalins bestätigt. Wenn wir bisher, vom Modell der Bevölkerung in den Verbannungsgebieten ausgehend, die nationale, soziale und politische Struktur der innersowjetischen Opposition dargestellt und sodann das Programm der oppositionellen Kräfte und die Möglichkeit seiner Verwirklichung untersucht haben, so bleibt uns jetzt nur übrig, einen Überblick über die Entwicklung der Sowjetunion seit 19 5 3, die als bekannt unterstellt werden darf, zu geben, um unter Beziehung auf unser Thema die Grenzen möglicher Wandlungen des Sowjetsystems aufzuzeigen und zugleich die Bedeutung dieser Wandlungen zu bestimmen.

Zur Kennzeichnung der sowjetischen Situation beim Tode Stalins wurde im Lager stets der Begriff des „Tupik", der Sackgasse gebraucht. In der Tat hatte sich das stalinistische System in einer Sackgasse festgefahren, in der aus objektiven wie aus subjektiven Gründen Veränderungen notwendig waren, wenn das System nicht stagnieren, sondern sich weiter entwickeln sollte. Aus objektiven Gründen: weil angesichts der bestehenden stalinistischen Agrar-und Industriestruktur der vom System versprochene und von den Massen erhoffte weitere wirtschaftliche Aufschwung unmöglich war. Aus subjektiven Gründen: weil die seit Jahrzehnten durch den Terror zurückgestaute Unzufriedenheit der Massen sich in einer revolutionären Explosion zu entladen drohte. In dieser Situation der Sackgasse, deren Bedeutung den Massen durchaus bewußt war, mußten sie versuchen die Krise des Systems zu nutzen, um ihm ein Maximum an Reformen abzutrotzen. Gleichzeitig waren die Führungsgruppen, die die Nachfolge Stalins antraten, gezwungen, gewissermaßen Abschlagszahlungen auf die objektiv und subjektiv notwendigen Veränderungen zu leisten; hierbei mußten die Führer dieser Gruppen versuchen, durch erfolgreiche Reformen sich nach innen und außen zu legitimieren und dadurch die Alleinherrschaft zu erlangen, ohne aber durch solche Reformen die Grundlagen ihrer Macht selbst zu zerstören. Darum ist die Geschichte der Sowjetunion seit dem Tode Stalins die Geschichte der Kämpfe um die Reform und zugleich der Machtkämpfe im Kreml selbst.

Das stalinistische System beruhte in seiner politischen Struktur des Terrorismus und Totalitarismus auf der Zusammenfassung von Partei, Armee und Geheimdienst in einer Hand, wobei der Geheimdienst der politisch mächtigste dieser drei Teile des Apparates war. Mit innerer Notwendigkeit griff daher Beria, der Chef des Geheimdienstes nach dem Tode Stalins als erster nach der Macht, und mit ebensolcher Notwendigkeit vereitelten alle übrigen Führungsgruppen geschlossen diesen Versuch, der, wäre er gelungen, ihnen durch eine neue Einmannherrschaft den Weg zur Macht abgeschnitten hätte. Damit war die Allgewalt des Geheimdienstes zunächst gebrochen; dies erklärt die Periode der relativen Liberalisierung, in der der Druck der Massen bestimmte Reformen erzwungen hat. Als Konkurrenten um die Macht blieben übrig Partei und Armee, wobei aber die Partei zunächst in mindestens drei Fraktionen gespalten war: in die Gruppe der älteren Stalinisten um Molotow und Kaganowitsch und in die beiden Gruppen der jüngeren Stalinisten um Malenkow einerseits, Chruschtschow andrerseits. Die älteren Stalinisten hatten im Kampf um die Macht nie eine echte Chance, dazu waren der Haß gegen das Terrorregime Stalins und der Wille zur Abkehr von diesem Regime im Volk wie in der Intelligenz zu stark. Diese Abkehr wurde zuerst von Malenkow im wirtschaftlichen Reformprogramm vom 8. August 195 3 formuliert, das den Kolchosen Erleichterungen gewährte und ein Gleichgewicht zwischen Schwer-und Leichtindustrie proklamierte. Die Konsequenz dieses Programms wäre eine mindestens zeitweilige Abkehr von der Stalinschen Expansionspolitik gewesen. Es kann in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben, ob diese Politik nur ein taktisches Spiel um Zeitgewinn oder der Ansatz zu einer prinzipiellen Neuorientierung war. Jedenfalls scheiterte Malenkows Neuer Kurs am Widerstand der Armee und der Parteigruppe um Chruschtschow: die Marschälle wollen nicht auf den Primat der Rüstungsindustrie, die Anhänger Chruschtschows nicht auf den Primat der Marktpolitik verzichten. So konnte Chruschtschow auf die Armee gestützt Malenkow am 8. Februar 195 5 absetzen, die älteren Stalinisten am 3. Juli 1957 ausschalten und sodann auf die Partei gestützt seinen letzten Rivalen Marschall Shukow am 26. Oktober 1957 stürzen, als Politiker hat Shukow offenbar versagt, auch tendiert die Struktur des Sowjetsystems nicht zum Bonapartismus; die Hoffnungen, die insbesondere die sowjetische Kriegsgeneration auf den um Shukows Namen gewobenen Mythos setzte, blieben unerfüllt. So hat Chruschtschow Schritt für Schritt sich seinem Ziele nähernd die Alleinherrschaft erlangt, er hat gleichzeitig eine erfolgreiche Politik kleiner Reformen durchgeführt und dadurch das System — im Ganzen gesehen — gefestigt. Allerdings haben diese Reformen auch neue Spannungen im System hervorgerufen; hinzu kommt, daß die Anhängerschaft der verbannten Rivalen und die vorhandenen oppositionellen Gruppen und Richtungen unter Umständen Chruschtschows Alleinherrschaft zu gefährden vermögen. Ob er die Alleinherrschaft auf die Dauer wird behaupten können, oder welcher Mit-tel und Kräfte er sich in Zukunft wird bedienen müssen, läßt sich daher noch nicht absehen.

Das Reformwerk Chruschtschows ist in seiner Begrenzung wie in seiner Bedeutung am besten zu verstehen, wenn wir ihm das Reformprogramm der Opposition gegenüberstellen. Der erste Punkt des Reformprogramms war die Beseitigung des Terrors. Wieweit ist dieser Programmpunkt verwirklicht worden?

Seit dem Tode Stalins ist eine relative Liberalisierung eingetreten. Die Massenverhaftungen haben aufgehört. Die Säuberungen werden als sogenannte administrative Säuberungen vollzogen, d. h. durch Entfernung der Betroffenen aus ihren Positionen, nicht mehr durch physische Liquidierung. Etwa zwei Drittel der Arbeitslager für politische Häftlinge sind aufgelöst worden, wobei die ehemaligen Häftlinge zum geringeren Teil in die Heimat entlassen wurden, zum größeren Teil aber als Zwangsangesiedelte in den Verbannungsgebieten am alten Arbeitsplatz weiterarbeiten müssen. Bestrebungen zur Reform des sowjetischen Strafverfahrens haben einen gewissen Erfolg gehabt, so daß seither eine begrenzte Rechtssicherheit besteht. Aber diese Liberalisierung hört gerade dort auf, wo die Freiheit im eigentlichen Sinne beginnt, oder — um eine russische Formulierung zu gebrauchen — es ist zu einem Kompromiß zwischen Terrorisierung und Liberalisierung gekommen, weil zuviel Terror dem Apparat schadet und zuwenig Terror ihn zerfallen ließe.

Der zweite Punkt des Grundprogramms der Opposition betraf die Reform der stalinistischen Agrarstruktur. Es ist bezeichnt nd, daß Chruschtschow in dieser Frage seine früheren radikalen Pläne hat zurückstellen müssen und durch den Druck der bäuerlichen Massen gezwungen Reformen erheblichen Ausmaßes angekündigt hat. Schon in der stalinistischen Aera ist Chruschtschow bekanntlich mit dem Programm der sogenannten Agrarstädte hervorgetreten: die dörflichen Kolchosen sollten zu Agrarstädten zusammengefaßt und die Bauern in Staatsarbeiter verwandelt werden, die auf staatlichen Getreide-und Viehfarmen wie die Arbeiter in den Fabriken arbeiten sollten. Dieses Programm erschien selbst Stalin zu radikal. Nach dem Tode Stalins hat Chruschtschow die Erleichterungen, die Malenkow den Kolchosen gewährte, bestehen lassen und gleichzeitig mit einem neuen radikalen Programm einen Ausweg aus der Problematik des stalinistischen Kolchossystems gesucht: seit 1954 wurden rund 30 Millionen ha Neuland in Sibirien unter den Pflug genommen, um dort vorzugsweise Getreide und dafür in den alten Kolchosen mehr Mais zur Verbesserung der Viehwirtschaft anzubauen. Aber auch dieser Ausweg erwies sich als ungangbar, zumindesten als zu kostspielig, weil infolge der häufigen Dürren in den Neulandgebieten im Durchschnitt nur jede dritte Ernte eine gute Ernte ist. Daraufhin warf Chruschtschow in der undogmatischen Art, die ihn kennzeichnet, das Steuer herum. Seit Mitte 1957 wurden die Maßnahmen vorbereitet, die seit Beginn dieses Jahres verwirklicht werden: die Befreiung des bäuerlichen Eigenlandes von allen Pflichtablieferungen und der Verkauf der MTS, der staatlichen Maschinen-Traktor-Stationen an die Kolchosen. Wenn auch die Kolchosbauern nur Besitzer, nicht Eigentümer des Eigenlandes sind, das ihnen vom Kolchos überlassen wird, so können sie doch nun infolge der Befreiung des Eigenlandes von den Pflichtablieferungen zu gewissermaßen teilfreien Einzelbauern werden. Diese Teilfreiheit bezieht sich auf 25 °/o — wenn man die Produktion des Eigenlandes im Preisverhältnis zur gesamten landwirtschaftlichen Produktion ausdrückt — oder auf 5 °/o — wenn man die Größenordnung des Eigenlandes im Verhältnis zur Gesamtanbaufläche zu Grunde legt. Diese bescheidene Teilfreiheit ist allerdings immer gefährdet, weil im Einzelfalle das Eigenland dem Kolchosbauern, z. B. wegen angeblicher Vernachlässigung seiner Arbeit im Kolchos, entzogen werden kann.

Was die zweite Maßnahme betrifft, den Verkauf der MTS, so ist ihre große Bedeutung jedem klar, der in der Sowjetunion längere Zeit gelebt hat. Denn die staatlichen MTS, für deren Dienste die Kolchosen erhebliche Aufwendungen in Geld und Naturalien zu zahlen hatten, waren die eigentlichen Herren der Kolchosen, von denen sie in der An-bauplanung wie in allen Feldarbeiten völlig abhängig waren. Ihr Verkauf an die Kolchosen ist ein Gewinn für beide Seiten: ein finanzieller Gewinn für den Staat aus dem Verkaufserlös, aber auch ein Gewinn an Selbständigkeit und Unabhängigkeit für die Kolchosen. In jedem Falle wird durch die Agrarreformen Chruschtschows die landwirtschaftliche Produktion und damit der Lebensstandard der Massen steigen, auch sind durch diese Agrarreformen ein Teil der bäuerlichen Forderungen erfüllt worden, was angesichts des bisherigen Widerstandes der Bauernschaft gegen das System zu einer Entspannung im Inneren und damit zu einer Festigung des Systems führen muß.

Eine ähnliche Entwicklung hat unter der Führung Chruschtschows auf dem Industriesektor stattgefunden. Neben den Reformen im Interesse der Arbeiterschaft — wie die Wiederherstellung einer begrenzten Freizügigkeit, Verbesserungen im Norm-und Lohnsystem, Verkürzung der Arbeitszeit in bestimmten Industrien, Verbesserung der Altersversorgung usw. — ist die Dezentralisierung der sowjetischen Staatsindustrie durchgeführt worden, indem 32 Moskauer Wirtschaftsministerien aufgelöst und 96 Volkswirtschaftsräte gebildet wurden als Leitorgane gewissermaßen autonomer Industrieprovinzen. Ein Teil der schwerfälligen zentralen Planungs-und Kontrollbürokratie ist dadurch beseitigt worden, so daß die örtlichen Werksdirektoren und ihre nächsten Mitarbeiter eine größere Selbstständigkeit erlangt haben; eine gewollte Nebenwirkung dieser Reform ist die Stärke der örtlichen Parteiführungen. Ferner haben die Werksdirektoren offensichtlich ein gewisses Verfügungsrecht über einen Teil der Planspitzen erlangt; der Erlös muß vom Werk für soziale Investierungen verwandt werden, so daß auf diesem Gebiet eine Art Konkurrenz zwischen den einzelnen Betrieben Platz greifen kann. Diese Maßnahmen, insbesondere die Dezentralisierung, müssen, wenn sie wirklich konsequent durchgeführt werden, weitere Strukturveränderungen nach sich ziehen. Dazu kommt, daß der anhaltende Druck der städtischen Massen auch Chruschtschow gezwungen hat, eine breitere Entwicklung der Konsumgüterindustrie zu versprechen; wenn dieses Versprechen eingehalten wird, so müßte dies ebenfalls zu Korrekturen in der sowjetischen Wirtschaftsstruktur führen.

Aber wie im Agrarsektor so haben auch im Industriesektor die kleinen Reformen Chruschtschows die stalinistische Grundstruktur nicht verändert. Die Kolchosen sind im wesentlichen geblieben, was sie waren; ihre Umwandlung in freie landwirtschaftliche Genossenschaften, die die Opposition erhoffte, ist von der Verwirklichung so weit entfernt wie je. In der sowjetischen Industrie gibt es nach wie vor kein Streikrecht, kein Mitbestimmungsrecht der Arbeiter und keine marktkonforme Selbständigkeit der Betriebe; die Umwandlung in eine echte sozialistische Marktwirtschaft, die Teile der Opposition anstrebten, ist Utopie geblieben. Freie landwirtschaftliche Genossenschaften und echte sozialistische Marktwirtschaft wären nur möglich, wenn erste Schritte in Richtung auf eine sozialistische Demokratie erfolgt wären. Aber gerade eine solche Entwicklung zu verhindern, ist das Ziel der Reformpolitik Chruschtschows, die kleine Konzessionen an die Massen und große Konzessionen an die Natschalstwo, an die neue herrschende Klasse macht, um dadurch die Anhängerschaft des Systems zu verbreitern, aber das System nur insoweit modernisiert, als dies ohne Änderung seiner Grundstruktur möglich ist.

Darum ist auch im politischen Sektor, dessen Reform wir als letzten Punkt des oppositionellen Programms behandelt haben, im Grunde alles beim Alten geblieben: keine Demokratisierung und keine Änderung der politischen und sozialen Struktur. Selbst die Ansätze zu einem politischen Pluralismus im Rahmen des Ostblocks, die sich nach dem 20. Parteitag aus der Anerkennung eines nationalen Weges zum Sozialismus hätten ergeben können, sind unter dem Eindruck der Oktober-krise in den Volksdemokratien wieder unterdrückt worden, so daß es sogar zum Wiederaufbrechen des Konfliktes mit Jugoslawien gekommen ist. Auch an der Stellung der nichtrussischen Minderheiten hat sich nichts geändert: die Minderheiten dürfen ihre nationale Sprache sprechen, aber nach wie vor dürfen sie nur so denken wie Moskau denkt. Da allerdings die nationale Unterdrückung mit der wirtschaftlichen Unterdrückung des Bauerntums durch das Kolchossystem gekoppelt ist, haben die Aggrarreformen Chruschtschows auch den nichtrussischen Minderheiten in der Sowjetunion eine gewisse Erleichterung gebracht — aber gerade nur so viel als nötig ist, um den Aufstand der Verzweiflung zu verhindern.

Diese innere Politik Chruschtschows ist sanktioniert worden durch die Entscheidungen des 20. Parteitages, die im Westen häufig als begonnene und später wieder fallengelassene „Entstalinisierung" mißverstanden worden sind. In Wirklichkeit bedeuten die Verurteilung der Einmanndiktatur Stalins und das Bekenntnis zur kollektiven Führung nichts anderes als eine Garantie des Mitspracherechtes der Natschalstwo: auf den mittleren und unteren Stufen des Systems soll nicht der „kleine Stalin" der örtlichen Parteispitze allein regieren, sondern das Kollektiv der politischen, wirtschaftlichen und technischen Spezialisten soll gemeinsam die Befehle der Zentrale ausführen und dabei ein Mitspracherecht haben. Die Verurteilung des Stalinschen Terrorismus gegen die „ehrlichen Kommunisten" bedeutet nicht eine Verurteilung des Terrors schlechthin, sondern lediglich eine Garantie des Besitzstandes der Natschalstwo: die neue herrschende Klasse soll ihre Positionen und Privilegien mit gutem Gewissen genießen dürfen, die Klasse als solche will nicht mehr durch immer neue Säuberungen bedroht werden, nur der Einzelne, der sich gegen das System auflehnt, soll verloren sein.

In diesen beiden Garantien kommt die veränderte Struktur der heutigen Sowjetunion zum Ausdruck. Die immer weitergehende Industrialisierung hat die neue herrschende Klasse der politischen und militärischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen, administrativen und technischen Spezialisten geschaffen, die heute 15 bis 20 Millionen Menschen umfassen — davon ein knappes Drittel Parteimitglieder — und jährlich etwa 250 000 Absolventen der Universitäten und 600 000 Absolventen der Fachschulen aufnehmen. Diese neue Klasse, ihrem bäuerlichen oder proletarischen Ursprung noch ganz nahe, hat wie alle aufsteigenden Klassen starke and sichere Instinkte, sie weiß, was sie will, und versteht sich durchzusetzen. Alle Reformen Chruschtschows lassen sich im Grunde auf die Konzessionen zurückführen, die er einzelnen Gruppen der neue Klasse, die sein Bundesgenosse und zugleich seine Basis ist, zu machen hatte, um in den Nachfolgekämpfen im Kreml die Alleinherrschaft zu erlangen. In diesen Kämpfen konnte sich Malenkow nicht durchsetzen, weil er sich im wesentlichen nur auf die technischen und wirtschaftlichen Spezialisten stützen konnte, und Shukow nicht, weil hinter ihm im wesentlichen nur die militärischen Spezialisten und offenbar diese nicht einmal geschlossen standen. Chruschtschow aber stützte sich von vornherein auf den breitesten Teil der neuen Klasse, auf die örtlichen Parteiführungen in der Provinz und ihre Gefolgsleute und suchte durch seine Reformen seinen Anhang zu verbreitern; wieweit ihm dies wirklich gelungen ist, kann nur die künftige Entwicklung zeigen. Jedenfalls beruhen seine Agrarreformen im Grunde auf einer Entscheidung für die Kolchosnatschalstwo und gegen die Minderheit der MTS-Natschalstwo, seine Industriereformen auf einer Entscheidung für die Betriebsnatschalstwo und gegen die Minderheit der Ministerialnatschalstwo. Sein Schlag gegen Shukow war ein Schlag gegen den Rivalen, nicht gegen das Militär, dessen Natschalstwo er im Gegensatz zu Stalins Maßnahmen anläßlich der Affäre Tuchatschewskij nicht angetastet hat.

Im Besitz der Alleinherrschaft, die Chruschtschow nun erlangt hat, könnte — von der Staatsstruktur her gesehen — nichts ihn daran hindern, den Weg der terroristischen Diktatur so fortzusetzen, wie ihn Stalin eingeschlagen hat. Aber von der sozialen Struktur her gesehen vermag er dies nicht mehr; darin liegt einer der Unterschiede zwischen dem Stalinismus und dem heutigen System der Sowjetunion. Denn die neue Klasse will selbst mitregieren und das System ist auf sie angewiesen, weil sie den Apparat bedient, ohne den das System nicht bestehen kann. Die Apparatschiki wollen natürlich einen möglichst modernen, möglichst perfekten Apparat, darum unterstützen sie die Politik der kleinen Reformen und werden dies auch in Zukunft tun —, aber jeweils nur bis zu dem Punkt, an dem diese kleinen Reformen noch nicht in die große Reform Umschlägen, die das System nicht nur wandeln, sondern auch ändern würde und damit ihre eigene Existenz als Klasse bedrohen könnte. Gegen die herrschende Klasse, gegen das System als solches aber sind die Massen und die Intelligenz ohnmächtig. Sie können zwar mit dem Druck von unten diejenigen kleinen Reformen durchsetzen, die das System verbessern, wirksamer und mächtiger machen und zugleich im Interesse bestimmter Schichten der herrschenden Klasse liegen. Wenn infolge dieser Reformen der Druck von unten nachläßt und das System sich festigt, so können weitere Reformen nur von oben, von der herrschenden Klasse selbst durchgeführt werden, wenn ihre Interessen solche Reformen fordern: diese Reformen aber werden ausschließlich im Interesse des Apparates, nicht des Menschen sein.

Im Zusammenwirken aller dieser Fraktoren ist die heutige sowjetische Situation entstanden, die verglichen mit der Situation unter Stalin für die Masse der Bevölkerung wesentliche Fortschritte mit sich gebracht hat und die einen Ansatzpunkt für weitere positive Entwicklungen bilden kann, — dennoch ist auch in der heutigen Situation nur ein Teil dessen verwirklicht, was die unpolitische Opposition erhoffte, und fast nichts von dem, was die politische Opposition anstrebte.

Ergebnisse und Schlußfolgerungen

Fassen wir die Ergebnisse zusammen, zu denen unsere Untersuchung uns geführt hat: 1. Von den Gruppen und Richtungen, die in der Bevölkerung der Verbannungsgebiete vertreten sind, lassen sich Rückschlüsse auf die oppositionellen Gruppen und Richtungen im Sowjetsystem ziehen. Die innersowjetische Opposition besteht aus den nichtrussischen und russischen Gruppen und Richtungen und wendet sich in der großen Mehrheit nicht gegen das System als solches, sondern zunächst nur gegen die gröbsten und drückendsten Mißstände des Stalinismus: den Terror, die nationale Unterdrückung und das Kolchossystem. Ein erheblicher Teil der Intelligenz opponiert gegen die Unterdrückung der geistigen und künstlerischen Freiheit, ein geringerer Teil der Arbeiterschaft gegen die stalinistische Industriestruktur. Diejenigen Gruppen und Richtungen, die gegen das System als solches opponieren, sind in sich gespalten, soweit es sich um die letzten Ziele, aber einig, soweit es sich um das Reformprogramm der ersten Schritte handelt. Es gibt also im Sowjet-system freiheitliche Kräfte, die eine Änderung des Systems wollen.

Die Leitbilder für diese Änderung entnehmen sie nicht westlichen Vorbildern, sondern den Gegebenheiten des Systems selbst, wobei sie das System im freiheitlichen Sinne weiterdenken. 2. Die Abkehr vom Stalinismus war eine geschichtliche Notwendigkeit. Sie wurde durch objektive wie durch subjektive Faktoren erzwungen. Bestimmte Reformen mußten durchgeführt werden, wenn nicht das System völlig stagnieren sollte, und nur durch eine erfolgreiche Reform-politik konnte sich der neue Alleinherrscher im Kreml nach innen und außen legitimieren. Ferner mußte das System dem Drude der unzufriedenen Massen in bestimmten Punkten nadigeben und der neuen herrschenden Klasse erhebliche Konzessionen machen. Diese Faktoren haben in der Sowjetunion zu einer Wandlung des Systems insbesondere durch Reformen auf dem Agrar-und Industriesektor und eine relative Liberalisierung geführt. Die Behauptung, das heutige System der Sowjetunion unterscheide sich nicht vom stalinistischen System, widerspricht den Tatsachen. 3. Diese Wandlung stellt aber keine Änderung der Grundstruktur des Systems dar. Die kleinen Reformen, durch die diese Wandlung allmählich herbeigeführt wurde und die auch in Zukunft fortgeführt werden können, sind jeweils in sich strukturell begrenzt und können aus den dargelegten Gründen vorläufig nicht umschlagen in die große Reform, die das System nicht nur wandeln, sondern auch ändern würde. Die Hoffnungen, die im Ostblock während der Zweiten Oktoberrevolution und in manchen Kreisen des Westens immer wieder auf ein unvermeidliches und baldiges Umschlagen der kleinen Reformen in die große Reform gesetzt wurden, sind utopisch. Aus unseren Untersuchungen ergeben sich Schlußfolgerungen, die m. E. wie folgt zusammengefaßt werden können: 1. Eine wesentliche Beeinflussung des Sowjetsystems von außen ist nicht mehr möglich. Das Sowjetsystem entwickelt sich weiter auf der Grundlage seiner eignen Gegebenheiten und im Rahmen seiner eignen durch den Apparat bestimmten Struktur. Daher wird die technisch-ökonomische „one world", in der wir leben, in ihrer politischen Verfassung auch in Zukunft nicht eine monistische, sondern eine dualistische sein und nur dann zu einer pluralistischen werden, wenn sich dritte Systeme auf die Dauer zu behaupten vermögen. 2. Die erfolgreiche Entwicklung der Sowjetunion, die nicht auf privatkapitalistischem Wege erfolgt ist, stellt das bisherige Monopol des privatkapitalistischen Systems für die Entwicklung der Entwicklungsländer in Frage. Im Sinne des Toynbee’schen Schemas von Herausforderung und Antwort bildet heute das Problem der Entwicklungsländer, das sich infolge des sowjetischen Modells auf neue Weise stellt, die große Herausforderung der westlichen Kulturwelt. 3. Die Wandlungen in der Sowjetunion seit dem Tode Stalins haben das System nicht geschwächt, sondern gestärkt, weil sich die Sowjetunion durch kleine Reformen weiterhin zu modernisieren vermochte und dadurch die inneren Spannungen, die das stalinistische System schwächten, teilweise aufgelöst wurden. Weitere Reformen würden das System weiter stärken. Daher ist der gewandelte Bolschewismus insofern gefährlicher als der Stalinismus, als er eine gesteigerte Anziehungskraft auf die Entwicklungsländer, aber auch auf sozial und kulturell labile Elemente der westlichen Welt auszuüben vermag. Da der gewandelte Bolschewismus zu seiner inneren Integration kriegerischer Abenteuer nicht oder doch nur in geringerem Maße bedarf als der Stalinismus, ist die Gefahr, die von ihm ausgeht, weniger eine militärische als eine politische, der im wesentlichen nur mit politischen Mitteln begegnet werden kann.Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN:

Hermann Graml „Die deutsche Militäropposition vom Sommer 1940 bis zum Frühjahr 1943"

G. F. Hudson:

„Chruschy's Komet"

Percy Ernst Schramm: „Polen in der Geschichte Europas"

Reinhard Wittram:

Geschichte als Fortschritt"

Fussnoten

Weitere Inhalte

Bernhard Roeder, Verfasser des Buches „Der Katorgan", Kiepenheuer & Witsch, Köln 1956.