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Das Europa-Motiv in der englischen Außenpolitik | APuZ 32/1958 | bpb.de

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APuZ 32/1958 Das Europa-Motiv in der englischen Außenpolitik

Das Europa-Motiv in der englischen Außenpolitik

KURT BORRIES

Der nachstehende Beitrag gibt den Inhalt eines Vortrages wieder, den der Verfasser am 10. Mai 1958 auf einer vom Baden-Württembergischen Kultusministerium und der Europa-Union durchgeführten Geschichtslehrertagung in Eßlingen am Neckar gehalten hat.

Wenn wir von einem Europa-Motiv in der englischen Außenpolitik sprechen, so klingt hierin unwillkürlich ein leiser Gegensatz an, so als ob England gar nicht zu Europa gehöre oder jedenfalls innerhalb des Begriffs „Europa“ eine Sonderstellung einnähme. Das Wort „Motiv" deutet auch weniger eine natürliche als eine willensmäßige Verknüpfung an, es bezeichnet ein Interesse, die Hinwendung Englands zum Kontinent, aber eben aus einer bestimmten Instanz, die ihm die Freiheit der Entschließung gestattet und bewahrt.

Niemand zweifelt daran, daß die britischen Inseln zu Europa gehören, sie sind nur durch einen schmalen Meeresstreifen vom Kontinent getrennt, und im ganzen Verlauf seiner Geschichte war England auf das engste mit den Geschicken der europäischen Völker verbunden. Aber gerade aus seiner insularen Lage und aus dem Bewußtsein dessen -der Insularität — ergaben sich grundlegende Unterschiede. Die anderen europäischen Länder sind in erster Linie Kontinentalstaaten, in Europa verwurzelt und auf dem Festlande angebunden, sie leben in unmittelbarer Nachbarschaft miteinander, und das heißt nicht immer Freundschaft, sondern viel öfter Feindschaft; sie haben ihre ewigen Grenzstreitigkeiten, ihre immer wieder aufflackernden Rivalitäten, und sie müssen ständig voreinander auf der Hut sein.

England hat keine unmittelbaren Nachbarn, es ist rings vom Meer umspült, und deshalb wurde es eine Seemacht, die Begründerin und Beherrscherin eines den ganzen Erdkreis umspannenden Reiches, dessen lebenswichtige Interessen nicht in Europa lagen. Dieses Weltreich hatte nur seinen Mittelpunkt in London, im übrigen wurde es von Anfang an als etwas ganz anderes empfunden als die zentralistisch und absolutistisch regierten Staaten des europäischen Kontinents. Der Name „Empire" knüpfte mit bewußtem Stolz an das Imperium Romanum an, er brachte die dominierende Stellung des angelsächsischen Herrenvolkes gegenüber den unterworfenen Kolonialvölkern symbolisch zum Ausdruck.

Aber der Reichsgedanke wandelte sich in dem Maße, wie die Kolonien sich mit eigenem Leben, mit dem Willen zur Unabhängigkeit erfüllten. Der erste entscheidende Anstoß zu dieser Entwicklung kam von den englischen Auswandererkolonien in Nordamerika; ihre gewaltsame Loslösung im 18. Jahrhundert wirkte schockartig nach, und diese Erinnerung trübte dem Mutterlande immer wieder die eingeborene Freude an kolonialen Unternehmungen überhaupt. Jedoch die Vereinigten Staaten gaben dann auch ein anfeuerndes Beispiel für den föderativen Aufbau eines staatlichen Großraumgebildes. Die beiden großen Propagandisten des viktorianischen Imperialismus, Charles Dilke und Robert Seeley, suchten ein jeder auf seine Weise Nutzen aus diesem Beispiel zu ziehen: der Pan-Anglist Dilke betonte die Notwendigkeit einer auf der Blutsverwandschaft beruhenden britisch-amerikanischen Solidarität gegenüber Rußland im Kampf um die Weltherrschaft, den er prophetisch voraussah; dem nüchterneren Seeley stellte sich die fortschreitende Ausdehnung Englands vorwiegend als ein politisches Problem, und zwar in dem Vorhandensein eines sehr großen Staates ohne echte politische Kohärenz. Wenn er von der „Expansion of England“ sprach, so verstand er sie als bewegendes Moment des politischen Bewußtseins; er verstand sie — entgegen den englischen Denkgepflogenheiten und hierin mit seinem deutschen Zeitgenossen, dem Universalhistoriker Leopold von Ranke, sich berührend — als Primat der Außenpolitik gegenüber der Innenpolitik. Mit einem Wort: Seeley wollte die Expansion mit der Föderation organisch verbinden, aber es fehlte ihm noch das Wort dafür, das sich erst im 20. Jahrhundert mit dem Buch von Lionel Curtis „The Commonwealth of Nations“ — erschienen 1916 — einstellen sollte.

Das war mitten im ersten Weltkrieg, und Curtis hat darüber selbst gesagt: „Die Staatsmänner begannen den Begriff (des Commonwealth) zu verwenden, als wir während des Krieges damit beschäftigt waren, unsere Ideale denjenigen der zentraleuropäischen Reiche, mit denen wir im Kampfe standen, entgegenzustellen". Man darf das freilich nicht mißverstehen. Dieser neue Begriff des Commonwealth, einer freiheitlichen Völkergemeinschaft auf der Basis der Autonomie ihrer Teile, zusammengehalten durch ein gemeinsames Treueverhältnis zur Krone — so die Balfour-Erklärung vom Jahre 1926 — diese Idee der Föderation war keine Erfindung ad hoc, nicht nur Mittel zum Zweck, sie war eine an der Staatslehre Hegels orientierte metaphysisch-moralische Konzeption, die Curtis später denn auch in einem dreibändigen Werk unter dem Titel „The Commonwealth of God“ zum Leitfaden einer Geschichtsphilosophie, einer Entwicklungslehre des Staates an sich, gemacht hat.

So ging der Begriff des „Empire“ in den des „Commonwealth“ über oder auch umgekehrt — ein Sachverhalt, den General Smuts einmal auf die knappe, aber treffende Formel gebracht hat: „Das britische Weltreich ist das größte Paradox aller Zeiten, insofern als seine Stärke im Mittelpunkt sielt herleitet von seiner Schwäche an der Peripherie.“ Ein echt englischer Ausspruch, der aus der Not eine Tugend zu machen weiß — für einen Kontinentalpolitiker auf den ersten Anhieb kaum verständlich, so schwer verständlich wie die andere Tatsache, daß die auswechselbaren Begriffe des Empire und des Commonwealth in einem so spannungsreichen Verhältnis zur Europa-Politik der Regierung in London stehen. Diese merkwürdige, man könnte auch sagen: paradoxe Situation wird nicht in Gesetzen oder in den Formeln einer Verfassung greifbar, sie ist der Schimmer an den Ereignissen selbst, vorübergehend und wiederkehrend wie das flüchtige Morgenrot auf Bergeshöhen.

So viel oder so wenig am Anfang zur notwendigen Klärung der Begriffe. Geschichte und Politik haben es überall mit den Realitäten zu tun, die sich aus vernünftigen Erwägungen und aus unvernünftigen Taten in seltsamer Weise zusammensetzen. Aber die Begriffe müssen genau sein; denn ohne sie können wir nicht urteilen, und nur aus präzisen Begriffen können zutreffende Vorstellungen erwachsen.

Einer der Baumeister des britischen Weltreiches, der große Staatsmann Disraeli, schreibt im Jahre 1847 in seinem Roman „Tancred“

oder „Der neue Kreuzzug“: „Laßt die englische Königin eine große Flotte sammeln, laßt sie ihren ganzen Hof und die führende Schicht wegbringen und den Sitz ihres Empire von London nach Delhi verlegen.

Dort wird sie ein ungeheures, fertiges Empire finden, ein erstklassiges Heer und große Einkünfte.“ Neunzehn Jahre später — 1866 — wird er im Unterhause dasselbe sagen, um Englands Nichteinmischung in die kontinentalen Händel zu begründen: „Eitglattd ist hinausgewachsen über den europäischen Kontinent. Seine Stellung ist nicht mehr die einer bloß europäischen Macht, sondern England ist die Metropole eines großen maritimen Weltreichs . . . England ist tatsächlich mehr eine asiatische als eine europäische Macht." Lind das ganze Land spendete ihm Beifall.

Welcher europäische Staatsmann hätte damals Ähnliches von seinem Lande sagen können? Für England war es die einfache Wahrheit. Noch im zweiten Weltkrieg hat Churchill daran gedacht, die engliche Regierung und damit das Zentrum des Widerstandes im Falle einer Invasion nach Kanada, also in einen anderen Kontinent zu verlegen. England hätte sich auf seiner. Insel nicht besiegt gegeben, es kann in die weite Welt ausweichen. Das ist der Unterschied zwischen einer See-und einer Kontinentalmacht. Robert Seeley erwähne in seinen weltgeschichtlichen Betrachtungen nach 1871 den Namen Bismarcks überhaupt nicht, so wenig kümmern ihn selbst epochale Ereignisse auf dem alten Kontinent angesichts der neu emporsteigenden Weltmächte Amerika und Rußland.

Die Begriffe der Seeherrschaft und der I n s u I a r i t ä t bezeichnen die Sonderstellung Englands innerhalb der europäischen Völker-familie. Beide müssen aufeinander bezogen werden: aus der Insellage ergab sich das Hingewiesensein auf die See, aus der Seeherrschaft das Bewußtsein der Insularität, das mit der Insellage noch keineswegs gegeben war, es ist das Produkt einer langen geschichtlichen Entwicklung.

Der erste Europäer, der auf die Insel übersetzte, war. Julius Cäsar; sein Vorstoß erfolgte von Gallien aus, dem heutigen Frankreich, ein halbes Jahrhundert vor der Zeitwende. Seitdem sind die Fäden, die England politisch und kulturell mit dem Festlande verknüpfen, nicht mehr abgerissen.

Die siegreiche normannische Invasion des Jahres 1066 fand ein Jahrhundert später ihr Gegenbild in der über halb Frankreich sich erstreckenden Herrschaft des englischen Königshauses Anjou-Plantagenet, das mit seinen Nebenlinien Lancaster und York bis an die Schwelle der Neuzeit regiert hat. Als Vasallen der französischen Krone waren die Plantagenets mächtiger als die französischen Könige selbst, ihre Macht reichte von der schottischen Grenze bis an die Pyrenäen. Erst in einem mehr als hundertjährigen Kriege, der von 13 39 bis 14 5 3 währte, gelang es den Königen von Frankreich, die Engländer aus ihrem Lande zu vertreiben, aber ihre letzte Bastion, Calais, wurde erst 1559 aufgegeben. Jahrhundertelang waren also die Geschicke Englands und Frankreichs ineinander verflochten, und England, nicht Frankreich war zeitweise die stärkste Kontinentalmacht neben Deutschland.

Welche Bedeutung das für die Entwicklung der christlich abena-ländischen Welt gehabt hat, betont Ranke in seiner „Englischen Geschichte“ mit der knappen Feststellung: „Wie Deutschland ohne die Verbindung mit Italien, so würde England ohne die Verbindung mit Frankreich nidu geworden sein, was sie geworden sind. Vor allem würde das große Völkersystem des Okzidents, dessen Leben die Geschichte eines jeden Volkes durchzieht und bestimmt, nidrt zustande gekommen sein.“

Der Verzicht auf die französischen Besitzungen und die Trennung vom Festland hatten die Konsolidierung des englischen Königtums auf der Insel zur Folge; sie geschah unter den Tudors. Da keine kostspieligen Kriege auf dem Festland mehr zu führen waren, konnten die Tudors lern Ausbau der Flotte ihre besondere Aufmerksamkeit zuwenden.

Es kam hinzu, daß eben in diesem Augenblick durch die Entdeckung Amerikas und des Seeweges nach Ostindien das Meer eine bis dahin ungeahnte Bedeutung erhielt. Die Selbstbeschränkung auf die Insel erwies sich also je länger, je mehr als ein in der Natur der Dinge begründeter Vorteil: man war der ewigen Kriegshändel, in welche der Kontinent verstrickt war, enthoben, und die See lockte zu neuen Ufern, zu bunten Abenteuern ebenso wie zu fernen Schätzen. Jetzt erst kam den Inselbewohnern das Besondere ihrer Lage zum vollen Bewußtsein.

Schon 1436, ein halbes Jahrhundert vor den Entdeckungen, weist das „Büchlein von englischer Staatsklugheit" auf die Bedeutung des Meeres für das Inselreich hin, es sei der Ringmauer um eine Stadt vergleichbar. Das ist noch ganz kontinental gedacht. Achtzig Jahre später klingt es schon anders. 1516 erschien die „Utopia“ des Thomas Morus, ein politisch-philosophischer Traktat, der die so oft gestellte Frage nach dem bestmöglichen Staat zu beantworten suchte. Thomas Morus war ein altgläubiger gelehrter Humanist, der ähnlich wie sein Freund Erasmus von Rotterdam die Politik reformieren wollte, um die Menschheit von der Geißel des Krieges zu befreien und zu der allein menschen-

würdigen Betätigung im Dienste höherer geistiger Zwecke, der Wissenschaft und Kunst, anzuhalten. Aber Morus hatte anders als der weltfremde Stubengelehrte Erasmus eine Fülle praktischer Erfahrungen im Staatsdienste gesammelt, und das gab seinen Ideen ein so echt englisches Gepräge, daß man die „Utopia“ als ein typisches Erzeugnis des insularen Staatsdenkens bezeichnen kann, zumal wenn man sie mit der gleichzeitig erschienen berühmten Schrift des Florentiners Niccol Machiavelli über den Fürsten vergleicht. Machiavelli war alles andere als ein politischer Moralist. Er sieht das Wesen des Staates und der Politik allein in der Macht, und die Macht ist weder gut noch böse, kein Fürst und Staatsmann kann ihrer Dämonie ausweichen. So verkündete Machiavelli in seinem „Principe“ das Ideal des souveränen Machtstaates, der sich mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln behauptet und durchsetzt, der seine Grenzen ständig erweitern muß, weil er sie ständig erweitern kann, und dessen Lebenselement die Gefahr und der Krieg ist. Hier ist nicht von Seemacht, sondern von Land-macht die Rede.

Ganz anders der Engländer Thomas Morus. Zwar verlegt er seinen idealen Inselstaat in das Reich der Utopie, aber sein geistvoll wechselndes Spiel zwischen Scherz und Ernst läßt doch keinen Zweifel darüber, daß er England meint. Die Litopier sind aller unmittelbaren Kriegs-gefahr entrückt und können sich deshalb auf ihrer Insel ganz dem Aufbau eines die bürgerliche Freiheit respektierenden Wohlfahrtsstaates widmen. Eroberungskriege brauchen sie nicht zu führen, da sie alles besitzen; allenfalls liegt ihnen daran, Kolonien zu gründen, um ihre wirtschaftliche Macht friedlich auszubreiten, unterjochte Völker von der Sklaverei zu befreien und sie an den Segnungen der utopischen Kultur teilnehmen zu lassen. Kommt es dabei doch zum Kriege, so ist er moralisch gerechtfertigt, aber die Utopier sollen ihn möglichst mit gemieteten Hilfstruppen führen, und besser als blutige Entscheidungen auf dem Schlachtfelde ist die vorbeugende Anwendung von List und Ränken aller Art. Hier ist Morus nicht mehr weit von Machiavelli entfernt, aber wenn der Italiener der Macht die Maske von dem Gesicht reißt, hängt ihr der Engländer, obwohl auch er sie genau erkennt, ein moralisches Mäntelchen um. Vor allem aber findet sich bei Thomas Morus schon ein erster Anlauf zu einer völkerrechtlichen Denkweise, die den kontinentalen Auffassungen diamentral gegenübersteht, die Vorstellung nämlich vom Meere als eines grundsätzlich staatsfreien Gebietes, auf welchem das Recht des Stärkeren keine Grenze kennt. Tatsächlich sind die Anfänge der englischen Seeherrschaft aus der Seeräuberei hervorgegangen. Die Drake, Hawkins, Grenville, Frobister, Cumberland, alles berühmte Korsaren der elisabethanischen Zeit, waren private, von der Staatsmacht konzessionierte Seefahrer, die man je nach ihren Erfolgen anerkennen oder desavouieren konnte. Das zwischenstaatliche Völkerrecht des Kontinents denkt in Grenzen und keine Eroberung, keine territoriale Veränderung ohne die Beteiligung und Sanktion des Staates; der englische Staat hingegen läßt der privaten Initiative den Vortritt und folgt erst nach, wenn diese vollendete Tatsachen geschaffen hat. Das gilt für die ostindische Kompagnie im 18. Jahrhundert ebenso wie für das afrikanische Rhodesien im 19. Jahrhundert. Zwei ganz verschiedene staats-und völkerrechtliche Vorstellungswelten stehen hier unvermittelt nebeneinander. Das aber muß bei den vielfältigen Berührungen der praktischen Lebensinteressen notgedrungen zu fortwährenden Mißverständnissen und Fehlleitungen führen. So konnte der Earl of Selborne, Minister für die Wirtschaftskriegführung, im Jahre 1942 sagen: „Das Mißverstehen zwischen dem britischen Volk und den festländischen Völkern stammt weitgehend aus Insularität und ist für sehr viel Unruhe in Europa verantwortlich.“

Das Bewußtsein einer höheren Sendung

Die englische Seeherrschaft ist nicht wie die absoluten Staaten des Kontinents das Ergebnis langer, unermüdlicher systematischer Planung, sondern mehr das praktische Fazit aus den mit Geschick und Energie ergriffenen LImständen. Unter den ersten Tudors war England noch keine wirkliche Großmacht. Das stolze Wort Heinrichs VIII. „Cui adhaereo, praeest" (Auf wessen Seite ich stehe, der ist obenauf) bezeichnet mehr die Ausnahmestellung des Kleineren zwischen den Großen, der das Zünglein an der Waage bildet. Im Zeitalter der Elisabeth hat sich das schon gewandelt. Der Großangriff der spanischen Armanda 15 88 konnte mit weniger zahlreichen, aber geschickter operierenden eigenen Kräften siegreich abgeschlagen werden. „Deus flavit et dissipati sunt“, hieß es bescheiden auf einer damals geprägten Denkmünze. Jedoch um 1600 preist Shakespeare in einem seiner Königsdramen die Vorzüge und das Glück seines Landes mit den schwungvollen Versen:

„Der Königsthron hier, dies gekrönte Eiland, Dies Land der Majestät, der Sitz des Mars, Dies zweite Eden, halbe Paradies, Dies Bollwerk, das Natur für sich gebaut, Der Ansteckung und Hand des Kriegs zu trotzen Dies Volk des Segens, diese kleine Welt, Dies Kleinod, in die Silbersee gefaßt, Die ihm den Dienst von einer Mauer leistet, Von einem Graben, der das Haus verteidigt, Vor weniger beglüd^ter Länder Neid ..."

Man merkt es diesen Versen an, daß sich die Insularität jetzt aus dem Gefühl der bloßen Geborgenheit in der Isolierung gewandelt hat zu einem Gefühl selbstbewußter Überlegenheit. Lind dazu kommt nun in der puritanischen Revolution des 17. Jahrhunderts das Bewußtsein einer göttlichen Sendung. Der Prädestinationsglaube der reformierten Lehre beflügelt das nationale Selbstgefühl, man überläßt sich gern der Vorstellung, dem auserwählten Volk „the chosen people of our Lord“, anzugehören. Der Dichter Edmund Waller kann sich nicht genug tun, um die Größe und Herrlichkeit des neuen England und seines Diktators Cromwell zu rühmen:

„Die See ist unser! Alle Völker grüßen Mit Segelsenken jedes unserer Schiffe.

So weit der Wind bläßt auf dem Erdenrund Und Segel schwellt, so weit recht deine Macht."

In seiner „Oceana“ von 1656 zeichnet der Staatsphilosoph Harrington nach dem Vorbilde seines Vaterlandes einen Idealstaat mit freier Verfassung und weiser Regierung, der allen Völkern den Frieden bringt. Noch tiefer und voller ertönen diese Akkorde bei dem blinden Seher John Milton, der das Evangelium von England als dem Mutterlande der Freiheit verkündet. „England sät über Städte, Reiche und Völker die Segnungen der Gesittung und Freiheit aus", so heißt es in seiner „Zweiten Verteidigung des Volkes von England“.

Das merkwürdige an diesen von religiöser Inbrunst geschwellten Prophetien ist die großartige Unbefangenheit, mit der hier die künftige Größe Englands vorausgesagt wird. Das ist keine leere Ruhmredigkeit. Lind diese Apotheosen sprechen auch nicht von dem bloßen Politikum der Macht, sie meinen vor allem die moralische, die menschliche Seite der Machtausübung, in der die Engländer des 17. Jahrhunderts schon etwas Vorbildliches für alle anderen Völker zu besitzen glaubten. Nie wieder ist seitdem das Bewußtsein einer höheren Sendung des englischen Volkes aus den Reden der führenden englischen Staatsmänner und den Parlamentsdebatten verschwunden. Von Oliver Cromwell über Palmerston und Gladstone bis zu Grey, Baldwin und Churchill führt die ununterbrochene Linie einer außenpolitischen Konzeption, die nach einem Wort Palmerstons aus dem Jahre 1848 ihre wesentliche Aufgabe in der „Schirmherrschaft über Gerechtigkeit und Recht“ erblickt. Gladstone stellt 1 880 die Forderungen des menschlichen und christlichen Gewissens über die Belange der britischen Politik, und auch der britische Außenminister von 1914 Sir Edward Grey fühlte sich als Kämpfer in einem religiösen Kampf. Der englische Premierminister Baldwin sagte 1932 in einer öffentlichen Rede in Ottawa, das englische Volk baue an dem Königreich des Himmels auf Erden.

Vergleicht man freilich diese hohen Worte mit dem tatsächlichen Gang der britischen Politik, so tritt das zutage, was den Festlandseuropäern als englischer „cant“ besonders auf die Nerven fällt. Der „cant“ kann sich aber auch in das Gewand der Bescheidenheit kleiden. Im Jahre 1917, während des ersten Weltkriegs, wandte sich der bekannte englische Geopolitiker und Abgeordnete Mackinder gegen die Gepflogenheit seiner Landsleute, in der Maxime des europäischen Gleichgewichtes eine Offenbarung englischer Selbstlosigkeit zu erblicken. „Unsere Interessen in Europa“, so sagt er, „sind lebenswichtig für uns, wie unsere ganze Geschichte zeigt; aber sie unterscheiden sich von denen anderer Nationen dadurdr, daß sie anstatt positiv negativ sind. Wir haben keinen Grund zu annektieren oder zu diktieren, jedoch gibt es gewisse Dinge, die wir, wenn wir können, verbieten müssen."

Die moralische Verbrämung der englischen Politik ist hier fallen gelassen, aber es wird für England doch das Recht der Intervention in Anspruch genommen, wenn lebenswichtige britische Interessen sie erfordern. Das ist immer noch die Maxime, die Thomas Morus 400 Jahre früher seinen Utopiern empfahl; die Ausnahmestellung Englands wird, wenn auch nicht ausgesprochenermaßen, mit der Insularität begründet.

Wie sehr die Insularität das englische Denken beherrscht, gab eine Sendefolge des britischen Rundfunks im Winter 193 3/34 über den englischen Volkscharakter zu erkennen, bei der prominente Männer des öffentlichen Lebens in England mitwirkten. Hier sagte der Premierminister Baldwin über die Insellage, sie habe den Engländern zwölf Jahrhunderte ruhiger Entwicklung und damit der bürgerlichen Disziplin gebracht; darauf aber gründe sich die englische Fähigkeit zur Selbstregierung, das überall vorherrschende Gefühl der Freiwilligkeit, die wirtschaftliche Unternehmungslust, die Befähigung zum Kolonisieren, die englische Politik, das ganze Empire.

Baldwin hat mit diesen Worten sicherlich ausgesprochen, was alle Engländer denken. Er geht von der Insellage aus, aber er meint die Insu-larität, den Inselgeist, „insular mind", und stellt ihn dem Festlandsgeist als etwas ganz anderes gegenüber. Man kann diesen Gegensatz, wie schon erwähnt, auf die einfache Formel bringen: Staat und Nichtstaat, was übrigens schon Oswald Spengler unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg in seiner Schrift „Preußentum und Sozialismus" getan hat. Auf dem europäischen Festlande wird das staatliche Denken und die Staats-bildung vom römischen Recht bestimmt, das in der Zeit der Renaissance und des Humanismus aufkam und übernommen wurde. In England fand dieser Vorgang keine Nachfolge, man behielt die Verfassungseinrichtungen der angelsächsischen und normannischen Zeit bei, und daraus hat sich in der ständigen Auseinandersetzung zwischen Krone, Baronie und Kirche das englische Parlament entwickelt, das sich aus bescheidenen Anfängen allmählich zur entscheidenden Kontrollinstanz der Staats-führung erhob. In ihm erblickt das englische Volk das Palladium seiner inneren Freiheit.

Spengler hat in dem extremsten Gegensatzpaar, das sich denken läßt:

Engländertum und Preußentum, Liberalismus und Sozialismus den gewaltigen Unterschied zwischen insularer und kontinentaler Staatsgesinnung treffend und mit höchster Anschaulichkeit dargestellt. Was in Preußen der Staat mit seinem harten, alle Lebensbereiche erfassenden und bestimmenden Autoritätsbegriff ist, wird in England durch die „Society“ bezeichnet, eine Lebensgemeinschaft von Privatleuten, die nach dem Unterschied von reich und arm gegliedert ist. In England ist die persönliche Unabhängigkeit und der Reichtum, der sie gewährleistet, das Höchste; in Preußen macht man aus der Armut eine Tugend, stellt sich unter den kategorischen Imperativ Kants: Handle stets so, daß die Maxime deines Wollens ein allgemeines Gesetz werden könne, und findet sein Genügen an der Blüte des Ganzen.

Unter den immer wiederkehrenden Leitsätzen der britischen Außenpolitik nimmt die Erhaltung des europäischen Gleich-gewichtes den vornehmsten Platz ein. Man hat oft behauptet, daß der Urheber dieser Maxime Wilhelm III. von Oranien gewesen sei, der die Stuarts auf dem englischen Königsthron ablöste. Aber der Gedanke des europäischen Gleichgewichtes ist keine englische Erfindung, er ist eigentlich nichts anderes als die säkularisierte Idee des mittelalterlichen „Corpus Christianum“, nur daß an die Stelle der vom deutschen Kaisertum überwölbten Einheit der europäischen Christenheit ein rationales System souveräner Machtstaaten getreten ist, die um den Vorrang kämpfen und nur dadurch zur Ruhe gebracht werden können, daß sie einander die Waage halten. Der aus der Mechanik entlehnte Begriff des Gleichgewichts ergab sich schließlich von selbst aus den lange währenden Kämpfen gegen die französische Vorherrschaft in Europa. Die Seele des Widerstandes der europäischen Mächte gegen Ludwig XIV. war allerdings England unter dem ersten Oranier; es wollte keine Macht auf dem Fest-lande so stark werden lassen, daß die Unabhängigkeit aller anderen davon in Frage gestellt war. Wenn England diesen einfachen Gedanken dann überhaupt zur Richtschnur seines Handelns machte, so vertrat es damit seine ureigensten Interesssen, aber auch die Interessen ganz Europas. Die Erhaltung des europäischen Gleichgewichtes dient der europäischen Friedenswahrung, die ehedem das hohe Amt der deutschen Kaiser gewesen war.

Die realen Interessen Englands fallen also auf eine ganz natürliche Art mit der Erhaltung der Freiheit und LInabhängigkeit der kleineren und mittleren Völker Europas zusammen. Es hieße den Geist der englischen Außenpolitik gröblich verkennen, wollte man als bloße Ideologie ansprechen, was nichts weiter ist als die Summe aus den Erfahrungen einer bewußt erlebten und immer gegenwärtigen Geschichte. Kein englischer Außenminister könnte aus Opportunitätsgründen eine Bündnispolitik bestreiten, deren praktisches Verhalten gegen die in England herrschenden Vorstellungen von politischer Sittlichkeit verstößt. Die Engländer sind fähig und bereit, ihr Leben in die Schanze zu schlagen, wenn es um die ultima ratio des göttlichen Sittengesetzes geht. Das hat sich in den dramatischen Ereignissen kurz vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges gezeigt. Die Vergewaltigung der Tschechoslowakei durch Deutschland im Jahre 193 8 löste in England einen solchen Schock aus, daß man 1939, als Polen von dem gleichen Schicksal bedroht schien, lieber den Krieg als ewige Schuld und Schande wählte.

Die englischen Staatsmänner haben die europäischen Probleme stets in dieser Perspektive gesehen. Einer der eindrucksvollsten Belege dafür ist das berühmte Memorandum Sir Eyre Crowes, Unter-staatssekretärs im Foreign Offici, vom 1. Januar 1907 über das deutsch-englische Verhältnis. Crowe sucht darin zu beweisen, daß eine Verständigung zwischen England und Deutschland unmöglich sei, weil Deutschland nicht nur die erste Macht auf dem Kontinent sein wolle, sondern auch nach der Seeherrschaft strebe, was England niemals zulassen könne. England ist dabei im Recht, Deutschland im Unrecht. Denn in Deutschland huldigt man der Überzeugung, daß das Recht, um den Sieg davon zu tragen, durch die Macht gestützt werden müsse, daß Macht also vor Recht gehe. Das würde in seiner letzten Konsequenz zur Unterjochung aller anderen Völker führen. England verfolgt die entgegengesetzte Politik Es ist ein Inselstaat und als solcher mit seinen gewaltigen kolonialen Besitzungen auf die Seeherrschaft angewiesen. Seemacht ist aber stärker als Land-macht, weil sie überall hindringen kann, und hat ihrer Natur nach etwas Provozierendes. Sie könnte Gegenbündnisse hervorrufen, denen England allein schwer zu widerstehen vermöchte. Deshalb muß England notgedrungen eine Politik treiben, die den anderen Nationen Vertrauen einflößt, die mit den Idealen der Humanität übereinstimmt und sich zum Anwalt der lebenswichtigen Interessen möglichst vieler Nationen macht. Das primäre Interesse eines jeden Volkes ist und bleibt aber seine LInabhängigkeit. Die LInabhängigkeit der kleineren und schwächeren Völker ist immer dann bedroht, wenn die stärkste Kontinentalmacht nach der Vorherrschaft strebt. Dieser Gefahr kann durch den Abschluß von Bündnissen wirksam begegnet werden, und das war der Sinn und Inhalt der hundertjährigen Politik Englands auf dem Festlande, eine Politik des Gleichgewichtes, die — so meint Crowe — für England fast die Form eines Naturgesetzes annimmt.

So weit in gestraffter Synthese das ausführliche Memorandum Sir Eyre Crowes vom Neujahrstage 1907. Es wurde damals als die beste Analyse der englischen Außenpolitik betrachtet und auf Anordnung des englischen Außenministers allen maßgebenden Persönlichkeiten seines Dienstbereichs zur Kenntnis gebracht. Hier wird als der Weisheit letzter Schluß ausgesprochen, daß England um seiner Seeherrschaft und seines Empire willen eine bestimmte, seinen Interessen dienstbare Ordnung in Europa anstreben müsse, daß es die Vorherrschaft einer Kontinentalmacht in Europa nicht dulden könne. Die Frage, ob dieses Europa nicht ein eigenes Lebensgesetz habe, wird nicht gestellt oder untersucht, es wird vielmehr als selbstverständlich vorausgesetzt, daß Europa sein Heil nur in der pax Britannica finden könne.

Diese in ihrer inneren Geschlossenheit imponierenden, in ihrer Einseitigkeit höchst charakteristischen Ausführungen sind im Foreign Office — das muß man zum Lobe der englischen Objektivität und Selbstkritik feststellen — nicht ohne Widerspruch hingenommen worden. So hat der Unterstaatssekretär Sanderson in teilweise recht amüsanten Randvermerken sehr berechtigte Einwendungen dagegen erhoben, z. B. folgende: „Es ist mir manchmal so vorgekommen, daß einem Ausländer, der unsere Presse liest, das britische Reich wie ein ungeheurer Riese erscheinen muß, der sich über den Erdball recl^t, mit gichtischdicken, sich nach allen Richtungen streckenden Fingern und Zehen, denen man sich nicht nähern kann, ohne ihm ein Gekreisch zu entlocken.“ Ode-er schreibt: „'Wenn der bloße Gebietserwerb an sich un-. moralisch wäre, so wiegen meine ich, die Sünden Deutschlands seit 1S 71 leicht im Vergleich zu den unsrigen.“

Man könnte hierzu vielleicht sagen: eine Stimme in der Wüste. Tatsächlich ist die englische Politik den Richtlinien Sir Eyre Crowes gefolgt; denn sie waren gleichsam der englischen Geschichte abgelauscht. Win-ston Churchill hat sich noch im März 1936 vor dem außenpolitischen Ausschuß der konservativen Partei ganz ähnlich wie Sir Eyre Crowe drei Dezennium früher über das stets gleichbleibende Grundprinzip der englischen Außenpolitik geäußert: Es habe nichts mit Sympathien oderAnti-pathien gegenüber einzelnen Herrschern, Völkern oder Regierungsformen zu tun, sei auch ganz unabhängig von der jeweiligen historischen Situation, es bestehe einfach darin, immer denjenigen zu bekämpfen, der der stärkste sei oder seinem Vermögen nach übermächtig werden könne. Das sei für England ein politisches Gesetz: „a law of public policy". „Wir verbanden uns immer mit den weniger starken Mächten“, schreibt er im ersten Bande seiner Erinnerungen aus dem zweiten Weltkriege, „vereinigten sie zu einer Koalition und schlugen so jede militärisdte Tyrannei nieder, gleichgültig von wem und von welcher Nation sie angestrebt oder ausgeübt wurde.“

Das Gleichgewicht der Mächte

Überwiegt bei Sir Eyre Crowe das moralisierende Räsonnement, so läßt der Kämpfer Churchill den realpolitischen Aspekt mit rücksichtsloser Deutlichkeit hervortreten, im Grunde aber sind beide Männer eines Sinnes. Man könnte diese Einhelligkeit der Ansichten über die beständigen Tendenzen britischer Außenpolitik noch an einer ganzen Reihe interessanter Beispiele aufzeigen: immer kehrt als Kernpunkt dieser Überlegungen das Gleichgewicht der Mächte wieder. Wir finden es in der Curzon-Biographie Harold Nicolsons aus dem Jahre 19 34 ebenso wie in dem Buche Seton-Watsons „Britain in Europe“ 1789 — 1914, erschienen im Jahre 1937. In wenigen knappen und klaren Thesen umreißen diese Schriftsteller alle das tragende Gerüst der britischen Außenpolitik. Dabei macht aber Seton-Watson eine bemerkenswerte Einschränkung. Er meint nämlich, England habe immer wieder versucht, der Unruhe des europäischen Festlandes ganz fernzubleiben, sich zu isolieren, aber immer wieder wurde es in die europäische Politik hineingezogen, um seine Interessen zu schützen, und es habe dann auch, wenn es erforderlich schien, nicht gezögert, sein Gewicht in die schwerere Waagschale zu werfen.

Mit andere Worten: es gibt auch Ausnahmen von der Regel. So wurde Cromwell von den Theoretikern des Gleichgewichtes getadelt, weil er in seinem Kampf gegen Spanien auf die Seite des damals schon stärkeren Frankreich getreten sei. Ähnliches ließe sich von der englischen Politik gegenüber Rußland im Krimkriege 18 54 und im zweiten Weltkriege sagen; im ersteren Fall wurde die Diktatur Napoleons III. gestärkt, im zweiten Rußland auf dem Festland übermächtig gemacht. Das Wort Heinrichs VIII. „Cui adhaereo, praeest“ kann sich unter Umständen auch gegen England selbst richten. So hat sich England nie ein Gewissen daraus gemacht, seine Bündnisse zu wechseln, ja seine Bundesgenossen im Stich zu lassen, wenn der Zeiger an der Waage des Gleich-gewichtes die für England wünschenswerte Mittellage passiert hatte. Im spanischen Erbfolgekrieg gegen Ludwig XIV. verständigte es sich mit Frankreich, ohne seine Verbündeten viel zu fragen, sobald sein Ziel, die Beseitigung des französischen Übergewichtes, erreicht war. Im September 1 75 5 schloß es eine gegen Preußen gerichtete Allianz mit Rußland, gab diese aber noch vor der Ratifizierung wieder preis und trat in der Westminster Konvention vom 16. Januar 1757 an die Seite Preußens, weil Friedrich der Große sich verpflichtet hatte, Hannover (das damals ja noch zu England gehörte) und Holland nicht anzugreifen. 1761 ließ England dann den Preußenkönig im Stich, nachdem es Kanada den Franzosen abgenommen hatte. Ähnlich Churchill im Jahre 1945. AIs er bemerkte, daß die völlige Niederwerfung Deutschlands das reißende Anwachsen der russischen Macht auf dem Festland zur Folge haben würde, wollte er den kurz zuvor mit den Russen und Amerikanern geschlossenen Vertrag über die Besetzungszonen in Deutschland nicht vollziehen, d. h. die östlich der Elbe stehenden englischen und amerikanischen Truppen nicht zurückziehen, aber er konnte die Vereinigten Staaten nicht dazu überreden.

Wenn es also richtig ist, daß das Streben nach der Erhaltung bzw. Wiederherstellung des europäischen Gleichgewichtes sich wie ein roter Faden durch die gesamte neuere Geschichte Englands zieht, so muß man sich doch hüten, die Sache zu dramatisieren und etwa so hinzustellen, als habe England die Kriege und Verwicklungen auf dem Kontinent in vorbedachter Weise angezettelt und dazu benutzt, um außerhalb Europas ungestört sein großes Kolonialreich zusammenzubringen. Man hat das bekannte Wort des älteren Pitt, Kanada sei für England in Europa, in Deutschland erworben worden, oft zum Beweise dessen angeführt, aber mit Unrecht. Es ist doch nicht mehr als eine geistreiche Pointe ad hoc, die wie alle solche Abkürzungen nur einen Teil der geschichtlichen Wahrheit enthält. Gerade der ältere Pitt hat ja die allergrößte Mühe gehabt, seinen Landsleuten die Bedeutung einer zielbewußten Überseepolitik zur Begründung eines Kolonialreiches, weg von kontinentalen Gleichgewichtstendenzen und Gleichgewichtsallianzen, klarzumachen. Die englische Europapolitik jener Zeit war ausschließlich von der Sorge um das Kurfürstentum Hannover bestimmt, sie war also kontinental ausgerichtet und lenkte England von seiner eigentlichen Bestimmung ab. Erst Pitt hat hier die entscheidende Wendung gebracht und alle Machtmittel England für seine Expansion in Übersee eingesetzt. Das Bündnis mit Preußen hatte er, nicht ohne anfängliche Mißbilligung, da es rein kontinentalen Erwägungen entstammte, von seinem Vorgänger übernommen, aber der Krieg Friedrichs des Großen mit den europäischen Großmächten entlastete England bei seinen Unternehmungen in Nordamerika und Ostindien, wo es mit Frankreich zu tun hatte. Frankreich verstrickte sich ohne Not und törichterweise in einen Zweifrontenkrieg, den es in Europa ebenso wie in den Kolonien verlor. Aber auch Preußen wurde durch die Erfolge Englands entlastet, das englisch-preußische Bündnis von 1757 entsprach also den beiderseitigen Interessen auf das beste. Wenn es nach dem Sturz Pitts 1761 nicht erneuert wurde, so eben deshalb, weil England unter seinen Nachfolgern wieder auf die alte Linie seiner kontinentalen Gleichgewichtspolitik zurückfiel. Das mußte es zwanzig Jahre später mit dem Verlust der älteren amerikanischen Kolonien bezahlen.

In den Kampf gegen das revolutionäre Frankreich ist England um Belgiens willen eingetreten. Daß dieses Land niemals in den Besitz der stärksten Festlandsmacht gelangen dürfe, war seit dem 17. Jahrhundert ein Axiom der englischen Europapolitik. Vollends nachdem Frankreich unter Napoleon in die Bahnen eines uferlosen Imperialismus einlenkte, wurde England auf den Plan gerufen. Im Frieden von Amiens 1802 mußte es Belgien doch an Frankreich überlassen; eben deshalb betrachtete man in London diesen Friedensschluß nur als einen Waffenstillstand, um den Kampf gegen Napoleon bei der ersten sich bietenden Gelegenheit wieder aufzunehmen. Es kam hinzu, daß Napoleon trotz der Vernichtung der französischen Flotte bei Abukir den Gedanken nicht aufgegeben hatte, das französische Kolonialreich in seinem alten Um-fang wiederherzustellen. So brachte der jüngere Pitt schon im Jahre 1803 die dritte Koalition gegen Frankreich zustande. Nelsons glänzender Seesieg bei Trafalgar 1805 machte dann den kühnen Weltmachtträumen des französischen Imperators ein Ende. Er sah sich jetzt genötigt, wollte er England überhaupt noch besiegen, den ganzen Kontinent seiner Zwingherrschaft zu unterwerfen. Das aber hat die europäischen Völker gegen ihn aufgebracht und seinen Sturz herbeigeführt.

Auf dem Wiener Kongreß von 1815, der die napoleonische Herrschaft in Europa liquidierte, gab das Inselreich den Ton an. Hier wurde das europäische Gleichgewicht zum völkerrechtlichen Prinzip erhoben. In der Tat hat diese von England bestimmte Friedensordnung ein halbes Jahrhundert vorgehalten, aber sie legte auch die Keime zu ihrer Überwindung. Bei der Neufestsetzung der Ländergrenzen auf dem Kontinent hatte England das größte Interesse daran, Belgien gegen einen erneuten Zugriff Frankreichs abzuschirmen. Zu diesem Zwecke wurde Preußen, das sich viel lieber mit dem Königreich Sachsen entschädigt hätte, auf das linke Rheinufer verwiesen. Mit der Rheinprovinz und Westfalen gelangte aber die preußische Monarchie in den Besitz wertvollster Bodenschätze, die für die künftige industrielle Entwicklung Deutschlands von ausschlaggebender Bedeutung werden sollten. Ohne das Ruhrgebiet wäre der Aufstieg des deutschen Kaiserreiches zur Weltmacht gar nicht möglich gewesen, und hier lagen auch die Voraussetzungen für den Schlachtflottenbau, der England so große Sorge bereitet und endgültig in das Lager der Feinde Deutschlands getrieben hat.

Das 19. Jahrhundert stand trotz der schweren außenpolitischen Niederlage Frankreichs im Zeichen der Ideen, welche die französische Revolution auf die Bahn gebracht hatte: des Liberalismus und der Demokratie. Da sich Frankreich aber durch das terroristische Regiment der Jakobiner kompromittiert hatte, blickte man auf dem Festlande lieber nach England hinüber, das mit seiner parlamentarischen Regierungsweise, ohne umstürzlerisch zu sein, als das klassische Land des Liberalismus galt. Der Kampf gegen die napoleonische Gewaltherrschaft hatte aber auch das Nationalgefühl der europäischen Völker geweckt, das Streben nach Freiheit vereinigte sich auf dem Kontinent mit dem Streben nach nationaler Einheit und Selbständigkeit. Von dieser Bewegung waren die Länder der europäischen Mitte und des Ostens zumal ergriffen: Polen, die Völker der österreichisch-ungarischen Monarchie, Italien und Deutschland. Das liberale England sympathisierte mit ihnen, teils aus Überzeugung, teils aus den bekannten Erwägungen der Gleichgewichts-politik; denn es traten dabei nicht nur einigende, sondern auch wie in Preußen und Österreich spaltende Tendenzen an den Tag. Die englischen Sympathien hörten aber sofort auf, wenn englische Wirtschaftsinteressen berührt wurden.

Der Liberalismus war ja nicht nur eine politische, sondern auch eine ökonomische Doktrin, die für das Prinzip der offenen Tür eintrat und das merkantilistische System staatlich gelenkter Schutzzölle bekämpfte. Die Prinzipien des Freihandels entsprachen den damaligen wirtschaftlichen Interessen Englands; denn die industrielle Revolution hatte seit dem 18. Jahrhundert die englische Bevölkerung sprunghaft anschwellen lassen. Dadurch war das Inselreich in seiner Ernährung vom Auslande abhängig geworden, brauchte das Ausland aber auch als Absatzgebiet für seine Industrieprodukte. So konnte es wohl geschehen, daß die englische Politik aus wirtschaftlichen Gründen zu einer Haltung gezwungen wurde, die mit den von England doch auch vertretenen politischen Prinzipien des Liberalismus nicht im Einklang stand.

Ein lehrreiches Beispiel hierfür ist Englands Stellung zur deutschen Einheitsbewegung im 19. Jahrhundert. Auch Deutschland trat damals in sein bürgerliches Zeitalter ein, es erlebte wie England seine industrielle Revolution, die es bald aus einem Agrarlande zu einem beachtlichen Produzenten hochwertiger Industrieerzeugnisse machte. Diese Entwicklung wurde aber durch die staatliche Zerklüftung Deutschlands gehemmt, durch die Einzahl seiner Zollgrenzen und die Uneinheitlichkeit seines Münz-, Maß-und Gewichtssystems. Gerade die wirtschaftlichen Erfordernisse drängten also in Deutschland zuerst auf die Beseitigung dieses Zustandes, auf die Herstellung eines einheitlichen deutschen Wirtschaftsgebietes. Hierin ging der fortschrittlichste und wirtschaftlich stärkste deutsche Staat, Preußen, voran, es vereinigte 18 34 eine Reihe deutscher Mittel-und Kleinstaaten unter seiner Führung zum preußischen Zollverein.

Sofort meldeten die Engländer ihren Widerspruch an. Mit ihrem untrüglichen praktischen Instinkt witterten sie, daß sich hier eine für die englische Wirtschaft gefährliche Konkurrenz entwickeln könnte. Zunächst aber waren sie gegen die schutzzöllnerischen Tendenzen des preußischen Zollvereins. Durch ein diplomatisches Intrigenspiel suchten sie der Ausbreitung des Zollvereins in Deutschland entgegenzuwirken, im englischen Unterhause kam es zu einer Debatte über den Zollverein, in deren Verlauf er als rechtswidrig und als unfreundliche Aktion gegenüber England bezeichnet wurde. Der Außenminister Palmerston kündete sogar Sondermaßnahmen gegen den Zollverein an, die dann freilich doch unterblieben. Aber als der deutsche Nationalökonom Friedrich List, einer der geistigen Urheber des Zollvereins und glühender deutscher Patriot, in den vierziger Jahren einen mitteleuropäischen Wirtschaftsbund propagierte und die englischen Staatsmänner dafür gewinnen wollte zeigte man ihm in London die kalte Schulter. Denn List hielt Schutzzölle zur Förderung der noch in den Anfängen steckenden deutschen Industrie für unerläßlich, in England fürchtete man aber, damit einen wichtigen Absatzmarkt für die englische Industrie zu verlieren, anstatt zu bedenken, daß die deutsche Bevölkerung durch eine bessere Ausnutzung ihrer Arbeitskraft und die Hebung ihres Wohlstandes an Kaufkraft auch für den englischen Markt gewinnen mußte. List sah darin viel weiter als die englischen Staatsmänner. Er schlug ihnen auch vor, England, Deutschland und Österreich-Ungarn sollten sich wirtschaftlich und politisch zusammenschließen, um Rußland von Europa fernzuhalten und gemeinsam die Märkte der Welt zu erobern, Deutschland im nahen und England im fernen Orient. Sogar der Bau einer starken deutschen Flotte tauchte in diesen Plänen auf.

Lists kühne Entwürfe sind später alle, wenn auch mit den durch die Zeit bedingten Varianten, verwirklicht worden: man denke an die deutsche Einigung durch Preußen, an das deutsch-österreichische Bündnis von 1879, an die Bagdadbahn, an das Hinaustreten Deutschlands in die Welt und nicht an zuletzt die Vollendung des britischen Weltreiches, die List ohne Neid als notwendige Korrelation des deutschen Aufstiegs betrachtete. Nur eines ist nie zustande gekommen: der Zusammenschluß Deutschlands und Englands. Er hätte für den Frieden und das Gedeihen Europas nur segensreich sein können, und man fragt sich immer wieder, warum diese Möglichkeiten nicht erkannt und nicht genutzt worden sind. Die Schuld liegt, wenn überhaupt von einer Schuld gesprochen werden kann, auf beiden Seiten. Was die Engländer daran gehindert hat, die Stellung Deutschlands im Kreise der großen Mächte mit Unbefangenheit zu würdigen, erfährt man nirgends besser und schlüssiger als aus dem Memorandum Sir Eyre Crowes von 1907. Es war im Grunde doch auch Insularität, die Sonderstellung, die England für sich beanspruchte, das Sich-nicht-binden-wollen an den Kontinent und seine besonderen Lebensgesetze, denen Deutschland in der Mitte Europas in besonderem Maße verhaftet war Die kühle, fast unfreundliche Haltung mit der man in London List und seinen deutschen Plänen begegnet war, versteifte sich noch gegenüber der deutschen Revolution von 1848, obwohl oder eben weil diese zugleich ein eminent europäisches Anliegen war. Denn die von der Frankfurter Paulskirche betriebene großdeutsche Politik stand mit der europäischen Friedensordnung von 1815 in Widerspruch, die zu konservieren England entschlossen war. Vor allem wollte man nicht, daß mit der Einverleibung Schleswig-Holsteins ein großer deutscher Einheitsstaat sich an der Zufahrtsstraße in die Ostsee festsetze, man wollte lieber das kleinere und schwächere Dänemark als Wächter an Sund und Belt. So sprach der Führer der Konservativen Disreali damals von der deutschen Einheit als einem träumerischen und gefährlichen Unsinn, und der liberale Außenminister Palmerston sagte dem preußischen Gesandten Bunsen ins Gesicht, eine deutsche Nation sei ihm unbekannt. Das größte englische Blatt, die „Times“, aber schrieb, die Deutschen mögen mit den Wolken segeln und Luftschlösser bauen, nie aber seit Anfang der Zeiten hätten sie den Genius besessen, das Weltmeer zu durchschiffen oder auch nur die schmaleren Gewässer zu befahren.

Diese einmütig ablehnenden, ja hochfahrenden Äußerungen gegenüber den deutschen Einheitsbestrebungen beweisen, wie wenig auch das liberale England damals die wahren, in die Zukunft weisenden Interessen Europas abzuschätzen wußte. Das gedankenlose Festhalten an einer überkommenen Formel, eben dem europäischen Gleichgewicht, konnte weder England noch Europa dienlich sein. Durch den Gang der Ereignisse ließ man sich dann eines besseren belehren. Man sah ein, daß die deutsche Einigung nicht aufzuhalten war, aber man wollte sie nur im Verein mit liberalen Reformen, das fortschrittliche Preußen sollte sich Deütsclrland sozusagen „moralisch“, nicht auf gewaltsame Weise erobern. Daß Wilhelm I. und Bismark dann doch den letzteren Weg einschlugen, war keineswegs nach dem Sinn und Geschmack der Engländer, aber da die deutschen Einigungskriege von einer überlegenen und verantwortungsbewußten Diplomatie gesteuert wurden, ließ man in London den Dingen schließlich ihren Lauf und zeigte sich nur unangenehm überrascht, als sich 1871 die Vollendung des Einigungswerkes aus der Tatsache eines im Kampfe niedergebrochenen Frankreich ergab bsmarck hat nach 1871 durch seine europäische Bundnspolitik, die der Erhaltung des Friedens diente, das Mißtrauen Englands gegenüber dem Deutschen Reiche allmählich bezwungen. 18 87 schloß sich England sogar der von Bismarck inspirierten Mittelmeerentente an, die gegen Expansionsgelüste der europäischen Flügelmächte gerichtet war. Aber ein deutsch-englisches Bündnis, das er in den letzten Jahren seiner Amtszeit gern gesehen hätte, um Rußland zu zügeln, hat auch Bismarck niemals erreicht.

Unter Wilhelm II. drängte das wirtschaftlich mächtig emporsteigende Deutschland in die Welt hinaus, mit seinem Handel auf die Weltmärkte, mit dem Überschuß seiner Bevölkerung in eigene Kolonien. Aber auch die beiden europäischen Flügelmächte Frankreich und Rußland hatten in Afrika und Asien ihren Einfluß und ihre Besitzungen erweitert. Dadurch sah sich England vor eine neue Situation gestellt. Die europäischen Gegensätze begannen sich zu Weltgegensätzen auszuweiten. Die Zeit der „splendit Isolation“ war für England vorbei, es mußte sich nach Bundesgenossen umsehen.

Diese Frage wurde im Jahre 1898 akut. Aber auch England hatte inzwischen noch einmal mächtig in die Welt hinausgegriffen und den Bau seines Weltreiches vollendet. Es umfaßte nun ein Viertel der bewohnbaren Erde, ein Viertel der Menschheit und zwei Fünftel des gesamten Welthandels. Was Disraeli 1866 zum ersten Mal ausgesprochen hatte, war jetzt zur unbestrittenen Wirklichkeit geworden: England war keine europäische Macht mehr, seine lebenswichtigen Interessen lagen in Übersee.

Ebenso hatten sich auf dem Kontinent zwei Jahre nach dem Abgang Bismarcks im Jahre 1890 die Machtgewichte zu Ungunsten Deutschlands und Österreich-Ungarns verschoben. Der von Bismarck so sehr gefürchtete, von ihm immer wieder verhinderte Zweibund zwischen Frankreich und Rußland war zustande gekommen. Er bedrohte Deutschland mit der tödlichen Gefahr eines Zweifrontenkrieges. Denn das Ziel, das der Zweibund in Europa verfolgte: Frankreich den Wiedererwerb Elsaß-Lothringens, Rußland die Erweiterung seines Einflusses auf dem Balkan, war nur durch einen Krieg mit den Mittelmächten zu erreichen. So lange der Dreibund auf festen Füßen stand, war daran nicht zu denken. Die beiden Flügelmächte mußten also ihren Tatendrang zunächst außerhalb Europas befriedigen, und dabei war der Zusammenstoß mit England unvermeidlich. Für England war also die Frage eines Bündnisses mit Deutschland naheliegend, sie wurde 1898 von dem englischen Kolonial-minister Joseph Chamberlain mit aller Offenheit zur Sprache gebracht.

Der Zusammenstoß mit Deutschland

Das war der Hintergrund der berühmten deutsch-englischen Bündnis-gespräche um die Jahrhundertwende, bei denen das Schicksal Europas auf der Waage zu liegen schien. Wenn diese Gespräche — es waren keine offiziellen Verhandlungen — fruchtlos endeten, so lag dies daran, daß beide Gesprächspartner aneinander vorbeiredeten. Die Engländer sahen die Dinge unter dem Gesichtswinkel ihrer weltweiten Überseeinteressen, für die sie Schutz und Unterstützung bei Deutschland suchten; die Deutschen hatten Europa im Auge und verlangten die englische Garantie ihres und des österreichischen Besitzstandes. Zwei offensichtlich unvereinbare Dinge.

In Berlin sagte man sich — und wer könnte die Berechtigung dieser Argumentation abstreiten? —: Wenn wir das tun, was die Engländer von uns erwarten, sie in Afrika gegen Frankreich und in Asien gegen Rußland unterstützen, dann tragen wir dazu bei, die Aktivität der beiden kontinentalen Flügelmächte nach Europa zurückzulenken, und damit verstärkt sich der Druck auf unsere Grenzen in Ost und West. Kann uns England aber in einem Zweifrontenkriege rechtzeitig und wirksam unterstützen? Würde die Last eines solchen Krieges, der doch hauptsächlich zu Lande geführt werden müßte, nicht ausschließlich auf unsere Schultern fallen und würden wir dann nicht wieder wie Friedrich der Große die Kastanien für England aus dem Feuer holen?

Es kam noch etwas hinzu. Nicht etwa der Bau der deutschen Schlacht-flotte — der war damals noch nicht in das entscheidende Stadium getreten — wohl aber die Frage der Erweiterung des deutschen Kolonialbesitzes, wobei man in Berlin auf die englische Unterstützung hoffte. Diese Erwartung wurde immer wieder entäuscht. Lord Salisbury sagte es seinen deutschen Gesprächspartnern mit dürren Worten: „Sie verlangen zu viel für Ihre Freundschaft.“ Er hätte ebenso gut sagen können: Sie bieten uns zu wenig. Deshalb zog man in London schließlich die Verständigung mit Frankreich und Rußland vor, die greifbarere Vorteile für England hatte; sie ging auf Kosten der Mittelmächte. Deutschland sah sich einer Einkreisung gegenüber, die es mit dem Bau der Tirpitzschen Schlachtflotte vergeblich zu durchbrechen suchte; die englische Feindschaft konnte, wie Sir Eyre Crowe schon im Jahre 1907 festgestellt hatte, durch keine diplomatischen Druckmittel mehr neutralisiert werden. Dennoch bebten die englischen Staatsmänner im Juli 1914 vor der Kriegserklärung an Deutschland einen Augenblick zurück. Als Sir Edward Grey nach der entscheidenden Unterhaussitzung in sein Amtszimmer zurückkehrte, schlug er mit beiden Fäusten auf den Tisch und rief verzweifelt: „Idi hasse den Krieg, idi hasse den Krieg!“ Aber hatten er und seine Mitarbeiter im Foreign Office nicht mitgeholfen, ihn unvermeidlich zu machen? Hinter dem Rücken des Parlamentes hatten sie der französischen Regierung bindende Versprechungen für den Kriegsfall gemacht, die sie nun einlösen mußten. Die Verletzung der belgischen Neutralität durch Deutschland kam ihnen gerade recht, um das widerstrebende Parlament im letzten Augenblick an der Seite Frankreichs zu halten. Überrascht konnten die englischen Staatsmänner von dem deutschen Einmarsch in Belgien nicht sein; denn sie waren seit 1871 immer der Meinung gewesen, daß die von den Großmächten garantierte belgische Neutralität keine volle Sicherheit gegen den Durchmarsch fremder Truppen biete, ja sie hatten selbst einmal den Belgiern mit einer Landung englischer Truppen gedroht.

Inwieweit die Stellungnahme Englands gegen Deutschland wirklich „europäisch“ gedacht war,, darüber hat dann der Abschluß des Friedens 1919 wertvolle Aufschlüsse erbracht. Der Versailler Vertrag, der Deutschland in völlig einseitiger Weise mit der Kriegsschuld belastete und zu ungeheuren Reparationen zwang, hat Europa nicht den Frieden gegeben, sondern es nur in neue Unruhe gestürzt. Winston Churchill hat in seinen Memoiren über die Friedensmacher von 1919 ein vernichtendes Urteil gefällt: durch die Zertrümmerung der östereichisch-unga-rischen Monarchie hätten sie ganz Europa balkanisiert, durch die Abschaffung der Monarchie in Deutschland ein mögliches Element der Stabilität beseitigt; Lloyd George, der maßgebende Vertreter Englands auf der Friedenskonferenz, erfährt seinen entschiedenen Tadel, weil er sich dem nicht genügend widersetzt habe. Lloyd George hatte aber schon im Januar 1918 die Erklärung abgegeben, daß die Beseitigung der Monarchie in Deutschland nicht zu den englischen Kriegszielen gehöre, und im Kreise der Pariser Friedensunterhändler war er immer noch der Vernünftigste und Einsichtigste, der den territorialen Appetit namentlich der kleineren europäischen Staaten zu mäßigen suchte, er widersetzte sich vor allem den weitgehenden Gebietsansprüchen der Polen, wenn auch vergeblich, da sie von Amerika unterstützt wurden, und sagte richtig voraus, daß daraus über kurz oder lang ein neuer Weltkrieg entstehen werde.

Tatsächlich war die polnische Frage der Anlaß, wenn auch nicht die tiefere Ursache des zweiten Weltkriegs. Seine eigentliche Ursache war wie vor dem ersten Weltkrieg der unüberbrückbare Gegensatz zwischen England und Deutschland in der Frage, ob England es zulassen könne, daß Deutschland eine beherrschende Stellung auf dem Kontinent einnehme. Deutschlands Weltgeltung und die Schlachtflotte spielten diesmal nicht mit, wohl aber die Tatsache, daß sich in Deutschland ein Regime etabliert hatte, das der englischen Mentalität tief zuwider war und in bezug auf deutsche Expansionsgelüste keinerlei Vertrauen ein-flößte. Die Kriegspartei, Churchill, Vansittard, Samuel Hoare, Duff Cooper, Hore Beiisha u. a. hielten sich denn auch an die alte erprobte Regel, daß England sich immer gegen den stärksten auf dem Kontinent wenden müsse, gegen denjenigen, der das Zeug dazu hätte, alle anderen zu überspielen. Der Premierminister Neville Chamberlain war jedoch der Meinung, daß Deutschland ungerecht und unvernünftig behandelt worden sei und man wenigstens den Versuch machen müsse, seine berechtigten Forderungen zu befriedigen.

Im Mai 1937 hatte Churchill als Führer der Opposition Gelegenheit, dem deutschen Botschafter in London v. Ribbentrop die nicht in der Regierung vertretene Meinung des englischen Volkes zu Gehör zu bringen. Ribbentrop hätte gern ein deutsch-englisches Bündnis zustande gebracht und sollte im ausdrücklichen Auftrag Hitlers in dieser Richtung sondieren. Denn Hitler liebte und haßte die Engländer zugleich; hätte er etwas mehr von der Geschichte gewußt, so hätte er sie weniger geliebt. Denn seine Lieblingspläne standen mit seinem Lieblingswunsch, sie mit Hilfe Englands zu verwirklichen, in einem wahrhaft grotesken Widerspruch. Daß er die deutschen Gebietsverluste des Versailler Vertrages wieder einbringen wollte — auf Elsaß-Lothringen hatte er hierbei ausdrücklich verzichtet — leuchtete den Engländer noch ein, aber sein Ehrgeiz spannte sich ja viel weiter, er wollte — wie er dem Grafen Ciano am 13. August 1939 auf dem Obersalzberg enthüllte — „den alten Germanenweg nadt Osten“ wieder antreten. Das hätte unweigerlich zur deutschen Suprematie auf dem Kontinent geführt. Als Ribbentrop bei Churchill vorfühlte, schenkte ihm dieser sofort reinen Wein ein. England könne sich, so sagte er, an den Geschicken Europas nicht so weit desinteressieren, um eine Vorherrschaft Deutschlands in Mittel-und Osteuropa zuzulassen. Er verwies warnend auf die bitteren Lehren des ersten Weltkriegs, England werde notfalls wiederum die ganze Welt gegen Deutschland unter die Waffen bringen.

Diese deutliche Sprache wurde von Hitler mißverstanden, er hielt sie für Bluff, zumal als Chamberlain dann in München und Godesberg vor Deutschland tatsächlich zurückwich. Jedoch als nach der Tschechoslowakei Polen an die Reihe kam, war die englische Geduld zu Ende. In dem neuen Premierminister Churchill sah sich Hitler dem eigentlichen England gegenüber — dem England, das weder Blut noch Schweiß noch Tränen scheute, um den altbewährten Grundsätzen seiner Europapolitik Geltung zu verschaffen.

Schon der erste Weltkrieg hatte gezeigt, daß ein Krieg zwischen den europäischen Mächten sich im 20. Jahrhundert nicht mehr auf Europa beschränken ließ. Lind der Frieden von 1919 hatte gelehrt, daß territoriale Veränderungen in Europa auf Kosten der Besiegten höchst gefährlich waren. Dem suchte die Atlantik-Charta von 1941, die Amerika und England gemeinsam verkündeten und der auch später Rußland beitrat, Rechnung zu tragen: territoriale Vergrößerungen und Verschiebungen sollten, wenn überhaupt, nur nach Befragung der betroffenen Völker vorgenommen werden.

Diese Zielsetzung entsprach den Grundsätzen britischer Außenpolitik, doch sollte die Atlantik-Charta auf Deutschland als den Anstifter des Krieges keine Anwendung finden, hier wollte man den Formeln der totalen Kapitulation und des Morgenthau-Planes folgen. Diese von den großen Drei auf den Konferenzen in Teheran, Jalta und Potsdam in Szene gesetzte Politik der Verstümmelung und Aufsplitterung Deutschlands war aber, wie sich sehr bald herausstellte, nicht nur gegen Deutschland, sondern auch gegen Europa gerichtet, sie lieferte die osteuropäischen Staaten der russischen Vorherrschaft aus und brachte den Bolschewismus bis an die Elbe.

Daß Großbritannien an einem solchen den Traditionen seiner Europa-Politik stracks zuwiderlaufenden Ergebnis mitwirkte, ja mitwirken mußte, bezeichnete den Machtschwund des Inselreiches, der in dem gleichzeitigen Verlust Indiens eine wohl noch eindrucksvollere Bestätigung fand. England hat im Laufe seiner Geschichte viele Schlachten verloren, aber es war am Schluß immer auf der Seite der Gewinner gewesen. Jetzt zum ersten Mal hatte es den Frieden verloren.

Nicht umsonst hat Churchill dem letzten Band seiner Kriegserinnerungen den Titel „Triumph and Tragedy“ gegeben. Er war auch der erste, der sich nach dem Kriege mit seiner ganzen Autorität für das Programm der Vereinigten Staaten von Europa eingesetzt hat. Die Vereinigten Staaten von Europa mit voller Beteiligung und vielleicht sogar unter dem Vorantritt Englands? Das verbieten die ständig wachsenden Probleme des britischen Commonwealth.

So leidet Großbritannien im Augenblick viel mehr als irgend eine andere Großmacht an seiner Vergangenheit. Wie schwer es sich davon zu trennen vermag, aber wie unwiederbringlich sie auch dahin ist, hat das gescheiterte Suez-LInternehmen gezeigt, über das mit Schadenfreude oder Geringschätzung zu urteilen sehr uneuropäisch wäre. Denn was Europa — nicht ohne die Mitschuld des Inselreiches — verloren hat, das hat auch England verloren; aber was England in der Zukunft verliert, das verlieren wir alle.

Darum sollte England und sollte Europa aus der Vergangenheit die Lehre ziehen, daß die weniger Mächtigen unter den Großen nicht isoliert, sondern in Bündnissen leben müssen. Bündnisse aber setzen ein faires und loyales Verhalten der Partner gegeneinander voraus, wenn sie funktionieren sollen: vor allem die Befolgung der allgemein verbindlichen moralischen Gesetze, ohne die ein friedliches Zusammenleben und Gedeihen der Völker nicht möglich ist.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Kurt Borries, Dr. phil. habil., geb. 23. 3. 1895 in Berlin, Universitätsprofessor für Neuere Geschichte in Gießen, seit 1949 Lehrbeauftragter für westeurop. und amerik. Geschichte an der Universität Tübingen. Mitglied der Hirstor. Kommission für Hessen-Nassau und Waldeck.