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Ein satirischer Streifzug Polnisches Abc | APuZ 9/1959 | bpb.de

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APuZ 9/1959 Ein satirischer Streifzug Polnisches Abc

Ein satirischer Streifzug Polnisches Abc

Die von uns veröffentlichten Beiträge zum deutsch-polnischen Problem haben uns in den Besitz eines Manuskriptes gebracht, das von einem Polen verfaßt worden ist.

Abbildung 1

Sollten wir es veröffentlichen? Wir haben uns zum Abdruck entschlossen, weil hier ein Stimmungshuid vermittelt wird, das in seiner Lebendigkeit und durch die humorvolle Gestaltung einen besseren Eindruck vom heutigen Polen zu geben vermag als manche objektive, aber nüchterne Betrachtung.

Eine Meinungsäußerung der herausgebenden Stelle ist in dieser Veröffentlichung allerdings nicht zu erblicken. Allkohol. In Polen besitzt der Staat ein Spiritusmonopol seit den zwanziger Jahren. Der Gestehungspreis für 1 Liter Sprit liegt um Zloty 4, 50; der Verkaufspreis beträgt ZI. 162, —. Eine schöne Preisspanne! Die Monopolverwaltung pumpt seit 13 Jahren in das Volk, was an Sprit nur hineingeht. In den Jahren vor Oktober 1956 flossen 11 Prozent des Gesamteinkommens der arbeitenden Bevölkerung in die Kassen des Monopols, ungeachtet der Einnahmen aus dem Bier-und Obstweinkonsum. Nach der Einführung der neuen Währung am 31. 10. 1950 lag der Spritpreis weit niedriger, ungefähr bei ZI. 120, —; in den folgenden Jahren wurde er ständig erhöht, mit dem Fall der Kaufkraft des Geldes, — „zwecks Bekämpfung des Alkoholismus". Als nach dem Oktober 1956 die Arbeitslöhne erhöht wurden und die Gewinne der Bauern stiegen, erhöhte sich auch der Alkoholkonsum um fast das Doppelte. Bis unlängst hatte jeder Konsumladen Fabrikate des Spiritusmonopols zu verkaufen, und zwar zu einem hohen Anteil seines Gesamtumsatzes. Wurde dieser Prozentsatz nicht erreicht, so fiel die Umsatzprämie für das Verkaufspersonal fort. Wodka kaufende Kunden waren bevorzugt zu bedienen. Waren zwei Schaufenster vorhanden, war eines den Monopolwaren vorbehalten; war nur eines da, so galt dasselbe für eine Hälfte des Fensters. Zu gleicher Zeit wurden in Wartezimmern und -sälen, in Korridoren von Behörden, in Bahnhofsgebäuden usw. eindringlich mahnende Plakate aufgehängt, die auf die durch Trunksucht verursachten körperlichen und geistigen Schäden hinwiesen. Doppelte moralische Buchführung!

Je höher die idealistischen Posaunen der kommunistischen Propaganda und Unterweisung klangen, um so tiefer sank die durch den Alkoholismus unterwühlte Arbeitsdisziplin und -moral. Da halfen keine noch so strengen gesetzlichen Vorschriften. Es wuchs die Zahl der ehelichen Zerrüttungen, der Arbeitsund Verkehrsunfälle. Die Öffentlichkeit wurde unruhig, Anschuldigungen gegen Partei und Regierung wurden immer lauter; einige Blätter, wie z. B. „Po Prostu", das ja auch verboten wurde, nahmen kein Blatt vor den Mund: das Regime wurde beschuldigt, eine grundgemeine Demoralisierung der arbeitenden Massen zu betreiben. Das Gomulka-Regime glaubte da etwas tun zu müssen und hob zunächst obeneiwähnte innerbetriebliche Vorschrift über den Mindestumsatz an Alkoholwaren in den Konsumen auf, kassierte später deren Verkauf in diesen Läden überhaupt und richtete dafür mehr Spezialläden des Spiritusmonopols ein, erließ Bestimmungen über den eingeschränkten Ausschank von hochprozentigen geistigen Getränken in den Gastwirtschaften (nach schwedischem Muster); — Vorschriften, die sehr zu begrüßen sind, nur leider von niemandem befolgt werden. Inzwischen ist der Alkoholkonsum tatsächlich gefallen: seit dem 1. 1. 19 5 8 ist der Verkauf in den ersten fünf Monaten des Jahres um 3 07 5 Liter reinen Alkohols geringer gewesen als im gleichen Zeit-abschnitt vorigen Jahres. Es gibt Anzeichen, daß diese Tendenz anhält. Warum, ist noch nicht ganz klar Es ist möglich, daß die Ursache hierfür in der leidenschaftlichen Beteiligung der breiten Volksmassen am staatlichen Toto-Lotto zu suchen ist. Der wöchentliche Umsatz beträgt da über 200 Millionen Zloty. Jemand sagte, die Leute trinken eben wenigei Wodka in der Hoffnung, unermeßlich mehr trinken zu können, nachdem sie gewonnen haben. Es ist schon besser, der Staat bekommt sein Geld über Toto-Lotto als über die Schnapsfabriken herein.

In der polnischen Publizistik und Literatur spielt der Alkoholismus keine geringe Rolle Die Abstumpfung des Gefühlslebens, die moralische Entartung sind natürlich ein dankbares Thema. Ich erwähnte schon die Aktion des Blattes „Po Prostu“. Der ihm nahestehende jetzt in Paris lebende junge und hochbegabte Schriftsteller Marek Hlasko beschrieb in seiner verfilmten Novelle „Die Schlinge“ die Entartung eines geistg hochstehenden Individuums, das trotz besserer Einsicht und ehrlichen Willens der Gesellschaft zu dienen die Kräfte zur Genesung nicht mehr aufbringi und in den Freitod getrieben wird. Lim Hlasko ist dann ein Skandal entstanden. Er hat die Genehmigung erhalten, nach Frankreich auszureisen, nachdem 19 57 sein Povellenband einen Literaturpreis in Warschau erhalten hatte, und hat in Paris zwei Romane veröffentlicht, die ihm die polnische Zensurbehörde gestrichen hatte. „Kirchhöfe“ und „Der Folgende zum Paradies“. Im ersten beschreibt er die Verhältnisse der stalinschen Eiszeit in Polen. Es ist dies eine scharfe Satire auf den totalitären Staat überhaupt und dabei auf jene Jahre der Angst und Beklemmung, in denen man in die Trunksucht und Betäubung floh. Es sind alles „Tote Seelen“, die er da zeichnet, und ich kenne kein Werk in der europäischen Literatur, das dem so betitelten Buch von Gogol näher stünde. Hlasko galt in Polen als ein stolzer Erfolg kommunistisch-staatlicher Erziehung. Lim so größer war die Empörung, als er diesem Staat die kalte Schulter zeigte. boleslaw Bierut war der polnische „Spitzbart“, Vertrauensmann und Agent, im Charakter aber halb so schlimm wie die übriger „Spitzbärte" in Moskaus Satellitenstaaten. Seine Rolle war ebenfalls, Gegner des kommunistischen Regimes zu vernichten; das hat er auch getan, aber es ist in Polen nicht zu den abscheulichen Morden an Konkurrenten gekommen wie in Bulgarien, Rumänien, der Sowjetunion, der Tschechoslowakei, Ungarn und Albanien. Es scheint, daß Gomulkaund seine politischen Freunde diesem Umstand ihr Überleben verdanken.

Sein plötzliches Ableben am 12. 3. 1956 traf in eine kesondere Zeit und wurde zu einem politisch fruchtbaren Moment; es hat nämlich einer weiteren Entwicklung das Tor geöffnet. — Er war schwer krank, im Volke wußte es niemand. Sein Tod ließ sich ja nicht verheimlichen. Im Oktober 195 5 war Bierut an einem Herzinfarkt erkrankt. Kaum einigermaßen ausgeheilt, widmete er sich wieder der Parteileitung: in der Partei machten sich stärkere nationale Ström ngen bemerkbar, das „Tauwetter“ rauschte im kommunistischen Schilf, da durfte man sich nicht überraschen lassen. Diese Spannung konnte einer Stabilisierung seines Gesundheitszustandes nicht dienlich sein. Er brauchte uhe. Dann kam der XX. Parteikongreß in Mokau, für den Nikita Chruschtschow eine besondere Bombe vorbereitet hatte: seine große Abrechnung mit Stalin in der Geheimsitzung vom 24. Februar 1956. Während dieser Rede mußte nach Berichten der Unfalldienst dreißigmal wegen der vielen Herzattacken und. Ohnmachtsanfälle unter den Zuhörern eingreifen. So manchem Stalinjünger schwand da der Boden unter den Füßen. Bierut versetzte dieser Schock den Todesstoß, denn kurz darauf wurde eine katastrophale Verschlechterung seines Gesundheitszustandes gemeldet, während kurz vor dem Datum der Chruschtschowrede noch ein Foto in der polnischen Presse erschienen war, das ihn mit vergnügter Miene unter den in Moskau studierenden polnischen Studenten zeigte. Auch Ulbricht scheint damals einen heftigen Herzanfall erlitten zu haben, denn als einziger befreundeter Parteisekretär von allen Satellitenparteien erschien er nicht zu Bieruts Staatsbegräbnis. Das hinderte ihn allerdings nicht, in der gleichen Zeit ein Schreiben an Chruschtschow zu richten, das deftige Invektiven gegen seinen gewesenen Protektor Stalin enthielt. Übrigens lassen sich die Polen auch heute noch nicht ausreden, daß man in Moskau dem Ableben Bieruts nachgeholfen habe. Das ist die natürliche Folge kommunistischer Geheimniskrämerei.

C hina, Chruschtschow, Cyrankiewicz. Um mit letzterem anzufangen, Cyrankiewicz ist von Hause Jurist, Sohn bürgerlicher Eltern, ehemaliger Sozialdemokrat, stammt aus Krakau und verbrachte den Krieg im KZ in Auschwitz, aus dem er den Ruf eines hilfsbereiten Kameraden mitgebracht hat. Bei der Bildung der kommunistischen Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei war er dabei und spielt seitdem in Polen die Rolle Grotewohls. Gleich diesem gehört er zum eisernen Inventar der Partei und hat, gleich Buttler in Schillers „Wallenstein", nur ein Amt und keine Meinung. Er besitzt gute Kräfte, arbeitet viel, ist intelligent und gebildet, hat eine populäre Schauspielerin zur Frau, mit welcher er in mustergültiger Ehe lebt, und erholt sich beim Führen eines Autos. Seine große Reise durch den Fernen Osten versprach viel Erfolg zu bringen, weil Mao sich von ihm nach Polen einladen ließ, es sogar eilig zu haben schien. Leider ist es bei dieser Ansage geblieben. Aus einem, so wollte es scheinen, geradezu prononciert herzlichen Freundschaftsverhältnis Pekings zu Warschau ist mittlerweile ein — delikates geworden, nachdem der Kreml sich zwischengescho 1 t hat. Such is life. — Als im Oktober 1956 in Warschau der VIII. Kongreß der polnischen KP tagte und die Wahl Gomulkas zur Debatte stand, erschien am heitern Herbsthimmel, schnell und unerwartet wie der leibhaftige Tod, ein Flugzeug mit der dicksten Führergruppe, die jemals Moskau zu einem politischen Flug verlassen hatte: Chruschtschow, Molotow, Kaganowitsch, Mikojan. Es handelte sich darum, das Aufkommen eines neuen Tito in Polen und damit Gomulkas Wahl zum Parteisekretär nicht zuzulassen. Chruschtschow war ja schon zum VII. Parteitag, nach dem Ableben Bieruts, in Warschau erschienen, im März des gleichen Jahres, und hatte einfach den widerstrebenden Edward Ochab zu Bieruts Nachfolger bestimmt. Aber Ochab hatte sich als Gomulkas „Johannes der Täufer“ erwiesen. Da also mußte Ordnung geschaffen werden!

Als dann auf der gerade beratenden Versammlung des VIII. Partei-tages die große Überraschung bekannt gegeben wurde, stellte eine resolute Parteigenossin den Antrag, die Beratungen des Parteitages so lange auszusetzen, bis „unsere lieben Gäste aus Moskau“ wieder abgereist seien. Der Besuch zum VII. Parteitag hatte als Lehre gedient. Der Antrag wurde angenommen, die Beratungen wurden unterbrochen und eine Parteidelegation begab sich zum Flugplatz zur Begrüßung. Chruschtschow begrüßte sehr freundlich Cyrankiewicz, im übrigen war er fuchsteufelswild, behandelte Gomulka en Canaille, verweigerte ihm die Hand und nannte ihn einen Verräter an der kommunistischen Sache. Gomulka reagierte darauf mit Gleichmut und ließ sich nicht einschüchtern. Immerhin, sowjetische Truppen waren im Anmarsch auf Warschau und Lodz, aber polnische Truppen waren zur Abwehr aufmarschiert. Ihr Oberbefehlshaber, Marschall Rokossowski, hatte gerade den Abschied erhalten. Weiß Gott, was in diesen Stunden dramatischer Spannung alles hätte passieren können, wäre da nicht wie ein deus ex machina der Botschafter von Peking aufgetreten, welcher Chruschtschow erklärte, Gomulka und seine politische Richtung könnten die volle Unterstützung seiner Regierung in Anspruch nehmen. Da blieb den Moskauer Herren nichts anderes übrig, als wieder abzufliegen, worauf die Beratungen des VIII. Parteitages fortgesetzt wurden.

Diese Demarche des chinesischen Diplomaten bei Chruschtschow ist von großer Bedeutung, denn zum ersten Mal in der Weltgeschichte hat hier China mit positivem Erfolg sich in europäische politische Ver-hältnisse hereingemischt. Wenn wir dies bedenken, verstehen wir auch richtig die nachfolgenden diplomatischen und propagandistischen Aktionen der Vertreter des Reiches der Mitte innerhalb des kommunistischen Blocks, insbesondere auch die chinesische Kritik an Tito, welche die sowjetische sehr an Schärfe übertraf. Die Konkurrenz im Kampf um den Primat in der ideologischen Führung des Ostblocks zwischen beiden Weltmächten trat hier deutlich in Erscheinung.

Was die Polen anbetrifft, so möchten sie lieber der chinesischen als der sowjetischen Linie folgen. Die Chinesen, dieses alte Kulturvolk, sind ihnen weit sympathischer als die barbarischen Sowjets. Freundschaft mit China wurde schon zur Stalinzeit von der polnischen öffentlichen Meinung warm begrüßt. Diese freundschaftlichen Gefühle zu China sind durch den Schutz, den es im Oktober 1956 den Polen gewährt hat, sehr verstärkt worden. Dies mag der Völkerpsychologie entsprechen, daß die Nachbarn unserer Nachbarn unsere Freunde sind. • eutschre in Polen, Es werden ihrer immer weniger. Deutsche Schulen werden geschlossen mit der Begründung, daß die Mindestzahl deutscher Schüler nicht mehr erreicht werde oder es an deutschen Lehrern fehle. Es sind so wenig Pastoren dageblieben, daß z. B. in einem mir bekannten Fall der Amtsbezirk des evangelischen Pastors von Tolkemit bis über Köslin hinaus reicht. Manchmal wird dieser Herr weit in die Tiefe des Landes gebeten, weil sonst eben niemand da ist, der den ersehnten Trost spenden könnte. Oft wird der Gemeindedienst von Frauen versehen. In Masuren kannte ich im Kreise Sensburg einen polnischen Pastor augsburgisch-evangelischer Konfession, der es trotz besten Willens nicht fertig brachte, in ein rechtes Vertrauensverhältnis zu seinen masurischen Pfarrkindern zu kommen. Er klagte, die Masuren seien vor allem in den ersten Jahren unter polnischer Herrschaft so schlecht von einer dummen und rohen Verwaltung behandelt worden — oben war gewiß guter Wille vorhanden —, daß sie auch Pastoren gegenüber, wenn diese polnisch waren, traumatisch empfanden. Ich war vor einigen Jahren auf einem evangelischen Begräbnis, bei dem der deutschstämmige ey. Pastor eine schöne und lange Ansprache in polnischer Sprache hielt. Das nicht kleine Trauergefolge verstand von der Rede kaum ein Wort. In deutscher Sprache predigen war (ist?) nur im gedeckten Raum gestattet.

So fehlt den deutschen Menschen dort das Wort Gottes, und ich bin überzeugt, daß viele schon um des religiösen Trostes willen nach Westdeutschland ziehen. Im übrigen kann man sagen, daß, wenn einmal ein Gewebe — auch ein soziales — rissig wird, es dann überall reißt. So ist es auch mit der deutschen Gemeinschaft in Polen; es entstand dort eine Psychose, daß den letzten die Hunde beißen.

Gewiß, es ist für Menschen, die in Zucht und Ordnung ausgewachsen sind, keine eitle Freude, unter kommunistischem Regime zu leben. Dies und die attraktive Wirkung, welche von dem bundesrepublikanischen Wirtschaftswunderland und zugleich Wohlfahrtsstaat ausstrahlt, vermag die angeborene Heimatliebe der Ostdeutschen zu überwinden. Aus der Idee einer humanen Zusammenführung getrennter Familien hat sich Fluchtaktion entwickelt, wie wir sie ähnlich schon einmal 1919 in den im Versailler Friedensvertrag Polen zugesprochenen Teile von Westpreußen, Posen und Oberschlesien besonders bei der städtischen Bevölkerung erlebt haben. Aus der historischen Gegebenheit eines Zusammenlebens mit der deutschen Nation ist durch Hitlers idiotische Politik und Krieg-führung im gesamten Ostraum Europas eine strikte Scheidung der Nationen entstanden nach dem Prinzip: „cuis regio eins natio“ Dies Prinzip hat sich aus dem einst schicksalsschweren Grundsatz: „cuius regio eius religio“ entwickelt, nachdem der Nationalismus Gestalt und Dynamik einer Religion angenommen hatte.

Es mag den Anschein haben, als wäre der Exodus der deutschen Bevölkerung aus den unter polnischer Verwaltung stehenden Gebieten Ostdeutschlands ein Gewinn für Polen, weil er Tatsachen schafft, die einer primitiven staatsphilosophischen Dialektik entsprechen. In Wirklichkeit ist diese Entvölkerung ein Verlust für Polen, da sie eine in hohem Maße arbeitsfähige und -willige Volksgruppe betrifft. Jahrhunderte lang sind deutsche Kolonisten nach Polen geströmt, um die wirtschaftliche Entwicklung dieses Landes zu fördern. In einer Zeit, wo alles darauf ankommt, die Industrialisierung des Landes zu beschleunigen, soll es anders sein? Dies ist Zeitgeschichte durch ein umgekehrtes Fernglas gesehen und ist nur mit sowjetischer Gebietsstrategie zu erklären. Es ist ein Verlust nicht nur für Polen, sondern auch für Europa, eine bittere Frucht totalitären Denkens.

Emigration. In Polen unterscheidet man zwei Arten von Emigration: eine „alte“ (wirtschaftliche) und eine „neue“ (politische). Diese ist eine Folge des letzten Krieges, und in ihr befinden sich alle die Personen, die der Krieg bzw.der Kommunismus aus dem Vaterlande hinausgetrieben hat. Während des Krieges hat in London eine polnische Exilregierung amtiert, die als oberstes Ziel die Fortsetzung des Kampfes der Polen gegen Hitlerdeutschland zu betreiben hatte und als weitere Aufgabe Zusammenfassung und Betreuung der in der weiten Welt zerstreuten Volksgenossen. Dies ist im großen und ganzen auch gelungen, dank auch einem natürlichen Streben zu nationaler Einheit, das eine prägnante Eigenschaft des polnischen Volkes ist. AIs besondere Ruhmes-blätter der exil-polnischen Streitkräfte sind zu nennen der Anteil der polnischen Jagdfliegerdivisionen an der Luftschlacht über England im September 1940, den die Briten so gern verschweigen, und die letztliche Erstürmung der deutschen Stellungen auf dem Monte Cassino Aus solchen Kämpfen im Westen sowie dem Kampf der polnischen Untergrundarmee (Armia Krajowa — abgekürzt A. K.) im Warschauer Aufstand gegen die Deutschen vom 1. 8. 1944 hat die Glorie polnischen Soldatentums neuen Glanz erhalten. Diese bemühte sich ein vaterland-loses Regime in Polen zu verdunkeln, — kein Hohn und Schmutz war ihm in dieser Beziehung zu gering. Dafür wurden die Taten der sowjetisch geformten polnischen Divisionen unter sowjetischer Führung über den grünen Klee gelobt. Der Jahrestag der Schlacht bei Lenine, wo rotpolnische Truppen zum ersten Mal mit den Deutschen in Kampf-berührung traten, wurde stets groß gefeiert. Bei der Jugend, die national empfand — und dies war immer die ganze polnische Jugend —, hatten die Feiern der roten Helden stets den. entgegengesetzten propagandistischen Erfolg von dem beabsichtigten. Als Gomulka an die Macht kam, gab er die Bahn frei für eine historisch richtige Darstellung der Verdienste der bisher verpönten Helden. Das Kriegsministerium gab 1957 sogar die großartige Reportage von Melchior Wankowicz über die Schlacht von Monte Cassino heraus, die im Westen 1947 erschienen war. In Polen wurde sie allerdings nur in sehr kleiner Auflage verlegt und nicht ohne beträchtliche Streichungen bezüglich der Leistung des polnischen Ober-befehlshabers in dieser Schlacht, General Anders. Der bleibt auch für das Gomulka-Regime das schwarze Schaf.

Die alte Emigration, besonders die in LISA, wird vom Regime heiß umworben, und es werden ihr jegliche Erleichterungen für einen Besuch der alten Heimat angeboten. Der scharfe Kurs gegenüber der politischen Emigration hat sich seit Gomulka um einiges besänftigt. Man beklagt in nationalen wie in kommunistischen Kreisen Polens die bei der exilpolnischen Jugend in Erscheinung tretende Entnationalisierung. Lim ihr entgegenzuwirken, wird in großem Maße ein Bücherexport betrieben. Völkische Tanz-und Singensembles begeben sich zu Zentren der alten und neuen Emigration nach Frankreich und Großbritannien, teams vortrefflicher polnischer Schauspieler entzücken dort polnische Menschen, können sie aber nicht bewegen, zurückzukehren; denn wach sind die Angst vor dem Regime und der feste Wille, die Freiheit nicht zu opfern. Nur alte Leute kehren zurück, die in heimatlichem Boden ausruhn wollen von des Lebens Wanderschaft. r reiheitsempfinden. Abgesehen von einer kurzen Zeitspanne von zwanzig Jahren (1918— 1939) sind die Polen seit über 185 Jahren — d. h.seit dem Jahre 1772 — staatlich unfrei. Deutsche, die an eine lange Knechtschaft der Sowjetzone nicht glauben wollen, mögen dies bedenken. Die Jahresdaten 1794, 1831, 1848, 1863, 1944 enthalten historische Vorgänge, in denen das polnische Volk mit jeweils tragischem Ausgang versucht hat, seine politische Unabhängigkeit dem fremden Machthaber abzuringen. Es ist gutpolnische Tradition, daß in jeder Familie die Freiheitslieder genau so andächtig gesungen werden wie die schönen Weihnachtslieder. Das populärste unter ihnen ist die unvergängliche Mazurka: „Noch ist Polen nicht verloren“, die Nationalhymne. Unter diesen Liedern gibt es solche von vor 125 Jahren, aus der Zeit der Polenlieder, von Deutschen in Wort und Ton gesetzt. Damals hat Richard Wagner seine große Konzertouvertüre „Polonia" geschaffen.

Es ist charakteristisch, daß die Polen selbst in den aussichtslosesten Zeiten, als alles verloren schien, ihren Glauben an die Unverlierbarkeit ihres Vaterlandes nicht aufgegeben haben. Er ist heute genau so lebendig wie eh und entspringt einem vitalen Empfinden völkischen Daseins. Man kann es auch Nationalbewußtsein nennen; dieses Wort hat nach den nationalen Paroxysmen in Deutschland, Italien und anderswo in den letzten Jahrzehnten einen schlechten Klang bekommen. Das polnische Nationalbewußtsein hat seine tiefen Wurzeln nicht so im politischen als vielmehr in kulturellem Boden, in wieder und immer wieder neuem Erleben der Werke der polnischen Romantiker mit Adam Mickiewicz und Fryderyk Chopin an der Spitze. Sie gewähren den durchschnittlichen Polen geradezu religiöse Erlebnisse. Von hier aus zieht die Vorliebe für Poesie weite Kreise. Im Jahre 1957 erschienen in zwei Bänden sämtliche Gedichte der kurz vor dem Kriege verstorbenen Dichterin Pawlikowska-Jasnerzewska in einer großen Auflage; sie waren in kürzester Zeit vergriffen. Poesie ist in Polen durchaus volkstümlich.

Die Deutschen, die heute in ähnlich tragischer Gebietsteilung leben, wie die Polen von 1772 bis 1918, lieben es in ihrer Publizistik — soweit sie die Möglichkeit haben, sich frei zu äußern — über die Freiheit zu philosophieren, besonders den Begriff der Freiheit mit dem der Demokratie zu konfrontieren. Dafür verwenden die Polen kaum Zeit und Papier. Der Begriff der Freiheit und Demokratie ist in Polen seit Adam Mickiewiz und den übrigen Romantikern, also seit über 100 Jahren, endgültig konzipiert und schöpferisch dargestellt. Der Geist von Mickiewicz ist eine große Leuchte im Dunkel dieser Welt; den deutschen Demokraten seiner und späterer Zeit war dieser Geist wohlbekannt und hat sie inspiriert. Dann hat ihn die Politik Bismarcks abgeschaltet, und mit der Kenntnis der polnischen universalistischen Poesie ging den Deutschen auch der Konnex mit dem polnischen Volke als lebendigem Wesen verloren. Heute ist es für die Deutschen ein unbekanntes Volk in Europa. Die Gelehrten betrachten es durch ihre Mikroskope, aber sonst weiß man nur noch, wie es sich räuspert und wie es spuckt.

Und trotzdem, die Lage ist nicht hoffnungslos. Es hat sich gerade in Deutschland, dem traditionellen Mittler geistiger Werte in der Welt, eine geistige Elite gefunden, welche sich zur Aufgabe gemacht hat, Adam Mickiewicz, den größten Dichter polnischer Sprache, dem deutschen Volke, dem „Volke der Dichter und Denker", (wieder) bekannt zu machen und ihn zu ehren. Letzteres ist auch geschehen, als des Dichters hundertstes Todesjahr (195 5) von der UNESCO zum Mickiewicz-Jahr erklärt wurde.

Es wäre ein weiteres Verdienst gegenüber dem Europäischen Gedanken, wenn sich Leute fänden, die auf populärer Stufe die Kenntnis des polnischen Nachbars in Deutschland fördern wollten. Es lohnt sich in jeder Beziehung.

Gomulka. Thucydides sagte von den griechischen Frauen, diejenige sei die beste, von der man am wenigsten spreche. Beim Staatsmann dürfte es umgekehrt sein. Je mehr er im Blickpunkt der Allgemeinheit steht, um so wirksamer kann er handeln. Graue Eminenzen sind nicht beliebt. Danach zu urteilen, müßte Gomulkas Wirksamkeit sehr weit reichen; sie tut es auch, aber leider nur innerhalb seines Landes; denn zwischen ihm und der Welt stehen die sowjetischen Divisionen. Manchmal versucht er, sich etwas Luft zu verschaffen, wie einer, der im stickigen Raum sich mit den Fingern zwischen Hals und engem Kragen herum-fährt, aber leider versteht die Welt seine Geste nicht und sieht in jedem seiner Vorschläge ein trojanisches Pferd, aus dessen Äpfelwurföffnung der böse Chruschtschow herausschaut.

Man sagt, das einzige, was sich in Polen seit Oktober 1956 geändert hätte wäre — Gomulka. Wenn es bei seinem ursprünglichen politischen Kurs geblieben wäre, hätten sich viele gute Polen mit sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten, die ein reformierter Kommunismus bringen kann, vielleicht abgefunden. Die Kursänderung vom Herbst 1957 in Richtung Orthodoxie und Dogmatismus war für das ganze Volk natürlich eine große Enttäuschung. Trotzdem war die vox populi dafür, die Kommunalwahlen vom Januar 195 8 nicht zu boykottieren, wie verbitterte Menschen es vorschlugen, da man glaubte, Gomulka ein Vertrauensvotum geben zu müssen, um ihm den Rücken zu stärken gegenüber dem Kreml.

Ein Plakat aus der Zeit der Parlamentswahlen vom Januar 1957 zeigt in Großaufnahme Gomulka inmitten seiner nächsten Mitarbeiter. Auffallend ist da sein ausgesprochener Langkopf inmitten von Rund-und Kurzköpfen und sein offener, nichtamtlicher Gesichtsausdruck. Er macht kein Gesicht, — er hat eins. Gesicht machen war eine Eigenschaft Bieruts, was ihm gewiß bei der Schulung zum Podesta von Polen in Moskau beigebracht worden war. Er ließ sich, genau so gerne wie der lakritzenhafte Adolf Hitler, mit kleinen Kindern und Rehkitzen photographieren. Gomulka gibt kaum etwas auf Äußerlichkeiten. Zu einer Zeit, da Bierut wohlversorgt sich in der Sowjetunion für seine künftige Agententätigkeit präparierte, stand Gomulka mit seinen Leuten im Kampf gegen das bürgerliche Polen und dann in der Untergrundbewegung im gemeinsamen Kampf gegen den deutschen Okkupanten. Nach dem Kriege Parteisekretär unter der Präsidentschaft Bieruts, war er vor allem polonophil und dann erst sowjetophil; als er in der Folgezeit sich einem Moskauer Befehl zur Bildung einer polnischen „SED“ widersetzte, verschwand er von der politischen Bildfläche zusammen mit Gen. Spychalski und anderen Gesinnungsfreunden der polnischen Richtung und lebte in Haft. Es ist das Verdienst von Bierut und Berman, der die oberste Kontrolle über Sicherheitsdienst und Kultur hatte (feine Zusammenstellung!), daß sie im Gefängnis nicht umkamen bzw. kein Schauprozeß arrangiert wurde, von dem immer wieder gemunkelt wurde. Im Frühjahr 19 56 wurde die Gomulka-Fraktion dem öffentlichen Leben nach dem VII. Parteikongreß wieder zurückgegeben, auf dem Chruschtschow Edward Ochab zum Nachfolger Bieruts bestimmt hatte. Ochab war es, der unter dem Druck der öffentlichen Meinung und seines eigenen Gewissens Gomulka und dessen Leute im Parteileben reaktivierte.

Man darf annehmen, daß der Aufstand der Posener Arbeiter im Juni 1956 nicht ausgebrochen wäre, wenn Gomulka schon damals politisch engagiert gewesen wäre; die Arbeiterschaft sah in dem gefangenen Gomulka eine Art von Gotteszeugen für ihre Sache — vielleicht hat dies ihn vor der Gewaltjustiz beschützt? — und hatte unbedingtes Vertrauen zu ihm. Die auffallend milde Behandlung der Aufständischen durch die Gerichte in Posen und dann Niederschlagung der Verfahren ist gewiß seiner damals noch inoffiziellen Rückkehr zum politischen Leben zu verdanken. Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. H umane Denkungsart. Diese hat die Polen stets ausgezeichnet. Dabei soll gar nicht geleugnet werden, daß die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie mit Humanität nichts zu tun hat. Diese Gebiete sind ein sowjetisches Danaergeschenk für Polen, das u. a. dazu dienen soll, den Hader zwischen den beiden Völkern zu verewigen nach dem Grundsatz „divide et impera — teile und herrsche“. —

Die ganze polnische Geschichte beweist, daß in Polen der Mensch stets vor die Sache gestellt wurde, und die alte Adelsrepublik ist ja schließlich auch daran zugrunde gegangen, daß sie keinen absolutistischen Herrscher hervorbringen konnte, der den Personalismus in Polen überwunden und mit harter Gewalt den Staat durch die politischen Fährnisse gesteuert hätte. Härte besaß in Polen die Kirche, wenn es galt, erworbene Rechte zu verteidigen, aber sonst? Die Inquisition spielte keine Rolle, und Hexenverbrennungen kamen unvergleichlich seltener vor, als in anderen Ländern. —

Im Dritten Reich konnte man lesen (der Spruch war sogar recht häufig zu finden): „Deutsdt sein, heißt eine Sache um ihrer selbst willen tnn.“ Diesen Spruch würde der Pole niemals akzeptieren. Die deutsche Sachlichkeit in Verbindung mit hervorragendem Organisationstalent hat viele bedeutende Kulturwerte geschaffen, andererseits auch die schrecklichsten Ergebnisse im Leben der Völker gezeitigt. Es ist die seelische Verfassung des LIhrwerks, welche das Vernichtungswerk des Dritten Reiches hat so lückenlos arbeiten und zugleich durch seine Blindheit die dümmsten Fehler in der Behandlung anderer Völker begehen lassen. Der von Mensch zu Mensch denkende Pole erkennt ganz klar die Problematik des jetzigen deutsch-polnischen Verhältnisses, aber eine unabhängige Meinung darüber kann er nur im privaten Zirkel äußern. Er muß warten, bis er wieder eine Stimme in politischen Angelegenheiten haben darf. Er hofft mit Hiob 12, 23: „Gott macht etliche zum großen Volk und bringt sie wieder um. Er breitet ein Volk aus und treibt es wieder weg.“

I ntelligenz ist eine Gottesgabe. Der liebe Gott ist damit bei den Polen nicht gerade geizig gewesen. In Verbindung mit der Liebe zu wirtschaft-licher Freiheit hat sich im Nachkriegspolen ein Kampf zwischen der Intelligenz des kleinen Mannes und der mit allen Wassern sowjetischer Durchtriebenheit gewaschenen Intelligenz einer lieblosen Finanzbürokratie ergeben. Diese , arbeitet mit den im Osten erprobten Methoden wirtschaftlicher Expropriation, durch welche die meisten selbständigen Existenzen vernichtet und Hartgesottene in den wirtschaftlichen Unter-gründ getrieben wurden bzw. werden. Zu letzteren, gehören z. B. diejenigen, die in den Städten des untervölkerten Schlesien einst köstliche, heute elend zerfallende Denkmäler europäischer Baukunst auseinander-nehmen und deren gesäuberte Ziegeln für gutes Geld in der Hauptstadt und anderswo verkaufen. —

Wie bestehende Vorschriften zu eigenem Nutzen gebraucht werden, davon ein Beispiel: Zwecks Unterbindung des Fremdenverkehrs war vom Finanzministerium ein Zloty einem Schweizer Franken gleichgesetzt worden. Die Gebühren im internationalen Verkehr des Weltpostvereins waren somit für das Publikum in Polen lächerlich gering. So kostete ein Wort in Telegrammen nach Westdeutschland nur 3 8 Groschen. Es gab nun Leute, die sich billig ein Devisenkonto im Ausland mit „harter“ Valuta anlegten. Man schickte an eine Vertrauensperson in der Bundesrepublik oder England ein Telegramm mit bezahlter Rückantwort (RP) für 100 oder auch mehr Worte. Der Empfänger ging verabredungsgemäß zu seinem Postamt, erklärte seinen Verzicht auf Antwort und ließ sich gegen Rückgabe des Scheins den entsprechenden Betrag in D-Mark oder Schilling auszahlen. — Eine Bekannte, die nach Österreich ausreisen durfte, kaufte sich in Polen eine Eisenbahnrundreisefahrkarte für Österreich, verzichtete dort auf die Rundreise und erhielt 600, — ö. Schilling als Gegenwert ausgezahlt.

Ich glaube nicht, daß die Leute in der Ostzone auf solche Ideen verfallen. Dort ist die Obrigkeit immer als von Gott eingesetzt geachtet worden — sowohl die spitzbärtige als auch die tausendjährige —, aber auch in Polen war dies der Fall in den 20 Jahren der Freiheit gewesen. Man hat sie damals geehrt und ist folgsam gewesen. Aber in den hundert und X Jahren der Unfreiheit doch nicht, und am wenigsten bei der am wenigsten gebändigten Bevölkerung von Warschau und Kongreßpolen, wo die mißachteten Russen geherrscht hatten. Wenn so ein Trick oben geschilderter Art bekannt wird, dann kann man mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß er in der Hauptstadt ersonnen wurde. Dort auch ist die wirtschaftliche Unterwelt besonders raffiniert. —

Als nach der stalinschen Eiszeit Tauwetter eintrat, versuchten viele, die früher im Geschäftsleben gestanden hatten, wieder das Leben eines ehrlichen Kaufmannes oder Handwerkers zu beginnen. Die Obrigkeit gab Lizenzen aus und regte sogar dazu an. Wenn dann so einer seinen Laden aufmachte, konnte er zusehen, woher er die Ware oder Material zum Verarbeiten bekam. So geschah es, daß Waren von diesen Leuten zu regulären Preisen in staatlichen Läden gekauft und zu höheren (wenn es sich um Mangelware handelte, sogar zu erheblich höheren) an die Kundschaft weitergegeben wurden. Manchmal mit kleinen Verbesserungen. Außerdem bestand immer in größeren Städten ein freier Markt mit Waren aus Paketsendungen vom westlichen Ausland. Die Regierung hat verschiedentlich versucht, mit Polizeirazzien und ähnlichen Mitteln Ordnung zu schaffen. Meistens hat sie bei solchen Aktionen auch das Publikum gegen sich.

Viele von den neu Anfangenden bauten sich, oft mit gemeinsamen Kräften, Pavillons für Verkaufsläden oder/und Werkstatt, manche auch Einfamilienhäuser. Aber im Herbst 1957 fing man behördlicherseits an, die Wirtschaftsschraube wieder fester anzuziehen. Der Zeitpunkt fällt ungefähr mit den Konferenzen der Parteidelegierten des sozialistischen Blocks in Moskau zusammen, da das Warschauer Regime strikter an die Moskauer Linie herangezogen wurde. Die Geschäftsleute wurden also auf Herz und Nieren geprüft, woher sie zu ihren neuen Anfängen das Geld hätten, erhielten zusätzliche „Steuereinschätzungen“ nach bewährter Art oder befanden sich auch in Untersuchungshaft. So wurden Leute, die ehrlich was verdienen wollten, zum Teil wieder in den Untergrund gedrängt.

J ugendverbände gab es vor dem letzten Kriege in Polen eine ganze Anzahl. Die Hauptrolle spielte der Pfadfinderverband, daneben gab es Verbände katholischer Jugend, bäuerlicher, sozialistischer, jüdischer sowie den linksradikalen kommunistisch gelenkten Bund „Walka Mlodych" — „Kampf der Jugend“, zu dem z. B.der heute repräsentative Schriftsteller Jerzy Pustrament gehört hatte.

All diese Verbände wurden zu Anfang des Krieges von den deutschen bzw. sowjetischen Okkupanten zerschlagen und gingen in den Untergrund. Im Aufstand des Warschauer jüdischen Ghetto wurde der jüdische Jugendverband vernichtet, im Aufstand vom 1. 8. 1944 zahlte die polnische Jugend von Warschau einen fürchterlichen Blutzoll. Buben und Mädchen waren schon ab 8 Jahren als Meldegänger verwandt worden, ältere Jugend fiel mit der Waffe in der Hand oder im Sanitätsdienst.

Nach dem Kriege wurde die nationale Landesarmee (Armia Krajowa abgek. AK) und mit ihr der Pfadfinderverband vom System als republik-feindliche, kapitalistische Organisation verfolgt. „Walka Mlodych" wurde unverzüglich reaktiviert und ging in der Folgezeit bald in den kommunistischen Bund Polnischer Jugend (Z. M. P.) über, der mit außergewöhnlichen Privilegien ausgestattet wurde und die Vorstufe für eine Parteianwartschaft bilden sollte. Auf der untersten Stufe, also der Mittel-oder Hochschule, hatte er „Selbstverwaltung". Dann gab es noch Kreis-, Wojewodschaftsund Zentralverwaltungen, die von Apparatschiks bedient wurden. — Für die Grundschulen gab und gibt es noch die „Roten Pioniere", gleicherweise geleitet. Es waren immer nicht sehr viele, die dem Z. M. P.freiwillig betraten. Manche mußten mit Rücksicht auf die Eltern, andere, um Stipendien oder Freistellen in Schulinternaten zu erhalten. Die Vorstände des Z. M. P. hatten in schulischen Angelegenheiten ein gewichtiges Wort mitzusprechen, hatten außerdem für den entsprechenden Enthusiasmus bei diesbezüglichen Gelegenheiten zu sorgen. Die Wirkung all dieser Avancen war eine Schädigung der Schulmoral und Degenerierung des den Gründern des Z. M. P. vorschwebenden Gedankens der Selbsterziehung der Jugend zum idealen Kommunismus.

So kam es, daß der Z. M. P. bei der Schuljugend, welche zum System grundsätzlich negativ eingestellt ist, auf immer größere Ablehnung stieß. Schließlich wurde der Z. M. P., um ein Wort Martin Luthers zu gebrauchen, ein Sack voller Gerüche. Als das „Tauwetter“ eintrat, verfiel der Z. M. P.der völligen Verwesung, nachdem er schon vorher eines moralischen Todes gestorben war. Er wurde aufgelöst und gleich durch zwei Bünde ersetzt: den sozialistischen Z. M. S. und den bäuerlichen Z. M. Ch. Letzterer ist mir weniger bekannt, beide erscheinen als ziemlich schemenhafte Gebilde ohne innere attraktive Kraft. Der sozialistische Jugendbund Z. M. S. besteht kaum ein Jahr. Seine Generalsekretäre wechseln auffallend häufig. Zuerst war es Genossin Rappaport, dann kam im Dezember 1957 Gerard Skok und im Juni 1958 Wieslaw Adamski. Dieser war bisher stellvertretender Vorsitzer des Obersten Rates des Polnischen Studentenverbandes (Z. S. P.) gewesen. —

Der Polnische Studentenverband ist die wirklich repräsentative Vereinigung der polnischen akademischen Jugend. Obwohl seine Präsidien in der Zentrale und an den Universitäten, Akademien bzw. Technischen Hochschulen nicht selten Rücksicht nehmen müssen auf die Direktiven der Partei, welche ihn auf alle mögliche Weise beherrschen möchte, so setzt sich in ihm gesundes Fühlen, jugendliches Temperament und Intelligenz letzten Endes irgendwie immer wieder zu einer inneren Unabhängigkeit des Urteils und der Ziele durch. —

Der 1956 reaktivierte Pfadfinderverband schoß sogleich sehr stark in Halm und Korn, da er einem inneren Bedürfnis der polnischen Jugend entspricht. Ihm stehen die idealistischen Vorkriegs-Führer mit ihren erzieherischen guten Erfahrungen zur Verfügung. Straffe moralische und verbandliche Disziplin und die Glorie, die den Verband seit dem War-schauer Aufstand von 1944 umwebt, ziehen die Jugend jeglichen Alters an. Der Verband bemüht sich um absolute politische Neutralität, ohne die er sich nicht halten könnte, aber es scheint, daß das Regime gewillt ist, seinen bürgerlich konstruktiven Tendenzen einige Bremsen anzulegen.

Katholizismus und/oder Kommunismus? Der Kommunismus hat zwei Seiten, eine formale und eine essentielle; die formale beinhaltet die Wertordnung der kommunistischen „Religion“, das System der dogmatischen Sätze, das eschatologische Bild von der zukünftigen Gesellschaft und die Regeln, welche sie herbeiführen sollen. Dieses Bild ist extrem optimistisch (wie in jeder Heilslehre), aber die Methoden, welche die zukünftige Gesellschaft gestalten sollen, sind extrem pessimistisch. Sie besagen, — Feodor Dostojewski hat in seinem Roman „Die Dämonen“ diese kommende Religion vor ca. 90 Jahren vorausgesagt —, daß die Menschen ihre Persönlichkeit aufzugeben haben, um bei unbegrenztem Gehorsam durch eine Reihe von Wandlungen die ursprüngliche Unschuld wiederzuerlangen: „also etwa wie das verlorene Paradies, obwohl sie int übrigen auch zu arbeiten haben werden", sagt der Autor (II. Teil, 7. Kap.). In der Offenbarung Johannis schwört der Engel, daß es keine Zeit mehr geben werde. Dasselbe tun die Kommunistischen Apostel, die sich nicht vorstellen können, was historisch dann kommt, wenn ihre paradiesischen Vorstellungen mal Wirklichkeit geworden sein werden.

Die essentielle Seite des Kommunismus ist das Empfinden des Menschen, ob die Erfüllung der formalen Seite möglich ist, — und das Maß des Glaubens daran. In Polen steht dem kommunistischen Glauben der christliche gegenüber. Fast 90 Prozent der Bevölkerung sind katholisch, und zwar nicht nur dem Namen nach. Sie eignen sich nicht dazu, richtige Kommunisten zu werden. Man braucht am Sonntag nur in die Kirchen zu gehen, um sich davon zu überzeugen. Gewiß schließen manche Leute mit dem Kommunismus Kompromisse „zwecks besseren Fortkommens“ und stellen gemäß einem polnischen Sprichwort dem lieben Gott ein Lichtlein auf und auch dem Teufel einen Lichtstumpf. Eine nette Anekdote erzählte man sich in dieser Beziehung anläßlich des Besuches der belgischen Königin-Großmutter gelegentlich der Chopin-Feier 195 5 in Warschau. Ihr assistierte überall der Präsident der Chopin-Gesellschaft Jaroslav Iwaszkiewicz, verdienter Friedenskämpfer, Globetrotter und feudaler Gourmant auf Staatskosten, Schriftsteller, Aushängeschild und Nutznießer des Kommunismus. Als die hohe Frau in seiner Begleitung in der HL Kreuzkirche, wo Chopins Herz aufbewahrt wird, die hl. Messe gehört hatte, war sie etwas betroffen von ihres Begleiters etwas steifem Benehmen. Beim Verlassen des Gotteshauses soll sie ihn, gemäß dieser Anekdote, gefragt haben: „Vous etes catholique, Monsieur?“ — „Oui, Majeste, ntais seulewent croyant, — non praticant“, war die Antwort.

„Ah, peut-etre vous etes comnuniste?“, meinte die Königin „Seulement praticant, — non croyant, Madame *).“

So non vero, ben trovato (Wenn’s nicht wahr ist, ist's gut erfunden).

Aber hier ein Beispiel aus dem Leben: In einer mir bekannten Mittelschule ist ein Schuldiener angestellt, der aus dem Arbeiterstand hervorgegangen ist. Eines Tages fragte er mich, ein ordentlicher, verständiger Mann, Parteimitglied, ob ich nicht in die Partei eintreten möchte. Wörtlich sagte er: „Sie sind ein gebildeter Mensch und denken sozial. Als Parteimitglied könnten Sie vielen Menschen helfen.“ Ich erwiderte darauf: „Wollen Sie denn, ich soll mein Seelenheil verlieren, indem ich des Teufels Werk tue?“ — „O Jej, Pani, spredten Sie nicht so", rief er, „ich bin doch auch Katholik! Gehe jeden Sonntag zur Kirche. Oft zum Hochamt.“ — „Ja“, sagte ich, „aber die Kirche verlangt, daß ein Christ nicl-it diejenigen stärke, die Christus bekämpfen und Gottes Dasein leugnen.“ — „Daran habe ich noch nicht gedacht; Sie haben mir wirklich Angst gemadu“, war seine schließliche Antwort. — Ein Lehrer an derselben Mittelschule, ein lieber, hilfsbereiter Mensch, war auch Parteimitglied. Ich hatte ihn zusammen mit seiner Familie in der Fronleichnamsprozession bemerkt, mitten in der riesigen geballten Menge, die hinter dem Allerheiligsten daherschritt. Am nächsten Tage sagte ich zu ihm: „Sie sind mir ja ein feiner Kommunist! Ich habe Sie gestern in der Prozession gesehn“. „Ja“, sagte er, „das lasse ich mir nidit nehmen. Dann sollen Sie midt aus der Partei rausschmeißen, wenns ihnen nicht paßt. Außerdem habe ich genug Krach zu Hause, weil idt nidtt jeden Sonntag zur Kirche gehe“. Diese Gespräche fanden zur „Eiszeit" statt, als eine Entfernung aus der Partei gefährlich war.

Männer sind in Polen dem Kommunismus gegenüber toleranter als Frauen. Lind diese haben die Erziehung der Kinder in der Hand. Besonders die weibliche Jugend betonte stets ostentativ ihre positive Einstellung zur Religion. Als, etwa 1951, das Klassengebet vor der ersten Unterrichtsstunde abgeschafft wurde, betraten die Lehrer meist ein klein wenig später die Klasse, damit die Schüler selbst das Vaterunser beten konnten. Als auch dies verboten wurde, gingen die Schüler vor der Schule noch auf ein paar Augenblicke in die Kirche. Das religiöse Lied nach der letzten Stunde hat sich in den meisten Schulen die ganze „Eiszeit“ über gehalten; die Jugend machte dann noch recht breit die Klassenfenster auf, damit die Leute auf der Straße es auch hörten. Die Schulleitung scheute sich im allgemeinen, durch allzu strikte Durchführung von Verboten in der Jugend Fanatismus zu erregen. Ähnlich war es mit dem Kampf um den Platz des Kruzifixes in der Klasse bzw. im akademischen Hörsaal, und ähnlich stand es um den Kampf um die königliche Krone, deren die Kommunisten den weißen Adler im polnischen Wappen beraubt hatten. Jetzt sind diese Kindereien vorüber; die Kinder sind Sieger geblieben und das gegenwärtige System kann in diesen kleinlichen Reibereien keinen Sinn erblicken. Es hat andere Sorgen. Es hat nämlich den Religionsunterricht konzessioniert, Waffenstillstand mit der Kirche geschlossen, ohne die militanten Ziele einer Vergottlosung des Volkes aufzugeben. Das Volk benutzte nun die neue Freiheit, die zwischen Kirchenleitung und Regierung ausgehandelt worden war, um die Regierung vor gewisse vollendete Tatsachen zu stellen. Unbeliebte, des Atheismus bezichtigte Lehrer wurden auf Schubkarren zum Dorfe hinausbefördert. Man hatte es ja in den Zeitungen gelesen, wie es die Arbeiter mit unbeliebten Farbikdirektoren machten. Am meisten kriegerisch waren da die Bauersfrauen eingestellt. Die Darwin-Engelssche Evolutionstheorie erachteten sie als persönliche Beleidigung: Adam und Eva waren keine Affen. Das gleiche dachten die Mütter in Kleinbürgertum und Arbeiterschaft, deren Kindern die materialistische Entwicklungslehre beigebracht wurde.

Der arme Lehrer war dabei oft ganz unschuldig, manche Lehrer an Mittelschulen gaben ihr Biologiefach auf und beschränkten sich auf andere Fächer, weil sie das Programm der Biologie mit ihrem katholischen Gewissen nicht vereinen konnten. Aber was sollte der arme Landschullehrer oder seine Kollegin machen, die da nicht in der Lage waren auszuweichen? Gott mehr zu gehorchen als der Partei konnte er nicht riskieren ohne aus seinem Amt zu fliegen, also machte er sich unbeliebt, denn mit dem Glaubenseifer gibt es keine Kompromisse. Übrigens gab es gar nicht so viele Zusammenstöße mit der Lehrerschaft, als es zweckbewußt von der Presse aufgebracht wurde. Auch hielt sich die Beteiligung von Geistlichen daran in den Grenzen sporadischer Fälle, aber dies genügte dem etwas windschiefen „Verein polnischer Freidenker und Atheisten“, sich in Erinnerung zu bringen und laut zu beklagen ob der Verfolgung freisinniger Menschen in Polen. Nun gibt es da auch viele, die nichts dagegen haben, daß der Mensch vom Affen abstamme, aber die Liaison des Atheisten-und Freidenkervereins mit der Partei hält sie ab, sich mit ihm einzulassen. So dürfte er sein Retorten-Dasein wohl weiterführen, ohne größere soziale Bedeutung.

Der Partei diente die Aufregung dazu, der Kirche gegenüber mal auf die Pauke zu schlagen. Die Konzessionen, die jene dieser gemacht hatte, taten ihr schon wieder leid. Ein Gespräch eines evangelischen Theologen aus der Ostzone mit einem katholischen Polen führt sehr schnell zu der Erkenntnis, daß die Impulse in Polen und in der Ostzone parallel gehen: bekämpft wird die stärkere Kirche unter den christlichen Gemeinschaften.

Die katholische Kirche in Polen erhebt auf Grund ihres Lehramtes den Anspruch auf die Gestaltung des Welt-und Lebensbildes des Menschen. Den gleichen Anspruch erhebt die KP aus ihrer von Lenin begründeten Mission, einen neuen Menschen zu bilden. Gomulka scheint nun bestrebt zu sein, zwischen beiden Ansprüchen klare Grenzlinien zu ziehen, und verlangt für den Kaiser, was seiner Überzeugung nach des Kaisers ist, nämlich die schulische Bildung des Menschen. So sollte man, um den wachsenden Konflikt zwischen Kirche und Partei gut zu verstehen, beachten, was der erste Sekretär des ZK der polnischen KP auf der Landeskonferenz der Schulaktive gesagt hat (Express Wieczorny Nr. 231 vom 26. September 1958): „Die fortsdirittlidien Traditionen der Lehrersdiaft sind deren große Kraft, sie stärken die sozial-politisdie Haltung der Lekrersdtaft, was neuen Ausdruck gefunden hat in dem Kampf um Sickerung eines fort-sckrittlicken weltlidten Charakters unserer Schule, u. a. in der Durdt-führung der Verordnung des Bildungsministeriums in Sachen der Entfernung religiöser Embleme aus den Schulen.

Die Verfassung von Volkspolen hat die Kirdte vom Staate getrennt. Das heißt, der Staat mischt sich nidit in die inneren Angelegenheiten der Kirche und gestattet gleidtermaßen nicht, daß die Kirdte sich in die Angelegenheiten des Staates mische.

Es ist klar, daß ebenso auf die kirchliche Hierarchie wie auf die Geist-lidikeit aller Stufen wie auch auf die Gesamtheit der Bürger in ein-heitlidter Weise eine Rechtsordnung Anwendung zu finden hat, weldte von den dazu berufenen Staatsbehörden eingerichtet worden ist. Eine vom Staat getrennte Kirche kann somit nicht Staat im Staate sein.

Die Schule gehört dem Staate und nicht der Kirdte, sie ist eine Staatssdiule. Das heißt, der einzige Wirt der Schule ist der Staat. Nur dieser ist befugt, Verordnungen zu erlassen, die die Schule betreffen. Der staatliche Sdtulapparat hat die Pflicht, diese auszuführen.

Infolge der Trennung der Kirche vom Staat, und auch in Überein-stimmung mit dem sozialistisdten Wesen unserer gesellschaftlichen Verfassung und in Übereinstimmung mit dem Zeitgeist, in dem wir leben, besitzt unsere Sdtule einen weltlichen und nicht bekenntnismäßigen Charakter. Von Staats wegen vollführt die Funktionen eines Hausherrn in der Sdmle der Lehrer, der Schulleiter und nicht der Religionslehrer. Der Lehrer soll auch der moralisch-geistige Leiter und Führer der Schuljugend sein.

Der Staat hat nicht die Absicht sich dem Vertrag zu entziehen, den er mit der Kirche abgeschlossen hat. Religionsstunden in den Schulen können als außerhalb der Schulpflicht befindlich stattfinden neben dem verpflichtenden Stundenplan.

Ganz anders verhält es sich mit den religiösen Emblemen und Praktiken. In dem Vertrag zwisd^en Staat und Kirche vom Dezember 1956 und audt in keinem andern solchen ist ein Aufhängen von religiösen Emblemen in den Sdiulen, sind gemeinsame Gebete von Seiten der Sdiüler oder Vollbringung gemeinsamer religiöser Praktiken der Jugend unter den Auspizien der Schule erwähnt. Das Episkopat hat auch von den staatlichen Behörden niemals verlangt, daß sie dazu ihr Einverständnis geben sollten. Es war sich nämlich wohl bewußt, daß dies ein Ver-zidit auf den weltlichen Charakter der Sdtule und eine Beilegung eines bekenntnismäßigen Charakters bedeuten würde, was — dies ist dodt klar — der Staat niemals zulassen kann.

Was die Kirche auf legale Weise nicht erreichen konnte, versuchte sie mit anderen Methoden zu tun. Durdt das Episkopat inspiriert, haben viele Geistlidte, sei es persönlidi, sei es durdt Gläubige, an den Wanden der Klassenzimmer verschiedene religiöse Embleme aufgehängt, und viele Religionslehrer haben angefangen, gemeinsame Gebete von Schülern einzuführen, nidit nur in den Religionsstunden, sondern auch allgemein vor oder nach dem Unterridtt.

Die staatlidten Behörden haben wiederholt an das Episkopat die Forderung gestellt, solche religiösen Praktiken in den Schulen zu unterlassen, jedodt ohne Erfolg. Das Episkopat hat Reibungen mit der staatlichen Macht gesudtt und provoziert, und nicht nur auf schulischem Gebiet.

In dieser Situation mußten entsprechende Verordnungen erlassen werden, um die Tätigkeit der Kirche in den ihr gebührenden Rahmen zu weisen.

Die Verordnung der Staatsbehörden betr. die Beseitigung der religiösen Embleme in den Sdiulen hat bei der Geistlichkeit eine ungleidie Aufnahme gefunden. Idi kenne zahlreiche positive Beurteilungen dessen durdr Geistliche auf verschiedenen Stufen der kirchlidien Hierardtie als eines Aktes, der keinen Widersprudt hervorrufen kann. Aber wir kennen audi nidit wenige Fälle heimlicher Inspirationen und offener Aufrufe durdt Geistlidte, diesen Verordnungen sidt entgegenzustellen. Hier und da sind diese Appelle nicht ohne Wirkung geblieben. Es ist bei uns nicht schwer, fanatisierte Betsdiwestern und Menschen von mittelalter-lidten Anschauungen zu finden. Gestützt auf solche Elemente startete eine Aktion gegen die Verordnung des Bildungsministeriums. Nur in wenigen Fällen hat diese Aktion die normale Schularbeit vorübergehend gestört. Mit aller Entschiedenheit müssen die Proben gerügt werden, die normale Schularbeit zu stören und man muß ihnen mit Nacltdrud^ entgegentreten. Niemand — und am wenigsten diejenigen, die an die Gewalt appellieren, den Lehrern gegenüber Drohungen ausstoßen und sie zur Nichtbefolgung der staatlichen Anordnungen zu zwingen versudten, können auf Nachsidit oder Straffreiheit redtnen. Das Angesicht der Schule und der Inhalt des Unterrichts wird einzig von den staatlichen Behörden bestimmt. Das Volk in unserem Lande weiß, daß die Gläubigen volle Glaubensfreiheit und religiöse Praktiken garantiert erhalten haben. Keinerlei Diskriminierung erfahren sie von Seiten der Staatsbehörden. Der Volksstaat teilt seine Bürger nicht in Gläubige und Ungläubige. Der basisdte Maßstab des Wertes eines Bürgers ist seine Arbeit für das Land, sein realer Einsatz für unsern Aufbau, seine Mühe im Dienste der Gesellsdtaft. Die entsdäedene Mehrheit des Volkes, darin auch die Mehrheit der Gläubigen, versteht sehr wohl, daß ein solcher Standpunkt der riditige ist und unterstützt ihn.

Wir sudten keinen Krieg mit der Kirdre. Mehr als genug Beweise haben wir dafür geliefert. Aber wir werden es nidit zulassen, daß ein bestimmter Teil der kirchlidien Hierardrie und Geistlidtkeit, die unter dem Einßuß von dem Volkspolen feindlidten Vatikankreisen verbleibt und Ziele verfolgt, welche nichts gemeinsames haben mit der religiösen A^ission der Kirche, die Redusordnung und die politisdt-soziale Verfassung unseres Landes untergräbt. Mit diesem Standpunkt wird sidi zweifellos der dem Staate gegenüber loyal gesinnte Teil der kirdtlichen Hierarchie und der Geistlidtkeit einverstanden erklären. Dieser Standpunkt ßndet die Unterstützung der gesamten Volksgemeinschaft. Nicht einverstanden können da sein nur kranke, fanatisierte Köpfe, die von einer mittelalterlichen Oberherrschaft der Kirdte über den Staat träumen. Aber dies sind Träume abgehad? ter Köpfe. Die Zeit kann nidtt zurück-und die Gesdtidtte nicht aufgehalten werden.“

Ich konnte es mir nidit versagen, den die Kirche betreffenden Teil der Rede Gomulkas wörtlich wiederzugeben — in extenso. Bei aller Klarheit seiner Forderungen gibt es da eine Verdrehung der Tatsachen: nicht die Geistlichkeit, sondern die Schuljugend will die Kreuze in den Klassenzimmern und die gemeinsamen Gebete der Schüler vor und nach dem Unterricht. Es ist charakteristisch, daß der erste Sekretär des ZK der Geistlichkeit nichts weiter vorwerfen kann. Nach einer Pause von ca. eineinhalb Jahren hat also der Kulturkampf zwischen Partei und Schuljugend wieder begonnen. Daß der Klerus gegen die Kreuze und die Schulgebete nichts einzuwenden hat, ist klar. Die Lehrerschaft geht innerlich mit der Jugend mit; es gibt unter ihr aber auch genug Liebe-diener, die Karriere machen möchten. Sie werden die Klassenwände vielleicht mit dem Vergrößerungsglas absuchen, ob dort an der Stelle, wo bisher das Kruzifix gehangen hat, nicht ein ganz kleines in den Wandbewurf eingeritzt ist. Wer will gegen die Jugend aufkommen?

Landwirtschaft. Ein jeder halbwegs verständige Mensch weiß, daß die Landwirtschaft die Aufgabe hat, der Bevölkerung des Landes das Maximum an Ernährung zu liefern, welches sich aus dem landwirtschaftlich genutzten Boden herausholen läßt. Allgemein wird es dann auch so gehalten in der Volkswirtschaft, daß die agrarischen Betriebe sich aus ihrem Einkommen selber erhalten. Seitdem in Polen, gemäß dem kommunistischen Jargon, „Volkswirtschaft“ nicht mehr „ekonomia", sondern „ekonomika“ heißt, ist es da anders geworden. In demselben Lande, welches vor dem Kriege ein erhebliches Deviseneinkommen aus dem Export landwirtschaftlicher Produkte besaß, war in den Nachkriegsjahren für die gesamten Staatsgüter ein planmäßiger Zuschuß von 12 Milliarden Zloty jährlich vorgesehen. Dazu wurde Getreide eingeführt, so z. B. vor zwei Jahren 200 000 t Weizen aus der Türkei, die yor dem Kriege an einen Export überhaupt nicht denken konnte.

Charakteristisch für das mechanistische Denken der superklugen kommunistischen Welterneuerer ist, daß in Polen das landwirtschaftliche Rechnungsjahr nicht, wie in unseren klimatischen Zonen üblich, mit dem 1. Juli, sondern mit dem 1. Januar begann. Erst im Jahre 1957 wurde auf Grund eines Beschlusses der neu ins Leben gerufenen Kommission für Volkswirtschaft beim Ministerrat — ihr gehören die bedeutendsten Nationalökonomen Polens ohne Rücksicht auf politische Zugehörigkeit an — verfügt, daß das landwirtschaftliche Rechnungsjahr zusammen mit dem Wirtschaftsjahr am 1. Juli zu beginnen habe, und die Defizitwirtschaft wurde aufgehoben: jede normale (ohne Spezial-aufgaben) Staatsgutverwaltung soll sich finanziell aus ihrem Einkommen erhalten. Da aber zu solcher Finanzierung qualifizierte Landwirte gehören und man solche zum großen Teil mit Schimpf und Schande weggejagt hat (es gab auch Todesurteile mit Vollstreckung), um sie durch self-made-genii aus sozialer Beförderung zu ersetzen, wird man die Verjagten, soweit noch erhältlich, wohl oder übel wieder zurückrufen müssen. Da hat man z. B. in Altfelde bei Marienburg (Westpreußen) ein wissenschaftliches Institut zwecks rationeller Bebauung der herunter-gewirtschafteten Marienburger und Danziger Niederungen geschaffen. Es arbeitet schon mehrere Jahre, die Ergebnisse sind jedoch allzu dürftig. Die Mennoniten, die seit Jahrhunderten die Niederungen mit so hervorragendem Erfolg hochgebracht und bewirtschaftet haben, waren keine Wissenschaftler, nur einfache, arbeitsame Bauern. — Die liberale Behandlung der Bauern Polens seit 1956 gestattet ihnen, ihrer natürlichen Intelligenz entsprechend zu wirtschaften. Als es den Mitgliedern der Produktionsgenossenschaften überlassen worden war, ob sie die Genossenschaften fortsetzen wollten oder nicht, flogen 80°/» derselben auf und ihr Gemeineigentum verwandelt sich in Individualeigentum. Seitdem haben sich schon zahlreiche neue landwirtschaftliche Genossenschaften gebildet, aber unter neuen Voraussetzungen, ohne die wahnsinnige Belastung mit einem überzogenen Verwaltungsapparat und auf Vertrauensbasis. Bei zersplittertem Kleinbesitz, wie er in Polen so sehr häufig vorkommt, ist eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft sogar kein schlechtes Geschäft. Der Pole ist der geborene Bauer. Von einer von dogmatischen Eingriffen freien Landwirtschaft kann man dort gute Erfolge erwarten. Dies scheint auch die Überzeugung des jetzigen Regimes zu sein, aber es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem roten Nadibarn nicht gefällt. Dies ist die Hauptgefahr für die Landwirtschaft in Polen.

M ELS. Nun mal etwas Heiteres. Wissen Sie, was Mels ist? M-E-L-S !

Nein. Sie leben ja im Westen. Im Osten ist es ein internationales Wort, allerdings werden Sie es in keinem Wörterbuch auffinden. Es gehört zur Sprache der politischen Auguren, einer Art Interessentensprache.

Denken Sie sich z. B. A sagt zu B: „Idi fürchte, mein gestriges Referat hat zu wenig Eindruck gemadit. Genosse Vorsitzender und Genosse Parteisekretär waren augensdieinlich unzufrieden, und ich hatte mir dodt mit dem Elaborat so viel Mühe gemadit." Darauf B: „]a, lieber Kollege, Sie haben da eben zu wenig Mels hineingenommen. Ohne Mels werden Sie trotz besten Willens in den Ruf eines lauen Aktivisten kommen."

Was ist nun dieses „MELS“? Es bedeutet einfach die Abkürzung für die Namen Marx, Engels, Lenin, Stalin. In einem ordentlichen Vortrag muß es von diesen Namen nur so wimmeln. Sie bildeten, besonders in der Stalinschen „Eiszeit“, so etwas wie das „Ome padme hum“ der lamaistischen Tibetaner, die diese Worte zur Stärkung der Seele ständig wiederholen. Es hat doch die kommunistische Theologie und ihre rhetorischen Formen so außerordentlich vieles mit den starren liturgischen Formen des Lamaismus gemeinsam.

Eine Einschränkung für den Gebrauch des MELS in Polen muß ich doch machen. Da wird im allgemeinen jetzt nur noch ein MEL gebraucht. Das S ist abgeflogen, kommt bestenfalls nur noch zur Hintertür herein, denn man braucht manchmal wohl die Gedanken Stalins, beschwört ihn aber nicht mehr. Vielen Kommunisten in Polen wäre es nur recht, wenn das L auch noch abfliegen möchte. Nationalsozialismus steht im polnischen Dasein auf einer Karte verzeichnet, die noch lange mit Schrecken und Empörung gefüllt sein wird. Der nazistische Völkermord in Polen, die Ausrottung der Intelligenz und der Juden, das sind die Themen, die in Westdeutschland noch zu wenig ins Bewußtsein getreten sind, sonst würde Polen, das Opfer des Nazismus und Kommunismus zugleich, doch mehr Interesse und Sympathie erwecken. Bei der Saturiertheit des vom Wirtschaftswunder strotzenden deutschen Volksteiles ist es vielleicht gar nicht zu erwarten, vom Standpunkt der Psychologie gesehen. Die Polen tragen den Deutschen die Untaten der Nazis nicht nach. Ich ersehe dies schon daraus, daß auf den Denkmälern, die über den außerordentlich zahlreichen Massengräbern der Nazimorde in Polen errichtet worden sind, ich nirgends gelesen habe, daß die diesbezüglichen Opfer von den „Niemey" (den Deutschen) ermordet worden sind, sondern stets von den „Hitlerowey".

Ich nehme sogar an, daß die Polen bereit wären, den nazistischen Völkermord zum Zwecke moralischer Amortisation auf ein Sonderkonto zu übertragen, wenn — ja, wenn die Nationalsozialisten im Nachkriegsdeutschland den demokratischen Vorstellungen von der Verantwortung entsprechend behandelt würden. Aber dies ist nach polnischer Auffassung keineswegs der Fall. In westdeutschen Zeitungen liest der Pole, daß in der Sowjetzone prominente Nazis die höchsten Stellen in Zivil und Militär bekleiden, auch weiß jeder in Polen, daß die Naziuniform in der zonalen Wehrmacht weitergetragen wird. (Im Februar 1957 wurden deswegen in Warschau zonale Offiziere in Uniform auf einem Platz tätlich belästigt und wurden schleunigst den Blik-

ken der erregten Menge entzogen.) In den Zonenblättern liest man dagegen, wie in der Bundesrepublik die Nazis gehätschelt werden. Die westdeutschen Oppositionsblätter weisen auf die zahlreichen Fälle hin, in denen ausgesprochene Bösewichte für Verdienste, die sie ihrem geliebten Führer geleistet haben, prachtvolle Pensionen beziehen, wogegen Opfer des Nationalsozialismus — mit Ausnahme der deutschen Juden — allzu oft Not leiden müssen.

Diese Bildwirkung aus der deutschen Presse könnte durchaus korrigiert werden, wenn sich die Bundesregierung entschließen könnte, den polnischen Opfern des Nationalsozialisums, ähnlich wie den Juden, wenn auch nicht in notwendig gleichem Ausmaße, eine Entschädigung zukommen zu lassen. Die Zonenregierung wird sich, trotz aller »Freundschaft", zu solch einer Geste nie bereitfinden, aber schließlich weiß man in Polen auch, daß sie sich nicht als strictu senso deutsche Regierung erachtet und in diesem Sinne auch jede Rechtsnachfolge und Kontinuität in völkerrechtlicher Hinsicht ablehnt. Dies entspricht konsequenterweise ihrem Charakter eines Agenten.

Dies ist vielleicht auch der Grund, warum Adenauer als Regierungschef sich in Polen der Autorität erfreut, die dem Sprecher eines großen Volkes zusteht. Außerdem ist er dort populär wegen seiner standhaften Haltung gegenüber Moskau. Die Propaganda, die von Moskau kommt, ist natürlich bestrebt, den Polen vor den westdeutschen Teutonen Angst zu machen und erinnert immer wieder an den tausendjährigen Sündenfall des 3. Reiches und versucht zu überzeugen, daß im Adenauerdeutschland von einer restlosen aufrichtigen Abkehr vom Nationalsozialismus nicht die Rede sein könne.

Gebranntes Kind scheut das Feuer. Die polnische öffentliche Meinung hatte das Recht, zum mindesten desorientiert zu sein; trotzdem leitet sie ein Instinkt zu Westdeutschland. Es wird der westdeutschen Regierung angelegen sein müssen, diesen malgre tout-Sympathien entgegen-zukommen. Außerdem sollte die öffentliche Meinung in Deutschland diese Situation erkennen. Leider sind in dieser Beziehung nur ganz bescheidene Anzeichen bemerkbar. Öffentliche Meinung. In politischen Angelegenheiten muß in Polen die öffentliche Meinung von der offiziellen unterschieden werden. Was Sie in den Zeitungen und Blättern lesen, braucht noch lange keine öffentliche Meinung zu sein und ist es auch meistens nicht. Meistens ist es eine von der Partei dirigierte Meinung. Die wahre öffentliche Meinung präsentiert sich in den Gesprächen und Stimmungen des breiten Publikum, eine typische vox populi. Wir müssen schon auf diesen etwas zerknitterten Begriff zurückgreifen. „Zerknittert“ sage ich deshalb, weil im Westen die öffentliche Meinung zu einem großen Teil in den Redaktionsstuben gebraut wird, in Polen haben die Publizisten auf die vox populi wenig Einfluß, weil sie (mit Ausnahme der Satiriker) publikumsfremd sind. Dort aber, wo die Redaktion ihr „Ohr am Busen des Volkes hat“ und der allgemeinen Stimmung Ausdruck verleiht, wird eine Zeitung schnell populär. So war es mit der studentischen Wochenschrift „Po Prostu", die in sehr kurzer Zeit eine Auflage von 200 000 erreichte. Sie wurde im Sommer 1957 verboten, obwohl ihr Hauptredakteur Lassota Gomulkas erfolgreicher Schrittmacher gewesen ist. Das seinen Händen entrissene Banner der jungen kommunistischen Generation hat das Gremium der literarischen Wochenschrift „Nowa Kultura" ergriffen; sie hatte im Jahre 195 5 Adam Wazyks berühmtes „Poema für Erwachsene" mit der herben Kritik am Sozialismus veröffentlicht. Da väterliche Ermahnungen von Seiten der Partei nichts nützten, wurde „Nowa Kultura“, das Blatt mit dem amtlichen Kopf „Proletarier aller Länder" usw., unlängst unter Kontrolle gestellt.

Ihr neuer Chefredakteur wurde der Minister für die Hochschulen, Zolkiewski, ein energischer, trockener Intellektueller vom rechten Partei-

flügel.

Von katholischer Seite steht der allgemeinen Stimmung nahe die Wochenschrift für allgemeine politische und kulturelle Fragen „Tygod-nik Powszechny", in deren Redaktion gleich drei Sejmabgeordnete sitzen: der freie Schriftsteller Zawieyski, der Sozialpolitiker Dr. Stomma und der Feuerkopf Stefan Kisielewski. Es ist das einzige representative Blatt der Katholiken in Polen, dem Kardinal Wyszynski nahestehend, und von Kardinal Fürst Sapieha, Erzbischof von Krakau, 1945 gegründet. Es ist nicht zu verwechseln mit der ähnlich lautenden Tageszeitung „Slowo Powszechne". Diese gehört zum Boleslaw Piazecki-Konzern, welcher dazu noch die Wochenschrift „Kierunki (Richtungen) herausgibt, einen Verlag Katholischer Bücher besitzt (hierin geradezu eine Monopolstellung innehält — „PAX-Verlag"), in fast jeder Stadt unter der Firma „Veritas“ eine Buch-und Devotionalienhandlung unterhält und einige industrielle Unternehmen, wie die chemische Fabrik „Inco" u. a. m. betreibt. Der Umsatz dieses Konzerns beträgt gegen 3, 5 Milliarden Zloty jährlich. Sein Chef war vor dem Kriege Anführer einer rechtsradikalen chauvinistischen (Studenten-) Organisation, deren Mitglieder gegen Juden, Sozialisten und deren Freunde mit Rasierklingen, Knüppeln, ätzenden Flüssigkeiten und „patriotischen Schlagworten einen „heiligen“ Krieg geführt haben. Dieser Chef, Boleslaw Piasecki, wird in Polen als ein Hauptagent des sowjetischen Geheimdienstes angesehen. Im Oktober 1956 trat er in seinem Blatt „Slowo Powszechne“ mit einem feierlichen Protest gegen den Gomulka-UmSturz hervor und prophezeite, daß dieser eine schreckliche Reaktion von Seiten des Kreml hervorrufen werde. Diese ist tatsächlich eingetreten — aber in LIngarn. Polen ist damals von den Chinesen beschützt worden.

In Polen erscheinen Jetzt etwa 1 000 verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Wie „Zycie Warszawy", das Blatt der Intellektuellen der KP, vom 22. 5. 5 8 berichtet, befinden sich darunter 47 Tageszeitungen, 80 Bezirks-und 185 Betriebszeitungen. Dazu treten: 50 verschiedene sozialpolitische, 70 Kultur-und Kunstzeitschriften, 9 5 wissenschaftliche Organe, 18 Gewerkschaftsblätter und etwa 50 Jugendzeitschriften und schließlich 25 Sportzeitungen. Die durchschnittliche Gesamtauflage aller Blätter betrug im März 195 8 -18 103 000 Exemplare mit steigender Tendenz. Der Verkauf ausländischer Presseorgane in Polen einerseits und der Versand polnischer ins Ausland andererseits ist seit 19 56 um 100 Prozent gewachsen. Gegenwärtig sind in Polen 9 125 ausländische Organe erhältlich, darunter 233 Tageszeitungen'und 8 892 Zeitschriften aus 50 verschiedenen Ländern. Der bedeutendste Abnehmer polnischer Presseerzeugnisse ist die Sowjetunion. Von den deutschsprachigen Tageszeitungen gibt es in jeder Großstadt, allerdings in recht bescheidener Anzahl, die „Neue Zürcher Zeitung“, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und die „Welt“; von anderssprachigen: „N. Y. Herald Tribune“, „N. Y. Times“, „The Times“, „The Manchester Guardian“, „Le Monde“. Der Fächer der Zeitungstitel des Ostblocks reicht von Berlin-Pankow bis Peking.

In politischer Hinsicht steht in allen Tageszeitungen Polens dasselbe: einzig „Zycle Warszawy", das Blatt für Intellektuelle, erlaubt sich manchmal Ansichten in eigner Verarbeitung zu liefern, ohne befürchten zu müssen, daß es mißverstanden wird. Zeitschriften werden gedruckt schon für vierjährige „Leser“. Der Pole und besonders die polnische Jugend ist recht lesefreudig; es interessieren vor allem Lokalnachrichten und sportliche Ereignisse. Zur Kenntnisnahme von wichtigen Auslands-nachrichten dient das Radio — und von wichtigen innerpolitischen Ereignissen die „Pantoffelpost“ (von Ohr zu Ohr). r olnischer Volkscharakter. Um ein Volk, ein Land, ein Reich zu zertrümmern, braucht man nicht gerade ein Dutzend Wasserstoffbomben darauf zu werfen. Es genügt dazu auch eine Rassentheorie. Eine solche hat, wie wir's erlebt haben, nicht nur Deutschland in Stücke gerissen, sondern gleicherweise den ganzen Europäischen Kontinent. Als Hitler zusammen mit Freund Stalin die vierte Teilung Polens unternahm, hat er sich in seinerVerblendung nicht vorgestellt, daß die Konsequenz der eiserne Vorhang an der Elbe sein wird. Hier tritt also eine deutsch-polnische Schicksalsverbundenheit in Erscheinung, über die die Deutschen sich mal erst klar werden müssen, wenn sie über polnische Fragen nachdenken.

Anfang Februar 1933 lernte ich Mrs. Betty Thompson kennen, die damalige Gattin Sinclair Lewis', Korrespondentin namhafter nordamerikanischer Presseagenturen in Berlin. Sie hatte im November 1932 auf dem Obersalzberg ein Interview mit Hitler gehabt, welches in der gesamten USA-Presse erschien. Als eigene Wahrnehmung hatte sie ihrem Bericht folgende Bemerkung beigefügt: „Wenn Sie midi fragen, welchen persönliden Eindruck ich von Hitler davongetragen habe, so muß ich ehrlich sagen, — ich hatte das Bewußtsein, bei diesem Gespräch es mit einem Geisteskranken zu tun zu haben.“ Dieses Urteil erboste die Nazis dermaßen, daß Mrs. Thompson nach der Machtübernahme aus Deutschland sofort ausgewiesen wurde. Sie bereiste daraufhin die Tschechoslowakei und kam auch nach Polen, wo ich Gelegenheit hatte, sie zu begleiten. Ich fragte sie, ob oben zitierte Bemerkung aufrichtig gemeint war oder eine journalistische Bosheit darstellte. „Nein“, erklärte sie fest, „es ist meine tieftste Überzeugung, daß dieser Mensch geisteskrank (lumatic) Und Sie werden sehen“, fügte sie hinzu, „daß er das ganze Deutsche Volk geisteskrank machen wird.“ — Ich meinte darauf, dies sei für Polen, als Nachbarvolk, keine rosige Aussicht, worauf sie erwiderte, die Polen würden sich sehr, sehr klug verhalten müssen, um den daraus resultierenden Gefahren zu begegnen.

Nun, man kann sagen, daß die Polen sich nicht sehr klug verhalten haben. Ihre leitenden Politiker, meist aus kleinbürgerlichen Verhältnissen arrivierte Obersten, waren meist unbedeutende Größen, die da glaubten, daß, wenn zwei dasselbe täten, es dasselbe wäre, und sich bemühten dem siegestrunkenen Hitler und dem Popanz Mussolini nachzueifern. Und Pilsudski selbst, obwohl von beträchtlichem Format, war ein vä-banque-Spieler. Aber vom polnischen Volk — mit Ausnahme weniger, zu denen u. a. auch der schon vorher erwähnte Bandenführer Boleslav Piasecki und ähnliche Elemente gehörten, — kann man sagen, daß es sein geistiges Gleichgewicht nicht verloren hat. Die „Eroberung“ des Teschener und Olsalandes während der tschechoslowakischen Krise durch Rydz-Smigly und Minister Beck hat im Lande Empörung und heftige Kritik hervorgerufen als eine niederträchtige Handlung. Dies ist vielleicht auch dem Umstand zu verdanken, daß die Polen vorwiegend ein Bauernvolk sind, und das Land keine ausgesprochene Großstadtbevölkerung hatte, in welcher die Massenpsyche für Demagogie empfänglicher ist und zu heftigen Reaktionen neigt.

Ich glaube nicht, daß es heute anders ist. Zwar haben die Kommunisten ca. zwei Millionen Menschen im Lande, teilweise sinnlos, in die Städte getrieben, und sich selbst dadurch arge Verlegenheit bereitet, aber die neuen Industriearbeiter und Intellektuellen sind mit dem Lande, mit dem Dorfe mit tausendfältigen Fäden verbunden, meist in der ersten Generation von ihm entfernt. Die wirtschaftlichen Reformen, die das Gomulka-Regime eingeführt hat, haben die Wirtschaft, aber auch das Selbstbewußtsein der Bauernschaft gehoben. Wenn dies in der Politik auch vielleicht weniger bedeutsam ins Gewicht fällt angesichts der Majorisierung durch die KP, so hat dies doch in bezug auf die Beibehaltung eines bäuerlichen, nicht aggressiven Charakters der polnischen Bevölkerung keinen geringen Einfluß. Ein guter Bauer ist auch zweifellos ein schlechter Kommunist. Die denken nicht so unrecht, die da hoffen, daß die einstige Adelsrepublik Polen sich in eine Bauernrepublrk Polen wandeln wird. Daß die feudale Wirtschafts-und Sozialordnung, die in Polen noch tief bis in das XX. Jahrhundert gedauert hat, in dieser oder anderer Art noch einmal zurückkehren wird, daran glaubt in Polen kein Mensch.

Zeit seiner Geschichte bis 1918 ist Polen keine seefahrende Nation gewesen. Auf einmal, wie Aphrodite aus dem Meerschaum, entstand eine polnische Flotte von Handels-und Kriegsschiffen mit polnischen Besatzungen, die in Krieg und Frieden trefflich ihren Mann gestanden haben. Dies ist ein Beispiel dafür, daß in diesem Volke noch manches drin steckt, was die Welt nicht weiß. Dank ihrer Intelligenz und ihrer Kultur sind die Polen keine schlechten Partner, man muß nur den Weg zu ihnen finden. Darum bemüht sich Herr Chruschtschow, — bisher vergeblich.

Revisionismus bedeutet in der sozialistischen Terminologie Verzicht auf revolutionären Umsturz und besagt Einbau der Gesellschaft in den Zukunftsstaat — im Entwicklungswege. Da die Kommunisten als totalitäre Partei einen gesellschaftlichen Prozeß überhaupt nicht als historisch konstruktiv anerkennen, soweit nicht Knochen zerschlagen werden und Ströme menschlichen Blutes fließen, erscheint ihnen der Revisionismus als eine grundgemeine Demoralisierung, durch die sich der Mensch „innerlich in einen garstigen, feigen, selbstischen Schmutz-leim“ verwandelt. Revisionismus erscheint den Kommunisten schon deshalb als gefährlich, weil er einen Verzicht auf die von ihnen verlangte Aufgabe der Persönlichkeit voraussetzt. Lenins Lebenskampf galt der Bekämpfung des Revisionismus.

Polen sind geborene Individualisten, nichts ist ihnen verhaßter als Konformität. Sofort, als das „Tauwetter“ sich bemerkbar machte, regte der Individualismus sich in dem studentischen und literarischen Blätterwald. Der entschieden bedeutendste Kopf unter seinen Mitarbeitern war (ist) der Dozent für Philosophie an der Warschauer LIniversität Leszek Kolakowski. Dieser junge Kommunist fordert die Entmythologisierung des Sozialismus, verwirft politische Dogmen, soweit sie einer streng dialektischen Analyse nicht standhalten und vertritt das Prinzip wissenschaftlicher Voraussetzungslosigkeit. Überkommene Begriffe und Thesen des Sozialismus müßten seiner Ansicht nach von Zeit zu Zeit überprüft werden, ob sie — stets im Rahmen einer Diktatur des Proletariats — in den gegebenen Umständen des Saekulum der Forderung sozialer Gerechtigkeit noch entsprechen. Die Behauptung der kommunistischen Propaganda, der Kommunismus sei eine wissenschaftliche Weltanschauung, möchte Kolakowski mit den tatsächlichen Gegebenheiten in Einklang bringen. Die kommunistische Führung ist aber nicht bereit, sich in ihre „wissenschaftlichen“ Karten blicken oder etwas von der Philosophie her adjustieren zu lassen, und so wurde der Warschauer Dozent von der Moskauer Redaktion der „Woprosy Filosofji" der revisionistischen Verderbnis beschuldigt und dann auch von anderen Instanzen. Während der Ostberliner Philosoph Prof. Wolfgang Harich, welcher gleichlaufende Untersuchungen führte, seit einiger Zeit für mehrere Jahre im Gefängnis sitzt, hält sich Kolakowski dank einem Stipendium zu Studienzwecken in Holland auf. — Revisionismus ist schon alles — nach parteipolitischen Praktiken —, was mit der Parteilinie als liberal nicht vereinbar ist. Er wird auch in Polen scharf bekämpft, aber weniger mit Gewalt als mit Wort und Schrift. Augenscheinlich geht man von der Ansicht aus, daß Pankowsche Methoden nicht die Bewegung selbst, sondern ihre Äußerungen unterbinden, und der Revisionismus dadurch in eine Unterströmung gedrängt wird. Der Leiter des Parteiausschusses für Propaganda und Agitation (Propagit) im Warschauer ZK meinte auf der Sitzung seiner Presse-kommission vom 5. 5. 1958 — dieser Kampf müsse „durch die Kraft des Arbeiterstaates und inittels seines Monopols für Propagandaiuitter gewonnen werden. „Eng beieinander wohnen die Gedanken, — hart im Raume stoßen sich die Sachen.“ So ist der Versuch, ein literarisch-agitatorisches Zentrum für die Bekämpfung des Revisionismus innerhalb der Redaktion von „Trybuna Literacka", einer Sonntagsbeilage des Zentralorgans der Partei „Trybuna Ludu“, zu bilden, ohne Erfolg geblieben. In der exilpolnischen Pariser „Kultura" (Juliheft 1958) vermutet man, daß man in Warschau versuchen werde, mit den einzelnen Schriftstellern gesondert zu verhandeln, um ihnen mit Zuckerbrot und Drohung die Neigung zum Revisionismus auszutreiben.

Es heißt auch, daß in Polen Ausreisegenehmigungen für Schriftsteller weniger leicht zu haben wären als vorher, um den Kontakt mit den großen Geistern der politischen Emigration zu erschweren. Aber, so meint die „Kultura“, es besitzen viele Intellektuelle und Schriftsteller in Polen weniger Hinneigung zur äußeren Emigration im Westen als zur „inneren“ Emigration in Polen, womit der Passivismus gegenüber parteilichen Ideen gemeint ist. Denn die Polen, fährt „Kultura“ fort, seien ein Bauernvolk, welches das Ausharren im Weichselland als eine Tugend erachtet, die alle anderen erübrigt. Revisionisten im r e a 1 e n Sinn seien nicht allein eine Gruppe Warschauer Intellektueller, sondern desgleichen Zehntausende von Arbeitern, Intelligenzlern im Dienstverhältnis und sonstigen Intellektuellen im ganzen Lande, die die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Reform des „polnischen Weges zum Sozialismus“ empfänden.

Soz-Realismus als Ausdruck begegnet dem Leser von Kulturblättern des Ostblocks recht häufig. Zumeist weiß er nicht, was er sich darunter eigentlich vorstellen soll. Es ist dies eine von dem verstorbenen Shdanow, Mitglied des ZK der sowjetischen KP, vorgeschlagene und vom ZK angeordnete, damit das gesamte sowjetische Einflußgebiet verpflichtende Kunstrichtung. Mit anderen Worten: künstlerische Schöpfungen werden von der Politik aus, nicht von der Ästhetik her geleitet und beurteilt. Die Verwandtschaft dieses Standpunktes mit dem nationalsozialistischen über „entartete Kunst“ ist offensichtlich.

Der Soz-Realismus ist also ein Realismus, wie ihn die kommunistische Obrigkeit sieht und wie er der totalitären Auffassung von den Bereichen der Kommandogewalt auf dem Gebiete des Geistes entspricht. Es soll eine für die Kommunisten wesentliche „Wahrheit“ damit in die Welt gestellt werden, — nämlich die „Wahrheit“ von der bolschewistischen Existenz in der Ästhetik. Dabei kommt es weniger auf künstlerische innere Wahrheit an als auf die sogenannte „soziale Bestellung“, welche gemäß der sowjetischen „als-ob“ -Philosophie arroganterweise einem wirklichen geistigen Bedürfnis gleichgesetzt wird. Dieses „Bedürfnis“ wird also von der Obrigkeit bestimmt. Dies Verfahren erinnert an Görings berühmtes Wort: „Wer arisch ist, bestimme ich!“

In der Malerei verpflichtet der Soz-Realismus den Künstler auf die Tradition der im Rußland des XIX. Jahrhundert so beliebten Genre-Malerei,welche in der Zeit einer noch nicht entwickelten Fotografik bemüht war, das Alltagsleben des Volkes anschaulich und leicht verständlich darzustellen. Diese Darstellung zielte auf eine im zaristisch-nationalen Sinne hervorgerufene Ergriffenheit des russkij t s c h el o w -j e k (des russischen Menschen) hin; der heutige Soz-Realismus zielt auf die Gewinnung desselben Menschen für das Heldentum im Dienste der Sowjetunion. Dieser primitive Öldruck-Verismus, in Öl, Kreide oder Bronce ausgeführt, wird auf andere Kunstgattungen transponiert und verpestet auch Architektur und Literatur. Hier konnte man natürlich die Talente der großen literarischen Periode nicht nachmachen, ja, man lehnte solche, wie z. B. Feodor Dostojewski, lange Zeit hindurch sogar ab. Man unterscheidet russische und sowjetische Literatur. Letztere darf sich in der Sphäre der Mittelmäßigkeit halten, sofern sie nur im heldischen Tenor verbleibt. Dort, wo das Produkt an die großen Russen heranreicht, wie z. B. Scholochows „Stiller Don“ oder Pasternaks „Dr. Shivago“, erregt die Darstellung die Unzufriedenheit der Kremlgewaltigen

Nun ist es interessant, den inneren Motiven dieses platten Verismus nachzugehen und ihn in größerem Zusammenhang zu sehen. Da möchte ich zunächst auf den in Deutschland merkwürdigerweise wenig beachteten Roman von Feodor Dostojewski „Die Dämonen“ hinweisen. Ein deutscher Verlag hat erst letztens eine schöne zwölfbändige Ausgabe von Dostojewskis ausgewählten Werken herausgebracht und das hier erwähnte Werk gerade ausgelassen. „Die Dämonen“, geschrieben in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, sind geradezu eine Fundgrube von Ideen der Bolschewisten. Es ist direkt erschütternd zu lesen, wie der damals schon konservativ und zaristisch gesinnte Verfasser die geistige Essenz der Revolutionäre (er nannte sie auch Nihilisten) durch schaut hat; wir erkennen in ihnen mit Leichtigkeit die späteren Lenin-

Stalinschen Bolschewiki.

Dostojewski läßt einen dieser „Idealisten“, die da die zukünftige russische Gesellschaft erschaffen wollen, über deren Institutionen folgendermaßen sprechen: "... Wie es geht? Leicltter kann man es sich gar nicht vorstellen. Ich will Sie jetzt ein bischen erheitern: das erste, was geradezu furchtbar wirkt, ist eine Uniform. Es gibt kein stärkeres Zugmittel als das. Ich ersinne absichtliclt Titel und Ämter, ich habe da Sekretäre, geheime Kund-schafter, Kassierer, Vorsitzende, Registratoren, ihre Gehilfen, und das alles gefällt ihnen sehr gut und gedeiht ganz nadt Wunsch. Die zweite treibende Kraft ist die Sentimentalität. Wissen Sie, der Sozialismus verdankt seine Verbreitung bei uns hauptsäddich der Sentimentalität. Und dann kommt sd'iließlidi das Hauptmoment, sozusagen der alles bindende Zement, das ist die Sdteu vor einer eigenen Meinung. Das ist eine Kraft, sage ich Ihnen! Und wer hat da nur so gut gearbeitet, wer ist der „liebe Mensch“, der sich so grofle Mühe gegeben hat, daß in keinem von ihnen , auch nur ein einziger eigener Gedanke geblieben ist? Die Leute schämen sidt jeden selbständigen Denkens!“

Hier treten wir in den Kem des Gedankenbaus, wenn wir vom sowjetischen Soz-Realismus sprechen. Man kann sich von der Richtigkeit obiger Erkenntnis überall überzeugen — in Moskau, Warschau, Pankow und anderen kommunistischen „Kulturzentren“. Überall sind die zwei tragenden Säulen: die Uniform (der Zwang), heute auch euphemistisch als Konformismus bezeichnet, und die Sentimentalität und dazu, als bindendes Element, die Scheu vor der eigenen Meinung. Sentimental ist der sowjetische Kuchenbäckerstil in der Architektur, dasselbe Moment strahlt aus soz-realistischer Malerei und Literatur. Sowjetische Helden sind hundertprozentige Helden, nichtsowjetische Schurken auch hundertprozentig. Soweit sich unter den sowjetischen einer findet, der nicht ganz stubenrein ist, darf er nicht hunderprozentig schwarz sein, wie wir es an der Aufregung um Dudinzews Buch „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ gesehen haben. Dostojewski prophezeit weiter an angeführtem Ort: „... sie (die Schurken, d. V.) sind ja sonst als ganz brauchbare Men-sdien zu betrachten und können manchmal sehr nützlich sein; nur muß man gar zu viel Zeit für sie verwenden, denn sie verlangen eine unaufhörliche Überwachung.“

Wenn wir diese letzten Worte ii die Gegenwart projizieren, so sind die Menschen in den Satellitenländern eigentlich fast alle als „Schurken anzusprechen (natürlich mit Ausnahme solcher wie z. B. Ulbricht, Norden usw.), denn sie erfordern alle unaufhörliche Überwachung. Die schlimmsten „Schurken“ sind die Polen und die Ungarn. Von Natur Individualisten und sich nach Freiheit sehnend, lehnen sie Uniform und platte Sentimentalität ab. Unter Zwang gesetzt, werden sie stets „wider den Stachel löken". Berman, Stalins Warschauer Agent, versuchte den polnischen Künstlern den Soz-Realismus aufzupropfen. Es mißlang jämmerlich. Die Resultate waren, mit Ausnahme von Neverly-Abramows Roman „Das Spielzeug aus Zellulose“ und Leon Kruczkowskis Drama „Niemey" („Die Deutschen“), im Deutschen unter dem Titel „Die Sonnenbrucks“ bekannt, das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt war Die polnischen Schriftsteller hielten auf der allpolnischen Tagung des Schriftstellerverbandes im Frühling 1957 Gericht über den Soz-Realismus. Sie haben ihn für den Niedergang der Literatur des sozialistischen Polen verantwortlich gemacht. Der Dichter Antoni Silonimski übergoß seine Repräsentanten mit beißendem Spott, der hervorragende Litecturkritiker Universitätsprofessor Jan Kott, erklärte seinen Austritt aus der Partei, als er den trockenen Bonzen in derselben nicht klar machen konnte, daß der Soz-Realismus mit geistiger Bildung nicht zu vereinen sei. Als großes Glück wurde darauf hingewiesen, daß wenigstens die exilpolnische Literatur von dieser Pest verschont geblieben ist.

Schon 195 5 hat Adam Wazyk in seinem großartigen „Poema für Erwachsene“ die Einstellung der Parteibonzen zu geistigem Schaffen blosgestellt. Das Land erregten Verhältnisse in Zakopane, wo die höchstverdiente Leitung der dortigen Kunstschnitzerschule von einem dumpfen Parteikomitee und Magistrat behindert und schikaniert wurde. Eine fähige Schülerin wurde dabei in den Tod getrieben. „Po Prostu“ hat es des langen und breiten geschildert. Adam Wazyk sagt dazu (in der Übersetzung von Lore Lommel in der „Welt“): „Sie wurde aus der Kunstschule rausgeschwissen, weil sie keine sozialistisdie Moral hätte.

Sie wollte sich vergiften — man hat sie gerettet. Zum zweiten Mal vergiftete sie sich, und man hat sie begraben.

All das ist alt. Alt sind auch die Einpeitscher der sozialistischen Moral.“

T itoismus ist ein politisches Schlagwort, das gerne auch auf das heutige Polen angewandt wird. Einen Titoismus gibt es in Polen nicht. Es gibt dafür einen Gomulkismus, wenn man so sagen darf. Die Konzeption eines „menschlichen“ Kommunismus ist bei Gomulka weit prononzier-

ter und auch zeitlich früher als bei Tito. Nur konnte er sie nicht ausführen. Tito gelang es 1948, sich von Stalin zu emanzipieren, Gomulka ging zur gleichen Zeit für mehrere Jahre ins Gefängnis. Jugoslawien liegt an der Peripherie des Ostblocks und an einem der sieben Meere der freien Welt, Polen liegt hinter dem eisernen Vorhang in einer ungleich schlimmeren geopolitischen Situation am nunmehr roten Meer des Baltikum. Tito ist ein Gewaltmensch, ein von wilder Räuberromantik umwobener Partisan, Gomulka ein von Grund auf ziviler Mensch, welcher niemandem Gewalt antun möchte und es auch nicht gern tut, wenn es einmal nach der kommunistischen Ratio sein soll. Tito hat den Justizmord an General Michajlowitsch und seinen Offizieren auf dem Gewissen. Gomulka hat niemanden morden lassen.

Beide suchen nach einem nationalen Weg zum Kommunismus für ihre Länder, aber während Tito mehr Freiheit zum Experimentieren hat, sind Gomulka die Hände gebunden. Man konnte dies letztens an der Einschränkung der Kompetenzen der Arbeiterräte sehen, die nach der Moskauer Generalkonferenz vom November 1957 angeordnet wurde. Gomulka muß eben kurztreten, wenn Moskau es will. Tito ist in Polen sehr beliebt, schon aus reiner Opposition zu den sowjetischen Unterdrückern, aber man beneidet ihn mehr als man ihn bewundert. Die Rolle, die er im Falle des Milovan Djilas spielt, hält man nicht für rühmenswert.

Ungarn als Wort hat in Polen den Klang einer großen Glocke — wie des gewaltigen „Zygmunt“ auf dem Wawel in Krakau, der da am Ostermorgen und sonst nur bei gewichtigen nationalen Anlässen ertönt. Man muß sich die speziellen Gefühle des polnischen Volkes gegenüber diesem Nachbarvolke vergegenwärtigen. Für gewöhnlich ist es im Völkerleben so, daß Nachbarvölker sich hassen und befehden, es sei denn, sie sind durch ein Hochgebirge voneinander getrennt, wie z. B. Frankreich und Spanien oder Schweden und Norwegen; dann stehen sie meist neutral zu einander. Polen und Ungarn sind in der ganzen Zeit ihres Bestehens miteinander in herzlich nachbarlichem Verhältnis verbunden gewesen. So etwas ist außergewöhnlich. i Dynastische Verbindungen zwischen beiden Ländern waren sehr häufig. Die in Polen als Heilige verehrte Jadwiga, Gattin König Wladyslaw Jagiellos, war ungarischer Abkunft. Ungar war auch der hoch-geschätzte König Stefan Batory, dessen Name von dem Flaggschiff der polnischen Handelmarine über alle Meere geführt wird. Ein sehr bekanntes polnisches Sprichwort heißt: „Polak — Wengier dwa bratanki — i do szabli i do szklanki.“ (Pole — LIngar sind zwei Vettern, — so zum Säbel wie zum Becher.“).

Der Schock, den das polnische Volk durch den sowjetischen Völkermord in Ungarn erfuhr, reicht bis in die Wurzeln der Volksseele. Es wurde schnell und relativ viel gespendet, vor allem waren die Blutspenden sehr reichlich, viel Verbandszeug, Heilmittel, dann auch Kleidung. Die ersten Flugzeuge, die nach Budapest überhaupt starteten, waren polnische. Die innige Herzlichkeit dieser schnellen Aktion kann man erst richtig einschätzen, wenn man bedenkt, wie knapp diese Artikel in Polen damals waren. Geld gab jeder, der nur konnte; und auch da war dies bei den damals überaus niedrigen Einkommen ein wirkliches Opfer. Junge Menschen, Studenten und Arbeiter, die ihren ungarischen Brüdern persönlich nicht helfen konnten, wo sie doch selber gerade einen Schimmer der Freiheit empfinden durften, gingen wie benommen umher. Eigentlich gab es in diesen und späteren Tagen in Polen niemanden, der ohne nasse Augen von dem Martyrium des Brudervolkes hätte sprechen können. Die Kommunisten waren genau so erschüttert wie die Nichtkommunisten. Daß mit dem ungarischen Aufstand zeitlich die die zerplatzte britisch-französische Intervention in Ägypten zusammenfiel und den Aufstand damit aller aktiven politischen Profile beraubte, wurde in Polen als eine Tragödie angesehen, deren Schrecken nur von demSchrek-ken über die sowjetische Roheit und von den Schrecken über die Schwäche der westlichen Staatsmänner übertroffen wurde.

Verständigung von Deutschen und Polen? Diese Frage ist ein heißes Eisen. Und trotzdem, soll Europa nicht untergehen, muß es angefaßt werden. Mutige Schritte werden in dieser Hinsicht unternommen. Ich freue mich jedesmal, wenn ich von Zusammenkünften deutscher und polnischer Studenten vernehme, von Reisen polnischer Schriftsteller nach Deutschland und umgekehrt oder von einem Treffen exilpolnischer und deutscher Historiker, wie dies im Oktober 1956 in Marburg der Fall war. Aber alles dies kann nur einen Anfang bedeuten in der Abtragung der Schutthalden, die seit den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts das deutsch-polnische Lebensverhältnis bedeckt haben.

Dies ist nun nicht so gemeint, daß Deutsche und Polen sich allso-gleich lieben lernen, wie z. B. die Ungarn und Polen tun. Aber doch so, daß sie miteinander leben lernen; und miteinander leben, heißt den anderen zu verstehen suchen und achten. Adam Mickiewicz sagte vor ca. 100 Jahre von Europas Zukunft: „Ein wilder Mann kant einmal in ein leeres Haus mit seiner Frau und seinen Kindern. Lind als er die Fenster sah, sagte er: Durd'i dieses Fenster wird meine Frau hinaussehen, durch das zweite ich selbst und durch das dritte mein Sohn. So sahen sie denn hinaus und wenn sie ihr Fenster verließen, so bedeckten sie es, wie es die wilden Mensd-ten tun, damit das Licht, das ihnen angeblidi gehört, nicht andern zugute kommt. Und der Rest der Familie hatte keine Fenster und saß im Dunkeln.

Und dann sprad: der wilde Mann: An diesem Ofen werde ich mich wärmen, denn es ist nur ein Ofen da. Und von den andern soll sich nun jeder einen eigenen Ofen madien.

Und nachher spradt er: Brechen wir für jeden in dem Haus eine besondere Tür durd'i. — Und so verdarben sie das ganze Haus und sie sddugen sich um das Licht, die Wärme und die Grenzen der Stube.

So madien es die europäisdien Völker."

(Übertragung von Dr. Buddensieg) „Der wilde Mann“ sind Deutsche und Polen — unter anderen —. Diese sind gegenwärtig in der Stube ohne Fenster und sehnen sich nach einem solchen Westen. Ihre Kultur, ihr Trachten und Denken ist seit tausend Jahren von westlichem Geist bestimmt. Sie wollen sich — um ein Bonmot zu gebrauchen — nicht orientieren sondern okzidentieren, aber es wird ihnen schwer gemacht und sie haben den Eindruck, als wenn der Westen sich eingesponnen hätte wie eine Seidenraupe. Abgesehen von allen strittigen Fragen der Politik, sollte man diesen natürlichen und geschichtlich begründeten Tendenzen nachhelfen. Sie liegen gleicherweise in deutschem wie in polnischem Interesse.

Die Haltung des deutschen Publikums mag in dieser Frage eine entscheidende Bedeutung für Europa besitzen. Deutschland ist immer die Drehscheibe Europas gewesen in geistigen Fragen, heute ist es ein sehr aktiver Mittler in.der Verständigung der Völker. In „Die Zeit“ vom 11. 7. 58 meint M. D. in dieser Beziehung „Wir (die Deutschen, d. V.) sollten ihnen (den Polen) immer wieder zeigen, daß Europa auf sie wartet. Hätten die europäischen Länder sich in der Periode der Liberalisierung entsddossen, dem Lande eine Anleihe zu geben, Kontakte aufzunehmen — vielleicht sähe es heute anders aus. Vielleidit wäre dadurch eine Entwiddung eingeleitet worden, die jetzt nidtt mehr so einfach abgestoppt werden könnte.“ Eine sehr richtige Bemerkung.

Regierungen, besonders demokratische, sind immer ängstlich. Es genügt nicht, wenn die Erkenntnis einer deutsch-polnischen Annäherung von einer Elite ausgeht. Sie muß ins Volk gehen, und da könnten die Presse, die Tageszeitungen, Illustrierten, die in der deutschen Publi-zistik eine besonders große Bedeutung haben, und die bedächtigen Monatsschriften ungeheure Dienste leisten. Voraussetzung ist allerdings eine gewissenhafte Berichterstattung und Ablehnung billiger Effekte.

Der Pole ist der Wahrheit nicht abhold, und manchmal sind die Formulierungen der Kritiker der polnischen inneren Verhältnisse in der polnischen Publizistik viel schärfer als in der deutschen, dies auch in Fragen, an denen die Deutschen interessiert sind. Die Presse beider Seiten mag der Wahrheit eine Gasse bahnen, und es mögen in den deutsch-polnischen Verhältnissen die Schlußworte der „Ode an die Jugend“ des 21jährigen Adam Mickiewicz sich verwirklichen (nach einer Übertragung von Dr. Hermann Buddensieg):

Es bricht das Eis, das Licht erhellt Finstere Vorurteile.

Gegrüßt, Du der Freiheit Morgenrot, Leuchte nun, Sonne, zum Heile/ W estliche Alliierte waren für das polnische Volk in den Jahren der Bedrängnis eine große Hoffnung; man sagte sich, sie werden den Deutschen eine schreckliche Lehre geben und dafür sorgen, daß die Stalin-sehen Bäume nicht in den Himmel wachsen. Das erste ist in ganzer Fülle eingetreten, das zweite nicht; die Bäume sind in den Himmel gewachsen. Dies brachte eine schlimme Enttäuschung. Dann wurde noch fast zehn Jahre nach dem Kriege gehofft, daß der große Bruder überm Atlantik der sowjetischen Sprungfederpolitik schließlich eine Bremse anlegen wird, wenn es auch zu spät geworden ist, die Union in ihre ihr zukommenden Grenzen zu weisen. Auch dies ist nicht eingetreten. Die Erfolge der Sowjets in der Weltpolitik erfolgten gleich serienweise, und was weder der zaristischen Diplomatie noch Stalin gelungen war, glückte Chruschtschow: der Durchbruch zum Mittelmeer. Der Satz Bismarcks, das russische Reich wäre einem Manne zu vergleichen, der einen Rock mit zugenähten Ärmeln trage, stimmt nicht mehr.

Nach diesen Erfahrungen kam in der öffentlichen Meinung Polens die Überzeugung auf von der Inferiorität der politischen Intelligenz des Westens gegenüber den Männern der Sowjetunion. Viele westliche Staatsmänner sind in der Meinung des durchschnittlichen Polen gegenüber solchen Männern wie Stalin, Molotow, Chruschtschow beinahe Schießbudenfiguren.

Dies soll keine Beleidigung dieser Personen sein, — das Volk denkt so. Und hier entsteht eine sehr gefährliche Situation. Es besteht eine im Sprichwort niedergelegte Volksweisheit in Polen, die besagt: „Lieber mit dem Klugen etwas verlieren, als mit dem Dummen etwas finden." Die Isolierung Polens vom Westen, der Zwang im Ostblock zu leben und die Aussichtslosigkeit der Lage bringt viele, vielleicht sogar sehr viele Polen dazu, sich mit den visuell unabänderlichen historischen Gegebenheiten zu versöhnen und „ein Leben für den Zaren“ anzufangen.

Daß er ewig an die sowjetische Lebenssphäre gekettet bleiben soll, wo der Mensch nichts gilt und die schlechte Organisation alles, ist für den Polen schwer vorstellbar. Aber ihm scheint nach dem jetzigen Stand der Dinge, daß er mit der dauernden Knechtschaft wird vorlieb nehmen müssen.

Interessieren tut ihn die Entwicklung des Verhältnisses zwischen den Sowjets und den Chinesen, aus der unter Umständen sich etwas Vernünftiges für die Satellitenländer ergeben kann; leidenschaftlichen Anteil nimmt er an dem Prestigewettlauf der Technik zwischen Ost und West. Vielleicht werden die westlichen Techniker noch etwas erfinden, was dem Menschen im Osten die ersehnte Befreiung bringt? Sind im Westen die Politiker zu dumm und die Völker zwieträchtig, klammert sich die letzte Hoffnung an die Technik. Dies ist das Denken des Mannes auf der Straße, der sich mit dem Letzten noch nicht abfinden kann. Zukunft wird von der Vergangenheit bestimmt. Europa hat eine große Zukunft hinter sich; alle Chancen seiner Größe und seiner Berufung hat es leichtfertig verspielt. Zukunft haben, bei klugem Verhalten, nur noch die staatlichen Organisationen, die eine große biologische Kraft erfüllt. Der große Geograph Friedrich Ratzel zitiert in seinem Buche „Politische Geographie“, welches 1896 erschienen ist, eine Rede des deutschen Reichskanzlers Fürsten Hohenlohe vor dem deutschen Reichstag, in welcher Europa auf die Notwendigkeit einer Einigung und auf die aus dem Wachstum der Weltmächte für Europa entstehende Gefahr hingewiesen wurde. Vereinigung oder Untergang! — rief der deutsche Kanzler, der Vorläufer von Konrad Adenauer. Niemand hörte auf ihn, wie zuvor niemand gehört hatte auf Immanuel Kant, auf den polnischen Exilkönig Stanislaw Leszezynsky, den Kardinal Aldobrandi und so fort. — Es ist alles anders gekommen, seitdem Gott aufgehört hat, in Europa das Maß der Dinge zu sein. Seitdem sind die Dinge maßlos geworden. Der Mensch ist dabei maßlos hart geworden. Er rühmt es als Helden-zeitalter, er hat sich aber selbst zu einem Ding gewandelt.

Polen ist zu schwach, um sich gegenüber der roten materialistischen Flut zu behaupten; das Volk, demokratisch von Grund auf, hat keine Entschlußfreiheit. Seine Sympathien sind mit den christlichen Völkern des Westens, zu dem es tendiert. Aber — nec Hercules contra plures — kein Herkules kommt gegen die zu vielen auf. Und so muß das polnische Volk sich bescheiden: sein Zukunftsglaube ist das Vertrauen auf Gott. In ihm hofft es sich zu erhalten — als Volk. Deshalb sind ia Polen die Kirchen so voll.

Fussnoten

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