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Georg Friedrich Händel Zum 200. Todestag am 14. April 1959 | APuZ 14-15/1959 | bpb.de

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APuZ 14-15/1959 Georg Friedrich Händel Zum 200. Todestag am 14. April 1959

Georg Friedrich Händel Zum 200. Todestag am 14. April 1959

WOLFGANG REHM

„Händel ist der größte Komponist, der je gelebt hat. Ich möchte auf seinem Grabe niederknien. Ludwig van Beethoven

Zum Rhythmus des geistigen Lebens eines jeden Volkes gehört die schöne und sicherlich auch berechtigte Sitte, die Geburts- und Todestage der großen, Kultur-und Kunstgeschichte prägenden Gestalten von fünfzig zu fünfzig Jahren in ehrendem Gedenken festlich zu begehen. Das auf allen Gebieten betriebsame und unruhige 20. Jahrhundert beschränkt sich jedoch nicht allein auf die Überhöhung der einzelnen Gedenktage selbst, sondern feiert, redet, spielt, musiziert und schreibt das ganze Jahr hindurch, das dann schlechthin zum „Goethe-Jahr“, zum „Schiller-Jahr“, zum „Mozart-Jahr“, zum „Beethoven-Jahr“ deklariert wird. Abgesehen von der mit solchen Gedenkjahren heute zumeist verbundenen, teilweise plumpen und abstoßenden Geschäftemacherei, birgt dieses Feiern in Permanenz die Gefahr der Übersättigung und Abnutzung in sich. Ein Weniger würde hier in jedem Fall ein Mehr bedeuten, die Beschränkung auf das Wesentliche von größerer Durchschlagskraft sein. Abseits vom hektischen Getue des modernen Kulturbetriebes bringen diese „Feierjahre" auf der Ebene der Wissenschaft zuweilen interessante Ergebnisse mit sich: Manches im Laufe der Zeit zu Unrecht vergessene, den gültigen und anerkannten Meisterwerken nicht selten nachstehende Werk wird wiederentdeckt oder sogar ein bisher völlig unbekanntes neu aufgefunden, diese oder jene durch eine ganz bestimmte geschichtliche Betrachtungsweise oder herrschende Zeitströmung in den Hintergrund getretene Gestalt kann auf Grund der neuen und intensiven, durch das „Gedenkjahr“ ausgelösten Beschäftigung mit ihrem Schaffen, Wesen und ihrer historischen Stellung wieder in das rechte Licht gerückt werden. - Das Jahr 1959 bringt allein auf dem Gebiet der Tonkunst die Gedenktage für vier bedeutende Komponisten der abendländischen Musikgeschichte: den 300. Geburtstag von Henry Purcell, dem Mozart der englischen Musik, den 150. Todestag von Franz Joseph Haydn (31. Mai), den 150. Geburtstag von Felix Mendelssohn Bartholdy (3. Februar) und schließlich am 14. April die Wiederkehr des 200. Todestages von Georg Friedrich Händel. Diese geradezu erdrückende Fülle läßt eine Zersplitterung auf dem Gebiet des Musiklebens und der Musikforschung befürchten, eine Gefahr, der durch das Verantwortungsbewußtsein aller „Beteiligten“ und durch die Konzentration auf das Wesentliche begegnet werden muß, denn gerade die Werke dieser vier Komponisten müssen teilweise dem Dornröschenschlaf entrissen werden, sie bedürfen einer neuen geistigen Durchdringung, und damit verbunden sollte die musikgeschichtliche Einordnung und Bedeutung ihrer Schöpfer einer Prüfung unterzogen werden.

Um Händel, den gebürtigen Deutschen und späteren Wahlengländer, und sein Kolossalwerk wetteifern England und Deutschland in edlem Streit; sein Schaffen verbindet beide Völker, wie es darüber hinaus heute auch eine geistige Brücke zwischen den beiden getrennten Teilen Deutschlands schlägt. Über alle nationalen Grenzen hinweg jedoch war der Barockmeister Händel ein Kosmopolit; seine Musik ist im Gegensatz zu der nach „innen“ gewandten seines Zeitgenossen Johann Sebastian Bach nach „außen“ gerichtet, sie ist echte Weltmusik, gespeist von vielen verschiedenartigen und gegensätzlichen Strömungen, die die keine Grenzen der Ermüdung und der kompositorischen Möglichkeiten kennende, nahezu unbändige Kraft ihres Schöpfers zu seinem ureigensten und einmaligen Stil geprägt und geformt haben.

Leben

Georg Friedrich Händel im Staatsrock Gemälde von Hudson (1745)

„Über das Leben Händels erschöpfend zu schreiben, das würde ein ganzes Leben ausfüllen." Romain Rolland

1. Vorfahren - Musik in Halle und Weißenfels

Büste Georg Friedrich Händels Nach einer der berühmten Marmorbüsten von Louis Francois Roubilliac (1749)

Händels Vorfahren väterlicherseits stammten aus Schlesien Valentin Händel, der Urgroßvater, war Röhrmeister in Breslau. Der Großvater, ebenfalls mit Namen Valentin, wurde 1582 in Breslau geboren; als sein Beruf wird Kupferschmied angegeben. Er heiratete 1608 die Tochter eines Kupferschmieds aus Eisleben, Anna Beichling, siedelte 1609 nach Halle über und erhielt das Bürgerrecht der Saalestadt, in der zu jener Zeit das künstlerische und geistige Leben in besonderer Blüte stand. In demselben Jahr trat der andere große, 1587 geborene Sohn Halles, Samuel Scheidt, nach Absolvierung seiner Lehrzeit in Amsterdam bei dem „Organistenmacher" Jan Pieter Sweelinck (1562—1621) als erzbischöflicher Hoforganist („organist zu hoffe“ und „Schloß-Organista“) in die Dienste des Markgrafen Christian Wilhelm von Brandenburg, der als lutherischer Administrator des Erzstiftes Magdeburg in der Saalestadt seine Residenz aufgeschlagen hatte. 1619 wurde Scheidt, der Schöpfer der für die Notation der Orgelmusik in Deutschland revolutionären Tabulatura neva (1624) dann „Fürstlich Magdeburgischer Hofkapellmeister“; diesen Posten bekleidete er auch später unter dem Nachfolger Christian Wilhelms, dem Herzog August von Sachsen-Weißenfels. — Die Familie der Mutter Händels kam von der Vaterseite her aus dem Musikland Böhmen: Johann Taust, der Urgroßvater Händels, mußte um 1625 als gläubiger Lutheraner seine Heimat verlassen und wanderte nach Halle aus. Die Vorfahren der Großmutter Dorothea Cuno waren in beiden Linien seit langer Zeit in Halle beheimatet, die Ahnen der mütterlichen Linie waren allerdings früher aus dem Niederrheinischen eingewandert.

Händels Vater Georg, geboren am 24. September 1622 in Halle als dritter und jüngster Sohn Valentin Händels, verschrieb sich schon in seiner Jugend der Medizin, fiel also ebenso wie später sein Sohn Georg Friedrich aus dem beruflichen Rahmen seiner Familie. Er war während der Wirren des großen Krieges Weltenbummler, verdingte sich als Feldscher bald bei den Kursachsen, bald bei den Schweden, schließlich auch bei den Kaiserlichen, und kam als Schiffsarzt bis nach Portugal. Auf Drängen seiner Familie nach Halle zurückgekehrt, arbeitete er sich als freiberuflicher Arzt und Bader zum Giebichensteiner „Amtschirurgus" herauf und stand später in den Diensten des Herzogs August von Sachsen-Weißenfels auf der Moritzburg. Halle kam 1648 mit dem westfälischen Frieden zu Brandenburg, doch blieb die Stadt Herzog August zu seinen Lebzeiten als Residenz überlassen. Erst mit seinem Tod im Jahre 1680 wurde sie endgültiger Besitz des großen Kurfürsten. Johann Adolf, der Sohn Herzog Augusts, verlegte seine Residenz nach dem nahegelegenen Weißenfels. Händels Vater blieb dem Hof treu und wurde von Herzog Johann Adolf am 3. Februar 1688 zum „Leib-Chirurgus und geheimen Kammerdiener von Haus aus“ bestallt.

Georg Händels erste Frau, die ihm elf Kinder gebar, starb im Pestjahr 1682. öljährig entschloß er sich, eine zweite Ehe einzugehen, und heiratete 1683 die Pfarrerstochter Dorothea Taust aus Giebichenstein, eine Urenkelin des bekannten hallischen Superintendenten Johannes Olearius (1546— 1623).

Händel, der also nicht wie fast alle seine Zeitgenossen aus dem Musikerstand, dem Stand der Stadt-und Ratspfeifer, der Kantoren und Organisten hervorgegangen ist — hierin vergleichbar etwa Christoph Willibald Gluck und Richard Wagner —, sondern einer Familie von ehrbaren Handwerkern und angesehenen lutherischen Theologen entstammte, wurde in eine musikalisch reiche Umwelt geboren: In Halle selbst wirkte seit dem Jahre 1684 der 1663 in Leipzig geborene Friedrich Wilhelm Zachow als Organist an der Liebfrauenkirche. Zur Zeit Herzog Augusts hatte die Kirchenmusik in Halle einen großen Aufschwung genommen, wofür als äußerliches Zeichen der Neubau der im Jahre 1667 eingeweihten Orgel im Dom gelten mag; sie wurde von Christian Fömer errichtet, der vom Herzog auch zum Bau der Orgel im neuerstellten Schloß zu Weißenfels herangezogen worden ist. Nachfolger Samuel Scheidts als Hofkapellmeister war der Opernkomponist David Pohle, mit dem Vater Händel freundschaftlich verbunden war. 1677 holte sich der Herzog den Nürnberger Musiker Johann Philipp Krieger (1649— 1725) als „Cammer-Musicus und Cammer-Organist“ an den Hof, dessen Kapelle um diese Zeit aus 17 Instrumentisten bestand. An diesem typisch kleindeutschen Hof wurden aus Anlaß prunkvoller Feierlichkeiten vor allem Ballette, Maskeraden und später auch Opern gepflegt. Krieger, Komponist zahlreicher Opern, Kantaten und Kammermusik, wurde die bestimmende Figur im hallisch-weißenfelsischen Musikleben; nach der Übersiedlung des Hofes nach Weißenfels 1680 rückte er zum Hofkapellmeister auf und hatte diese Stellung bis zu seinem Tode inne.

2. Jugend- und Lehrjahre in Halle Reise nach Berlin

Georg Friedrich Händel wurde am 23. Februar 1685 als zweiter Sohn Georg Händels und dessen Frau Dorothea geb. Taust geboren. Das erste Kind dieser zweiten Ehe war bereits bei der Geburt gestorben; nach Georg Friedrich, der am 24. Februar in der Liebfrauenkirche getauft wurde, folgten noch zwei Mädchen, Johanna Christiana, die schon 1709 starb, und Dorothea Sophia, die 1708 den Dr. jur. Michael Dietrich Michaelsen aus Halle heiratete und 1718 starb; die Tochter Johanna Friderica aus dieser Ehe wurde Händels Patenkind und Erbin. Nur wenige Wochen nach Händel erblickte am 21. März Johann Sebastian Bach in Eisenach als Sohn des Stadtpfeifers Johann Ambrosius und seiner Frau Elisabeth das Licht der Welt; ebenfalls 1685 wurde in Italien Domenico Scarlatti geboren (26. Oktober). Der mitteldeutsche, sächsisch-thüringische Raum, seit der Reformation in die Musikgeschichte eingetreten, wurde mit diesen beiden denkwürdigen Ereignissen zur Geburtsstätte einer Musikauffassung und -Übung, die im Hoch-und Spätbarock ihre reichste und tiefste Erfüllung gefunden hat. Des Knaben Georg Friedrichs musikalische Begabung zeigte sich sehr früh, der Vater setzte jedoch einer musikalischen Laufbahn seines Sohnes ganz entschiedenen Widerstand entgegen, da nach seiner Meinung die Musik zwar „eine artige Kunst und ein hübscher Zeitvertreib sey, dieselbe dennoch, wenn sie als eines Menschen Hauptwerk betrachtet würde, deswegen nur geringerer Würde wäre, weil sie bloflerdings zu nichts anders, als zur Belustigung und Ergetzlichkeit diene“, wie es in der ersten Händel-Biographie, Memoires of the Life of the late George Frederic Handel, des Engländers John Mainwaring von 1760 heißt.

In dieser Biographie, die Johann Mattheson bereits 1761 ins Deutsche übertragen und in Hamburg veröffentlicht hat, heißt es an anderer Stelle: „Von Kindesbeinen an hatte dieser Händel eine solche ungemeine Lust zur Musik bezeiget, daß sein Vater, der ihn sonst zum Juristen bestimmet hatte, darüber in Unruhe gerieth. Als er aber nun merkte, daß dieser Trieb sich je länger je mehr äußerte, wurden alle Mittel vorgekehret, demselben zu widerstehen. Fürs Erste verbot er ihm nachdrücklichst, sich mit keinerley Art musikalischer Instrumente abzugeben, ja, es durfte nichts dergleichen ins Haus kommen, und ihm ward auch nicht einmal zugestanden, irgendwo hinzugehen, da er so was antreffen konnte. Dem ungeachtet vermehrten alle diese Fürsorge und Mühe nur des Knabens Liebe zur Tonkunst, anstatt solche zu dämpfen".

Der Vater wollte aus dem jungen Georg Friedrich einen brauchbaren Juristen und gelehrten Mann machen, ein durchaus begreiflicher und verständlicher Wunsch angesichts der aufsteigenden Linie der Familie Händel. Eine Anekdote, ebenfalls von Mainwaring berichtet, besagt, daß der junge Händel Mittel und Wege gefunden habe, heimlich ein Clavichord auf den Dachboden des väterlichen Hauses in Halle zu bringen, auf dem er sich in die von ihm so geliebte Kunst der Töne vertiefen konnte. Auf dem Gymnasium mag der Knabe durch die Schulmusik und Schulkomödien dieser Zeit musikalische Anregungen erhalten haben, und es ist wohl nicht ausgeschlossen, daß der Vater trotz seiner Ablehnung des Musikerberufes gegen eine liebhabermäßige musikalische Beschäftigung nichts einzuwenden hatte; der sehr anekdotische Lebensbericht Mainwarings mag in dieser Beziehung des Vaters Haltung, der immerhin mit Musikern des herzoglichen Hofes verkehrte und befreundet war, also sicherlich nicht, wie oft behauptet wird, vollkommen amusisch gewesen ist, vielleicht als etwas zu starr wiedergegeben haben.

Der junge Georg Friedrich hat den Vater auf seinen üblichen Reisen nach dem Weißenfelser Hof vermutlich des öfteren begleitet. Die Musiker des Hofes wurden ohne Zweifel auf das Talent des Knaben aufmerksam. Die Anekdote berichtet, daß er als Achtjähriger in Weißenfels eines Sonntags das Postludium des Gottesdienstes auf der Orgel improvisieren durfte. Herzog Johann Adolf hörte das Spiel und verwandte sich daraufhin bei seinem Kammerdiener und Leibchirurgen für eine musikalische Ausbildung des jungen Händels. Nach Mainwaring soll Johann Adolf gesagt haben: „Es müsse zwar ein jeder am besten wissen, wozu er seine Kinder anführen wolle: allein, meines Erachtens ... wäre es eine Sünde wider das gemeine Beste und die Nachkommen, wenn man die Welt eines solchen anwadtsenden Geistes gleich in der Jugend beraubte." Georg Händel willigte daraufhin, ohne allerdings seinen einmal gefaßten Entschluß, den Sohn Jurisprudenz studieren zu lassen, in die musikalische Ausbildung Georg Friedrichs ein, wozu ihn neben dem Fürsten vielleicht auch noch Krieger und die ihm bekannten Musiker der Hofkapelle bewogen haben mögen. Nach Halle zurückgekehrt, wurde Händel in die Lehre des Liebfrauenorganisten Friedrich Wilhelm Zachow gegeben. „Der Mann war sehr stark in seiner Kunst, und besafi eben so viel Geschicklidtkeit, als guten Willen, einem Untergegebenen großer Hoffnung alles Recht wiederfahren zu lassen“ (Mainwaring), und Johann Gottfried Walther berichtet in seinem Musikalischen Lexiken 1732 über Zachow: „... indem er nicht nur viele Kirchen-und Clavier-Stüd^e gesetzet, sondern auch versdtiedene brave Leute, und unter solchen insonderheit den weltberühmten Capellmeister, Hrn. Hendel, gezogen".

Die „verschiedenen braven Leute", Händels Mitschüler, waren Johann Gotthilf Krieger, ein Sohn des Weißenfelser Hofkapellmeisters, Gottfried Kirchhoff und Johann Gotthilf Ziegler. Während der Lehrzeit legte Händel nicht nur den Grundstein zu seinem großartigen Orgel-und Cembalospiel, er wurde daneben auch Violinist und erlernte vermutlich das Spiel auf der Oboe, die sein Lieblingsinstrument werden sollte. Darüber hinaus aber unterwies ihn der tüchtige Zachow selbstverständlich und in erster Linie in der Komposition. Nähere Angaben über die Art dieses Kompositionsunterrichts bringt Mainwaring: „Seine Bemühung ging gleich Anfangs dahin, ihm die Grundsätze der Harmonie beyzubringen. Hiernächst wandte er seine Gedanken auf die Erfindungskunst, solche in bessern Stand zu setzen, um seinem Untergegebenen einen auserlesenen Geschmack beyzubringen. Zadhow besajl eine ansehnliche Sammlung italienischer und deutscher Musikalien. Er zeigte dem Händel die mannigfaltigen Schreib-und Setzarten verschiedener Völker, nebst eines jeden besonderen Verfassers Vorzügen und Mängeln. Und damit er auch eben sowol in der Ausübung, als in der Besdiaulichkeit, zunehmen mögte, schrieb er ihm öfters gewisse Aufgaben vor, solche auszuarbeiten; ließ ihn oft rare Sachen abschreiben, damit er ihres gleichen nidrt nur spielen, sondern auch setzen lernete.“ Zachow bemühte sich also, den jungen Händel in alle musikalischen Stilarten jener Zeit einzuführen und ihm einen weltweiten Blick zu vermitteln. In einem verlorengegangenen Übungsbuch von 1698 soll Händel, worauf Mainwaring auch hinweist, neben Werken von Zachow selbst Arien, Chöre, Capricci, Fugen u. a. von Alberti (vermutlich H. Albert), Johann Jakob Froberger (1616—1667), dem größten deutschen Klaviermusik-Komponisten seiner Zeit, Krieger, dem Münchner Organisten und Kapellmeister Johann Caspar Kerll (1627—1693) Wolfgang Ebner und Nicolaus Adam Strungk eingetragen haben.

Diese Methode des Studiums hat Händel Zeit seines Lebens beibehalten; immer wieder notierte er sich einzelne Teile von Werken anderer Komponisten oder schrieb sich gar vollständige Stücke ab, aus denen er Material für seine eigenen Kompositionen schöpfte. Romain Rolland hat auf die früher unterschätzte Bedeutung Zachows als Komponist und Lehrer Händels, auf die Wesensverwandtschaft der beiden Komponisten nachdrücklich hingewiesen; er hebt sein Gefallen an der Instrumentalmusik, den dramatischen Zug in seinen Kantaten hervor und faßt den Grundcharakter seiner Musik in folgenden Worten zusammen: „Alles in allem eine weniger verinnerlichte als vielmehr mitteilsame, eine von Sonne durdiströmte Kunst, nicht ohne Bewegung, aber vor allem beruhigend, stärkend und beglückend und — wie die Händels — eine optimistische Musik“ und weiter: „Das war wirklich der Lehrer, den Händel brauchte, ein Lehrer, wie ihn übrigens mehr als ein Großer hat finden dürfen — Raffael in Giovanni Santi, Beethoven in Neese —, gut einfach, klar, etwas farblos, ein gleichmäßiges und sanftes Licht, in dessen Schein der Jüngling friedlich träumt und sich seinem fast brüderlichen Führer zuversichtlich überläßt, da jener ihn nicht zu beherrschen sucht, sondern vielmehr trachtet, mit seiner kleinen Flamme das unermeßliche Feuer zu nähren und den kleinen Bach seiner Musik in den großen Strom des Genies zu ergießen“.

Selbstverständlich ging Händel seinem Lehrmeister in diesen Jahren beim Orgeldienst zur Hand; er wird ihn oft vollständig vertreten und somit Gelegenheit gehabt haben, sein Orgelspiel immer weiter zu vervollkommnen, Literatur kennenzulernen und die Improvisation zu üben.

Entscheidend für die musikalische Entwicklung Georg Friedrichs war ein Besuch am Hof zu Berlin. Seine Reise dorthin — vermutlich 1698 — wird nur von Mainwaring erwähnt. Händels musikliebender Landesherr, der Kurfürst Friedrich III. und spätere König Friedrich L, unterhielt eine ebenso weitberühmte wie hervorragende Hofkapelle, deren geistiges Haupt die Kurfürstin Sophie Charlotte, die Tochter des Kurfürsten Emst August von Hannover, gewesen war. Wie schon in Weißenfels, aber in verstärktem Maße, kam Händel in Berlin mit der barocken Opernkunst in Berührung, und unter dem Einfluß des italienischen Opernsängers, Violinisten und Komponisten Attilio Ariosti (1666 — ca. 1740), der 1697 an den Berliner Hof gekommen war, lernte er die französische und italienische Musik seiner Zeit kennen. Der Landesherr bot Händel an, ihn in Italien weiter ausbilden zu lassen, dieser kehrte jedoch nach Halle zurück, nachdem die Verwandten dem Kurfürsten einen abschlägigen Bescheid erteilt hatten. Händels Vater war vor der Reise nach Berlin, am 11. Februar 1697 in Halle gestorben. Auf seinen Tod verfaßte der zwölfjährige Sohn ein für sein Alter höchst bemerkenswertes Trauergedicht:

Ach Herzeleid! Mein liebstes Vaterherze
Ist durch den Tod von mir gerissen hin.
Ach Traurigkeit! Ach, welcher großer Schmerze
Trifft mich itzund, da ich ein Waise bin.

Mein alles liegt, mein Hoffen ist verschwunden,
Mein Rat und Schutz steht mir nicht ferner bei!
Ach! O Verlust! Ach! O der Schmerzenswunden!
Sagt, ob ein Schmerz wie der zu finden sei.

Wann sich verhüllt der Sonnen güldne Kerze,
Das Licht der Welt, erschricket Feld und Land, —
So wird ein Kind, wann ihm das Vaterherze
So früh entweicht, gesetzt in Trauerstand.

Man liebt den Baum, der Schatten uns gegeben,
Der uns erfrischt mit seiner grünen Nacht,
Viel mehr ein Kind den, der es erst ans Leben,
Und dann mit Sorg’ kaum auf die Beine bracht.

Ein Wald erbebt, wann hohe Cedern fallen,
Die Tanne heilt, die schlanke Birk’ erblaßt,
Und sollt’ bei mir kein Angstgeschrei erschallen,
Weil’s Vaters Haupt die Todessichel faßt?

Ob aber gleich ich wollte ganz verderben
Mein Augenlicht durch steten Thränenguß,
So könnt’ ich doch nicht wiederum erwerben,
Ach! den Verlust, den ich empfinden muß.

Gott lebet noch, der itzt mir hat entrissen
Das Vaterherz durch einen sel’gen Tod,
Der wird hinfort vor mich zu sorgen wissen
Und helfen mir aus aller Angst und Noth.

Also bethränte den zwar seligen, doch ihm allzu frühen Hintritt seines
herzlich geliebten Herrn Vaters
George Friedrich Händel,
der freien Künste ergebener.

Nach der Absolvierung des Gymnasiums ließ sich Händel am 10. Februar 1702 als Student an der Universität Halle einschreiben; die Universitäts-Matrikel gibt keine besondere Fakultät an. Während seiner Studienzeit kam er mit dem Ideengut der beginnenden Aufklärung in Berührung, mit dem Pietismus, der von Halle aus seinen Anfang genommen hatte und dem Gestalten wie August Hermann Francke und Christian Tomasius, die an der hallischen Hochschule lehrten, verpflichtet waren. In jene Zeit fällt auch seine Bekanntschaft mit Georg Philipp Telemann, der in Leipzig Jura studieren sollte.

Im gleichen Jahr, am 13. März 1702, wurde Händel, wenngleich Lutheraner, auf ein Jahr zur Probe als Organist an der reformierten Dom-und Marktkirche angestellt. Diese Stellung gab ihm die Möglichkeit, sich weiter und intensiv mit der zeitgenössischen Kirchen-und Orgelmusik auseinanderzusetzen; es liegt nahe anzunehmen, daß er als Organist viel komponiert hat. Von seinen Jugendwerken aus der Hallenser Zeit sind jedoch nur wenige überliefert; eine Kantate Ach Herr, mich armen Sünder könnte u. a. in diesen Jahren entstanden sein, ebenso deutsche Arien. Vermutlich komponierte er für die hallische „Hautboisten-Companie“ des Michael Hyntzsch sechs Triosonaten für zwei Oboen; darauf weist ein angeblicher Ausspruch Händels aus seiner Londoner Zeit gegenüber dem Flötisten Carl Friedrich Weidemann, als dieser ihm seine Jugendwerke zeigte: „I used to write like the devil in those days, but chiefly for the hautbois, which was my favorite instrument“. Bereits nach Ablauf des Probejahres als Organist entfloh Händel der Enge, die dieses Amt zwangsläufig mit sich brachte, gab sein Universitätsstudium auf und entschied sich für eine freie Musikerlaufbahn, die ihm zu beginnen in der weltoffenen, nicht durch das Zeremoniell eines kleinen Fürstenhofes beengten, freien Hansestadt Hamburg, dem Venedig des Nordens, am verlockendsten erschien.

3. Hamburg

Johann Sebastian Bach begab sich im gleichen Jahr wie Händel auf die musikalische Wanderschaft. Er ging 1703 nach Weimar an die Hofkapelle des Herzogs Johann Ernst von Weimar, sein Weg führte ihn dann aber über Arnstadt, Mühlhausen, wiederum Weimar und schließlich Köthen zwei Jahrzehnte später, 1723, aus der Weite und Freiheit in das äußerlich begrenzte, ihm vorbestimmte, entsagungsvolle Amt des Kantors und Organisten. Händel dagegen erreichte, wenn auch in hartem Kampf, was Bach versagt geblieben ist: Unabhängigkeit, Ruhm und Anerkennung zu seinen Lebzeiten. Nicht nur die Weite seiner Abstammung und die letztlich vom Vater, wenn auch auf einem anderen Berufsgebiet, für den Sohn erhoffte und erstrebte Weitoffenheit, die ihn auf musikalischem Gebiet Zachow und der Besuch am Berliner Hof vermittelten, veranlaßten ihn zu dem Schritt von 1703, sondern auch die unmittelbar damit verbundene Bestimmung zum europäischen Komponisten, dessen Ansehen und Geltung nur auf dem Felde der Oper, des repräsentativen Gesamtkunstwerkes des Barock, zu erreichen war. Händel, der mit dieser musikalischen Großform schon in Weißenfels und in Berlin in Berührung gekommen war, wußte nur zu gut, daß er den Sprung zum Opernkomponisten in Deutschland allein über Hamburg machen konnte. Der freie, durch die weltweiten Beziehungen fruchtbare und demokratische Boden der Alsterstadt war die beste Grundlage für die Entwicklung einer eigenständigen deutschen Oper und eines festen „stehenden“ Operntheaters, dessen Pforten sich 1678 am Gänsemarkt öffneten.

Waren es zunächst geistliche Singspiele oder religiöse Opern — das Opernhaus wurde mit dem geistlichen Singspiel Adam und Eva oder der geschaffene, gefallene und wieder aufgerichtete Mensch des Naumburger Johann Theile (1646— 1724) eröffnet —, so machte sich später neben der Hinwendung zu weltlichen Stoffen der Einfluß der italienischen und französischen Oper geltend (neben bodenständigen Komponisten sind von außerhalb J. W. Franck, N. A. Strungk, Johann Philipp Förtsch zu nennen), bis durch den Kapellmeister Johann Sigismund Kusser (1660—1727) die Oper in die Hand eines echten Opernfachmannes und -Komponisten kam. Kusser, der eigentliche Begründer der Hamburger Oper, änderte die Struktur des Theaters, dem bis dahin keine Berufssänger angehörten, grundlegend. Auf dem Gebiet des Gesanges richtete er sich nach der italienischen, auf dem des Orchesterspieles nach der französischen Manier — er war längere Zeit in Paris und dort Schüler Jean Baptiste Lullys gewesen. Johann Joachim Quantz berichtet in seiner Anweisung die flute traversiere zu spielen von 1752 von der Tätigkeit Kussers in Hamburg: „Den merkwürdigsten Zeitpunct, worinne absonderlich der Geschmack der Deutschen in Ansehung der Vocalkomposition angefangen hat, eine bessere Gestalt zu gewinnen, könnte man ohngefähr um das Jahr 1693 setzen; als zu welcher Zeit ... der Capellmeister Cousser die neue oder italiänische Singart in den Hamburgischen Opern eingeführt hat".

Der unstete Kusser verließ Hamburg schon bald, sein Nachfolger wurde der in Teuchern bei Weißenfels geborene Landsmann Händels und Opernkomponist Reinhard Keiser (1674—1739); unter seiner Kapellmeister-Tätigkeit — seit 1702 war er auch Mitpächter und Direktor der Oper — erlebte die hamburgische Oper ihre Glanz-und Blütezeit.

Händel kam zur Zeit des höchsten Ruhms von Keiser in die Stadt an der Alster. Der Direktor der Oper engagierte ihn als Ripienisten (2. Violinisten) in das Orchester; sehr bald rückte er zum Cembalisten auf. Johann Mattheson, der 1681 in Hamburg als Sohn einer wohlhabenden Familie geborene Musiker, Tenorist, Komponist und bedeutende Musikschriftsteller und -Theoretiker, dessen Bekanntschaft Händel am 9. Juli 1703, alsbald nach seiner Ankunft, auf der Orgel der Maria-Magdalenen-Kirche machte, schreibt im Lebenslauf Händels in seiner Grundlage einer Ehren-Pforte (1740) über Händels Einzug in Hamburg, seine erste Tätigkeit und sein kompositorisches Können: „An. 1703 im Sommer kam er nach Hamburg, reich an Fähigkeit und gutem Willen. Er machte fast seine erste Bekanntsdraft mit mir, mittelst welcher er auf den hiesigen Orgeln und Chören, in Opern und Concerten herum; absonderlich aber in ein gewisses Haus geführet wurde, wo alles der Musik äußerst ergeben war. Anfangs spielte er die andre Violine [2. Violine] im Opern-Orchester, und stellte sich, als ob er nicht auf fünfe zählen könnte, wie er denn von Natur zum dürren Schertz sehr geneigt war. Als es aber einsmahls am Clavierspieler fehlte, ließ er sich bereden, dessen Stelle zu vertreten, und bewies sich als ein Mann; ohne daß es jemand anders, als ich vermuthet hätte.

Er setzte zu der Zeit sehr lange, lange Arien, und schier unendliche Cantaten, die doch nicht das rechte Geschicke oder den rechten Geschmack, ob wohl eine vollkommene Harmonie hatten; wurde aber bald, durch die hohe Schule der Oper, gantz anders zugestutzet.

Er war Starck auf der Orgel; stärcker, als Kuhnau, in Fugen und Contrapuncten, absonderlich ex tempore; aber er wußte sehr wenig von der Melodie, ehe er in die hamburgische Opern kam ..."

Matthesons Bekanntschaft war für Händel ohne Zweifel von großem Nutzen. Der Hamburger führte ihn in das reiche Musikleben der Stadt ein und erleichterte ihm dadurch wesentlich den Anfang seiner Laufbahn. Während Händel Mattheson im Kontrapunkt unterrichtete, führte ihn dieser in den „dramatischen Styl“ ein; durch Mattheson kam Händel auch zum erstenmal mit englischer Wesensart in Verbindung: Mattheson unterrichtete den Sohn des seit 1702 in Hamburg tätigen britischen Residenten John Wyche, dessen Sekretär er 1706 wurde, und in dessen Familie Händel ebenfalls verkehrt haben wird. Am 17. August 1703 unternahmen beide ihre bekannte Reise nach Lübeck, um dort in der Marienkirche den berühmtesten Organisten seiner Zeit, den greisen Dietrich Buxtehude, zu hören, der seine Nachfolge mit der Heirat einer seiner Töchter verbunden sehen wollte. Die beiden jungen Musiker verzichteten wegen dieser Bedingung auf den ihnen angebotenen Posten, den später auch Bach im Jahre 1705 aus dem gleichen Grunde nicht annehmen sollte. Mattheson schildert die gemeinsame Fahrt in heiteren Worten: Wir reiseten auch den 17. Aug. desselben 1703. Jahrs zusammen nach Lübeck, und machten viele Doppelfugen auf dem Wagen, da mente, non da penna: Es hatte mich dahin der Geheime Raths-Präsident, Magnus von Wedderkopp, eingeladen: um dem vortrefflichen Organisten, Dietrich Buxtehude, einem künfftigen Nachfolger auszumachen. Da nahm ich Händel mit. Wir bespielten daselbst fast alle Orgeln und Clavicimbel, und fasseten, wegen unsers Spielens, einen besondern Schluß, dessen ich anderswo gedacht habe: daß nehmlich er nur die Orgel, und ich das Clavicimbel spielen wollte. Wir hörten anbey wohlgedachtem Künstler, in seiner Marien-Kirche, mit würdiger Aufmerdzsamkeit zu. Weil aber eine Heiraths-Bedingung bey der Sache vorgeschlagen wurde, wozu keiner von uns beiden die geringste Lust bezeigte, schieden wir ... von dannen“ (Ehren-Pforte). Noch einmal dokumentierte sich mit dieser Absage Händels, der Zeit seines Lebens Junggeselle geblieben ist, seine Sehnsucht nach einem freien, durch Ruhm und Geltung überhöhten Musikerleben.

Wie sehr sich Händel seinem Berater und musikalischen Mentor verpflichtet fühlte, beweisen die folgenden Sätze aus einem Brief, den er dem sich auf Reisen befindlichen Mattheson am 18. März 1704 aus Hamburg schrieb (dieser Brief ist einer der wenigen von Händel in deutscher Sprache geschriebenen): ... Ich wünsche vielmahl in Dero höchstangenehme Conversation zu seyn, welcher Verlust bald wird ersetzet werden, indem die Zeit heran kömt, da man, ohne deren Gegenwart, nichts bei dei Opern wird vornehmen können ...“ Während der Abwesenheit Matthesons vertonte Händel den von dem Librettisten und Dichter Christian Heinrich Postel verfaßten Passionstext nach dem Evangelisten Johannes. Die erste Aufführung des Werkes fand am Karfreitag (17. Februar) 1704 statt.

Mattheson hat sich später sehr abfallend und kritisch über dieses ohne seine Mitwirkung entstandene erste Oratorium Händels geäußert. Infolge eines Mißverständnisses während der dritten Wiederholung von Matthesons Oper Cleopatra, deren erste Aufführung am 20. Oktober 1704 in Hamburg stattgefunden hatte, kam es zwischen den beiden Freunden zum Duell. Der Duellant Mattheson beschreibt diesen Vorfall in der Ehren-Pforte: „Am 5. Dec. obbesagten Jahres [1704], da meine dritte Oper Cleopatra aufgeführet wurde, und Händel beym Clavicimbel saß, entstund ein Misverständniß ... Ich dirigierte, als Componist, und stellte zugleich den Antonius vor, der sich, wohl eine halbe Stunde vor dem Beschluß des Schauspiels, entleibet. Nun war ich bisher gewohnt, nach dieser Action, ins Orchester zu gehen, und das übrige selbst zu accompagnieren: welches doch unstreitig ein jeder Verfasser besser, als ein andrer, thun kann-, es wurde mir aber diesesmahl [nämlich von Händel] verweigert. Darüber geriethen wir, durch einige Anhetzer, im Ausgange aus der Oper, auf öffentlichem Marckte, bey einer Menge Zuschauer, in einen Zweikampf, welcher für uns beide unglücklich hätte ablaufen können; wenn es Gottes Führung nicht so gnädig gefüget, daß mir die Klinge, im Stoßen auf einem breiten, metallenen Rockknopf des Gegners zersprungen wäre. Es geschah also kein sonderlicher Schade, und wir wurden, durch Vermittelung eines der ansehnlichsten Rathsherren in Hamburg, wie auch der damaligen Opern-Pächter, bald wieder vertragen; da ich denn desselben Tages, nehmlich den 30. Dec., die Ehre hatte, Händel bey mir zu bewirthen, wo nächst wir beide, auf den Abend, der Probe von seiner Almira beiwohnten, und bessere Freunde wurden, als vorhin“.

Die von Mattheson erwähnte Oper Almira war Händels musikdramatischer Erstling, der am 8. Januar 1705 in Szene ging; das Libretto stammte von dem Hamburger Librettisten Friedrich Christian Feustking, einen Epilog zu der Oper, Der Genius von Europa, hatte Reinhard Keiser geschrieben. Das Werk, dem damaligen Hamburger Operngeschmack in der Vermischung von deutschen (42) und italienischen (15) Arien folgend, hatte einen beachtlichen Erfolg. Am 25. Februar des gleichen Jahres folgte daher schon die nächste Oper, Nero, wiederum nach einem Libretto von Feustking; ihre Musik ist heute verschollen. 1706 komponierte Händel schließlich noch die Doppeloper Florindo und Daphne, aufgeführt Anfang 1708, und verließ Hamburg gegen Ende des Jahres.

4. Italien

Händel hatte in der Alsterstadt schon 1703/04 Prinz Gian Gastone de’ Medici, den zweiten Sohn des toskanischen Großherzogs Cosimo III., kennengelernt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er von dem Prinzen eine Einladung nach Florenz bekommen hat, die noch von dessen musikliebendem Bruder, dem Kronprinzen Ferdinando unterstützt worden sein mag; zumindest hat ihm aber der Prinz geraten, Italien aufzusuchen. Händel verließ Hamburg in aller Stille, selbst ohne sich von seinem „Freund“ Mattheson zu verabschieden, und zog gen Süden in das Musik-land kat’exochen: Italien. Gegenüber dem Prinzen Gian Gastone hatte sich Händel in Hamburg zunächst zwar negativ über die italienische Musik geäußert — er stand mit diesem Urteil in Deutschland nicht allein da; wenn er sich dennoch entschloß, nach Italien aufzubrechen und dem Beispiel vieler deutscher Musiker, unter denen an erster Stelle Heinrich Schütz zu nennen ist, zu folgen, dann in erster Linie wohl deshalb, weil er durch seine Opernerfolge in Hamburg ohne Zweifel den musikdramatischen Kinderschuhen entwachsen war und nun an Ort und Stelle die italienische Opemkunst, den Zentralpunkt des damaligen europäischen Musikschaffens, kennenlernen wollte. Über seinen Aufenthalt im Süden, der bis 1710 dauerte, ist nur wenig dokumentarisches Material erhalten. Er besuchte die Musik-zentren Florenz, Rom, Venedig und Neapel. In Rom, wo er sich 1707 als Orgelspieler in S. Giovanni in Laterano einführte, verkehrte der „Sassone" oder „Sassone famoso“, wie Händel in Italien genannt wurde, in den Häusern des Adels, er wird als Gast in der Casa des bedeutenden Kardinals Pietro Ottobuoni, eines Neffen des 1691 verstorbenen Papstes Alexander VIII., in der Casa Colonna, im Palazzo des Marchese Ruspoli, der römischen Arcadia erwähnt, er lernte die bekanntesten italienischen Komponisten kennen: die beiden Scarlatti, mit denen ihn eine herzliche Freundschaft verband — Alessandro, der unbestrittene Meister der italienischen Oper dieser Zeit, war wie in Hamburg Mattheson sein musikalischer Mentor, mit Domenico soll im Hause des Kardinals Ottobuoni ein Wettstreit im Klavier-und Orgelspiel stattgefunden haben —, Arcangelo Corelli, der in Rom 1708 sein Oratorium La Resurrezione aufführte, Bernardo Pasquini, Benedetto Marcello, Antonio Caldara und Agostino Steffani. 1707/08 soll in Florenz seine unvoll-ständig erhaltene erste italienische Oper Rodrigo uraufgeführt worden sein, in Neapel komponierte er für die dortige Arcadia die Serenata Aci, Galatea e Polifewo; seinen größten Erfolg in Italien errang er jedoch in der italienischen Opernmetropole Venedig, wo im Teatro San Giovanni Crisostomo am 26. Dezember 1709 die Oper Agrippina nach einem Text des Kardinals Vicenzo Grimani mit der berühmten Primadonna Margherita Durastanti in der Titelpartie uraufgeführt wurde und während des Karnevals 27 Aufführungen erlebte Mit diesem Werk gelang Händel der Durchbruch zur Meisterschaft Über den rauschenden Erfolg berichtet Mainwaring: „So oft eine kleine Pause vorfiel, sdtryen die Zusdiauer: Vival il caro Sassone, es lebe der liebe Sachse/nebst andern Ausdrückungen ihres Beyfalls, die so ausscl-iweiffend waren, daß ich ihrer nicht gedenken nrag. Jedermann war, durch die Größe und Hoheit seines Stils, gleichsam vom Donner gerührt: denn man hatte nimmer vorher alle Kräfte der Harmonie und Melodie in ihrer Anordnung, so nahe und so gewaltig miteinander verbunden gehöret.“

Händel schuf in Italien außer den bereits genannten mehrere geistliche Werke, Kammerduette, italienische Kantaten und ein zweites Oratorium, 11 Prionso del Tempo e del Disinganno, das er später in England zweimal umgearbeitet hat, einmal 1737 und das zweite Mal 1757 kurz vor seinem Tode mit englischem Text unter dem Titel The Triumph ol Time and Truth. In Venedig traf Händel mit dem Prinzen Ernst von Hannover, dem jüngeren Bruder des Kurfürsten Georg Ludwig und dessen Stallmeister Johann Adolf Baron Kielmansegg zusammen; vermutlich bereitete sich mit dieser Begegnung die Berufung Händels an den hannoveraner Hof vor. Agostino Steffani (1654— 1728), Diplomat, Priester, Titular-Bischof, päpstlicher Resident für Norddeutschland, Freund des Philosophen Leibniz, universaler Komponist und herzoglicher Hof-kapellmeister in Hannover, musikalischer Berater der Tochter des Kurfürsten Ernst August, Sophie Charlotte, den Händel 1709 im Hause des Kardinals Ottobuoni in Rom kennengelernt hatte, wird darüber hinaus das Seine dazu getan haben, um dem jungen Meister die vakante Stelle in Hannover zu verschaffen Vertraut mit der itali mischen Musik seiner Zeit und zum Meister geworden, trat Händel die Reise nach dem Norden an.

5. Durchgangsstation Hannover und Wahlheimat England

Die Bestallung Händels zum Hofkapellmeister in Hannover datiert vom 16. Juni 1710, sein Jahresgehalt betrug 1000 Taler; darüber hinaus muß er von seinem Dienstherrn längere Urlaube zugestanden bekommen haben, denn sonst wäre es kaum zu verstehen, daß er die meiste Zeit seinem Amt — offiziell hatte er die Stelle bis 1716 inne — fernbleiben und in diesen Jahren festen Fuß in England fassen konnte. Es dürfte daher wohl eine Legende sein — was die neuere Händel-For-schung auch bestätigt —, daß Händel durch seine häufige Abwesenheit von Hannover kontraktbrüchig geworden sei und eine Verstimmung zwischen seinem Brotherrn, dem Kurfürsten Georg Ludwig, und ihm geherrscht habe, da Händel, obwohl noch in seinen Diensten stehend, von Queen Anne 1713 auf Grund der für sie komponierten Ode for the Birthday of Queen Anne und des aus Anlaß des LItrechter Friedens entstandenen Utrecht Te Deum und Jubilate ein lebenslängliches Gehalt in Höhe von jährlich 200 Pfund Sterling erhalten habe.

Die Legende (Mainwaring) bringt eine Versöhnung zwischen Georg Ludwig, der 1714 nach dem Tode der englischen Königin als Georgi, den englischen Thron bestiegen hat, mit der Entstehung der Water Music in Verbindung. Bei Mainwaring heißt es in diesem Zusammenhang: „Man schlug dem Könige eine Lustfahrt zu Wasser vor. Händel bekam Wind davon, und wurde Raths, eine geschid^te Musik zu dem Ende anzustellen. Er selbst vollzog und führte sie auf; ohne daß es der König wüste; der sidt aber darüber sowol verwunderte, als ergetzte. Ihro Majestät verlangten Beridtt, von wem solches herrührte, und wie es zugegangen, daß diese Ergetzlichkeit, ohne Dero Wissen, vorgenommen worden? Der Baron [Kielmansegg] brachte den 'Verbredter zum Vorschein, und hielt um Erlaubniß an, ihn darzustellen, als einen, der seine Fehlers nur gar zu sehr überführt sey, um sich einer Entschuldigung zu bedienen; doch aber vor Herzen begierig, sein Versehen, durch alles menschmögliche Bezeigen seiner Pflicht, Unterthänigkeit und Dankbarkeit, zu büßen; falls er nur hoffen dürfte, daß Ihro Majestät selbiges in hohen Gnaden anzunehmen geruhen mögten. Diese Fürbitte erlangte ihre Gültigkeit ohne Bedenken, Händel kam aufs Neue in Gnaden, und seine Musik ward mit sonderbaren Ausdrücken königlichen Beyfalls beehret. “

Die von Mainwaring geschilderte königliche Wasserfahrt auf der Themse, die der Biograph in das Jahr 1715, also nur kurze Zeit nach der Thronbesteigung Georg I. verlegt, hat zwar tatsächlich stattgefunden, aber erst im Jahre 1717, wie u. a. einem Bericht des Daily Courant von 19. Juli 1717 zu entnehmen ist; von einer „Aussöhnung“ zwischen dem König und Händel anläßlich dieser Wasserfahrt, zu der Händel die Water Music komponiert hat, kann jedoch keine Rede sein, da Händel bereits 1716 den König nach Hannover begleitet hatte; sollte wirklich eine Verstimmung zwischen Händel und seinem ehemaligen Hannoveraner Herrn bestanden haben, so müßte die Aussöhnung vor 1716 und vor allen Dingen bei einer anderen Gelegenheit stattgefunden haben.

Der Kurfürst Georg Ludwig von Hannover hatte Händel auf Anraten Steffanis, der bis 1703 Hofkapellmeister in Hannover gewesen war, eingestellt. Händel hielt sich nach der erfolgten Anstellung nur kurze Zeit in der Residenz auf, um über Halle, wo er seine Mutter besuchte — die jüngere Schwester Johanna Christiana war gerade gestorben —, über den kurpfälzischen Hof zu Düsseldorf und Holland seine erste Reise nach England anzutreten. Ende November oder Anfang Dezember des Jahres 1710 traf er in London ein, das fast ein halbes Jahrhundert lang die Hauptstätte seines Wirkens werden sollte. Über seinen Aufenthalt in Hannover und über Steffani berichtet Händel selbst nach der Überlieferung des englischen Musikhistorikers John Hawkins (1719— 1789): „When I first arrived at Hannover 1 was a young man . . /was acquainted with the merits of Steffani, and he had heard of me: 1 understood somewhat of music, and . . .could play pretty well on the organ; he received me with great kindness, and took an early opportunity to introduce me to the princess Sophia and the elector’s son, giving them to understand, that l was what he was pleased to call a virtuose in music; he obliged me with instructions for my conduct and behaviour during my residence at Hanover; and being called from the City to attend to matters of a public concern, he lest me in possession of that favour and patronage which himself had enjoyed for a series of years.“

London war zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine Stadt von etwa einer halben Million Einwohner und Metropole eines gewaltigen weltumspannenden Imperiums. Händels erster englischer Aufenthalt fällt in die Regierungszeit der Queen Anne (1702— 1714), der Tochter Jakobs II. und letzte Prinzessin aus dem Hause der Stuarts. Unter ihrer Herrschaft wurde 1707 die Vereinigung von Schottland und England vollzogen, und kurz vor ihrem Tode konnte der für England so erfolgreiche Frieden von Utrecht (1713) abgeschlossen werden. Nach den Wirren des 17. Jahrhunderts, der Revolutionsund Restaurationszeit, herrschte in England seit Wilhelm III. von Oranien (gest. 1702), während dessen letzten Regierungsjahren England gegen Ludwig XIV. in den spanischen Erbfolgekrieg eingetreten war, Ruhe und Wohlstand.

Auf musikalischem Gebiet war das „Goldene Zeitalter“ der Epoche Elisabeths I. längst vergessen. Das Musikleben in England war im 17. Jahrhundert durch die Revolution Cromwells und den Sieg des kunstfeindlichen Puritanismus mehr oder weniger zum Stillstand gekommen, wenngleich während der Restaurationszeit unter der Herrschaft Karls II. ein gewisser Neuaufstieg, allerdings mit stark französischem Einfluß, zu verzeichnen war. Mit dem Tod des größten englischen Komponisten Henry Purcell (1659— 1695) war die große Epoche der englischen Musik, die durch seine Person einen glanzvollen Nachklang erlebte, endgültig zu Ende gegangen. Purcell hatte mehr als ein halbes Hundert Theaterstücke mit Musik versehen und nur eine einzige Oper Dido and Aeneas (1689) geschrieben; wenngleich französische und italienische Züge in seinen dramatischen Werken nicht zu verkennen sind, so war seine geniale Persönlichkeit doch in der Lage, eine durchaus nationalgeprägte englische Oper zu schaffen, deren Boden durch die bei Hoffesten in prunkvoller Weise aufgeführten Maskenspiele („Masques"), eine Verbindung von Schauspiel und Musik, vorbereitet war; sein früher Tod machte jedoch dieser Entwicklung ein jähes Ende. Schon 1660 begann mit der Operntruppe des Gentileschi in London der Einfluß der italienischen Oper; zwar wurden zunächst — wie auch in Deutschland — nur zweisprachige Opern aufgeführt, doch erlebte dann bereits 1710 die erste vollständige italienische Oper Almahida ihre Aufführung.

Die „welsche“ Oper wurde von der englischen Literatur vom Beginn ihres Auftretens an leidenschaftlich bekämpft; in erster Linie war es Joseph Addison (1672— 1752), der in der Zeitschrift The Spectator mit beißendem Spott gegen den Snobismus, italienische Opern in London aufzuführen, vorging und eine englische Nationaloper forderte. Das Vordringen der italienischen Oper konnte jedoch auch durch diese Angriffe nicht aufgehalten werden.

Händel war kurz nach seiner Ankunft in London mit dem Direktor des Haymarket-Theatre, Aaron Hill, bekannt geworden; Hill, Altersgenosse Händels und literarisch wie musikalisch ein hochgebildeter Mann, entwarf für Händel sofort die Handlung einer Oper nach Tassos Gertisalentwe liberata. In der unvorstellbar kurzen Zeit von nur zwei Wochen waren Libretto und Musik zu Rinaldo beendet, wobei der Textdichter Giacomo Rossi mit der Eile und dem Feuereifer des Komponisten kaum Schritt halten konnte. Bereits am 24. Februar 1711 ging das Werk mit den ausgezeichnetsten italienischen Gesangskräften und mit Händel am Cembalo im Haymarket-Theatre in Szene; ihr Schöpfer war nicht ein Italiener, sondern ein an ihr und durch sie zur Größe und Meisterschaft gelangter deutscher Komponist.

Mit Recht sieht Romain Rolland in der Aufführung des Rinaldo einen entscheidenden Wendepunkt in der Entwicklung der europäischen Operngeschichte, den er folgendermaßen charakterisiert: „Die italienische Oper, die Europa erobert hat, beginnt jetzt ihrerseits von fremden Musikern, die sich an ihr gebildet haben, von den italianisierenden Deutschen, erobert zu werden. Nach Händel kam Hasse, danach Gludz und schließlich Mozart. Händel aber ist der erste der Eroberer“. Der Erfolg des Rinaldo war so durchschlagend, daß die Oper bis zum Ende der Saison fünfzehn Mal aufgeführt werden konnte.

Durch Hill wurde Händel sehr bald der Queen Anne als Cembalo-und Orgelvirtuose vorgestellt. Der stellvertretende Direktor des Haymarket-Theatre, der ebenso berühmte wie häßliche „Schweizer Graf“ John Jacob Heidegger, führte ihn in die Londoner Gesellschaft ein. Nach Beendigung der Saison am 2. Juni 1711 kehrte der erfolgreiche Händel, dem das seit dem Tod Purcells bestehende Mittelmaß im englischen Musikleben sehr zustatten kam, nach Hannover zurück, allerdings nicht auf direktem Wege, sondern wiederum mit einem längeren Zwischenaufenthalt in Düsseldorf. „Wie er sich von der Königin beurlaubte, und seine tiefe Erkenntlichkeit über die ihm erwiesene Gnade bezeigte, vermehrten Ihro Majestät dieselbe mit ansehnlichen Geschenken, und wünschten ihn bald wiederzusehen. Solche Merkmale des Beyfalls . . . sdimeichelten ihm nicht wenig, und er versprach, sich wieder einzustellen, sobald er nur vom Churfürsten Erlaubniß bekäme, in dessen Diensten er stünde“ (Mainwaring).

Da das Opernhaus in Hannover seit 1698 geschlossen war, herrschte am dortigen Hof ein ruhiges, hauptsächlich auf die Kammermusik beschränktes Musikleben. Händel komponierte daher während seines kurzen Aufenthaltes in Hannover lediglich Trio-Sonaten, Kammer-duette und Klaviermusik. Bereits im Spätherbst des gleichen Jahres war er wieder zu Besuch in Halle. Die Beziehungen zu England rissen nicht ab; man erfährt, daß er die englische Sprache erlernte, und Ende 1712 trat er erneut die Reise nach England an. Am 22. November ging seine zweite in England komponierte Oper, das Schäferspiel II pastor fido, mit geringem Erfolg in Szene.

Noch im gleichen Jahr schuf er eine weitere Oper Teseo; der Librettist dieses Werkes war Nicola Haym, ein etwa 1679 in Rom geborener Komponist deutscher Abstammung. Haym kam Anfang des 18. Jahrhunderts nach London, um zusammen mit den Komponisten Clayton und Dieupart die italienische Oper in England heimisch zu machen. Zunächst auf der Seite der Gegner Händels stehend, hatte er die Zugkraft und den Erfolg des Fremdländers recht bald erkannt Der Erfolg des Teseo machte die Niederlage von II pastor ßdo wieder wett. Die Leitung des Haymarket-Theatre war inzwischen auf Heidegger übergegangen, Händel komponierte jedoch zunächst keine Opern, sondern widmete sich — vom englischen Hof und den Adelskreisen in Beschlag genommen — mehr der offiziellen Staatsmusik.

Anfang 1713 komponierte er die Ode for the Birthday of Queen Anne, von der die Königin derart angetan war, daß sie Händel den Auftrag zur Komposition des bereits erwähnten Utrecht Te Deum und Jubilate gab, eine immerhin insofern bemerkenswerte Tatsache, als ein solch hochoffizieller Auftrag an sich einem englischen Komponisten hätte zukommen müssen. Daraus ist zu ersehen, wie sehr Händels Bedeutung in England in der kurzen Zeit seit 1710 gewachsen war. Die beiden Werke wurden am 7. Juli 1713 in der St. Pauls Cathedrale aufgeführt.

In der Folgezeit lebte Händel von der Öffentlichkeit zurückgezogen, sein Domizil hatte er auf Einladung des Earl of Burlington in dessem Landhaus in Piccadilly aufgeschlagen; hier herrschte eine der römischen „Arcadia“ ähnliche Atmosphäre. 1714 entstand eine kleine Oper Silla, aufgeführt im Haus Burlington, 1715 folgte dann Amadigi dt Gaula. 1716 begleitete Händel Georg I. nach Hannover; dort schrieb er sein letztes deutsches Werk, die Passion nach B. H. Brockes, Der für die Sünden der Welt gemarterte und sterbende Jesus, die auch von Telemann, Keiser und Mattheson vertont worden ist. Von Hannover aus machte er einen Abstecher nach Halle und unternahm eine Reise nach Ansbach, um dort einen alten Hallenser Studienfreund, Johann Christoph Schmidt, zu besuchen. Dieser, von der Person Händels stark beeindruckt, folgte mit seinem Sohn dem Komponisten und wurde bis zu dessen Tod sein nächster Vertrauter, Sekretär und Notenkopist. Die beiden „Smith“, wie sie sich anglisierend nannten, kopierten das Oeuvre Händels offensichtlich in dreifacher Ausfertigung; ihre Kopien gehören heute zu den wichtigsten Quellen der Händelforschung.

Während König Georg I. erst Anfang 1717 von Hannover nach London zurückkehrte, dürste Händel schon Ende 1716 wieder in der englischen Hauptstadt eingetroffen sein. In den nun folgenden Jahren stand er in Cannons in den Diensten des Earl of Carnarvon, des späteren Duke of Chandos, dessen Kapellmeister bis 1718 Johann Christoph Pepusch (1667— 1752), der Autor der Beggar’s Opera, gewesen war. Händel komponierte dort die elf Chandos Anthems, das Pastoral Acls and Galatea und das erste englische Oratorium Esther (2. Fassung 1732); daneben entstand Klaviermusik, u. a. die Suites de Pieces pour le Clavecin. Dieses Werk besteht aus acht Suiten, darunter die berühmten Grobsdintied-Variationen (The Harmonious Blacksmith), und wurde von Händel 1720 selbst veröffentlicht; 173 3 erschien eine zweite Sammlung bei dem Londoner Verleger John Walsh.

Am 21. Februar 1719 veröffentlichte das Original Weekly Journal folgende Notiz: „Mr. Hendel, a famous Master of Musick, is gone beyond Sea, by Order o(his Majesty, to Collect a Company of the choicest Singers in Europe, for the Opera in the Hay-Market".

Mit der vom König auf Subskriptionsbasis gegründeten „Royal Academy of Music“, deren künstlerischer Leiter Händel und geschäftlicher Direktor Heidegger wurde, begann eine neue Epoche in des Komponisten Leben und Schaffen. Als weitere musikalische Mitarbeiter werden Giovanni Battista Bononcini und Attilio Ariosti erwähnt, als Librettisten Paolo Antonio Rolli und Nicola Haym. Händel verließ Cannons und reiste, wie dem oben zitierten Zeitungsbericht zu entnehmen ist, auf den Kontinent, hielt sich kurz in Düsseldorf auf, besuchte seine Mutter in Halle (Johann Sebastian Bach machte sich von dem nahegelegenen Köthen aus nach Halle auf den Weg in der Absicht, seinen berühmten Zeitgenossen kennenzulernen, versäumte diesen aber), um dann am Hof Augusts des Starken zu Dresden, wo der Italiener Antonio Lotti ein Opernensemble mit den berühmtesten italienischen Sängern dieser Zeit zusammengestellt hatte, für die neue Oper italienische Gesangskräfte zu engagieren. Die Oper eröffnete ihre erste Spielzeit am 2. April 1720 mit Giovanni Portas Numitore, da des „Master of Orchestra" Eröffnungsoper 11 Radamisto, inhaltlich ein Vorläufer des Fidelio, nicht rechtzeitig fertig geworden war; sie folgte am 27. April und hatte mit der Primadonna Durastanti, der Agrippina von 1709, in der Titelrolle einen ähnlichen Erfolg wie seinerzeit Rinaldo.

Händel steuerte für die Akademie weiterhin folgende Werke bei: Das Pasticcio 11 Muzio Scevola (nur 3. Akt von Händel) und 11 Floridante 1721, Ottone und Flavio 1723, Giulio Cesare und Tamerlano 1724, Rodelinda 1725, Scipione und Alessandro 1726 und 1727 Admeto. Wenn Händel in diesen Jahren als Opernkomponist auch unbestritten auf der Höhe seines Ruhms stand, so mußte er doch zermürbende und teilweise erbittert geführte Rivalitätskämpfe bestehen, die schließlich zum Zusammenbruch des Opernunternehmens führten. Bereits nach der Aufführung des Radamisto kamen die Gegner Händels auf den Plan, die die Opern anderer bekannter Komponisten dieser Zeit gegen ihn ins Feld führen wollten. Die erste Spielzeit der neuen Oper endete mit Domenico Scarlattis Narciso, und die folgende wurde mit Astarto von Bononcini eröffnet.

Bononcini (1670 —ca. 1750), der bereits in Rom und am Hof von Wien als italienischer Opernkomponist große Erfolge hatte — er kam im Sommer 1720 nach London —, wurde für die nächsten Jahre zusammen mit Ariosti Händels gefährlichster Gegner auf dem Gebiet der Opera seria. Ähnlich wie es später in Paris die beiden Lager der Buffonisten und Antibuffonisten gab (die Anhänger Glucks und Puccinis), so bildeten sich im Londoner Publikum zwei Parteien. Nach anfänglichen Rückschlägen vermochte Händel sich allmählich durchzusetzen, bis er dann ab 1724 Bononcini, dem eine unangenehme Plagiatsaffaire sehr zu schaffen machte, endgültig in den Schatten stellen konnte.

Nicht weniger aufreibend waren für Händel allerdings auch die Streitigkeiten im Theater selbst; hier ist in erster Linie der Rivalitätskampf der beiden Primadonnen Cuzzoni und Faustina Bordoni-Hasse, um die sich im Publikum ebenfalls zwei Parteien gruppierten, zu nennen; der Rivalitätskampf artete so aus, daß beide sich unter Getöse der Zuschauer auf offener Szene während einer Aufführung von Bonon-cinis Astianatte am 6. Juni 1727 prügelten. Diese Auswüchse der italienischen Oper wurden von einem Teil des Londoner Publikums mit Abscheu beobachtet; in der Literatur und Presse prangerte man sie in satirischer Weise an. Nach dem offenen Skandal auf der Bühne, der den Höhepunkt d r Streitigkeiten darstellte, schien das Ende der Opern-akademie herangekommen zu sein, jedoch wurde die folgende Saison 1727/28 dennoch nach einer Reprise von Admeto mitAriostis Teuzzone eröffnet, und Händel versuchte mit Riccardo Primo, Siroe und Tolemeo zu retten, was noch zu retten war.

Am 1. Juni 1728 schloß die Oper ihre Pforten, nachdem im Februar dieses Jahres im Lincoln’s Inn Fields Theatre die Beggar’s Opera von John Gay und Pepusch, jenes durch Händel beim Earl of Burlington herausgedrängten Kapellmeisters, aufgeführt worden war. Dieses satirische Spiel, das gesprochenen Dialog mit volkstümlichen Melodien vereinigte, richtete sich gegen die Unnatürlichkeit der italienischen Opern und ihre Auswüchse, gegen die Verderbtheit der Gesellschaft, und versetzte damit der Opernakademie Händels den eigentlichen Todesstoß. Die Beggar’s Opera, die einen ungeheuren Erfolg zu verzeichnen hatte, wurde das Vorbild für alle Persiflagen auf dem Gebiet des Musrk-theaters bis hin ins 20. Jahrhundert (z. B. die Dreigroschenoper von Brecht/Weill, die handlungsmäßig auf die Beggar’s Opera zurückgeht).

Zusammen mit Heidegger versuchte Händel, der 1727 noch unter dem im Juni dieses Jahres verstorbenen König Georg I. die englische Staatsbürgerschaft erhalten und für König Georg II. vier Coronation Anthems komponiert hatte, auf eigene Kosten ein Operntheater zu errichten. Um neue Künstler zu engagieren, begab er sich Anfang 1729 nach Italien; über Halle, wo er seine Mutter zum letzten Ma! sah — sie starb 17 30 —, Hannover und vielleicht auch Hamburg kehrte er nach London zurück. Ein neuerliches Treffen mit Bach, der seinen Sohn Friedemann aus diesem Grunde nach Halle geschickt hatte, kam wiederum nicht zustande.

Der zweiten Opernakademie Händels, die am 2. Dezember 1729 mit seinem Lotario eröffnet wurde und für die er Partenope, Poro, Ezio (die beiden letzten Libretti von Pietro Metastasio), Sosarme und das bedeutendste und reifste Werk dieser Reihe, den Orlando furioso, in ungebrochener Schaffenskraft komponierte, war jedoch ebenfalls kein großer und vor allen Dingen dauernder Erfolg beschieden. Sie endete bereits im Juni 1733, nachdem es um den bekannten italienischen Alt-kastraten Senesino, der die Titelrolle im Orlando mit triumphalem Erfolg kreiert hatte, zu einem Streit gekommen und er daraufhin von Händel entlassen worden war; mit Senesino verließen außer der Signora Strada, die Händel für die zweite Opernakademie verpflichtet hatte, alle Sänger den Komponisten. Die Gegner Händels, deren Haupt der Prinz von Wales, der spätere König Georg III. war, hatten schon seit einiger Zeit ein Konkurrenzunternehmen, die „Nobility Opera'vorbereitet, zu deren Gründung es 1733 kam. Bei der Errichtung dieser Gegenoper spielten politische Intrigen eine Rolle: Der Prinz von Wales und die von ihm angeführte Adelsclique wollten mit ihr neben Händel auch den unbeliebten König Georg II., den Vater des Prinzen und Protektor des Komponisten, treffen.

Händel reiste nach dem Zusammenbruch seiner zweiten Opern-akademie offenbar nochmals nach Italien, um sich neues Sängerpersonal zu holen. Wenn der Komponist auch in der Zeit von 1730— 1733 Abstand von der italienischen Oper bekommen zu haben scheint — 1732 entstand die zweite Fassung des Oratoriums Esther, im gleichen Jahr wurde Acis and Galatea einer neuen Bearbeitung unterzogen und sowohl bühnen-als auch konzertmäßig aufgeführt, und Anfang 1733 beendete er Deborah so begann er doch eine dritte Akademie am 30. Oktober 173 3 im Haymarket-Theatre. Die „Nobility Opera" spielte in Lincoln’s Inn Fields Theatre; ihr musikalischer Leiter war Nicola Porpora (1686— 1766), der spätere Lehrer Haydns. Die Stagione konnte mit Sängern wie Senesino und Cuzzoni und im Jahr darauf auch mit dem berühmtesten und besten Sänger seiner Zeit, dem Kastraten Farinelli aufwarten. Die „Nobility Opera“, zu deren Leitung vorübergehend auch Johann Adolf Hasse neben Porpora berufen wurde, brachte am 29. Dezember 173 3 Porporas Arianna nach einem Text von Rolli auf die Bühne. Händel folgte im Januar 1734 mit seiner eigenen Arianna.

Nach Beendigung der Saison 1733/34 wurde die Situation durch den großen Erfolg der Gegenoper, der seinen Höhepunkt in Hasses Artaserse mit Farinelli fand, so unerträglich, daß Heidegger sich von Händel trennte und dieser in den Covent Garden übersiedeln mußte; in das Haymarket-Theatre, an dem Händel vierzehn Jahre lang gearbeitet hatte, zog nunmehr die „Nobility Opera“ ein. Im Covent Garden Theatre brachte Händel in den nächsten Jahren weitere neue Opern auf die Bühne: das für die berühmte Tänzerin Maria Salle komponierte Tanz-spiel Terpsicore (17 34), das dem umgearbeiteten Pastor fido als Vorspiel diente, Ariodante, Alcina, (beide 173 5), zu. Hochzeit des Kronprinzen Atalanta (1736), Arminio, Giustino, und Berenice (alle drei 1737); daneben führte Händel Oratorien auf, unter anderem Esther, Deborah, die 1733 entstandene Athalia und The Alexanders Feast or the Power of Musick, dessen Komposition er Anfang 1736 beendet hatte. Die Aufführung der letzten Oper Berenice (18. Mai 1737) konnte Händel nicht mehr leiten, die Anstrengungen der letzten Jahre hatten selbst seine Bärennatur aufgerieben: Am 14. Mai 1737 erlitt er einen leichten Schlaganfall, der di'rechte Seite lähmte. Am 25. Juni schloß die Saison und damit die dritte Opernakademie mit einer Aufführung des Alexander’s Feast. Händel konnte seine Sänger nicht voll ausbezahlen und mußte sie daher entlassen. Wirtschaftlich ruiniert begab sich der kranke Meister Anfang September nach Aachen, wo er in den heißen Bädern durch eine Gewaltkur in Kürze seine Krankheit überwand.

Die „Nobility Opera“ schloß ihre Pforten fast zur gleichen Zeit; ihr Ziel, Händel auf dem Gebiet des Musikdramas zu besiegen, hatte sie nicht erreicht. Die Zeit der italienischen Oper war für London und damit auch für Händel zu Ende; obgleich er in den Jahren 1737— 1741 noch einige Opern schuf — 1737 Faramondo, 1737/38, Serse, 1740 hneneo und 1741 Deidawia —, verlagerte sich das Schwergewicht seiner kompositorischen Tätigkeit nunmehr vollends auf das Gebiet des Oratoriums mit englischem Text. Bereits Ende Oktober 1737 kehrte er aus Aachen zurück; durch ein Benefiz-Konzert am 28. März 1738 mit einem Programm von weltlichen und geistlichen Werken versuchte er, seinem völligen wirtschaftlichen Ruin zu begegnen. Am 20. November starb Queen Caroline; aus diesem Anlaß komponierte Händel das herrliche Funeral Anthem, „The ways of Zion do wourn“. 1738 entstanden die Oratorien Saul und Israel in Egypt, es folgten die Ode for St. Cecilia’s Day und L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato; der Text der beiden ersten Teile dieses Werkes stammte von Milton, der dritte von Charles Jennens. In diese Zeit fallen seine großen Instrumentalwerke, u. a. die Concerti grossi op. 6, die Orgelkonzerte op. 4, und in der unglaublich kurzen Zeitspanne vom 22. August bis 14. September 1741 schrieb der vom Schicksal geschlagene Meister seinen Messiah, und schon kurze Zeit darauf beendete er den Samson.

Am 4. November des gleichen Jahres verließ Händel London und begab sich auf Einladung des irischen Statthalters William Covendish nach Dublin. Im Winter 1741/42 wurden dort mehrere Werke von ihm aufgeführt, darunter am 13. April 1742 zum ersten Mal der Messiah. Im August 1742 kehrte Händel nach London zurück. Die Bedeutung des Komponisten wurde nunmehr zwar von den großen Geistern seiner Zeit anerkannt aber im Konzertbetrieb und bei den Oratorienaufführungen der kommenden Zeit hatte er es nach wie vor mit einer erbitterten Gegnerschaft zu tun, der Aristokratie, die der Verbürgerlichung der Musik, wie sie sich durch die Oratorien in englischer Sprache anbahnte, heftigen Widerstand entgegensetzte. Händel hat sogar die alte Tradition der „Subskriptions-Aufführungen“, die sich in erster Linie an die finanzkräftige Oberschicht gewandt hatten, aufgehoben und verkaufte gegen ein geringes Entgelt Eintrittskarten, die jeden berechtigten, den Aufführungen beizuwohnen.

Der Messiah erlebte seine erste, allerdings wenig erfolgreiche Aufführung in London im März 1743. Im Juli beendete er Semele, und aus Anlaß der Feiern zum Sieg der Engländer über die Franzosen bei Dettingen im Juni 1743 das Dettingen Te Deum. Es folgte das Oratorium Joseph, der Erfolg aber wollte sich noch immer nicht einstellen; nach Belshazzar und Hercules (1744) wurden die Feindseligkeiten der Adels-schichten so groß, daß er im Jahre 1745 wiederum dem gesundheitlichen wie wirtschaftlichen Ruin nahe war.

Ein äußerer Anlaß ließ Händel nunmehr endlich zum Zuge kommen und gab ihm nach den beiden Niederlagen von 17 3 und 1745 neuen Aufschwung: Der in Frankreich im Exil lebende Thronprätendent der Stuarts, Charles Edwards, hatte seine Ansprüche auf den englischen Thron noch nicht aufgegeben und landete in Schottland, um mit einem Heer auf London zu marschieren. Die Welle der nationalen Erhebung riß Händel mit; im Zusammenhang mit den kriegerischen Ereignissen komponierte er 1746 das Occasional Oratorio, und nach der erfolgreichen Schlacht von Culloden am 16. April 1746, in der der Herzog von Cumberland den Stuart-Prinzen geschlagen hatte, entstand das diesen Sieg verherrlichende Oratorium Judas Maccabaeus, Händels volkstümlichstes Werk.

Mit ihm hatte sich sein Sieg entschieden, sein Ruhm war besiegelt, seine Existenz gesichert. Es folgten nun seine letzten großen Werke: zunächst Alexander Balus, Joshua, Solonton und Susanna-, aus Anlaß des Aachener Friedens (7. Oktober 1748) komponierte er seine großartigste Freiluftmusik, die Royal Firework Music, die im April 1749 im Green Park mit großem Pomp aufgeführt wurde. Das Werk wiederholte er dann noch einmal zu Gunsten des Foundling Hospitals. Diesem der Erziehung gefährdeter und verlassener Kinder gewidmeten Hospital blieb Händel bis zu seinem Lebensende verbunden; er stiftete ihm eine Orgel, die er 1750 mit einer Aufführung des Messiah selbst einweihte. 1749 entstand Theodora; am 1. Juni des folgenden Jahres, in dem Bach starb (28. Juli), schrieb er sein Testament nieder, dem in den Jahren 1756 bis 1759 vier Zusätze folgten. Im August 1750 verließ er nochmals London, um seine Heimat zu besu hen. Über diese Reise, die ihn vermutlich nach Halle führte, berichtet lediglich der General Advertiser vom 21. August 1750: „Mr. Handel, who went to Germany to visit his Friends sonte Time since, and between the Hague and Harlaem had the Misfortune to be overturned, by which he was terribly hurt, is now out of Danger.“ Nach London zurückgekehrt, begann er Anfang 1751 mit der Arbeit an seinem letzten Oratorium Jephtha, wurde jedoch bei der Arbeit durch eine beginnende Erblindung behindert. Am 13. Februar trug er in das Autograph beim Schlußchor des zweiten Aktes folgende Notiz in deutscher Sprache ein: „bis hierher körnen den 13. Febr. 1751 verhindert worden wegen relaxation des gesidtts meines linken augesu. Nach einem Kuraufenthalt in Cheltenham konnte er die Partitur des Jephtha am 30. August 1751 beenden. Eine Freundin Händels, Mrs. Delany, meldete 1752 die völlige Erblindung des Komponisten: „Poor Handel! how feelingly must he recollect the 'total eclipse’. I hear he has now been couched, and found some benefit from it“.

Händel war durch diesen schwersten Schicksalsschlag seines Lebens aber nicht gebrochen, er veranstaltete weiterhin Konzerte und spielte in den Aufführungen seiner Oratorien Orgel. Nachdem er am 6. April 1759 einer die Saison beendenden Aufführung des Messiah im Covent Garden beigewohnt hatte, erkrankte er schwer und starb am 14. April, dem Karsamstag des Jahres 1759, im Alter von 74 Jahren. Am 20. April wurde er in der Westminster Abbey beigesetzt, wie er es im vierten und letzten Zusatz vom 11. 4. 17 59 zu seinem Testament gewünscht hatte. Über seine letzten Lebensstunden berichtet der Barbier James Smith:

. on Saturday last at 8 o’clock in the morn died the great and good Mr. Handel. He was sensible to the last moment . . . 1 had the pleasure to reconcile him to his old friends; he saw them and forgave them . . . He took leave of all his friends on Friday morning, and desired to see nobody but the Doctor and Apothecary and myself. At 7 o’clod^ in the evening he took leave of me, and told me we ’should meet again ; as soon as l was gone he told his servant ‘not to let me come to him any more, for that he had done with the world’. He died as he lived — a good Christian, with a true sense of his duty to God and man. and in perfect charity with all the world. . .

Charakter-Bild

«... I desire that my said Executor may have leave to erect a monuwent for me there [Westminster Abbey] and that any sum not Exceeding Six Hundred Pounds be expended for that purpose at the discretion of my said Executor.“ Dieser Wunsch aus dem letzten Zusatz vom 11. April 17 59 zu Händels Testament führt in Verbindung mit dem von ihm 173 3 abgelehnten Doktortitel der Universität Oxford unmittelbar in den Charakter Händels ein: Er fühlte sich als freier und stolzer Mann und war stets darauf bedacht, auf keinen Fall in ein Abhängigkeitsverhältnis zu kommen. Aus diesem Grunde verzichtete er auf den akademischen Titel; daß er aber Ruhm keineswegs verachtete, beweisen die zitierten Worte seines Testaments. Allein sein Ruhm mußte von ihm selbst bestimmt und gesetzt sein. Dieser für Händel charakteristische Wesenszug ist nur dann zu verstehen, wenn man berücksichtigt, daß er ein Selfmademan im echten Sinn dieses heute meist falsch angewandten und abgenutzten Wortes gewesen ist. Vollkommen aus eigener Kraft hat er sich in einer für seine Zeit bewunderungswürdigen und seltenen Unabhängigkeit, mit der er ohne Zweifel seine Zeitgenossen vor den Kopf gestoßen hat, schon zu Lebzeiten hohes Ansehen als Mensch und Künstler errungen, das sich allein in seiner Wahlheimat England durch die eine Tatsache ausdrückt, daß nach einem Bericht derLondon Evening Post vom 24. April 1759 nahezu 3000 Menschen an seiner Beerdigung teilgenommen haben.

Als echter Mensch des Barockzeitalters zeigte sich Händel den Freuden des Lebens nicht abgeneigt: Er konnte übermäßig essen und trinken, war aber auf der anderen Seite alles andere als ein Verschwender. Im Verkehr mit Menschen konnte der ganz seiner Kunst verpflichtete, dauernd in die Arbeit vertiefte Komponist unausstehlich und barsch sein. Er war eigensinnig, wenn es galt, seine Intentionen durchzusetzen; er war ein Diktator und besaß die Gabe des Herrschens. Aber nur dieser Grundzug seines Wesens, der sich am anschaulichsten in jener berühmten von Mainwaring berichteten Szene mit der Primadonna Cuzzoni 3) dokumentiert, konnte ihm die Kraft verleihen, sich in den Wirren und Kämpfen, denen er sich in London bei seinen Opernakademien und später bei den Oratorien-Aufführungen gegenübersah, durchzusetzen. Im gleichen Maße wie er aufbrausend und herrisch war, konnte er aber auch gutmütig, ja fast naiv und vor allen Dingen wohltätig und selbstlos sein.

Die treffendste Schilderung von Händels Äußerem, das in zahlreichen Bildern und Büsten, am lebensechtesten vermutlich von Louis Francois Roubillac, dem Schöpfer des von Händel selbst gewünschten Denkmals in der Westminster Abbey, festgehalten ist, hat Romain Rolland in seinem Bildnis Händels in Anlehnung an den englischen Musikgeschichtsschreiber Charles Burney (1726— 1814) gegeben: „Man nannte ihn den großen Bären. Er war riesenhaft, breit, dick, mit großen Händen, großen Füßen, ungeheuren Armen und Schenkeln. Seine Hände waren so fett, daß die Knodten im Fleisch verschwanden und Grübchen bildeten. Mit seinen krummen Beinen kam er schweren und wiegenden Ganges daher, seür aufrecht, den Kopf zurückgebogen, unter einer großen weißen Perücke, deren Locken voll über seine Schultern fielen. .. Er sah den Leuten direkt ins Gesicht, in dem festen Blick ein schelmisches Aufblitzen, einen spöttischen Zug um den großen feinen Mund. Seine Miene war imponierend und jovial zugleich, gewöhnlich, etwas finster und sauersehend. Wenn er aber einmal lächelte“, sagt Burney, , so war es, wie die Sonne, die aus einer schwarzen Wolke hervorbricht. Aus seinen Zügen strahlten dann auf einmal Verstand, Witz und gute Laune“.“

Werk

„Er ist unser aller Meister“

Joseph Haydn Das monumentale, nahezu unübersehbare Oeuvre Händels ist in Druckausgaben gut überliefert; schon zu Lebzeiten des Komponisten erschien etwa im Gegensatz zu den Werken Johann Sebastian Bachs eine unverhältnismäßig große Anzahl seiner Kompositionen, und zwar in erster Linie bei dem Londoner Verleger John Walsh (Vater und Sohn). Nachdem bereits Ende des 18. Jahrhunderts eine unvollständige Gesamtausgabe mit 180 Nummern in London und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl in Deutschland als auch in England zwei weitere Versuche in dieser Richtung unternommen worden waren, erschien dann die erste vollständige Ausgabe sämtlicher Werke Händels in der Zeit von 1858 bis 1903. Diese mit sechs Supplementbänden 100 Bände umfassende Ausgabe (der Band 49 ist allerdings nicht erschienen) ist das Werk des Händelforschers Friedrich Chrysander (1826— 1901), der eigens zu diesem Zweck und zusammen mit.dem Literarhistoriker Gervinus im Jahre 18 56 die „Deutsche Händel-Gesellschaft“ als Trägerin der Ausgabe gegründet hatte. Nach dem Tode von Gervinus 1871 war Chrysander, der Autor einer grundlegenden, jedoch Torso gebliebenen Händel-Biographie, auf sich allein gestellt; vom 18. Band an übernahm er neben der reinen Editionsarbeit auch noch Stich und Druck der Folianten. Die Leistung dieses einzelnen Mannes ist nur mit der ungeheuren Schaffenskraft Händels selbst zu vergleichen, und wenn die Gesamtausgabe auch heute, mehr als hundert Jahre nach ihrem Beginn, den neuen wissenschaftlichen Forschungsergebnissen und der modernen Editionstechnik nicht mehr entspricht und standhält so bleibt Chrysander doch das einmalige Verdienst, zum ersten Male das Gesamt-werk Händels Wissenschaft und Praxis in einer für seine Zeit vorzüglichen Ausgabe zugänglich gemacht zu haben.

Händels Schaffen ruht auf den gewaltigen Eckpfeilern Oper und Oratorium. Zusammen mit den Pasticcio-Opern und den ganz oder teilweise verlorengegangenen Partituren hat er in der Zeit von 1705 (Almira) bis 1741 (Deidamia) 46 Opern komponiert; demgegenüber stehen einschließlich der beiden Passionen, den verschiedenen Fassungen einzelner Werke etwas mehr als 30 Oratorien-Partituren, von denen der größte Teil nach 1737, also nach Händels Abkehr von der italienischen Oper, entstanden ist. Um diese beiden Eckpfeiler ranken sich eine umfangreiche Kirchenmusik, weltliche Gesangsmusik und Instrumental-musik, die sich in Klavier-, Orchester-und Kammermusik unterteilt.

Als Opernkomponist gehört Händel ebenso wie Hasse zur neapolitanischen Schule, die mit Beginn des 18. Jahrhunderts die Oper von Florenz, Venedig und Rom abgelöst hatte. Francesco Proveneale (1627— 1704) gilt als ihr Begründer, ihr beherrschender italienischer Vertreter war Alessandro Scarlatti, unter dessen musikalischem Einfluß Händel in Italien in weitgehendem Maße gestanden hat. Im Gegensatz zum „Stile rappresentativo“ des in der Folge der Ideen der „Florentiner Camerata“ um 1600 entstandenen „Dramma per musica“, in dem die Musik den Text und dessen Affekte untermalte und das in den Schöpfungen Claudio Monteverdis seinen Höhepunkt erreichte, bildete die neapolitanische Schule dieses „Dramma per musica“ zur reinen Musizieroper aus. Diese Entwicklung bahnte sich schon im 17. Jahrhundert an; sie steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Aufkommen des „bei canto“, durch den die „prima donna“ oder der „pnmo uomo“, also der Sänger, in den Vordergrund des musikalischen Geschehens gestellt wurde. Es kam zu einer strengen Teilung von Rezitativ und Arie, wobei in das „Secco", d. h. in den „trockenen“ nur vom Cembalo begleiteten Sprechgesang die Handlung des Dramas verlegt wurde, während in der dreiteiligen Dacapo-Arie (A—B—A) die Affekte der darstellenden Personen in musikalisch verschwenderischer, bis zum Manierismus ausartender Weise wiedergegeben wurden.

Händel hat sich in erster Linie dieses Typus der barocken „Musizieroper“ bedient; seine geniale Schöpferkraft bewahrte ihn davor, in einem starren, einmal gegebenen Schema haften zu bleiben. Zwar bilden Seccorezitativ und Dacapo-Arie auch bei ihm die Grundlage der Oper, und selbstverständlich verharren die Personen der von ihm vertonten Libretti — mehr als die Hälfte seiner Opern sind dem antiken Stoffkreis verpflichtet — gemäß der Kunstauffassung des 18. Jahrhunderts stets im Typischen, aber in einmaliger Weise lockerte er kompositorisch das gegebene Schema auf. Mit einer unvorstellbaren Vielfalt wußte Händel in den Arien die Affekte von Liebe, Haß. Leid, Freude und Freundschaft musikalisch zu gestalten, wobei seine Musik sich durchaus auch in die Regionen einer individuellen Darstellungsweise vorwagte wie etwa in den vom Orchester begleiteten Rezitativen (Accompagnati), deren sich Händel an dramatischen Höhepunkten bediente, oder auch in den an sich seltenen Ensemblestücken, wie zum Beispiel in dem die Gatten-liebe verherrlichenden Radamisto, im Poro, in der großartigen Sterbe-szene des Bajazet im Tamerlano, die ganz im Gegensatz zum hergebrachten Schema Rezitativ—Arie durch eine Reihe von ineinander-übergehenden Accompagnati und Arien geprägt ist, oder in dem fast an mozartische Charakterisierungskunst der einzelnen Stimmen mahnende Terzett „Voglio stragi“ aus dem 2. Akt der gleichen Oper.

Die Händelsche Oper ist der Gewohnheit der Zeit entsprechend nahezu chorlos; meist nur am Ende des Stückes vereinen sich die Soli zum Chor. Der Komponist der großen monumentalen Chöre tritt erst später im Oratorium auf den Plan; allerdings durchbricht er in einigen seiner Opern das Schema und streut vereinzelt prachtvolle Chöre ein wie etwa in Ariodante, Giulio Cesare und Tamerlano. Neben der dreiteiliger. Dacapo-Arie verwendet Händel auch Arien in Strophenform, Cavatinen (ein-oder zweiteilig) oder Arien ohne zweiten Teil bzw. Wiederholung, letztere besonders an dramatischen Höhepunkten, an denen eine Fortführung der Arie den dramatischen Ablauf stören würde. Unglaublich und immer wieder aufs neue bewundernswert ist der musikalische Reichtum und die Kunst der Abwechslung in den Dacapo-Arien und -Ariet-ten. Voll instrumentierte Stücke stehen neben schwächer besetzten Arien (teilweise nur begleitender Generalbaß), Soloinstrumente, wie z. B. Oboe oder Flöte (Traversund Blockflöte) wetteifern im Duett mit der Gesangsstimme, der B-Teil der Arie ist manchmal nur in Form eines Rezitativs gegeben, kontrapunktische Setzweise alteriert mit der rem homophonen Manier, die einzelnen Teile der Arien sind durch verschiedene Tempoangaben voneinander abgesetzt, und auch innerhalb der einzelnen Teile nimmt Händel Tempowechsel vor; eine Vielfalt also von verschiedenen Kompositionsmöglichkeiten zeichnen Händels Dacapo-Arie, das Kernstück der „Musizieroper“ neapolitanischer Schule, aus und lassen niemals das starre Schema, das bei einem mittelmäßigen Komponisten zur Eintönigkeit führen muß, in das Bewußtsein des Hörers dringen. Einen wesentlichen strukturellen Faktor der Dacapo-Arie stellt die veränderte Wiederholung des A-Teiles dar, der in den Manuskripten in keinem Falle notiert, sondern nur durch die „Da capo -Angabe bezeichnet ist. In dieser Wiederholung konnten die Primadonnen und Kastraten der Barockzeit die Kunst ihrer „geläufigen Gurgel“ unter Beweis stellen: Eine Wiederholung dieses Teils der Arie mit improvisierender Zutat -Koloraturen, Fiorituren und Kadenzauszierungen -gehört ebenso wie die Ausführung der Appoggiatur in den Rezitativen zu den ungeschriebenen, heute verlorengegangenen Selbstverständlichkeiten der Barockmusik. Erst dieses, den kunstvollen Verzierungen der barocken Architektonik und Bildhauerei -wie sie etwa in den Kunstwerken eines Berninis zum Ausdruck kommen — vergleichbare musikalische Zierwerk atmet der Barock-Arie Lebenshauch ein.

Die Oper Händels ist nach ihren großen Erfolgen zu Lebzeiten des Komponisten im Gegensatz zu seinen Oratorien mehr oder weniger der Vergessenheit anheimgefallen und wurde erst vor knapp vier Jahrzehnten durch den Kunsthistoriker Oskar Hagen wiederentdeckt und zu neuem Leben erweckt. Seit dieser Zeit ist eine gewisse Renaissance der Händelschen Oper, zumindest in Deutschland, zu verzeichnen; sie hat ihren Ausgang von Göttingen mit der Aufführung der Rodelinda (1920) unter der Leitung Hagens genommen und wird nunmehr in erster Linie in der Geburtsstadt Händels, Halle, weitergeführt. Oskar Hagen hat für seine Aufführungen in Göttingen (außer Rodelinda u. a. auch Giulio Cesare, Tamerlano, Radaiuisto, Ottone) die Opern für die moderne Bühne bearbeitet, wobei er in textlicher wie in musikalischer Hinsicht in vielen Punkten über das erlaubte Maß hinausgegangen ist.

Die Frage, ob Händels Opernschaffen, wie überhaupt das Musik-theater des Barock, für die Bühne des 20. Jahrhunderts wiedergewonnen werden kann, war bisher endgültig und eindeutig noch nicht zu klären. Zwar ist es in Halle zum Beispiel gelungen, in den letzten Jahren mit Händelschen Opern En suite-Erfolge zu erzielen, aber auch dort ist man wie in Göttingen den Originalen mit stark textlichen — nicht musikalischen — Veränderungen zu Leibe gegangen, d. h man versuchte durch neue psychologisierende Texte das stereotype Schema des barocken Librettos aufzulockern bzw. dieses zu ersetzen. Da den modernen, durch die psychologisierenden und individualisierenden Opern des 19. Jahrhunderts „verbildeten“ Opernbesucher das im Typologischen verhaftete Barockdrama nur schwer ansprechen kann, bietet sich diese Bearbeitungsweise als die naheliegendste und vor allen Dingen auch einfachste an. Hier dürfte sich jedoch wie bei allen „einfachen“ Lösungen ein Kardinalfehler eingeschlichen haben: Nicht der Oper Händels muß mit solchen Mitteln nachgeholfen werden, sondern der Sänger des modernen Musiktheaters müßte versuchen, das echte Pathos seiner großen Vorfahren aus dem 18. Jahrhundert wiederzugewinnen, die Improvisationskunst zu erlernen, um der Barockoper das geben zu können, was sie ihrer musikalischen wie textlichen Struktur nach verlangt Freilich steht für die Wiederbelebung im Sinne des Originals neben der in jedem Fall problematisch bleibenden Übersetzung aus dem Italienischen eine nahezu unüberwindbare Schwierigkeit im Wege: Der Kastrat des 18. Jahrhunderts ist ein Bestandteil der Händel-Oper und kann im Grunde nicht durch einen in die tiefere Oktave versetzten Tenor oder Bariton ersetzt werden. Da aber diese „Versetzung“ bei modernen Aufführungen vorgenommen werden muß, ergibt sich in vielen Fällen und sehr zum Nachteil des Ganzen eine Verschiebung des originalen Stimmengeflechts.

Die Probleme bei der Wiederbelebung der Oper Händels sind also mannigfaltiger Art. Sie reichen von der musikalisch stilechten Interpretation, der man heute zumindest im Orchester wohl schon am nächsten gekommen ist, bis zur Besetzung der Partien und der Frage des Inszenierungstils, dessen Skala von einer nahe an die Grenzen des Erträglichen gehenden Stilisierung bis hin zum Realismus und Verismus reicht. Abschließendes und Endgültiges läßt sich über diesen erfreulicherweise weitreichenden in Fluß befindlichen Prozeß jetzt noch nicht sagen; es bleibt jedoch vorläufig ein Wunschtraum, das Opernschaffen Händels, abgesehen von Einzelfällen wie Giulio Cesare, in das der Erweiterung bedürftige, sich auf einer sehr schmalen Basis bewegende Opernrepertoire fest einzubauen. Das Händel-Jahr 1959 wird durch zahlreiche Aufführungen ohne Zweifel dazu beitragen, hier weitere Klärung zu schaffen; die herrliche, durchaus noch lebendige Musik Händels würde eine neue, eingehende Beschäftigung mit seinem Opern-schaffen in jedem Fall rechtfertigen.

Seine Bedeutung als großer abendländischer Komponist hat Händel in den vergangenen zwei Jahrhunderten seit seinem Tode jedoch nicht auf Grund der Opern, sondern neben seiner immer wieder gespielten Instrumentalmusik, der Concerti grossi, den Orgelkonzerten, der Solo-und Triosonaten, der Klaviermusik, durch die nach 1737 entstandenen Oratorien gewonnen, die letztlich als geniale und überhöhte Fortsetzung des Opernschaffens anzusehen sind; sie sind eine Transposition des nur durch szenische Darstellung zu verlebendigenden Dramas der menschlichen Aktionen und Leidenschaften zum epischen und konzertmäßigen oratorischen Drama, in dem — auf das alte Testament zurückgehend — Völkerschicksale durch den Chor dargestellt, aber auch Einzelpersonen in den Vordergrund des Geschehens gerückt werden. Neben diesem großartigen Typus des Chor-Oratoriums stehen gleichsam als Gegenstücke und Werke der inneren Entspannung und des Ausgleichs etwa die Ode for St. Cecilias Day und The Alexander’s Feast, beide eine Verherrlichung der Tonkunst, das lieblich anmutsvolle L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato oder das „wusical interlude“ The Choice of Hercules; zweimal greift Händel auch im Bereich des Oratoriums auf antike Stoffe zurück: in Sewele und Hercules. Eine Sonderstellung innerhalb des oratorischen Werkes nimmt der Messiah ein, neben dem Märtyrerdrama Theodora Händels einziges christliches Oratorium: Er weicht vom Typus des dramatischen Oratoriums ab, zu dem alle Werke Händels dieser Gattung zu zählen sind. Der Messiah, mit dem der Komponist ein unvergängliches Opus geschaffen hat — vergleichbar Bachs Messe in h-moll, Mozarts Zauberflöte und Beethovens Fidelio — ist ein rein episches, sich nur dem „religiösen Gefühl" (Leichtentritt) hingebendes Oratorium, in der Handlung spannungslos, musikalisch dafür von einer einmaligen Wirkungskraft.

Was die „Florentiner Camerata" um 1600 als Erneuerung des antiken Dramas erträumt und erstrebt hat, was dann aber in der Geschichte der Oper im 17. und 18. Jahrhundert außer in den musikdramatischen Werken eines Monteverdi nicht zustande kam und erst durch die Opern-reform Glucks Wirklichkeit wurde, erreichte Händel in seinem Chor-oratorium: Der Chor als Verkörperung der „Völker“ wird zur tragenden Kraft, zum strukturellen Bestandteil des „idealen Dramas“. Von diesem Blickpunkt aus gesehen ist Händels Oper die Vorform zu seinem Oratorium; er übernimmt aus ihr Rezitativ, Arie und Ensemblestücke und fügt den fehlenden Chor in einer ebenso kompositorisch vielfältigen Weise wie die Arie hinzu.

Liegt die große und einmalige Bedeutung des Händelschen Oratoriums also in der funktionsbedingten Einordnung des Chores in das „dramatische“ Geschehen, so darf darüber nicht vergessen werden, daß mit dem Oratorium des Wahlengländers das „öffentliche“ Musikleben, wie es im 19. und 20. Jahrhundert zur vollsten Blüte gekommen ist, seinen Ausgang genommen hat. Die Oper war auf Grund des italienischen Textes und ihrer zumeist sich auf der Ebene der Aristokratie rewegenden Handlung mehr oder weniger ein Privileg des Adels; mit dem Oratorium in englischer Sprache, für dessen Aufführungen Händel Eintrittskarten an jedermann verkaufen ließ, also auf das alte Subskriptionswesen verzichtete, wurde nunmehr das musikliebende englische Bürgertum die tragende Schicht des Publikums. Weder Adelsgesellschaft noch Kirche — Händels Oratorien können auf keinen Fall als „kirchliche“ Werke angesprochen werden — dienten dem Oratorium Händels als Forum, sondern der erste „freie“, sich immer unabhängig fühlende Künstler schuf sich sein eigenes Publikum, was zunächst allerdings nur im England dieser Tage möglich war; schon sehr bald aber erstarkte das „öffentliche“ Musikleben in ganz Europa, und zwar in erster Linie durch die Aufführungen der Händelschen Oratorien.

Die weltzugewandte, vielen musikalischen Stilen verpflichtete Ton-sprache des Weltenbürgers Händel — „Bei keinem anderen großen Musiker ist es so unmöglich wie bei Händel, das Wesen seiner Kunst auf eine oder selbst auf mehrere Definitionsformeln zu bringen.“ (Romain Rolland) — ist sinnesfreudig und fast möchte man, der klassischen Gegenüberstellung von „naiv — sentimental“ folgend, sagen „naiv", so wie Bachs im Schoße der protestantischen Kirche ruhende, immer „ad majorem Dei gloriam" geschriebene und nach „innen" gewandte Musik dann als „sentimental" zu bezeichnen wäre. Sie schöpft aus einem gesunden, kraftvollen, nie versagenden Quell; ihre Anmut, ihre elementare Gewalt, ihre dramatische Spannung, ihre seelenvolle Sprache und ihre melodisch wie harmonisch und rhythmisch klare und großflächige, jedem verständliche Struktur, verleihen ihr den Charakter des im besten Sinne des Wortes „Volkstümlichen“, des Allgemeingültigen und Unvergänglichen. Händel selbst soll seiner Musik eine „ideologische" Bedeutung gegeben haben: In einer wenige Tage nach der ersten Londoner Messiah-Aufführung stattgefundenen Unterhaltung, in der die Gegenseite die durch das Werk bei den Zuhörern ausgelöste „noble entertainment“ hervorhob, werden dem Komponisten die folgenden, ohne Zweifel nicht nur für den Messiah, sondern auch für den überwiegenden Teil seines Schaffens Gültigkeit besitzende und berühmt gewordene Worte in den Mund gelegt: „ 1 should be sorry if I only entertained thew, I wish to rnake tbew bester“.

Literaturhinweise

Johann Gottfried Walther, Musikalisches Lexikon oder musikalische Bibliothek 1732, Faksimile-Nachdruck herausgegeben von Richard Schaal, in: Documenta Musicologica, erste Reihe: Druckschriften-Faksimiles III, Kassel und Basel 1953.

Johann Mattheson, Grundlage einer Ehren-Pforte, Hamburg 1740.

John Mainwaring, Memoirs of the Life the late George Frederic Handel. To which is added a Catalogue of his Works and Observations upon them, I ondon 1760; deutsche Übersetzung von Johann Mattheson, Georg Friedrich Händels Lebensbeschreibung, Hamburg 1761, mit anderen Dokumenten herausgegeben von Bernhard Paumgartner, Zürich 1947.

John Hawkins, A General History of Science and Practice of Music, 5 Bände, London 1776.

Johann Joachim Quantz, Versuch einer Anweisung die flute traversire su spielen. Faksimile-Nachdruck der 3. Auflage, Breslau 1789, herausgegeben von Hans-Peter Schmitz, in: Documenta Musicologica, erste Reihe: Druckschriften-Faksimiles II, Kassel und Basel 1953.

Friedrich Chrysander, Georg Friedrich Händel, Band I, II und III/l (bis 1740), Leipzig 1858, 1860, 1867.

Romain Rolland, Händel, Paris 1910.

Romain Rolland, Bildnis Händels in: Musikalische Reise ins Land der Vergangenheit, Frankfurt/Main, 1921.

Hugo Leichtentritt, Händel, Stuttgart-Berlin 1924.

Händel — A Symposium, edited by Gerald Abraham, London-New York-Toronto 1954.

Otto Erich Deutsch, Händel — A Documentary Biography, London 1955.

Walter Serauky, Georg Friedrich Händel. Sein Leben — Sein Werk. Band III: Von Händels innerer Neuorientierung bis zum Abschluß des „Samson“ (1738— 1743), Kassel-Basel-Leipzig 1956; Band IV: Von Händels „Se-mele" bis zum Abschluß des „Judas Makkabäus“ (1743— 1746), Kassel-Basel-London-Leipzig 1958.

Artikel Händel, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik herausgegeben von Friedrich Blume, Band V, Kassel und Basel 1956, Spalte 1229— 1286.

William C. Smith, Verzeichnis der Werke Georg Friedrich Händels, in: Händel-Jahrbuch 1956, im Auftrag der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft herausgegeben von Max Schneider und Rudolf Steglich, 2. (VIII.) Jahrgang, Leipzig 1956.

Bruno Netti, Georg Friedrich Händel, Berlin 1958.

Georg Friedrich Händels Werke. Ausgabe der Deutschen Händel-Gesellschaft, herausgegeben von Friedrich Chrysander, Leipzig 1858— 1903.

Hallische Händel-Ausgabe (Kritische Gesamtausgabe), herausgegeben im Auftrag der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft, Kassel-Basel-London-New York-Leipzig 1955 ff. (im Erscheinen begriffen).

Fussnoten

Fußnoten

  1. Haym verfaßte weiterhin die Libretti zu den folgenden Opern Händels: II Radamisto, Ottone, Flavio, Giulio Cesare, Tamerlano, Rodelinda und Tolemeo.

  2. Alexander Pope schreibt z. B. über ihn in seiner Dunciade (4. Buch):

  3. Händel gerieth eines Tages mit der Cuzzoni in Wortstreit, weil sie die Arie Falsa imagine in der Oper Ottone nicht singen wollte. Ohl Madame, sagte er, je scais bien que vous etes une väritable Diablesse; mais je vous ferai scavoir, moi, que je suis Beelzebub, le Chei des Diables. Idi weiß wol, daß ihr eine leibhaite Teuielinn seyd;

  4. Eine neue Gesamtausgabe, die von der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft herausgegebene Hallische Händel-Ausgabe, ist seit 1955 im Erscheinen begriffen.

  5. u. a. Belshazzar, Israel in Egypt, Judas Maccabaeus, Samson, Solomon, Saul, Joseph, Joshua, Jephtha.

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