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Die Ostsee -ein rotes Binnenmeer? Ein politisch-strategischer Rundblick | APuZ 22/1959 | bpb.de

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APuZ 22/1959 Die Ostsee -ein rotes Binnenmeer? Ein politisch-strategischer Rundblick

Die Ostsee -ein rotes Binnenmeer? Ein politisch-strategischer Rundblick

Wolfgang Höpker

Das Thema dieses Beitrages ist in weitergespanntem Rahmen in einem Buch behandelt, das im Verlag Mittler & Sohn, Frankfurt am Main, unter gleichem Titel erschienen ist.

Das vergessene Meer

Aus dem Inhalt: Das vergessene Meer Küste im Sowjetbereich Amphibienstaat Dänemark Schweden — stiller Teilhaber der NATO Finnland zwischen West und Ost Baltische Flotte Fünfte Kolonne im Norden Parole „Neutralisierung“ Die Ostsee — ein freies Meer

Knapp hundert Kilometer betrug zwischen den beiden Weltkriegen der Ostseeanteil der Sowjetunion. Zwischen Rußland und das Meer hatte sich nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches unter der Devise vom Selbstbestimmungsrecht der Völker mit Finnland und den baltischen Randstaaten der zwischeneuropäische Ländergürtel geschoben. Nur im innersten Winkel des Finnischen Meerbusens, in der Kronstädter Bucht, war den Sowjets ein kleiner Küstendistrikt geblieben. Rußland, das ohnedies volkspolitisch das Ostseeufer nie erreicht hatte, sah sich ins Binnenland zurückverwiesen. Das Ziel, das es seit Peter dem Großen beharrlich angestrebt hatte: die große Ostseemacht zu werden, schien sich zu einem Traumbild aufgelöst zu haben.

Heute herrscht Rußland über mehr als tausend Kilometer Ostseeküste. Sein Ausbruch aus der Enge der Kronstädter Bucht erfolgte, nachdem Hitler den Osten entriegelt und dem Bolschewismus die Schleusen geöffnet hatte. Der Ausbruch glich einer Eruption. Mit dem Vormarsch der Roten Armee bis ins Herzstück Europas gewann Rußland nicht nur den Ostseeanteil zurück, den es nach dem ersten Weltkrieg eingebüßt hatte.

Entlang der ganzen südlichen Ostseeküste schob es seinen Machtbereich bis vor die Tore von Lübeck, bis nahe an die dänischen Meerengen heran. Radikaler konnte nicht die Machtbalance zerstört werden, die hier vor 1914 und erst recht zwischen den beiden Weltkriegen bestanden und die Ostsee zu einer Nebenbühne des weltpolitischen Geschehens gemacht hatte. Deutschland war geschlagen, zerstückelt, zu weiten Teilen in sowjetischer Hand. Finnland stellte nach zwei gegen Rußland verlorenen Kriegen keinen Faktor mehr dar, mit dem maritim noch zu rechnen war. So blieb nur das zwar küstenreiche, aber menschenarme Schweden und das kleine Dänemark, mit dem das Sowjetregime seinen Ostseeanspruch teilen mußte. Von einem Gegengewicht gegen den sowjetischen Monopolanspruch konnte ernsthaft nicht mehr die Rede sein. Auf dem Wege zum Dominium Maris Baltici, zur ungeschmälerten russischen Ostseeherrschaft schien es kein Hindernis mehr zu geben.

Die Ballung der Sowjetmacht im Ostseeraum, beschränkt sich nicht auf den Ausbau des von Moskau beherrschten Küstengürtels zu einer fugenlos verzahnten Militärzone. Ihr schärfster Ausdruck ist die Baltische Flotte mit ihrer Massierung von Kreuzern, mit ihren 80 Zerstörern, mit ihren Hunderten von Schnell-, Minensuch-, Torpedobooten, mit dem Schwarm ihrer Landungsfahrzeuge — mit der Armada ihrer U-Boote vor allem, die in der Ostsee allein auf 150 zu schätzen sind.

Doch Moskau hat sich nicht damit begnügt, im Ostseeraum eine militärische Macht zu konzentrieren, für die es keinen Vergleich gibt. Damit verschränkt sich eine verkehrspolitische Offensive, die den sowjetischen Herrschaftsbereich abrunden und ihm auch in der Handelsschiffahrt das absolute Übergewicht sichern soll. Daß dieser Handels-imperialismus nicht im Ökonomischen, sondern letzthin allein im Macht-politischen wurzelt, unterstreicht am schärfsten das „Welthafenprojekt Rostock“, das den Seeverkehr des Ostblocks radikal von Lübeck, von Hamburg und allen Nordseehäfen abschalten und unter Eigenregie zwin-gen soll. Offenkundig ist die Tendenz des östlichen Staatskapitalismus, wie die Freiheit der Meere so auch die Freizügigkeit der Schiffswahl zu unterbinden und durch Flaggendiskriminierung den sowjetischen Seeverkehr auf sowjetische Schiffe zu binden.

Aber der rote Imperialismus setzt den Hebel noch tiefer an: zur Sowjetisierung des Ostseeraums trat der Versuch der Entnationalisierung der Küstengebiete. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker wurde durch Massenaustreibungen umgangen, Millionen wurden durch „Umsiedlung“ aus ihren Heimatgebieten entfernt. Das gilt für den 500 Kilometer langen deutschen Ostseeanteil, mit dem Polen von Stalin belehnt wurde. Das gilt für das von Rußland annektierte nördliche Ostpreußen, das in eine russische Provinz zu verwandeln kein Mittel gescheut wird Das gilt in Ansatz und Ziel auch für die Küste des Baltikums, wo die durch Deportationswellen schon furchtbar gelichtete estnische, lettische, litauische Bevölkerung sich stetiger Infiltration durch das russische Element ausgesetzt sieht. Das gilt, im Westen meist ganz übersehen, für die Vertreibung der 400 000 karelischen Finnen aus dem Küstendistrikt zwischen Finnischer Bucht und Ladogasee. Massendeportationen nicht genehmer Bevölkerungsgruppen entsprechen dem sowjetischen und allgemein dem totalitären Denkstil, für den „des größeren Zieles willens“ der Einzel-mensch keinen Wert an sich darstellt und deshalb nach Belieben verschoben, eingesetzt, geopfert werden kann.

Militärisch, ethnisch machtpolitisch: immer deutlicher hat Moskau erkennen lassen, daß es die Ostsee als rotes Binnenmeer als ein mare clausum seines Imperiums betrachten möchte Man muß die Ballung der Offensivkräfte in ihrem ganzen Ausmaß vor Augen haben, um den Druck ermessen zu können, der auf den dänischen Meerengen lastet. Sie sind die Ventile eines Dampfkessels, der künstlich unter Überdruck gesetzt worden ist. Als ausgesuchtes Ziel für die sowjetische Expansion sind Sund, Belt, und die dänischen Inseln zur strategischen Position Nr. 1 in Nordwesteuropa geworden.

Die Einsicht, daß es allein diesem konzentrischen Druck nie gewachsen sein kann, hat Dänemark 1949 der NATO beitreten lassen. Doch erst mit dem Eintritt auch Westdeutschlands in das atlantische Bündnis beginnt sich mehr und mehr eine neue Phase im Ringen Rußlands um das „Baltische Meer“ abzuzeichnen. Mit der Gegenwirkung, die die NATO allein durch ihr Dasein an den Ausgängen, in Schleswig-Holstein, in Jütland auf den Ostseeraum ausübt, sieht Moskau seinen Anspruch auf die Alleinherrschaft in Frage gestellt. Ein neues Kräfteverhältnis im Ostseebereich kündigt sich an, das das so radikal gestörte Gleichgewicht wieder auspendeln könnte.

An diesem Punkt der Entwicklung ist es doppelt geboten, den Stand der Dinge im Ostseebereich nüchternen Sinns zu überprüfen. Die Ballung der Sowjetmacht im Ostseeraum ist erst ansatzweise in das westliche Bewußtsein gedrungen. Je eigenwilliger sich das östliche Kontinentalreich hier etablierte und sein Tun und Lassen dem Einblick der Außenwelt entzog, desto mehr begann die Ostsee für den Westen ein vergessenes Meer zu werden. Das trifft, überraschend und erschreckend in einem, auch für die Bürger der Bundesrepublik zu. Mit der Abschnürung von Mittel-und Ostdeutschland ist der westdeutsche Rumpfstaat aus der unserem Volksboden angemessenen Ost-West-Transversale in die Nord-Süd-Richtung gezwungen worden. Man blickt auf die Nordsee — und die Ostsee, mit der man nur noch an der schleswig-holsteini-schen Küste Berührung hat, droht im westdeutschen Seelenhaushalt mehr und mehr zu verkümmern.

Aber es ist nicht nur das düstere Drama der deutschen Teilung, das aus westdeutscher Sicht die Ostsee als eine Art Hinterhof erscheinen läßt, den man nur noch am Rande zur Kenntnis nimmt. Der von Nord nach Süd gedehnte schmale Schlauch, in den sich der westdeutsche Staat hineingepreßt sieht, hat den Hang des Deutschen zu einem rein binnenländischen Denken bedenklich verschärft. In vielem erklärt die kontinentale Befangenheit im deutschen Volk, wenn die Ostsee dem Gesichts-seid weithin entschwunden ist. Offenbar haben auch die Lehren zweier verlorener Weltkriege wenig daran zu ändern vermocht, daß in Deutschland eine binnenländisch begrenzte Vorstellungswelt sich hartnäckig behauptet. Man starrt, resigniert oder im Gefühl steter Bedrohung, auf den Eisernen Vorhang zwischen Lübeck und Hof und übersieht, daß die freie See, in der Ostsee weit ostwärts gerichtet, diese Barriere zu umfassen, zu überspielen vermag.

Küste im Sowjetbereich

Soweit nach Westen die Sowjets nach Kriegsende auch ihren Fuß an der Ostseeküste vorgeschoben haben, so bleibt Leningrad doch das Herzstüdc der russischen Ostseeposition. Es ist als größter Kriegs-und als größter Handelshafen der UdSSR zentraler Umschlagsplatz zum Binnenland, mit dem es durch zahlreiche Bahnlinien und ein verzweigtes Kanalsystem verbunden ist. Hier beginnt die 193 3 eröffnete Wasserstraße zum nördlichen Eismeer, mit der sich die Sowjets eine jedem westlichen Einblick entzogene Hintertür zum Ozean geschaffen haben und über die kleinere Kriegsschiffe einschließlich aller Unterseeboote zwischen Ostsee und Nordmeer hin und her geschoben werden können Als „Schmiede der sowjetischen Kriegsflotte“ ist Leningrad ein Zentrum der Rüstungsindustrie: seine Werftkapazität übertrifft noch immer bei weitem die der aufstrebenden Werften im Schwarzen Meer und in. Ostasien. Nach wie vor befinden sich in Leningrad die wichtigsten Unterseeboot-werften. Die Anlagen für den Schiffbau und seine Lieferindustrien sind in einem Radius von 40 bis 50 Kilometern in das Hinterland gestaffelt. Die Bedeutung Leningrads als Kernbastion sowjetischer Seerüstung wird durch die hier massierten Marineausbildungsstätten kräftig unterstrichen.

Mit der Annexion der drei Ostseeländer Estland, Lettland und Litauen konnte Moskau daran gehen, die baltische Küstenzone zwischen der Narwa-und der Memelmündung zu einer sowjetischen Militärzone zu verwandeln. Der nördliche Schwerpunkt ist hier der Festungsbezirk um Reval und den eisfreien estnischen Hafen Baitisdiport, der die Finnische Bucht in ihrer südlichen Ausfahrt flankiert. Dort sind, gruppiert um neu ausgebaute Werftanlagen, vor allem die Minensuchverbände der sowjetischen Ostseeflotte konzentriert. Die in Riga stationierten leichten Streitkräfte der Baltischen Flotte wechseln während der Wintermonate in den nahezu eisfreien lettischen Ostseehafen über, der als Windau Stützpunkt für Kleinfahrzeuge ausgebaut ist. Der wichtigste Kriegshafen des Baltikums ist das an der offenen Ostsee gelegene Libaa, dessen Hafenbecken mit ihren riesigen Molen einer ganzen Flotte Platz bieten. In erster Linie ist Libau ein Unterseebootstützpunkt.

Das von Rußland 194 5 annektiertte nördliche Ostpreußen gehört trotz seiner Küstenlage zu den am schärfsten isolierten Distrikten des sowjetischen Geheimstaates. Überblickt man den Ausbau Nordostpreußens zu einer der stärksten Militärzonen des Sowjetimperiums, so stellt die Zone um Königsberg, Pillau und die Halbinsel Samland die Speerspitze dieses tief gestaffelten Festungsbezirks dar. Nicht zufällig ist der wiederaufgebaute und ausgebaute Kriegshafen Pillau der Hauptsitz der Baltischen Flotte. In Pillau, das heute den symbolischen Namen „Baltijsk“ — „Ostseestadt“ trägt, residiert der Oberbefehlshaber der sowjetischen Ostseeflotte, Admiral Charlamow. Der 40 Kilometer lage Seekanal, der über das Frische Haff und die Pregelmündung Pillau mit Königsberg verbindet, dient heute vor allem militärischen Zwecken Die Rolle des nördlichen Ostpreußens als vorgeschobene Militärbasis der UdSSR hat im Zeichen der Raketenausrüstung einen besonderen, nahezu dramatischen Charakter erhalten. Nach verläßlichen Informationen von schwedischer Seite gelten sowjetische Raketenbasen auf dem Fliegerhorst Wehlau bei Königsberg und in Tapiau als absolut sicher Darüber hinaus werden Ausweichstellungen in Gutenfald, Löwenhagen Pobethen und Mollehmen aufgebaut. Große Radarleitstellen für die Lenkung der Waffen wurden in Palmnicken und bei Fischhausen festgestellt Die Lager für Atomsprengköpfe befinden sich in unmittelbarer Nähe der Abschußbasen. Der absolute Primat des Militärischen, unter dem hier d e Annexion deutscher Ostseeküste steht, spiegelt sich in der wirtschaftlichen Vernachlässigung Nordostpreußens wider. Der Zerfall der zuvor hochentwickelten ostpreußischen Agrarwirtschaft illustriert besonders grell das Absinken einer europäischen Kulturlandschaft zu einem Niemandsland zwischen den Zivilisationen.

Gestützt auf seine Werftkapazität und auf die Bahnverbindung mit Oberschlesien (der sogenannten Kohlenmagistrale) ist das Hafenkom-binat Danzig/Gdi^gen zur „Waffenschmiede des Sowjetblocks" an der mittleren Ostsee ausgebaut worden. Als Hauptstützpunkt der polnischen Kriegsmarine steht Gdingen Moskaus Baltischer Flotte jederzeit zur Verfügung. Noch schmerzhafter empfinden die Polen die in Swinentiinde geschaffene Situation. Der Seehafen Stettins am Ausgang des Oderhaffs in die Ostsee ist in der Praxis eine sowjetische Enklave auf polnisch verwaltetem Gebiet. Zumindest der westliche Teil von Stadt und Hafen Swinemünde ist dicht mit russsichen Stäben und Einheiten belegt, die hier den am weitesten nach Westen vorgeschoben unmittelbaren Stützpunkt der Sowjetflotte repräsentieren.

Während der Scheinwerfer der Propaganda der Sowjetzone auf Rostock, den „künftigen Welthafen der DDR", gerichtet war, hat sich in aller Stille der Ausbau Peenemündes zum Kriegshafen der sowjetischen Besetzungszone Deutschlands vollzogen. Hier am Nordzipfel der Insel Usedom am Ausfluß des westlichen Mündungsarms der Oder in die Ostsee, gestützt auf Wolgast und die Flugbasen im Bereich des Strela-

sunds, haben die Seestreitkräfte der „Nationalen Volksarmee" ihren Hauptstützpunkt und Heimathafen erhalten. Mit der Schwerpunktverlagerung auf den Bezirk um Peenemünde hat das Vorhaben, Rügen zum Eckpfeiler des roten Ostseeglacis auszubauen, manches an Interesse verloren. Durch Jahre war Deutschlands größte Ostseeinsel die Stätte einer ameisenhaften Betriebsamkeit, ein Bauplatz in Permanenz. Auf Befehl und unter Kontrolle der sowjetischen Besatzungsmacht wurden dort mit einem Materialverbrauch und Materialverschleiß ohnegleichen die Fundamente für eine militärische Großanlage gelegt. Mit dem schicksalhaften Juni des Jahres 1953 sachte diese Aktion ebenso plötzlich in sich zusammen, wie sie zuvor eingesetzt hatte. Als weit nach Westen vorgeschobene Operations-und Beobachtungsbasis, als Riegel vor der westlichen Ostsee und dem Sund behält Rügen dennoch für die militärische Planung des Ostblocks einen entscheidenden Wert.

Amphibienstaat Dänemark

Die Palisade, die Dänemarks fortschrittlichen Traditionalismus nach außen abschirmen sollte, war das Bekenntnis zu einer immerwährenden Neutralität. Sie wurde eingerissen durch Hitlers Angriffsbefehl am 9. April 1940. Als vier Jahre danach das Land wieder frei war, dürfte es kaum einen Dänen gegeben haben, der nicht felsenfest an die Rückkehr zum Neutralitätsstatus glaubte. Doch bald wurde den Dänen schmerzhaft bewußt, was die Ausdehnung und Ballung der Sowjetmacht im Ostseeraum gerade für ihr Inselreich bedeutete. Als Wächter an den Meerengen zwischen Ostsee und Nordsee lastete auf Dänemark ein ähnlicher Druck wie auf der Türkei. Dem standzuhalten und im Ernstfall der Expansion der zum Atlantik drängenden östlichen Großmacht widerstehen zu können, ginge weit über die Kraft eines Viermillionenvolkes. So trat denn Dänemark 1949 dem Atlantikpakt bei. Ebenso wie Norwegen wollte man nicht noch einmal wie 1940 wehrlos einer „Prä-

ventiv" -Invasion erliegen.

Es war ein scharfer Strich unter die Vergangenheit, den Dänemark mit seinem Anschluß an die NATO zog. Gegen diese Absage an den Neutralitätskurs stand das Beharrungsvermögen weiter Kreise, die sich vor allem um die Radikale Venstre gruppieren. In ihren Stimmungen und Ressentiments knüpft diese linksliberale Partei an spezifisch dänische Traditionen an, wie sie um die Jahrhundertwende von dem Publizisten Hörup entwickelt worden waren. „Was soll es nützen ..." — so etwa lautet ihr Schlagwort, das auf die Kleinheit des Landes anspielr, welches im Ernstfall doch nicht wirksam verteidigt werden könne. Das sich der Parolen des Neutralismus mit besonderer Intensität die dänische Kommunistische Partei bedient, liegt nur zu nahe. Ihre Agitation für die Drosselung des Wehrhaushaltes und die Lähmung des Wehrwillens segelt auf der Welle der Antiatom-Kampagne, verbunden mit dem Ver-

such, die in der Bevölkerung noch spürbaren antideutschen Affekte Wiederaufleben zu lassen. Hinter dieser Parole steht die Hoffnung Moskaus, den Zustand konservieren zu können, da das seestrategisch so wichtige Dänemark als das schwächste Glied der NATO-Kette galt.

Wenn die militärische Labilität Dänemarks einer zunehmenden Selbstsicherheit Platz macht, so nicht zuletzt wegen des realistischen Blicks der sozialdemokratischen Führung des Landes. Ähnlich wie der norwegische hat auch der dänische Reformsozialismus seine pazifistischneutralistische Phase schon des längeren überwunden. Wie Norwegen im Ministerpräsidenten Gerhardsen und Außenminister Lange, so besitzt Dänemark in seinem Regierungschef C. H. Hansen einen entschiedenen Verfechter der Wehrbereitschaft mit Rückhalt an der westlichen Bündnispolitik. Auseinandersetzungen über den Grad der Bindung und die Höhe des Rüstungsaufwandes spielen sich im Schatten der Innenpolitik ab, wobei die Führung des Landes stets von neuem vor der Aufgabe steht, den Wehretat gegen die Ansprüche des skandinavischen Wohlfahrtsstaates abzuschirmen.

Mit dem Hineinwachsen in die größeren Zusammenhänge der atlantischen Verteidigung können bestimmte regionale Aufgaben, die allein zu lösen über die Kraft dänischer Verbände ginge, gemeinsam mit den Streitkräften anderer NATO-Länder, insbesondere der Bundeswehr gemeistert werden. In diesem Zusammenhang hat der im März 1958 erfolgte Abzug der seit 1947 im nördlichen Niedersachsen und seit 1950 im holsteinischen Itzehoe stationierten dänischen Einheiten zu einer Verstärkung des Wehrpotentials im eigenen Raum geführt. Insgesamt 40 000 junge Dänen haben auf diese Weise die Bundesrepublik unmittelbar kennengelernt; ihr Verhältnis zur deutschen Bevölkerung war gut, sie galten als die „lautloseste Besatzungstruppe“ im Deutschland der Nachkriegszeit. Stark ins Gewicht fällt die Entlastung, die sich für die Verteidigung Jütlands aus der Auffüllung Schleswig-Holsteins mit Verbänden der Bundeswehr ergibt. Mit dieser Abstützung seiner Süd-flanke erhält Dänemark die Möglichkeit, seinen militärischen Schwer-punkt von der jütischen Halbinsel nach Seeland und den anderen besonders gefährdeten Inseln zu verlagern.

Nicht weniger gewichtig ist der Kräftezuwachs der sich für die dänische Seefront aus dem Wiedererstehen einer deutschen Marine ergibt. Hier zeichnet sich eine enge Zusammenarbeit zwischen dänischen und deutschen Streitkräften ab, die in einer gemeinsamen Sicherung der bedrohten Meerengen gipfelt. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer gemeinsamen Wehrpolitik mit Deutschland ist in Dänemark im Wachsen, aber sie ist noch nicht eine Selbstverständlichkeit. In der Volksstimmung ist die Erinnerung an die Besatzungsjahre zwischen 1940 und 194 5 weniger verblaßt als bei der politischen und militärischen Führung des Landes.

Hinter den Ressentiments steht die Sorge eines kleinen Volkes, auf militärischem Wege über die NATO oder auf wirtschaftlichem Wege über den gemeinsamen Markt wieder unter die Vorherrschaft des großen deutschen Nachbarn zu kommen.

Unter diesem Aspekt ist ein gemeinsames deutsch-dänisches Ostsee-kommando im Rahmen der NATO nicht etwa nur eine militärisch-organisatorische, sondern auch eine politisch-psychologische Aufgabe, für deren Lösung es großen Einfühlungsvermögens bedarf. Ein unbedachte Schritt genügt, um in Dänemark die Kruste, die über den Wunden liegt, wieder aufzureißen. Die Ausarbeitung des Organisationsschemas zur Verteidigung der Ostsee und ihrer Ausgänge liegt seit dem Herbst 1957 in den Händen eines NATO-Planungsstabes, der unter Leitung eines britischen Admirals in Kiel-Holtenau residiert. Die Frage, ob die hier vorbereitete enge Koordinierung! deutscher und dänischer Streitkräfte und nicht zuletzt der Küstenverteidigung zweckmäßiger im Rahmen des NATO-Kommandos Nord mit dem Sitz in Oslo oder des NATO-Kommandos Mitte mit dem Sitz in Fontainebleau erfolgt, kann nicht eine Grundsatz-und noch viel weniger eine Prestigefrage sein. Sie ist allein aus Erwägungen militärischer Zweckmäßigkeit zu beantworten, wobei die geographisch-strategische Situation des Raumes zwischen Unterelbe und Skagerrak den bedeutsamsten Aspekt darstellt. Es spricht vieles dafür, daß dieser Bereich, in dem eine getrennte Verteidigung zu Lande, zu See und in der Luft undenkbar ist, unter einheitlichem Kommando stehen muß. Ist eine solche Einheit verbürgt, so wird eine elastische Strategie diesen Raum je nach Entwicklung der Lage nach Oslo oder nach Fontainebleau orientieren können Dies trüge sowohl der Verflechtung der Verteidigungsdispositionen des Ostseekommandos mit dem Raum Hamburg und Niedersachsen Rechnung, wie auch der Dehnung seines Aufgabenbereichs nach Norden in Richtung auf die südnorwegischen Gewässer und Küsten. Das Kattegat, das noch dem Ostseebereich zurechnet, läßt sich ohnedies strategisch vom Skagerrak nicht trennen. Der Ostsee-und Nordseeraum ist von Natur her verteidigungspolitisch eine Einheit.

Schweden — stiller Teilhaber der NATO

Untersuchungen schwedischer Militärexperten geben einer Erhaltung der Position Schwedens als neutrale Insel für den Ernstfall so gut wie keine Erfolgsaussichten. Sie führen hinein in die Problematik der allianzfreien Politik, der sich das größte skandinavische Land in Fortsetzung seiner in zwei Weltkriegen bewährten traditionellen Linie weiterhin verschrieben hat. Während im politischen Bereich dieser Kurs kaum noch umstritten ist, sieht sich die militärische Führung gezwungen, die sich daraus ergebenden Konsequenzen beharrlich zu Ende zu denken. Die Sorge vor einer militärpolitischen Isolierung des bündnisfreien Schwedens schlägt sich dabei in dem Argument nieder, daß eine improvisierte Hilfe des Westens, mit der höchstwahrscheinlich gerechnet werden könne, niemals eine vorausgeplante Hilfe ersetzen könnte. Ob nun ausgesprochen oder nicht steht hinter derartigen Erwägungen die Einsicht, daß die schwedische Neutralität auf der Atlantischen Gemeinschaft basiert, an der Schweden sozusagen stiller Teilhaber ist — daß eine einsame Neutralität ohne diese Rückendeckung einem Selbstmordversuch nahekäme. „Die allianzfreie Politik im Frieden soll", so formuliert es ein schwedischer Militär, „eine so große Handlungsfreiheit gewähleisten, daß bei Kriegsausbruch Allianzmöglichkeiten gegeben sind."

Auf jeden Fall erfordert der Zustand der Bündnisfreiheit, bei dem nicht automatisch mit schneller und vorbereiteter Hilfe zu rechnen ist, relativ starke Streitkräfte. Selbst während der Phase unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Westen von einer Abrüstungspsychose ergriffen war, hat Schweden weiterhin seine Neutralität als eine schwer-bewaffnete Neutralität verstanden. An Qualität der technischen Ausstattung gehört Schweden zu den am besten gerüsteten Ländern der Welt.

Zur hohen Qualität des Kriegsmaterials kommt als zweiter Kernpunkt der schwedischen Wehrpolitik das Verlangen nach äußerster Beweglichkeit der Streitkräfte. Dazu zwingt die riesige Ausdehnung des mit 7, 3 Millionen Menschen nur dünn besiedelten Landes, dem an seiner langgedehnten Ostseeküste an den verschiedensten Stellen ein Invasionsstoß drohen kann. Ein kleines Volk hat einen großen Raum zu verteidigen — gegenüber 216 in Westdeutschland leben in Schweden im Durchschnitt 17 Menschen auf einem Quadratkilometer. Zudem hat Schweden das Risiko auf sich gnommen, kein stehendes Heer zu unterhalten. Dies bedingt eine hohe Mobilisierungsbereitschaft. Schweden rühmt sich, in kürzester Zeit eine vollausgerüstete Armee „hervorzuzaubern" zu können: nämlich 600 000 bewaffnete Soldaten und 300 000 in der Zivilverteidigung ausgebildete Männer und Frauen. Die Heimwehrverbände, die ihre Ausrüstung zu Hause bewahren, können einem Mobilisierungsbefehl blitzschnell nachkommen. Während das Heer seine volle Kraft erst nach einer Mobilisierung entfalten kann, verfügen Flotte und Luftwaffe über einen höheren Bereitschaftsgrad. Der Luftwaffe, die mit Apparaten eigener Produktion fliegt, würden über die Ostsee vordringende feindliche Truppentransporte wesentliche Ziele bieten. Die Entschlossenheit Schwedens, mit den Fortschritten der Kriegstechnik scharf Schritt zu halten, unterstreicht die Ausrüstung von Zerstörern mit Fernlenkwaffen. Eine schrittweise Ausrüstung der U-Boote mit Raketenwaffen ist eingeleitet.

Im Blick auf den Erzberg von Kiruna, im Blick auf den Atlantikhafen Narvik wie auch auf die norwegischen Flugbasen und die bis zum Nord-kap gezogene Radarwarnkette der NATO liegen die weiten Einöden der schwedischen Subarktis unzweideutitg in der Stoßlinie des sowjetischen Expansionsprogramms. Wenn Nordskandinavien heute zu den entscheidenden strategischen Positionen gehört, so auch deshalb, weil der kürzeste Luftweg von Rußland zu den USA hier über die Nordhaube Europas auf die Polargebiete zu führt. Auf jeden Fall gelten sorgenvolle Betrachtungen der schwedischen Militärs der mehr als 500 Kilometer langen Landgrenze gegenüber Finnland, die an der finisch-schwedisch-

norwegischen Dreiländerecke fast bis auf Blicknähe an den Atlantik herankommt. Umgekehrt ist die Rolle, die Finnland im Falle eines sowjetischen Durchmarschversuches in Richtung Nordskandinavien als Puffer oder „Alarmglocke“ spielen könnte, durch die Flug-und Raketentechnik erheblich entwertet worden. Der Ausbau des nordfinnischen Straßennetzes wird in Schweden mit einigem Unbehagen verfolgt. Das gleiche gilt von der Sallabahn, die vom Knotenpunkt Kandalakscha am Weißen Meer die russische Murmanlinie mit dem Bottnischen Meer-busen verbindet und der sowjetischen Aufmarschplanung als Arterie und Richtpfeil dienen könnte. So tritt auch in ihrem äußersten Norden die scheinbar so weltferne Bottnische Bucht in den Bereich der sowjetischen Strategie zur Beherrschung des Ostseeraums.

Neben der Narviklinie (die bis heute von keiner Straße begleitet ist und somit für den Kraftfahrverkehr ausscheidet) führt eine zweite Querverbindung von Schweden zum Ozean von Sundsvail am Bottnischen Meerbusen zum norwegischen Trondheim. Mit der Anlage einer großen, vor allem für Erdöllagerung bestimmten Bereitschaftsbasis am Trondheimfjord sucht sich hier Schweden eine „Hintertür zum Atlantik" zu sichern. Dieser Reserveweg zum offenen Weltmeer besteht außer der Bahnlinie aus einer demnächst vollendeten, leistungsfähigen Gebirgsstraße. Mehrfache sowjetische Proteste, die dieses Zusammenwirken mit dem NATO-Partner Norwegen als eine Verletzung der schwedischen Neutralität auslegen wollten, konnten die Aktivität nicht lähmen, mit der Schweden das Trondheim-Projekt betreibt. Der Gedanke an einen Durchstoß der roten Flotte durch Sund und Belt und damit an eine Abschnürung der Westküste mit Göteborg von ozeanischen Zufuhren, kann sich für ein Land wie Schweden, dessen Außenhandel zu 98 Prozent über See geht, bis zu einem Albdruck steigern. Um so mehr wird in Schweden das Wiedererscheinen Deutschlands als militärischer Faktor gerade auch an den so gefährdeten Ostseeausgängen als Entlastung empfunden. Damit verbindet sich die Hoffnung auf eine Wiederherstellung des Gleichgewichts im Ostseeraum insgesamt, in dem Schweden seit Kriegsende dem sowjetischen Machtanspruch nahezu allein gegenüberstand.

Finnland zwischen West und Ost

Wie Schweden gegen Osten schaut, so wendet Finnland sein Gesicht gegen Südwesten. Es ist die Blickrichtung zur Ostsee, die in einer Küstenlänge von 1 100 Kilometern mit ihren zwei langgestreckten Seiten-armen, der Finnischen und der Bottnischen Bucht, das Land umfaßt. Dem Osten hingegen kehrt Finnland den Rücken zu, heute wie seit Beginn seiner Geschichte. Die riesige, über 1 270 Kilometer gedehnte Landgrenze, die es mit Rußland gemeisam hat, ist eine tote Grenze geblieben — ohne Verkehr, ohne geistig-kulturelle Wechselbeziehung. Finnland ist ein Spezialfall der sowjetischen Weltpolitik, für den es keine Parallele gibt und der sich nur schwer definieren läßt. Durch den Friedensvertrag von 1947 und ausgeprägter noch durch den „Beistandspakt“ von 1943 ist Finnland, nach zwei gegen Rußland verlorenen Kriegen, dem sowjetischen Interessen-und Machtbereich zugeordnet worden. Doch blieb es vor dem Satellitenstatus bewahrt. Finnland konnte sich als parlamentarische Demokratie, als ein Land westlicher Regierungsund Lebensformen behaupten. Daß man sich am Russen nicht reiben und Moskau keine Handhabe zum Eingreifen geben darf, ist zum ungeschriebenen, aber eisernen Gesetz geworden. Man verfährt nach der Regel, daß Finnland solange frei ist, wie es einige seiner Freiheiten freiwillig begrenzt.

Immerhin hat es die finnische Diplomatie in ihrem Balanceakt zwischen Ost und West zu einer beachtlichen Fertigkeit gebracht. In ihrem beharrlichen Versuch, den Spielraum für eigenes Handeln zu weiten, kam ihr die Koexistenzphase der Sowjetpolitik entgegen. Wenn nicht schon Stalin, so begriffen durch seine Erben, daß ein in gewissem Rahmen selbständiges Finnland für Moskau nützlicher sein kann als ein Finnland im Zustand der Satelliten. Finnland wurde zum Modellfall des „friedlichen Nebeneinander verschiedener Systeme“, zum „Schaufenster der Koexistenz“. Hier meint Moskau, eine Brücke gefunden zu haben, die ihm einen Zugang zur Außenwelt sichert, eine Plattform insbesondere zur Ansprache an die skandinavischen Völker.

Die Geste, mit der Moskau gerade durch seine Finnlandpolitik seinen Koexistenzwillen zu unterstreichen suchte, war die im Herbst 195 5 erfolgte Räumung Porkkalas. Der sowjetische Marinestützpunkt in den Schärengewässern unmittelbar vor den Toren Helsinkis war von den Finnen als Pfahl im Fleisch des Landes empfunden worden, mit der Rückgabe der kleinen Halbinsel wich ein dumpfer Druck, der durch mehr als zehn Jahre über der Haupstadt gelastet hatte. Doch war dieses sowjetische Entgegenkommen verkoppelt mit der Verlängerung des Helsinki 1948 aufgezwungenen „Beistandspaktes“ um weitere 20 Jahre. Damit bliebe nun Finnland bis 197 5 der sowjetischen Einflußsphäre angenähert. Eben dies bedeutet die Klausel des Paktes, welche die Finnen an die Seite der Roten Armee verweist, falls „Finnland oder die Sowjetunion über das Gebiet Finnlands Gegenstand einer militärischen Aggression von Seiten Deutschlands oder eines beliebigen anderen mit diesem verbündeten Staates werden sollte". Der Rechtstitel, den sich damit Rußland für eine militärische Intervention in Finnland verschafft hat, ist um so ernster zu nehmen, als nach dem Beitritt der Bundesrepublik zum Atlantikpakt sämtliche NATO-Partner, und so auch das Finnland benachbarte Norwegen mit Deutschland verbündet sind. Im Blick gerade auf diese Ausweitung der Beistandsverpflichtung ließen sich für Moskau im Bedarfsfall vielfache „Aggressionsakte" konstruieren, mit denen es einen Zugriff auf finnisches Territorium begründen würde. Die im Fall Finnland praktizierte Spielart der Neutralität ist — man kann darin eine Paradoxie sehen — eine Friedens-, aber keine Kriegsneutralität Dem Ziel der Sowjets, Finnlands Spielraum so eng wie möglich zu halten, dient auch die militärische und waffentechnische Drosselung des Landes. Während Moskau die Bulgarien, Ungarn und Rumänien im Friedensvertrag von 1947 zudiktierte Beschränkung des Wehrpotentials längst aufgehoben und die drei Südostländer stetig ausgerüstet hat, beharrt es Finnland gegenüber auf den Klauseln des gleichfalls 1947 dekretierten Friedensvertrages. So ist Finnland weder zur See noch zur Luft heute ein Faktor, der militärisch im Ostseeraum ins Gewicht fällt. Nur allmählich trat der finnische Soldat wieder aus dem Schattendasein heraus, in das ihn Kapitulation und Friedensdiktat gedrängt hatten. Die Wehrpflicht wurde beibehalten, durch eine eigene Reform ist das Heer auf kleine operative Einheiten umgestellt worden. Manöver der letzten Jahre zeigten, daß die Truppe, was individuelle und physische Leistung angeht, nach wie vor Elitecharakter trägt. Aber was würde das Schicksal dieser Armee sein, falls Moskau den „Beistandspakt“ von 1948 spielen ließe und seine Militärgrenze an die finnische Westgrenze vorzuverlegen versuchte? Würde die finnische Armee dann entwaffnet werden — oder würde sie sich Mann für Mann in die Wälder zurückziehen? Nur zu gut hatten die Russen im Winterkrieg 1939/40 den Finnen als elastisch-

zähen Einzelkämpfer kennengelernt, um nicht die Gefahren einer Partisanenbewegung inmitten der finnischen Urwälder, in diesem Land der zehntausend Seen richtig einzuschätzen.

So brauchten die Auspizien für die rüstungstechnisch gehemmte Demokratie im russischen Machtbereich nicht ganz ungünstig zu sein. Und doch ist die Zukunft Finnlands beunruhigend verschleiert. Die Konsolidierung seiner Außenbeziehungen entspricht in keiner Weise die Entwicklung der inneren Verhältnisse. Seit Jahren befindet sich Finnland in einer tiefgreifenden parlamentarischen Krise. Die Folge eines ungehemmten parteitaktischen Interessenten-und Intrigenspiels war der unerwartet große Erfolg der Kommunisten bei der Wahl am 6. /7. Juli 1958: mit 50 von 200 Sitzen konnte die KP als stärkste Fraktion in den finnische Reichstag einziehen. Die ernste Vertrauensund Führungskrise, die sich in der Wahlenthaltung weiter Kreise widerspiegelt, hat den Kommunismus in seinem Kalkül, Finnland durch innere Aushöhlung nachträglich ostblockreif machen zu können, erneut ermutigt. Für das Streben der Sowjets nach Alleinherrschaft im Ostseeraum ist Finnland in seinem heutigen „Neutralitätsstatus" kein ausdrücklich störender Faktor. Immerhin ist es ein Zwischenbereich zwischen Ost und West mit mancherlei Unbekannten für die sowjetische Rechnung, den mit der roten Einheitsfarbe zu überstreichen die Männer im Kreml sehr wohl locken könnte.

Mit dem Streiflicht auf Finnland hat sich der Ring geschlossen, unser Rundgang um die Ostseeküste, der in Leningrad begann, ist an seinem Ausgangspunkt, an die Finnische Bucht zurückgekehrt. Beherrschend dabei war das Bild der Unruhe, der gefahrdrohenden Dynamik. Man sprach bisher gern von der Windstille des Nordens. Anders als im zentraleuropäischen Spannungsfeld mit seiner Menschenballung, seinen vielfältigen Zündflächen schien sich hier der west-östliche wie allgemein jeder politische Konfliktstoff zu verdünnen. Fast konnte man im Blick von Süden her meinen, daß er sich in Richtung auf die fast menschenleeren subarktischen Weiten überhaupt verflüchtige. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Zeiten sind vorrüber, da die Ostsee nicht nur geographisch, sondern auch politisch zum Randmeer, zur Neben-bühne der Zeitereignisse abgesunken war. Sie ist zu einem hochaktuellen Spannungsfeld geworden. Der Norden liegt nicht mehr am Rande der Zeitgeschichte, nicht mehr am Rande Europas. Im Rücken Skandinaviens steht die riesige Kontinentalmacht bereit, die Landmasse des nördlichen Europa von einer Barriere des Westens zu einem Vorfeld des Ostens zu machen. Die vielberufene „Ruhe des Nordens" gehört der Vergangenheit an. Wie sehr es geboten ist, von der „Unruhe des Nordens“ zu sprechen, wird vollends deutlich, wenn wir nun die rote Ostseeflotte betrachten, wie auch Moskaus Fünfte Kolonne in den skandinavischen Ländern und weiter die diplomatische Offensive, die unter dem Schlagwort vom „Friedensmeer“ den Griff der Sowjetmacht zum Ostseemonopol gegen hemmende Einflüsse abdecken soll.

Baltische Flotte

Was für die Gesamtstärke der Sowjetflotte gilt, das trifft analog für die auf die Ostsee konzentrierten Streitkräfte zu: daß offiziöse Mitteilungen fehlen und der westliche Beobachter aus Indizien sich ein einigermaßen verläßliches Bild zusammensetzen muß. Danach unterhält nach dem Stand des Jahres 1958 die Sowjetunion in der Ostsee ein Schlachtschiff, zwei schwere und sieben leichte Kreuzer, 50 Zerstörer, 30 Geleit-zerstörer, 200 Minensuchboote, 180 Torpedo-Schnellboote, 50 Artillerie-Schnellboote, 140 U-Bootjäger und 150 Landungsfahrzeuge. Die Zahl der in der Ostsee stationierten sowjetischen U-Boote ist auf 150 zu veranschlagen. Die Marineluftwaffe der Sowjetunion dürfte im Ostseeraum über 1 200 Flugzeuge verfügen.

Eine Feststellung auf exakte Ziffern verbietet sich auch deshalb, weil fortlaufend russische Kriegsschiffe die Ostsee verlassen oder in sie einfahren — nicht nur durch die dänischen Meerengen, sondern auch über den westlichem Einblick entzogenen Weißmeerkanal. Die Fluktuation wird dadurch verstärkt, daß die großen Werften an der sowjetisch beherrschten Ostseeküste dem sowjetischen Kriegsschiffsbau auch für die Operationsbasen am Eismeer und am Pazifik dienen (während das Schwarze Meer über eine beträchtliche eigene Werkskapazität verfügt).

Das Bild wird dadurch noch fließender, daß der rote Ostseewall zwischen Leningrad und der Lübecker Bucht, auf den sich die „Baltische Flotte“

der Sowjetunion stützt, tief in das Binnenland hineingreift und mit Basen der Luftwaffe, des Landheeres und nicht zuletzt mit Stützpunkten und mobilen Einheiten für Raketenwaffen eng verzahnt ist. Es bedürfte der Kenntnis dieses ganzen Wehrsystems, um das Gesamtpotential der im Bereich der Ostsee geballten sowjetischen Militärmacht zu überblicken.

Halten wir uns an die Ziffer von 150 in der Ostsee stationierten U-Booten, so dürften mindestens 75 dieser Boote ihrer ganzen Bauart nach für den Ozeankrieg bestimmt sein. Ebenso wie ihre kleinräumigen Verhältnisse verbietet die geringe Tiefe der Ostsee einen Einsatz von U-Booten in großem Maßstabe. So liegt für mehr als die Hälfte der in der Ostsee massierten roten U-Bootflotte das Kern-, ja das Daseinsproblem darin, rechtzeitig durch die Meerengen in Richtung Atlantik aussickern zu können, wo ihr die Aufgabe gestellt ist, die für die atlantische Gemeinschaft lebenswichtigen Verbindungslinien zwischen Amerika und Europa zu zerschneiden. Damit steht die russische U-Bootwaffe vor einer Situation, die mit der der beiden Weltkriege kaum noch vergleichbar ist. Die Umrüstung sowjetischer U-Boote auf Raketenbewaffnung ist schrittweise im Gange, das gleiche gilt für Überwasserfahrzeuge wie Kreuzer und Zerstörer. Doch kann von einer generellen, grundsätzlichen Umstellung offenbar noch nicht die Rede sein. Die Erfolge Rußlands in der Raketentechnik dürften in vielem seinen Verzicht auf d i e Waffe erklären, auf welcher der Schwerpunkt der westlichen Seerüstung liegt: auf den Bau von Flugzeugträgern. Auch die Entwicklung von sowjetischen Atom-Unterseebooten wird, schon in Hinblick auf den Vorsprung der USA, lebhaft vorangetrieben; angestrebt wird zweifellos die Kombination von atomgetriebenem U-Boot mit Raketenbewaffnung.

Gerade auch nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges, in dessen Verlauf die großen Schiffstypen gegen den in der Ostsee an Kriegs-tonnageweit unterlegenen deutschen Gegner nie offensiv für die eigentliche Seekriegsführung eingesetzt wurden, ist der forcierte Bau der schweren Sowjetkreuzer in der Nachkriegszeit für westliches Denken kaum zu verstehen. Vielleicht denkt man ähnlich wie im Zweiten Weltkrieg sogar nur daran, sie als Flankenschutz für Heeresverbände anzusehen, die im Küstenbereich operieren. Damit wären sie sozusagen als eine Art „Hochsee-Heeresartillerie“ charakterisiert. Folgerichtiger als der Bau schwerer Kreuzer erscheint, daß die Sowjets neben dem U-Boot-bau ihren Bestand an Zerstörern ständig vergrößern und verbessern. In seiner Eignung für Aufklärungs-, Sicherungs-, Geleit-und Minenaufgaben ist der Zerstörer schlechthin d a s Kampfschiff des küstennahen Raumes, wie ihn die Ostsee darstellt. Die Bedeutung des Minenlegens und Minensuchens gerade für küstennahe Randmeere mit ihren besonderen Sperrmöglichkeiten bedarf keiner Unterstreichung. Der Minen-krieg gilt als die ureigene maritime Waffe des Russen. Immerhin bleibt festzuhalten, daß im Zweiten Weltkrieg sich die russische Flotte hier in der Ostsee taktisch und technisch um vieles rückständiger gezeigt hat, als nach ihren Leistungen im Ersten Weltkrieg zu erwarten war. Die Umstellung der sowjetischen Marineluftwaffe auf Maschinen mit Strahlantrieb scheint durchgehend erfolgt zu sein. Doch zieht der Verzicht der UdSSR auf den Bau von Flugzeugträgern ihrem Aktionsradius bestimmte Grenzen.

Die riesige Zahl der Kleinfahrzeuge deutet auf die Invasionsabsichten der Baltischen Flotte. Wie das Organ der schwedischen Marineführung jüngst einmal feststellen zu können glaubte, wäre die Sowjetunion jederzeit in der Lage, mit einer besonders entwickelten Invasionsflotte etwa 150 000 Mann an jeder beliebigen Stelle der Ostsee an Land zu setzen. Eine wesentliche Reserve für Transporte und Landungen stellen die Logger und Fischkutter dar, deren Bau im sowjetisch beherrschten Ostseebereich stark forciert wird. In der raschen, improvisierten Bereitstellung von Befehlsfahrzeugen für handstreichartige Raids, aber auch für größere Landungsunternehmen im Rücken der feindlichen Front haben sich die Russen im Zweiten Weltkrieg als Meister erwiesen Die Stärke der sowjetischen Marine-Infanterieverbände wird für 19 5 8 auf etwa 50 000 Mann veranschlagt. Neuartige Perspektiven für eine Invasionstrategie über die Ostsee in Richtung Schweden, Dänemark und Schleswig-Holstein ergeben sich aus der Entwicklung der Luftwaffe und insbesondere der Fernlenkwaffen der Sowjets.

Ob all die Hoffnungen, die Gelder, Offensivpläne, die das östliche Kontinentalreich in seine Kriegsflotte und ganz besonders in die Armada seiner U-Boote investiert hat, jemals das Sowjetreich zu einer maritimen Macht machen werden, steht durchaus dahin. Doch darf die Problematik, die diesem imperialistischen Ehrgeiz anhaftet, für keinen Augenblick dazu verführen, die Sowjets als Gegner zur See grundsätzlich geringer einzuschätzen als den Offensivdrang der Roten Armee zu Lande und zur Luft. Der Westen hat keinen Anlaß, die Schlagkraft der Sowjetflotte zu dramatisieren oder gar zu dämonisieren. Aber er tut gut daran, sie sehr ernst zu nehmen und ihr gerade im Ostseebereich starke Kräfte entgegenzustellen.

Fünfte Kolonne im Norden

Über die Rolle, die im sowjetischen Ostsee-und Nordeuropakonzept den kommunistischen Parteien der skandinavischen Länder zufällt, wird in der westlichen Welt meist hinweggesehen. Man nimmt das stetige Schrumpfen der KP in Schweden, Dänemark und Norwegen als Symptom dafür, daß dort eine nennenswerte Gefahr bolschewistischen Einsickerns von innen her nicht mehr gegeben ist. Das könnte im Ernstfall ein Trugschluß sein. Die Mitläufer sind abgewandert, doch die Kernmannschaft von ein paar zehntausend Kaderkommunisten ist bis heute geblieben. Die Aufgaben die dieser Fünften Kolonne für den Invasionsfall gestellt sind, machen sich im Kalkül der UdSSR zu einer wertvollen Kraft. Die Serie von Spionageaffären in Schweden, aber auch die Spionagefälle in Dänemark haben erwiesen, wie wirksam Moskau seine Filialverbände in Skandinavien gerade an hochempfindlichen Stellen einzusetzen vermag

Schon gar nicht bagatellisieren läßt sich die Rolle der Kommunistischen Partei in Finnland. Anders als in den übrigen nordischen Ländern zeigt dort der Kommunismus eine Lebenskraft, die bei einem vom National-charakter her derart individualistischen, dem Osten gegenüber in steter Abwehrhaltung geübten Grenzlandvolk kaum verständlich ist. Mit 50 Mandaten, einem Viertel aller Parlamentsitze, ist die KPF bei der Wahl vom Juli 195 8 zur stärksten Fraktion im finnischen Reichstag geworden. Deutlicher konnte nicht demonstriert werden, daß die schleichende parlamentarische Krise, unter der Finnland ähnlich wie das Frankreich der Vierten Republik gelitten hat, zu einer tiefgehenden Vertrauenskrise ausgewachsen war. Neben einer allgemeinen politischen Lethargie kam dem Kommunismus vor allem die Spaltung der finnischen Sozialdemokratie zugute: jener unheilvolle Bruderzwist, der die Energien der großen Arbeiterpartei lähmt und der tief auch in die Gewerkschaften hineinwirkt. Ein wahres Treibhausklima lieferte der kommunistischen Agitation weiter die hohe Arbeitslosigkeit oder auch Unterbeschäftigung vor allem in Mittel-und Nordfinnland.

Das Phänomen, daß sich die KPF bis heute einen stabilen Wähler-stamm erhalten konnte, läßt sich zum Teil aus einem den Finnen angeborenen, an Starrsinn grenzenden Konservativismus erklären. Die finnische Arbeiterbewegung ist entscheidend geprägt durch den Bürgerkrieg von 1918 mit seinem Terror und Gegenterror — kommunistisch zu wählen ist seither in bestimmten Kreisen eine Familientradition, die sich vom Vater auf den Sohn vererbt. Dies trifft auch für das in Finnland an Zahl starke kleinbäuerliche Element zu, in dem gleichfalls der Kommunismus über eine traditionell feste Anhängerschaft verfügt. Daß auch der kommunistisch wählende Finne im Ernstfall weiß, wo sein Standort ist, haben die beiden Kriege zwischen 1939 und 1944 erwiesen. Es gab damals keine Fünfte Kolonne, auf die sich Moskau im Lande der Seen und Wälder stützen konnte.

Ihre Funktion als Kontrollorgan und verlängerter Arm des Kreml nimmt die KPF mit beharrlichem Eifer wahr — sei es, daß sie über ihre gewerkschaftlichen Einflüsse die notorische Streikbereitschaft der finnischen Arbeiter schürt und so eine wirtschaftliche Stabilisierung durch-kreuzen hilft; sei es daß sie im Offizierskorps oder in der Studentenschaft „faschistische Agentenzentralen“ aufspürt; sei es daß sie vor dem „Komplott der Wirtschaftskapitäne" die „Finnland an den westlichen Monopolkapitalismus fesseln wollen“. Den Appell zur Entstalinisierung während der Moskauer Liberalisierungsära hatte man in der KP-Zentrale in Helsinki strikt überhört. Nach wie vor residieren dort, gruppiert um die unverwüstliche Hertta Kuusinen, die gleichen Funktionäre wie zu Lebzeiten des roten Zaren.

Außer in den Industriezentren wie Helsinki oder Tampere liegen die Schwerpunkte der KPF im weltabgeschiedenen, wirtschaftlich zurückgebliebenen und sozialpolitisch vernachlässigten Norden des Landes. Das Gefühl, schutzlos einer Invasion des Ostens ausgesetzt zu sein, mag dort besonders lähmend wirken. Wir stoßen hier auf die für das ganze nördliche Skandinavien typische Erscheinung des „Polarkommunismus“. Die Kälte und mehr noch die Lichtlosigkeit, die mehr als sieben Monate des Jahres über den Einöden des Hohen Nordens lastet, läßt die Menschen in eine trübsinnige Gereiztheit verfallen. Dieser Seelenzustand führt zu verworrenen Grübeleien, zu einem zum Radikalismus neigenden Sektierertum und bietet der kommunistischen Agitation breite Einbruch-stellen.

Wie die Erfahrungen in der schwedischen, aber auch in der norwegischen Subarktis gezeigt haben, ist dieser Anfälligkeit für revolutionäre Losungen mit Lohnerhöhungen und sozialen Leistungen kaum beizukommen. Die Grubenarbeiter im Erzzentrum Kiruna sind die am höchsten bezahlten Arbeiter ganz Schwedens, sie stellen die Schoßkinder des schwedischen Wohlfahrtsstaates dar. Und doch sind sie heute wie vor Jahrzehnten zu einem wesentlichen Prozentsatz Kommunisten. In dem sonst so krisenfesten Schweden bildet die kommunistische Unterwanderung des Kiruna-Distrikts um so mehr einen Punkt ernster Sorge, als sein Gruben-, sein Verkehrs-und Kraftwerkssystem in hohem Maße für Sabotage empfindlich ist. Die Durchlässigkeit der skandinavischen Nord-haube für kommunistische Infiltration erhöht die Anziehungskraft dieser Zone für die sowjetische Invasionsstrategie.

Neben Kiruna ist ein zweiter Schwerpunkt kommunistischer Zellen-Bildung in Nordschweden das Küstengebiet um den Erzhafen Lulea am Nordufer der Bottnischen Bucht. An weiteren Schwerpunkten, wo sich die kommunistischen Einflüsse in Schweden massieren, wären zu nennen: der nordschwedische Küstendistrikt um Sundsvali, von dem die Verbindung zum norwegischen Atlantikhafen Trondheim geht; das mittelschwedische Industriegebiet um die Stadt Bofors mit ihren großen Waffenwerken; der Großhafen Göteborg und die Hafenstadt Malmö. All diese kommunistischen Zentren stellen wirtschaftliche Brennpunkte dar, sie liegen zugleich in Richtung der strategischen Stoßlinien der Sowjets und sind deshalb für die Fünfte Kolonne besonders reizvolle Wirkungsfelder. Den Seemanns-Gewerkschaften und Schiffsbesatzungen hat ohnedies seit je das besondere Augenmerk der kommunistischen Agitation in den westlichen Ländern gegolten.

Einen Höhepunkt des Einflusses der Kommunistischen Partei in Schweden bildeten die Kriegsjahre. Als Gegengewicht gegen Hitler-Deutschland hatte damals die Sowjetunion in Skandinavien eine gewisse Popularität, was Moskau 194 5 in allen nordischen Ländern zu dem Versuch ermunterte, die sozialdemokratischen Parteien mit den kommunistischen zu fusionieren. Doch die Parole von der „Einheit der Arbeiterklasse verfing nicht, das Experiment scheiterte restlos und seit 1947 sank die kommunistische Wählerkurve stetig. Bei den Wahlen zum schwedischen Reichstag am 1. Juni 1958 war der Anteil der kommunistischen Stimmen auf 3, 4 Prozent geschrumpft. Anders als in Dänemark und Norwegen gibt in Schweden die linksbürgerliche Intelligenz dem Kommunismus kaum nennenswerte Ansatzpunkte. Salonbolschewistische Neigungen finden in diesem denkbar nüchternen, unspekulativen Volk so gut wie keinen Nährboden.

Immerhin hat Stockholm seinen Namen für jene „Friedens“ -Bewegung hergeben müssen, die eine besondere Form der kommunistischen -Infil tration in der westlichen und neutralen Welt darstellt. Sie hat die Aufgabe, von der sowjetischen Offensivdrohung abzulenken, indem sie (so jüngst wieder auf dem Stockholmer „Friedenskongreß“ im Mai 1959) den Scheinwerfer auf die Rüstung des Westens richtet und dort genau jene pazifistischen Strömungen zu ermuntern sucht, die Moskau in seinem eigenen Herrschaftsbereich scharf unterdrückt. Genauer betrachtet befindet sich die Stockholmer „Friedens“ -Bewegung in einer Art Arbeitsteilung mit der Fünften Kolonne: je größer ihr Erfolg in der Lähmung des Widerstandes gegen eine sowjetische Aggression ist, desto mehr Aussichten hat die Fünfte Kolonne, zum Zeitpunkt der Aggression ihren Aktionsplan zu erfüllen. Ein enges Zusammenspiel der Organisationen des internationalen Kommunismus mit der Spionage des Ostblocks ergibt sich ganz zwangsläufig aus dem bolschewistischen Lehrsatz, daß jede Kommunistische Partei die Pflicht hat, das sowjetische Rußland mit allen Mitteln zu unterstützen. Neben den offiziellen Auslandsmissionen der LIdSSR und neben bestimmten Sonderapparaturen sind die kommunistiselten Parteien in der westlichen Welt eine Hauptstütze der Sowjetspionage, deren Auslandsnetz dank dieser dreifachen Staffelung die Nachrichtendienste aller anderen Länder bei weitem übertrifft.

Bis zum Zweiten Weltkrieg fast ohne Bedeutung, hatte der dänische Kommunismus während der deutschen Besatzungszeit als reger Initiator der Widerstandsbewegung einen starken Aufschwung genommen. So gewann die Partei 1945 bei den ersten Nachkriegswahlen 25 5 236 Stimmen und damit 18 der 149 Folketingsmandate. Zwölf Jahre später, bei den Wahlen von 1957, waren es noch 72 312 kommunistische Wähler oder sechs von insgesamt 179 Mandaten. Die Gewissenserforschung, zu der die sowjetische Konterrevolution in Ungarn zahlreiche bislang mit dem Kommunismus sympathisierende Intellektuelle veranlaßte, brachte der dänischen KP einige herbe Verluste. Doch sollten alle diese Krisenzeichen nicht darüber hinwegtäuschen, daß an der Nahtstelle der dänischen Meerengen das Bestehen einer in Sabotage und Spionage versierten kommunistischen Kerntruppe eine nicht zu unterschätzende Gefahr bildet.

Auch in Norwegen hatte der Kommunismus 194 5 einen starken Auftrieb erfahren — eine Folge des illegalen Kampfes der Besatzungszeit und der Kriegsallianz des Westens mit der Sowjetunion. Ebenso wie die dänische erreichte auch die norwegische KP bei den ersten Nachkriegs-wahlen zwölf Prozent der abgegebenen Stimmen. Daran gemessen kommt das Ergebnis der Stortingwahl vom 7. Oktober 1957 nahe an einen Zusammenbruch des norwegischen Kommunismus heran. Er sank auf 3, 3 Prozent der abgegebenen Stimmen und konnte gerade noch einen einzigen Abgeordneten in das Storting entsenden. Wie in Norwegen, so hat ebenso in Dänemark und Schweden die ursprünglich betont radikale skandinavische Sozialdemokratie eine stetige Entwicklung zum Reform-sozialismus durchschritten. Sie hat damit den Lebensstandard der Arbeiterschaft auf eine Ebene gehoben, an der gemessen die materiellen Daseinsbedingungen in der Sowjetunion und im Ostblock von doppelt erschütternder Dürftigkeit sind. Im Zuge dieser Mauserung vom Radikalismus zum Reformsozialismus ist zugleich die Anfälligkeit der skandinavischen Arbeiterschaft für pazifistische und neutralistische Ideologien bis auf politisch kaum noch erhebliche sektiererische Zirkel geschwunden. Schärfer und schärfer ist hier der Strich zum Kommunismus gezogen. Freilich darf dieser Schrumpfungsprozeß für keinen Augenblick übersehen lassen, daß die Restgruppen des skandinavischen Kommunismus Kader-mannschaften von Fanatikern darstellen, die im Ernstfall nicht zögern würden, jeden Befehl der Sowjetzentrale auszuführen. Sie haben im Ostseekonzept des Kreml ihren fest umrissenen Platz und Auftrag -gar nicht zu sprechen von dem auch zahlenmäßig so starken Gewicht, das die finnische KP für Moskau in die Wagschale werfen kann.

Parole „Neutralisierung”

Mit der ihr eigenen zähen Ausdauer propagiert die Sowjetdiplomatie seit dem Sommer 1957 die Parole „Die Ostsee ein Meer des Friedens". Sie soll den Grundakkord für eine Aktion abgeben, die auf dem Wege über die „Neutralisierung“ die Ostsee zu einem geschlossenen Meer, zu einem mare clausum des Sowjetimperiums macht. Genauer gesagt ist es ein neuer Akkord in einem alten Motiv: des Strebens Rußlands nach der Ostseeherrschaft, das letzthin so alt ist wie die Besitznahme der Newamündung durch Peter den Großen. Es steht dem Verlangen nach Freiheit der Meere entgegen, das 18 57 mit der Abschaffung des Öresundzolls auch für die Ostsee zum völkerrechtlich verbindlichen Grundsatz erklärt wurde. Seither ist die Durchfahrt durch die dänischen Meerengen keinerlei Beschränkung unterworfen. Es sind internationale Wasserstraßen, die den Handels-, wie auch den Kriegsschiffen aller Nationen offenstehen. Davon hat nicht zuletzt Rußland profitiert, als es 1904 während des Russisch-Japanischen Krieges ohne Einspruch von irgendeiner Seite seine Ostseeflotte zur Odyssee in die fernöstlichen Gewässer ausschicken konnte.

An Versuchen, die Ostsee zu schließen, hatte es zuvor nicht gefehlt. Dazu gehörte die 1429 vom dänischen Herrscher Erich von Pommern verfügte Einführung des Sundzolls, die später auch auf die Belte ausgedehnt wurde und auf die erbitterte Gegenwehr vor allem der Hanse stieß. Es war die Zeit, da (bis zum Jahre 1658) auch die südschwedische Landschaft Schonen in dänischer Hand lag, Dänemark also beide Seiten des Sund beherrschte. Weiter wäre hier die 17 80 proklamierte und 1800 erneuerte „bewaffnete Seeneutralität“ zu nennen, mit der sich Dänemark, Schweden, Preußen und Rußland durch die Erklärung der Ostsee zum geschlossenen Meer gegen Englands maritime Vorherrschaft zur Wehr zu setzen suchten. Mit dem Angriff der englischen Flotte unter Nelson auf Kopenhagen am 2. April 1801 wurde sie buchstäblich in Stücke geschossen. Sie war auch deshalb ein Torso geblieben, weil sie völkerrechtlich allgemein niemals anerkannt wurde. Erst die von Ruß-land mitunterzeichnete Kopenhagener Konvention von 18 57 trägt den Charakter einer international verbindlichen Vertragsakte — was heute die Sowjets nicht hindert, die „Seeneutralität“ von 1780 als noch gültig auszugeben.

Einen ersten Anlauf zur Schließung der Meerengen und Neutralisierung der gesamten Ostsee machte das Sowjetregime schon bald nach seinem Entstehen. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg in dieser Richtung erhobene Forderungen wurden mit „ Aggressionsdrohungen kapitalistischer Mächte“, insbesondere mit Angriffsplänen der englischen Flotte auf sowjetische Ostseehäfen begründet. Sowohl der finnisch-sowjetische wie der estnisch-sowjetische Friedensvertrag von 1920 sahen die Möglichkeit einer Neutralisierung nicht nur des Finnischen Meerbusens, sondern der ganzen Ostsee vor. 1924 auf der Seeabrüstungskonferenz in Rom wollte sich die. Sowjetunion gegen das Versprechen der Schließung der Ostsee mit einer Herabsetzung ihrer Flottenstärke einverstanden erklären. Das Verlangen nach Stützpunkten in Jütland ließ Moskau in seine Verhandlungen mit England und Frankreich im Sommer 1939 einfließen. Ähnliches versuchte Molotow bei seinem Besuch in Berlin im November 1940, bei dem er nicht nur Stützpunkte an den türkischen Meerengen forderte, sondern auch Rußlands lebhaftes Interesse an den Ostseezugängen hervorhob.

Ein neuer Anlauf kündigte sich 1950 mit einem Artikel der Moskauer rechtwissenschaftlichen Zeitschrift „Sowjetstaat und Recht“ an. In weit-ausholendem Rückgriff auf die Verträge von 1780 und 1800 kam darin der Autor, S. V. Molotzow, zu der Forderung, daß die Verträge, die eine freie Durchfahrt gestatten, revidiert werden und fremden Kriegsschiffen die Einfahrt in die Ostsee verwehrt werden müsse. Die skandinavische Presse reagierte erregt und schrieb von der Absicht Moskaus, seine militärische Suprematie im Ostseeraum zu einer politischen Hegemonie auszubauen. Die Ostsee dürfe, so wurde von dänischer und schwedischer Seite betont, als offenes Meer nach geltendem Völkerrecht selbst dann nicht gesperrt werden, wenn alle Anliegerstaaten einverstanden seien.

Stalin starb und auch die über der Ostsee lastenden Wolken schienen einer Schönwetter-Atmosphäre zu weichen. Ein russischer Flottenverband erschien 1954 in Stockholm zu einer Freundschaftsvisite, es folgte, zwischen dem September 195 5 und dem April 1956, die Besuchsserie der nordischen Regierungschefs in Moskau. In diese gerade auf Skandinavien gezielte sowjetische „Charme-Offensive“ schlug Ende 1956 die ungarische Tragödie gleich einem Blitzstrahl ein. Die von Moskau lancierten Neutralisierungsparolen hatten mit einem Schlage jede Glaubwürdigkeit verloren; Chruschtschow wurde bedeutet, daß sein Gegenbesuch in den skandinavischen Hauptstädten vorerst nicht aktuell sei. Rußland rea-gierte mit einer Schreckkampagne. In Briefen nach Kopenhagen und Oslo warnte im Frühjahr 1957 Bulganin (damals scheinbar noch auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn) Dänemark und Norwegen vor der Anlage von Raketenbasen und drohte mit vernichtenden Vergeltungsschlägen. Einen ähnlichen Warnschuß erhielt im April 1957 in Form eines Artikels der Zeitschrift „Sowjetsky Flöt" das allianzfreie Schweden.

Sowjetisches „Meer des Friedens“

Der „ballistischen Erpressung" mit ihren apokalyptischen Drohungen ließ Moskau als nächste Phase des Skandinavienfeldzuges die Aktion folgen, die das Kennwort „Die Ostsee —ein Friedensmeer“ trägt. Sie steht in engem Zusammenhang mit dem Aufbau der Bundeswehr und dem Wiedererstehen einer deutschen Ostseemarine. Für den Startschuß hatte sich die Kremlführung Helsinki ausersehen, wo Anfang Juni 1957 Chruschtschow, Bulganir und Gromyko zu einem siebentägigen Finnland-besuch eintrafen. Die Neigung, Helsinki als Plattform für eine auf ganz Skandinavien zielende Aktion zu benutzen, war um so größer, als dem der Sowjetsphäre zugeordneten, aber dennoch im westlich-demokratischen Lebensbereich verbliebenen Finnland von Moskau die Rolle eines „Schaufensters der Koexistenz“ zugedacht ist. Am finnischen Modell soll sich erweisen, wie gut ein der Sowjetunion benachbartes Land fahren kann, das sich jeglicher Bündnispolitik mit dem Westen enthält und seine Außenbeziehungen auf einen „Freundschaftsund Beistandspakt“ mit Moskau beschränkt. Aber die Ostsee-Neutralisierungsoffensive muß noch in weiteren Zusammenhängen gesehen werden. Mit dem Stichwort vom „Friedensmeer“ nahm der Kreml erneut sein durch die Ungarn-krise in den Hintergrund gedrängtes Konzept auf, längs durch Europa vom Nordkap bis Kreta eine Pufferzone zu legen, die der westlichen Verteidigung entzogen und so schrittweise in das Kraftfeld des roten Imperiums eingegliedert werden soll.

Doch waren Chruschtschows finnische Gastgeber nicht gewillt, bei den übrigen nordischen Ländern als Wegbereiter des sowjetischen Ostsee-plans aufzutreten. In elastischem Ausweichen gelang es der finnischen Regierung, im Kommunique vom 13. Juni 19 57 eine unverbindliche Formulierung durchzusetzen. Darin sagt Finnland lediglich zu, für einen „Ausgleich der bestehenden Gegensätze" und ein besseres Verhältnis zwischen den Völkern namentlich in Nordeuropa zu wirken. So blieb der sowjetischen Delegation nur die Möglichkeit, in einer Pressekonferenz einseitig ihren Wunsch nach Neutralisierung des Ostseeraums zu proklamieren Mit Ausnahme der kommunistischen Blätter des Landes, die dem russischen Vorhaben heftig applaudierten, begnügte sich die finnische Presse mit dem Hinweis, daß dererlei weittragende Entschlüsse Sache der Großen wären und Finnland als kleiner neutraler Staat dem ohnehin kein gewichtiges Votum beisteuern könne. Ähnlich ausweichend verhielt skch der finnische Staatspräsident Kekkonen bei seinem Besuch in Moskau im Mai 1958. Kekkonens Bereitschaft, in das Schlußkommunique Wendungen der sowjetischen Koexistenz-Phraseologie aufzunehmen, bezog sich nicht auf den von Chruschtschow erneut anempfohlenen Ostseepakt, dem gegenüber Finnland seine reservierte Haltung beibehielt.

Eindeutig negativ war von vornherein die Reaktion bei den skandinavischen NATO-Partnern Dänemark und Norwegen, deren Presse keine Zweifel ließ, daß man hinter dem Neutralisierungsplan die Absicht Moskaus erkannt hatte, über den Ostseeraum eine sowjetische Hegemonie zu errichten. Das gleiche gilt für das Echo aus Schweden. Neben scharfen Polemiken großer liberaler und konservativer Blätter Stockholms sind hier insbesondere zwei Artikel des sozialdemokratischen Regierungsorgans „Morgon Tidningen" vom 18. und 28. August 1957 zu nennen.

Darin wurde erklärt, daß das Vorhaben, die Ostsee Kriegsschiffen anderer Länder zu verschließen, keineswegs auf eine Pazifizierung hinauslaufe. Vielmehr ergäbe dies eine Monopolisierung der Ostsee zugunsten der Großmacht, die eine gewaltige Überlegenheit an Kriegsschiffen besitzt. Die Ostsee sei hochgradig militarisiert, und zwar unter sowjetischer Suprematie — woran die (wenn auch nur rhetorische) Frage geknüpft wurde, ob die Sowjets für den Fall, daß die Kriegsschiffe anderer Länder ferngehalten würden, bereit seien, nun selbst in der Ostsee abzurüsten. Gleichzeitig wurde an die einseitige Erweiterung der russischen Hoheitsgewässer, die eigenmächtige Aufbringung schwedischer Fischerboote oder den Abschuß schwedischer Flieger über der Ostsee im Sommer 1952 erinnert. Als Verfasser beider Aufsätze gilt der schwedische Außenminister Linden. Seine scharfe Absage an den sowjetischen Ostseeplan wiegt deshalb um so schwerer, weil Prof. Linden — von Hause aus Völkerrechtler — der wohl hartnäckigste Verfechter der schwedischen Allianzfreiheit ist, eine auch nur ansatzweise Zusammenarbeit Schwedens mit der NATO kategorisch ablehnt und im Grundsatz Neutralisierungsplänen nicht abgeneigt ist.

Kommentare aus Warschau und Pankow So waren es nur zwei Ostseeanrainer des Sowjetblocks, die den von Chruschtschow ausgeworfenen Ball auffingen: Polen und das sowjet-

deutsche Regime. Im Abschlußkommunique nach Gomulkas Staatsbesuch in Ostberlin begrüßten am 20. Juli 19 57 Polen und Pankow gemeinsam den Ostseeplan Moskaus als ein wirksames Instrument der Friedenssicherung. In einem Interview für die dänische Nachrichtenagentur Ritzau appellierte Gomulka am 9. September 1957 an die Ostseeländer „trotz der Verschiedenheit der Systeme eine friedliche Koexistenz zu errichten“. Zwar vermied Gomulka das ominöse Wort „Nichtangriffspakt“ — das im Rückblick auf die Angriffspolitik Moskaus gerade gegenüber einigen Ostseeländern im Jahre 1939 ungute Erinnerungen heraufbeschwört. Statt dessen empfahl er ein Übereinkommen über „Regeln zur Verhinderung von Konflikten in der Ostsee und den umliegenden Gebieten“.

Ein Querschnitt durch die polnischen Kommentare erlaubt den Rückschluß, daß sich Warschau nicht nur als Schrittmacher Moskaus fühlt, sondern mit der Ostseeinitiative eigene Wünsche und Pläne verbinden möchte. Offenbar sieht man hier eine Chance, der polnischen Außenpolitik ein gewisses Manövrierfeld zu gewinnen. Während die Vorstöße Moskaus vor allem eine Sperrung der Ostsee für Kriegsschiffe westlicher Nationen im Auge haben, zeigt sich Warschau in erster Linie am Abschluß zweiseitiger Nichtangriffspakte zwischen den Ostseestaaten und an verstärkten wirtschaftlichen Beziehungen mit ihnen interessiert. Es fragt sich, inwieweit in dieses Konzept die alten Träume von einem Staatenblock zwischen Ostsee und Schwarzem Meer einfließen, in die einst der ehrgeizige polnische Außenminister Beck die Vorstellung von einem „Dritten Europa“ zwischen deutschem und russischem Machtbereich hineinprojiziert hatte Zweifellos schwebt heute Warschauer Kreisen die Idee eines neutralen Gürtels längs durch Europa und damit der Übergang auf die Stellung eines „blockfreien sozialistischen Staates“ nach jugoslawischem Muster vor. Auch von solchem Aspekt aus greift der Ostseeplan mit dein Rapacki-Plan ineinander — ein Zusammenhang, den der polnische Außenminister selbst in einem am 11 Dezember 1957 in der „Welt“ veröffentlichen Interview bestätigt hat Freilich darf das Bemühen Warschaus, die Weltlage mit polnischen Augen zu sehen, nicht darüber hinwegtäuschen, daß ebenso wie beim Rapacki-Plan auch bei ihren Ostseevorhaben die polnische Diplomatie sich stetig der Zustimmung des Kreml zu vergewissern sucht.

Daß gegenüber polnischen Emanzipationsversuchen das Echo Pankows auf den sowjetischen Ostseeplan eine wort-und sinngetreue Wiedergabe der Moskauer Intentionen darstellt, bedarf keiner Unterstreichung. Im Schlußkommunique vom 14. August 1957 nach dem Besuch Chruschtschows in Mitteldeutschland hieß es, daß die Sowjetunion „sich mit der Erklärung der DDR und Polens vom 20. Juni 1957 vollständig solidarisiert hat, wonach die Ostsee ein Meer des Friedens sein soll . Die Rolle gerade der deutschen Sowjetzone in der Ostseeplanung Moskaus unterstrich eine Inspektionsfahrt, die im gleichen Zusammenhang Mikojan entlang der mecklenburgischen und vorpommerschen Küste unternahm. „Wir können“, erklärte er am 9. August 1957 in einer Rede in Saßnitz, „den verdächtigen Lärm in diesem Raum nicht überhören, der im Zusammenhang mit den NATO-Plänen zur Schaffung des sogenannten Ostseekommandos erhoben wird. Die Pläne für Marinestützpunkte der Bundesrepublik im westlichen Teil der Ostsee, die NATO-Manöver, die Projekte für ein dänisch-deutsches Kommando — alle diese Maßnahmen wiedersprechen den friedliebenden Interessen der Ostseevölker. Die Ostsee muß, kann und wird zu einem Meer des Friedens werden.“

In einer am 2. September 1957 verbreiteten Erklärung wies das sowjetzonale Regime „mit allem Ernst und allem Nachdruck auf die Gefahr hin, die durch die westdeutschen militärischen Stützpunkte an der Ostsee entsteht“, und versichert, daß es „alle Schritte unterstützt, die geeignet sind, die Militarisiserung zu verhindern und die Ostsee als Meer des Friedens zu sichern“. Die skandinavischen Staaten wurden aufgefordert, das unter westdeutschem Kommando erfolgende Eindringen der NATO in die Ostsee zu verhindern. „Wie diesen NATO-Plänen begegnen?", fragte der „Union-Presse-Dienst“ der sowjetzonalen CDU in seiner Ausgabe vom 12. Oktober 1957. Die Antwort, die einen Blick in die sowjetischen Entwürfe vermitteln dürfte, lautete wie folgt: „Schaffung eines Ostseestatuts, das den Ostseeraum neutralisiert, wozu als Vorstufe Nichtangriffsverträge der Ostseestaaten dienen könnten. Ein-völkerrechtliche Motivierung für einen Sonderstatus der Ostsee ist aus ihrem Charakter als geschlossenes Meer abzuleiten. Für das ähnlich gelagerte Schwarze Meer ist durch den Meerengenvertrag von Montreux von 1936 eine solche Sonderstellung geschaffen worden; während die Handelsschiffahrt frei ist, bestehen für Kriegsschiffe bestimmte Beschränkungen. Eine ähnliche Regelung wäre auch für die Belt-Engen, den Sund und den Nord-Ostsee-Kanal denkbar.“

Am 20. August 1957 hatte die Sowjetdiplomatie den Hebel unmittelbar dort angesetzt, wo sie das zentrale Hindernis für ihr Vorhaben sieht, sich die Ostsee als alleinigen Einflußbereich zu sichern. In Bonn suchte Botschafter Smirnow Außenminister von Brentano auf, um „Vorstellungen der Sowjetregierung gegen gewisse militärische Maßnahmen in dem zur Bundesrepublik gehörenden Teil der Ostsee“ vorzubringen. Das Organ der Sowjetmarine unterstrich diesen diplomatischen Schritt damit, daß es die Marine der Bundesrepublik vor militärischen Abenteuern in der Ostsee warnte.

Russen denken nicht maritim Das Streben der Sowjets zielt derzeit offenkundig nicht auf eine Öffnung der türkischen, sondern auf eine Schließung der dänischen Meerengen. Ein gewichtiger Unterschied zwischen den beiden Engen liegt darin, daß der Zugang zum Schwarzen Meer zu beiden Seiten von ein er Macht, der Türkei, flankiert ist, während der Öresund von dänischem und schwedischem Territorium begrenzt ist. Sofern überhaupt ein dem Schwarzmeer-Statut analoges Ostsee-Statut diskutiert werden könnte, so würde in diesem Fall die Treuhänderschaft über die Meerenge Dänemark und Schweden zugebilligt werden müssen. Eben dies aber entspäche in keiner Weise den Vorstellungen der Sowjetunion, die, schon auf Grund ihres machtmäßigen Übergewichts, die Schlüsselgewalt über die Ostsee-Ausgänge letzthin allein für sich anstrebt.

Die Auslegung des Begriffs „Binnenmeer", „geschlossenes Meer", „Küstenmeer“ durch die Politiker und so auch die Völkerrechtler der Sowjetunion entspricht dem nichtmaritimen Denken des Russen. Er denkt vom Lande her und ist gewillt, die territorialen Hoheitsgrenzen so weit wie nur irgend möglich auf die See hinaus zu verlegen. Die maritim eingestellten Völker und Staaten denken von der See her und trachten danach, den nationalen Hoheitsbereich der Küstenländer, der ja das Meer und die Freiheit des Meeres einengt, möglichst schmal zu halten. Während die Partner der Atlantischen Linien und mit ihnen zahlreiche Nationen sich auf einen Streifen von drei Seemeilen, also von etwa fünfeinhalb Kilometer Breite beschränken, beharrt die Sowjetunion auf der von ihr willkürlich festgelegten Zwölf-Meilen-Zone, die schon im zaristischen Gewohnheitsrecht wurzelt. Die willkürliche Hinausverlegung der Hoheitsgrenze durch die Sowjets bedeutet für ein so kleinräumiges und buchtenreiches Meer wie die Ostsee eine besonders empfindliche Einengung. Die UdSSR dehnte ihre Ansprüche automatisch auch auf die von ihr annektierten Staaten Estland, Lettland und Litauen, sowie auf das von ihr verwaltete Ostpreußen aus, während Polen und die deutsche Sowjetzone bisher den Drei-Meilen-Gürtel nicht aufgekündigt haben. Dabei gingen dem internationalen Fischfang vor allem vor der ostpreußischen Küste wertvolle Fanggebiete verloren. Doch ist die Ausdehnung nach See hin nicht in erster Linie aus wirtschaftlichen, sondern aus militärischen Gründen erfolgt. Man will das fremder Einsicht entzogene Operationsgebiet der sowjetischen Flotte so breit wie möglich halten, wobei die Zwölf-Meilen-Zone die „Schneise für einen ameisen-haften Verkehr" abgibt. Zur Beherrschung des Küstenmeeres kommt ferner noch der Versuch, sich in der angrenzenden „Anschlußzone" weitgehende Kontrollrechte zu sichern. Bei all dem sucht man sich nicht nur zur See hin möglichst großzügig abzudecken, ein entscheidendes Motiv ist zugleich die Abschnürung der eigenen Bevölkerung. Ihr soll auch nur der Gedanke an eine Flucht aus dem Völkergefängnis des Ostblocks hinaus über das Meer in die westliche Welt gründlich abgewöhnt werden. Gegen das Prinzip von der Freiheit der Meere steht auch das Reglement des totalitären Polizeistaates, dessen „Humus“ das Mißtrauen ist.

Den Vorschlag von 1924, eine Schließung der Meerengen gegen eine Herabsetzung der sowjetischen Flottenstärke einzuhandeln, hat Moskau nicht wieder aufgegriffen. Seine Parole vom „Friedensmeer“ schließt nicht etwa den Gedanken an einen Rüstungsstopp im eigenen Bereich, an eine Auflockerung des Festungsgürtels zwischen Leningrad und der Lübecker Bucht ein. In der Sowjetterminologie verkörpert die riesige Rüstungsapparatur des Ostblocks automatisch die Friedensmacht und der Westen ebenso selbstverständlich-die Kriegskräfte. Dabei wird jeder Schritt der sowjetischen Politik und gerade auch der sowjetischen Rüstungspolitik als friedensfördernd propagiert und jede andere Politik ab friedensfeindlich angeprangert. Nicht der Krieg als solcher wird verdammt, sondern nur die Rüstung und Abwehrbereitschaft des Westens. Ein Krieg, den die Rote Armee, die Rote Flotte führt, kann nichts anderes als ein „gerechter Krieg“, sozusagen ein Friedenskrieg sein, während jedes militärische Unternehmen des Westens zwangsläufig der Kategorie der „ungerechten Kriege“ zurechnet.

Aber wir wollen uns nicht im Irrgarten der sowjetischen Dialektik verlieren. Es soll nur Mißverständnissen in der Ausdeutung der These vom „Meer des Friedens“ vorgebeugt werden. Aus dem sowjetischen Denkstil in die herkömmliche Begriffswelt übersetzt, bedeutet diese Parole die Ausschaltung aller westlichen Einflüsse aus dem Ostseeraum, die der Offensivplanung der Sowjetmacht hinderlich sein könnten. Wer in die dänischen Meerengen einfahren darf, will Moskau entscheiden, während das Auslaufen sowjetischer Kriegsschiffe und U-Boote in den'Atlantik unbehindert und unkontrolliert vor sich zu gehen hat. Eine Tür, die sich nur nach außen öffnen läßt: hier liegt der Kem der Argumentation, in der so viel von Handels-und Kulturaustausch, von den Dingen des zivilen und geistigen Lebens die Rede ist.

Die Ostsee -ein freies Meer

Daß die Bundesrepublik auf der Seite der Atlantischen Union steht, ist in unserem Planen und Handeln erst ungenügend verarbeitet worden. Es ist an der Zeit, daß wir zivil wie militärisch diese Position wirklich durchdenken und uns der Stärken bewußt werden, die die See und das Bündnis mit den seebeherrschenden Mächten in sich birgt. Als Verbündeter der Seemächte, gestützt auf das atlantische „Hinterland“ und sein Potential, gewinnt auch die Ostsee für uns manchen neuartigen Aspekt. Zumindest sollten wir davor bewahrt sein, vor dem Anspruch der Sowjets auf ein rotes Binnenmeer zu resignieren. Mit viel Realismus und ohne Illusion müssen wir die Ostsee wieder in unsere Vorstellungswelt einordnen und uns darüber klar werden, was sie für uns bedeutet. Dazu gehört die Kenntnis der ganzen Gefahr, die sich hier in einem tief nach Binneneuropa eingebuchteten Meeresraum geballt hat. Dazu gehört ebenso das Wissen darum, daß die Ostsee ihrer Natur und ihrer Geschichte nach dazu bestimmt ist, die Völker zu verbinden und daß schon deshalb der Anspruch eines Anliegerstaates auf ein Ostseemonopol ein — geradezu monströser — Widersinn ist.

Nie zuvor in der Geschichte war die Funktion der Ostsee als völker-verbindendes Meer derart bedroht wie heute im Zeichen der Machtballung des Bolschewismus. Wir sprechen bewußt hier vom boschewisti-sehen Herrschaftsanspruch, da er mehr will und sein Attentat auf die Freiheit der Ostseevölker weit tiefer zielt als der traditionelle Drang Rußlands zum Meer. Niemand kann ernsthaft der großen Kontinental-macht des Ostens das Recht auf Seefahrt und Küste, auf Anteil am Meer und so auch an der Ostsee bestreiten. Dies ist ein legitimes Bedürfnis, das anzuerkennen der Grundsatz von der Freiheit der Meere durchaus selbstverständlich miteinbeschließt. Aber dem Bolschewismus in dessen Gesalt uns Rußland heute entgegentritt, ist der Gedanke des mare liberum von vornherein fremd, er fordert das mare clausum, das mare nostrum des Sowjetregimes. Von der estnischen bis zur mecklenburgischen Küste wurden die Völker des Ostseeraums unter sowjetische Fremdherrschaft gezwungen. Um auch die übrigen Küstenländer dem Willen Moskaus zu beugen, unternimmt der Bolschewismus jenen politisch-strategischen Aufmarsch, der sich aller geographischen und wirtschaftlichen, verkehrstechnischen und militärischen, diplomatischen und psychologischen Möglichkeiten bedient, der die historische Wahrheit umzuwerten und völkerrechtliche Normen umzubiegen versucht. Die „Zone des Friedens“, die hier dem Ostseeraum verheißen wird, ist die Zone, die sich das Sowjetimperium zu monopolisieren gedenkt. Dieses „Friedensmeer“ wäre ein Meer der Unfreiheit, des Kirchhoffriedens.

Die Ostsee als rotes Meer — das wäre ein totes Meer, in dem die vielfältigen Stimmen der Ufervölker verstummt sind und nur noch ein Einheitskommando gebietet. Aber die Ära, da Moskau sich diesem Ziel nahe glaubte, hat ihren Höhepunkt überschritten. Es bahnt sich wieder ein Gleichgewicht der Kräfte im Ostseeraum an. Die Ostsee wird kein rotes Binnenmeer werden.

Fussnoten

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