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Stalin 1949 -Chruschtschow 1959 Ein Vergleich | APuZ 33-34/1959 | bpb.de

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APuZ 33-34/1959 Stalin 1949 -Chruschtschow 1959 Ein Vergleich Die Funktion der Kunst in der Sowjetunion Sinn und Aufforderung des 20, Juli

Stalin 1949 -Chruschtschow 1959 Ein Vergleich

Man kommt dem Wesen und den Besonderheiten der Chruschtschow-Aera vielleicht am nächsten, wenn man sie primär in der Form eines Vergleiches mit dem Ausklang der Stalin-Aera betrachtet und der Chruschtschowschen Konzeption von 1959 die Stalins von — sagen wir — 1949 entgegenstellt.

Es ist nicht leicht, diese Chruschtschow-Aera zu begrenzen. Sie umfaßt nur einen Teil der nachstalinschen Periode. Im gewissen Sinne begann sie bereits mit der Ausschaltung Malenkows im Februar 195 5. Dies war zwar Chruschtschows erste erfolgreiche Machtprobe, aber auch nach der Übernahme der Regierung durch Bulganin war Chruschtschow noch nicht vollständig Herr der Lage. Man hielt damals wohl allgemein Chruschtschows Position für stärker als sie in Wirklichkeit war. Heute würde es scheinen, daß das Duumvirat Bulganin/Chruschtschow, das wir nicht nur in Rußland sondern auch bei den Staatsbesuchen in Indien, Jugoslawien und Großbritannien am Werke sahen, nur eine zeit-bedingte Verlegenheitslösung gewesen ist. Auch der 20. Parteitag brachte noch nicht den vollen Triumph Chruschtschows und der Chruschtschowschen Konzeption, obzwar er ihn in beträchtliche Nähe rückte. Selbst nach dem 20. Parteitag gab es für Chruschtschow noch Rückschläge hauptsächlich außenpolitischer Natur — man denke nur an Polen und Ungarn und die Abkühlung der Freundschaft mit Jugoslawien — die die weitere Festigung seiner Position verzögerten. Die entscheidende Wendung war die Reorganisation des sowjetischen Industrie- und Verwaltungsapparates, die im Frühjahr 1957 stattfand und trotz der Opposition Malenkows, Kaganowitschs, Molotows und in geringem Maße Bulganins Perwuchins und Saburows durchgeführt wurde.

Die Anti-Chruschtschow-Koalition, die es nur in einem sehr losen Sinne gegeben hat, konnte sich von dieser Schlappe nicht erholen. Sie bereitete Chruschtschows Staatsstreich im Juni 19 57 vor, als er das Zentralkomitee der Partei gegen die ihm feindlich gesinnte Mehrheit des Präsidiums mobilisierte. Das Juni-Plenum des Zentralkomitees wählte jenes neue Parteipräsidium, in dem Chruschtschow über eine überwiegende Mehrheit verfügte, und seither ist der Kampf im großen und ganzen entschieden. Alles was folgte, waren nur noch Nachhutgefechte zur weiteren Stabilisierung der Macht Chruschtschows, wie die Ausbootung Schukows, Bulganins und Serows. Von diesen drei Männern stellte wahrscheinlich nur Marschall Schukow auf längere Sicht gesehen eine ernstliche Bedrohung für Chruschtschow dar. Aber dennoch liegt in der Entlassung dieser drei Persönlichkeiten ein Schlüssel zum Verständnis der Chruschtschowschen Aera und der Chruschtschowschen Konzeption für die sowjetische Innenpolitik.

Der Unterschied in den Machtsystemen Schukow, Bulganin und Serow repräsentierten die drei Faktoren, die die Partei unter gewissen Umständen als Rivalen ansehen konnte, nämlich die Armee, den Regierungsapparat und die Polizei. Ihre Entlassung garantierte den Endsieg der Partei und beseitigte die letzten Überreste des Stalinschen Machtsystems. Dieses System war komplizierter als jenes, auf das sich Chruschtschow im gegenwärtigen Augenblick stützt. Für Stalin war die kommunistische Partei nicht das einzige Instrument der Macht. Chruschtschow hatte recht, als er in seiner Geheimrede auf dem 20. Parteitag behauptete, daß die Partei von Stalin entmachtet worden war. Die repräsentativen Parteiorgane — der Parteikongreß und das Zentralkomitee — hatten unter Stalin ganz ihre Bedeutung verloren. Der Parteiapparat blieb zwar in der Form einer großen Armee von Bürokraten fortbestehen, aber diesem Apparat waren die anderen Machtinstrumente Stalins, besonders die Polizei und dann in einem gewissen Abstand der staatliche Regierungs-und Verwaltungsapparat und die Armee beigeordnet und nicht untergeordnet. Polizei, Regierung und Armee waren nicht mehr dazu da, Parteibefehle zu vollziehen, sondern sie waren Instrumente der Stalinschen Hausmacht. Stalin war die höchste hierarchische Spitze der vier an der sowjetischen Innenfront wirkenden Kräfte. Der Kampf, der nach Stalins Tod unter den Diadochen entbrannte, war zunächst ein Kampf um die Verselbständigung dieser Kräfte, der dann, mit dem Erstarken der Stellung Chruschtschow», zum Kampf für die Wiederherstellung des Primates der Partei in der sowjetischen Politik wurde, eine Rolle, die die Partei unter Stalin verloren hatte. Dieses Primat bedeutet nicht die Wiederherstellung der innerparteilichen Demokratie, obzwar dies vielfach behauptet wird; es bedeutet nicht, daß der kollektive Wille der Partei von nun an entscheidend für die Geschicke des Sowjetstaates wird, sondern nur, daß die Partei zum ausschließlichen Machtinstrument des neuen Herrschers geworden ist. Die scheinbar so absurde Bezeichnung von alten Kommunisten wie Molotow und Kaganowitsch als die Mitglieder einer soge-nannten antiparteilichen Gruppe entbehrt dabei nicht eines tieferen Sinnes. Diese Männer sind, von Chruschtschows Gesichtspunkt betrachtet, anti-parteilich eingestellt, da sie sich der Stärkung der Partei, die seine Partei geworden ist, widersetzen.

Rein äußerlich betrachtet ist das Ansehen und der Einfluß der Partei über alle Maße gewachsen. Das Parteipräsidium hat keine Konkurrenten mehr im Präsidium des Ministerrates. Das Zentralkomitee der Partei wird zu häufigen Sitzungen zusammengerufen, und in den lokalen Parteiorganisationen scheint ein regsames Leben zu herrschen. Aus einer stagnierenden Körperschaft, wie sie die Partei in den letzten Lebens-jahren Stalins gewesen ist, scheint sie sich in eine dynamische Kraft umgewandelt zu haben. Aber dieser Schein trügt. Das Parteileben, wie es sich heute besonders auf der Ebene des Zentralkomitees abspielt, ist ein Beweis dafür, daß Stalin und Chruschtschow verschiedene Methoden zur Konsolidierung ihrer persönlichen Macht gewählt haben. Stalin schaltete das Zentralkomitee aus, und Chruschtschow macht sich seine Servilität zunutze. Das häufige Zusammentreten des Zentralkomitees könnte zwar theoretisd'i bedeuten, daß Chruschtschow seine Macht mit diesem Forum teilt, aber tatsächlich bedeutet es nur, daß Chruschtschow nichts mehr von ihm zu fürchten hat. Das Zentralkomitee kann diskutieren, es kann Vorschläge unterbreiten, es kann im Interesse der Wirtschaftsplanung auch hohe Beamte kritisieren, aber eines kann es nicht tun, eine wirkliche politische Funktion ausüben. Dafür gibt es zumindestens bis zum Entstehen einer neuen sichtbaren Opposition keine Anhaltspunkte mehr. Nach dem Machtkämpfe der Jahre 1953-57 und Chruschtschows Sieg über seine Gegner ist die Sowjetunion wieder zum unpolitischen Lande geworden, das es unter Stalin war.

Chruschtschow ist dabei nicht weniger geneigt, seine Position durch willkürliche Eingriffe zu verbessern als es Stalin war, der sich nie scheute, die Mitgliedschaft der höchsten Parteiorgane in seinem Sinne zu ändern. Das Zentralkomitee, das im Dezember 1958 seine Sitzung abhielt und Chruschtschow einstimmige Unterstützung am Vorabend des 21. Parteitages zusicherte, hatte durch verschiedene Kooptierungen und Ausbootungen eine wesentlich andere Zusammensetzung erhalten als es ursprünglich, zur Zeit seiner Wahl im Februar 1956 hatte.

Auch das ParteipräsidiuM hat sein spezifisches Gewicht nur im Verhältnis zu anderen Sowjeteinrichtungen gewandelt, aber nicht im Verhältnis zum obersten Parteiführer, zumindest nicht wesentlich. Das Parteipräsidium Chruschtschows und das Politbüro Stalins sind beides Gremien von Jasagern. Der Unterschied besteht nur darin, daß es in Stalins Politbüro auch nicht mehr die Spur einer kollektiven Führung gab, während sich im Chruschtschowschen Präsidium solche Reste der Kollektivführung bewahrt haben.

Mikojan kann noch immer nicht als ein willenloses Instrument der Chruschtschowschen Politik angesehen werden, und sein Status ist daher recht verschieden von jenem, den Kaganowitsch oder Molotow unter Stalin besaßen. Chruschtschow würde wahrscheinlich ernsten Widerspruch im Parteipräsidium ebenso wenig dulden wie Stalin. Aber er ist toleranter, wenn es um Meinungsverschiedenheiten sekundärer Ordnung geht. Chruschtschow übt eben heute noch immer nur die Macht des jüngeren Stalin aus. Er behandelt seine Opponenten wie sie Stalin zu Beginn der dreißiger Jahre behandelte. Er kann es sich immer noch nicht leisten, ein Präsidiumsmitglied stillschweigend aus der Parteiführung zu entfernen, es verhaften oder erschießen zu lassen, wie dies Stalin mit Nikolaj Woznesenskij vor zehn Jahren tat. Chruschtschows Kampf gegen die Antipartei-Gruppe zeigt, daß er behutsam und unter Wahrung von allen möglichen Formalitäten vorgehen muß. Er kann die Partei und das Land nicht einfach vor ein fait accompli stellen, er muß eine Erklärung für sein Handeln geben und um Zustimmung werben.

Ebenso wie für Stalin ergibt sich für Chruschtschow die Notwendigkeit, nicht nur seine Stellung an der Spitze zu konsolidieren, sondern auch in den unteren Regionen der Parteipyramide. Als Stalin die leninistisch-marxistische Parteidoktrin mit der Ideologie des sowjetischen Patriotismus ergänzte, öffnete er die Tore der Partei und ließ einige Millionen Mitglieder neu anwerben, besonders Frontsoldaten. Vielleicht hoffte er, daß diese neuen Mitglieder ihm im besonderen Maße persönlich ergeben sein würden. Auch Chruschtschow hat die Tore der Partei geöffnet. Zwischen dem 20. und 21. Parteitag wurden eine Million Mitglieder in die Partei ausgenommen, die große Mehrheit wahrscheinlich erst nach dem entscheidenden Juni-Plenum von 1957. Es ist anzunehmen, daß Chruschtschows Funktionäre in den verschiedenen Teilen der Sowjetunion diesen Zuwachs sorgsam ausgewählt haben. Bei der Zulassung neuer Mitglieder — man könnte sie die „Junikommunisten“ nennen — sind wohl vor allem die Enthusiasten der Chruschtschowschen Reformen berücksichtigt worden, besonders Leute, die aktiv an der Verwirklichung dieser Reformen, z. B.der Erschließung der Neulandgebiete, mitarbeiten.

Das Problem der Sicherheit In der Beurteilung der Aufgaben, die der Polizei und dem Sicher-heitsapparat im sozialistischen Staate zulommen, besteht zwischen Chruschtschow und dem alten Stalin ein ebenso wesentlicher Gegensatz wie in der Wertung der Rolle der Partei als Machtinstrument. Das bisher Gesagte kann vielleicht den Eindruck erwecken, daß Chruschtschow die Polizei nur deshalb in einem anderen Licht als Stalin betrachtet, weil er nicht die Macht besitzt, Stalin vollständig nachzuahmen. Es besteht ein wirklicher, tiefer LInterschied zwischen der Stalinschen und der Chruschtschowschen Sicherheitskonzeption. Zur Zeit seines 70. Geburtstages und selbst am Vorabend seines Todes — das war ja die Zeit der angeblichen Ärzteverschwörung — betrachtete Stalin die Sicherheitsprobleme immer noch im Lichte der zwanziger und dreißiger Jahre. Die Feinde für Stalin waren die Reste der liquidierten Klassen und ihre angeblichen Verzweigungen und Agenturen innerhalb der kommunistischen Partei. Auch die Mittel, die Stalin für geeignet hielt, den inneren Feind zu schlagen, hatten sich in den drei Jahrzehnten seiner Herrschaft nicht verfeinert. Noch immer waren es blutige Säuberungsaktionen und erzwungene Geständnisse.

Wo Stalin zurückblickte, sieht Chruschtschow mit Besorgnis in die Zukunft. Chruschtschow, der fünfzehn Jahre jünger ist als Stalin heute wäre, gehört zu einer anderen Generation. Er sieht darum andere Probleme, andere Feinde und andere Mittel, sie zu bekämpfen. Gewiß, auch er übersieht den Feind von gestern nicht, aber er weigert sich, ihm seine Hauptaufmerksamkeit zu schenken, denn ein neuer, potentiell viel gefährlicherer Feind ist am Horizont erschienen: die Jugend, die unter dem Sowjetregime ausgewachsen ist und die dieses Regime eines Tages entweder teilweise oder ganz ändern mag. Dies ist etwas was Stalin niemals verstanden hat oder selbst verstehen konnte. Als ein Vorkämpfer der bolschewistischen Bewegung und ein aktiver Teilnehmer an der Oktoberrevolution betrachtete er den Kommunismus als etwas Neues. Wie alle Diktatoren betrachtete er die Bewegung, der er angehörte, als die Bewegung der ewigen Jugend. Er merkte nicht, daß der Kommunismus sowohl als Idee als auch als Bewegung so alt und brüchig geworden war, daß beide einer Verjüngungskur bedurften. Chruschtschow hingegen hat dies verstanden und ist entschlossen, danach zu handeln. Er hat sich die Aufgabe gestellt, der Verjüngerer des Kommunismus, seiner staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtung zu werden. Er versucht, eine neue Führerschicht aus den Kreisen der jüngeren Generation heranzuziehen. Dies ist für ihn nicht nur eine Machtfrage, er will damit auch die wirtschaftliche und verwaltungstechnische Leistungsfähigkeit des Regimes erhöhen. Wie er an der Spitze des Staates und der Partei die Männer auswechselte, die durch ihre langjährige geistige Abhängigkeit von Stalin innerlich ausgehölt und gelähmt wurden, so will er auch im mittleren und unteren Führungsapparat die Menschen ausschalten, denen die Fähigkeit zum schöpferischen Handeln durch den Terror und die Einschränkungen unter der Stalinherrschaft für immer geraubt wurden.

Dieser Generationswechsel könnte unter Umständen eine gefährliche Auflockerung des Regimes herbeiführen, wenn nicht Chruschtschow gleichzeitig auch das staatliche Sicherheitssystem der neuen Situation angepaßt hätte. Im Dezember 1958 hat Chruschtschow den früheren Sekretär des kommunistischen Jugendverbandes Alexander Schelepin zum Leiter der staatlichen Sicherheitsbehörde ernannt; damit wird mit diesem Amt zum ersten Male ein Mann betraut, der nicht nur nach der Oktoberrevolution geboren ist, sondern aus eigener Anschauung die Häresien kennt, die unter der jungen sowjetischen Generation Verbreitung finden.

Chruschtschow und sein neuer Polizeichef wissen natürlich, daß Polizeimaßnahmen allein die politischen Gefahren nicht bannen, deren Träger die junge Generation sein könnte. Darum versucht die Parteiführung, eine positive Alternative für jene nihilistischen, häretischen Strömungen zu schaffen, die unter der Jugend Fuß gefaßt haben. Zu diesem Zweck soll die schon fast erloschene Flamme der revolutionären Begeisterung wieder angefacht werden. Schelepins Hauptreferat auf dem 13. Komsomolkongreß im April 195 8 enthielt einige praktische Hinweise, wie dies zu geschehen hat: Durch Wallfahrten zu den Schlachtfeldern des Bürgerkrieges und zu den Gräbern revolutionärer Helden, durch die Veranstaltung von Fackelzügen an revolutionären Feiertagen und durch das Singen revolutionärer Lieder. Ein ähnlicher Versuch, die junge Generation zu reformieren und sie für den Kommunismus zu retten, liegt auch der neuen Schulgesetzgebung zugrunde. Wenn sie ihren letzten Zweck erfüllt, dann mag sie tatsächlich der Polizei später viel Mühe ersparen. Verglichen mit der Schule Stalins, die jetzt, retrospektiv betrachtet, fast als humanistisch erscheint, hat Chruschtschows Schule einen viel weniger intellektuellen Charakter. Sie sorgt für eine intensivere politische Erziehung und einen weiteren Ausbau des Internatsschulwesens, wodurch der Einfluß des Staates auf die Erziehung der Kinder vergrößert und die Rolle der Familie verringert wird.

Alles in allem schafft Chruschtschows Erziehungsreform mehr Reglementierung als es unter Stalin gegeben hat, und ist theoretisch wenigstens imstande, einen vollkommeneren homo sowjeticus zu erzeugen als je zuvor. Und dennoch besteht guter Grund für die Behauptung, daß das Regime Chruschtschows liberalere Züge aufweist als das Regime Stalins. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Die Erklärung liegt wohl darin, daß Stalin im brutalen Terror ein universelles Heilmittel sah, während Chruschtschow der wahllosen Anwendung terroristischer Methoden skeptisch gegenübersteht. Die Geschichte der sowjetischen Gesellschaft hat ja auch gezeigt, daß Terror ihre Probleme nicht lösen konnte, sondern im Gegenteil ihre Lösung hinausschob und sie dadurch umso schärfer gestaltete. Auch Chruschtschow hält an dem totalitären uniformen Staate fest, aber er ist der Ansicht, daß zu seiner Aufrechterhaltung direkter Terror nur in Ausnahmefällen gebraucht werden soll. Stalins Terror hat es nicht verhindert, daß sich innerhalb der sowjetischen Gesellschaft verschiedene Kasten und Gruppen bildeten, die eine Gefahr für den kommunistischen Staat bedeuten konnten: Die Manager und Technokraten der sowjetischen Wirtschaftsunternehmen, die verschiedenen Minister und Vizeminister und ihr riesiger Bürokratenstab. Chruschtschow hat die Macht dieser Gruppen gebrochen, nicht durch direkten Terror, sondern indem er sie der Kontrolle der Partei unterwarf und sie gleichzeitig durch seine Dezentralisierungsmaßnahmen zersetzte und zerstückelte. In ähnlicher Weise hat Chruschtschow es auch verstanden, die Bauernschaft wirksamer in Schach zu halten als Stalin. Stalin sandte die NKWD in die Dörfer, um die Kollektivwirtschaften zur Erfüllung ihres landwirtschaftlichen Ablieferungssolls anzuhalten und ihre Mitglieder zur Annahme der sowjetischen Ordnung zu zwingen. Außerdem sahen die Maschinen-Traktor-Stationen mit ihren politischen Abteilungen darauf, daß die Kollektivwirtschaften sich zu keiner Gefahr für den Staat entwickeln konnten. Chruschtschow griff die Kollektivwirtschaften nicht von außen an wie Stalin, sondern von innen her. Er ist jetzt dabei, sie zu proletarisieren, zu urbanisieren und mit kommunistischen Parteimitgliedern zu durchsetzen. Zur gleichen Zeit verringert er ihre wirtschaftliche Bedeutung durch die Stärkung ihrer Konkurrenten, der Staatsgüter.

Chruschtschows Reformen müssen jedoch noch von einem anderen Standpunkt aus betrachtet werden. Zum Unterschied von Stalin hat Chruschtschow begriffen, daß in Rußland eine tiefe Sehnsucht nach einem innerpolitischen Kurswechsel besteht, die Sehnsucht nach Freiheit, von der Pasternak auf der letzten Seite von „Dr. Schiwago" schreibt. Chruschtschow hat dieses Buch zwar verboten, aber dennoch gewisse Konsequenzen aus seinen Schlußfolgerungen gezogen, wenn auch andere, als sie dem Verfasser selbst vorschwebten.

Chruschtschow hat sein Bestes getan, die Völker der Sowjetunion von der Sehnsucht nach einer Wandlung und nach Freiheit abzulenken, indem er tatsächlich weitgehende Veränderungen herbeiführte, wie die totale Umstülpung des ganzen Verwaltungs-und Wirtschaftsrates, die das Land in Atem hält und dabei dennoch das Regime konserviert. Chruschtschow verlagert nur das Schwergewicht innerhalb des totalitären Staates. Die Macht wird übertragen von der Zentralregierung an die Regierung der russischen Föderation, von den Ministerien an die verschiedenen Staatsausschüsse und die 105 Gebietswirtschaftsräte, von den kommunistischen Direktoren der Maschinen-Traktoren-Stationen an die kommunistischen Vorsitzenden der stark bürokratisierten Kollektiv-wirtschaften. Als Gesamtresultat aller dieser und anderer Reformen verliert das Chruschtschowsche Regierungsund Planungssystem fast jede äußere Ähnlichkeit mit dem Stalinschen System, und dies ist der Eindruck, den Chruschtschow zu schaffen beabsichtigt. Seine Reformen sind dazu angetan zu beweisen, wie verschieden seine Methoden von denen Stalins sind, und zu zeigen, daß es mit dem Absterben des Staates und der Regierung jetzt endlich ernst gemeint ist und daß die Ära des Kommunismus näherrückt. Natürlich hat dieses Absterben des Regierungsapparates wenig Bedeutung, da die Partei ihre Machtstellung nicht nur behält, sondern sogar weiter ausbaut.

Schukow und Pasternak Wo es wirklich Ansatzpunkte zu etwas Neuem im nachstalinschen Rußland gab, hat sie Chruschtschow rücksichtslos beseitigt. Auf der höchsten Ebene der sowjetischen Politik war das Neue die Machtstellung, zu der Marschall Schukow aufgestiegen war. Das Schukowproblem ist uns in seinen Einzelheiten noch immer unbekannt, wir wissen noch immer nicht genau, welche Ambitionen Schukow wirklich hegte und auf welches Ziel er hinarbeitete. Es ist anzunehmen, daß die gegen ihn vorgebrachte Hauptanklage — seine Weigerung, die Armee der Partei voll unterzuordnen — durchaus den Tatsachen entsprach. Die Entlassung und politische Degradierung Schukows zielte jedoch nicht so sehr darauf ab, eine tatsächliche Situation aus der Welt zu schaffen, die Chruschtschow unbequem geworden war. Wie Stalin im Jahre 1946, so war Chruschtschow im Jahre 1957 bestrebt, eine Legende zu zerstören, die Schukowiegende. Es gab nicht wenige Leute in der Sowjetunion, die in einer Schukowlösung eine Alternative, und zwar die einzige zum Status quo, erblickten. Natürlich wußte Schukow um diese Legende, sie stärkte seine Hand, und sie hätte vielleicht, wie dies politische Legenden oft tun, im geeigneten Augenblick eine geschichtsgestaltende Rolle gespielt.

Schukows Nachfolger hat auf dem 21. Parteitag behauptet, daß Schukow den Ehrgeiz hatte, sich als ein russischer Bonaparte aufzuspielen. Dies scheint eine übertriebene, selbst unbegründete Anklage zu sein. Aber Schukow hätte ein russischer Badoglio oder Petain werden können, ein militärischer Führer, der ein Machtvakuum ausfüllt, nachdem er vielleicht selbst an der Schaffung dieses Vakuums teilgenommen hat. Marschall Georgij Schukow wurde nicht nur selbst von der politischen Bildfläche hinweggefegt, es wurde auch einer neuen Schukowschtschina, einer Wiederholung des Schukowfalles, durch die Stärkung der politischen Führung in der Armee und den Ausbau der politischen Propaganda-arbeit in den militärischen Verbänden ein Riegel vorgeschoben.

Die andere neue Entwicklung, die Chruschtschow verhindert hat, wurzelt im intellektuellen Leben des Landes. Auch die intellektuelle Gefahr hat Chruschtschow rechtzeitig erkannt, wobei ihm die Entwicklung in LIngarn und Polen als warnender Anschauungsunterricht gedient hat. Im Jahre 1957, dem gleichen Jahre, in dem Chruschtschow den Re-gierungsapparat und die Armee völlig der Partei unterstellt, wurde der erste Parteisekretär auch sein eigener „arbiter elegantiarum", eine Rolle, die Stalin an Schdanow delegiert hatte. In drei Reden über Kunst und Literatur machte Chruschtschow klar, daß von ihm keine Absage an den Parteicharakter des künstlerischen Schaffens zu erhoffen ist. Es blieb nicht bei rein platonischen Mahnungen, die Umbesetzung der Redaktionen gewisser führender Literaturzeitschriften und nicht zuletzt auch der Pasternakfall zeigten, wie sehr Chruschtschow die ideologische Reinheit des intellektuellen Lebens zu wahren bestrebt ist.

Auch hier kann Chruschtschow seinem Vorgänger nicht einfach gleichgesetzt werden. Er unterscheidet sich von ihm darin, daß er sich nicht an leere Prestigefragen anklammert. Chruschtschow ist bereit, auch den Schriftstellern gegenüber Konzessionen zu machen, wenn sie den Partei-charakter der Literatur nicht berühren, z. B. als er im Mai 19 59 seine Zustimmung für die Absetzung des unbeliebten Surkow, des Zentral-sekretärs des Schriftstellerverbandes gewährte.

Dort Starrheit — hier Elastizität Die Kaltstellung Surkows war eine bemerkenswerte symbolische Geste, die zeigte, daß in Chruschtschows Einschätzung unnachgiebige Starrheit und totalitäre Regierungsform nicht identisch sind. Stalin war ein Mann, der jedem Risiko abgeneigt war. Der Unterschied zwischen wesentlichen und unwesentlichen Zügen im totalitären System war ihm fremd. Es gab für ihn nur ein unteilbares und unverrückbares Prinzip. Darum entstand unter seiner Herrschaft nicht nur die Atmosphäre des Terrors, sondern auch jene eintönige Langweile und lückenlose Unterdrückung der persönlichen Freiheit, die im hohen Maße Orwell’s utopischen Roman „ 1984“ inspirierten. Diesem bedeutsamen Werke kann im Chruschtschowschen Zeitalter nicht mehr die gleiche seherische Bedeutung zugebilligt werden wie in den letzten Regierungsjahren Stalins. Bis zu einem gewissen Grade hat Chruschtschow vor der menschlichen Persönlichkeit kapituliert. Er will die kommunistische Totalität nicht durch die Abtötung der menschlichen Persönlichkeit sichern, er zielt nur darauf ab, sie zu schwächen und sie vom Standpunkt der Partei aus ungefährlich zu machen. Er ist der Meinung, daß gewisse Risiken mit dem Sowjetmenschen genommen werden müssen, von denen er sich als gewiegter Spieler Gewinne für das Regime erhofft.

Solch ein kühl erwogenes Risiko ist die teilweise Öffnung der Grenzen in beiden Richtungen. Stalin wäre eine solche Maßnahme bedenklich erschienen. Chruschtschow erwartet von ihr nicht nur äußere Propagandaerfolge, sondern auch eine Bereicherung der sowjetischen Wissenschaft und Technik. Dabei nimmt er bewußt in Kauf, daß die Berührung mit der Außenwelt dem sowjetisch-russischen Nationalstolz Abbruch tun und zur Verbreitung „fremder Einflüsse“ aus der „kapitalistischen Umgebung“ führen könnte. Solchen Gefahren muß dann eben durch verstärkte ideologische Arbeit entgegengetreten werden.

Ein anderes Beispiel, wie Chruschtschow im Gegensatz zu Stalin zwischen starrer Einförmigkeit und Totalität unterscheidet, ist seine Einstellung zu den Propagandamitteln des Regimes, besonders der Presse. Unter Stalin verminderte sich die Zahl der existierenden Zeitschriften fast von Jahr zu Jahr. Je weniger es gab, umso sicherer schien die Lage an der „ideologischen Front“. Der einfachste Weg für Stalin, eine ideologische Häresie aus der Welt zu schaffen, war die Unterdrückung der Zeitschrift, deren Trägerin sie war. So geschah es mit der literarischen Monatsschrift „Leningrad“ im Jahre 1946 oder im Jahre darauf mit „Weltwirtschaft und Weltpolitik", dem Organ des etwas eigenwilligen Ökonomisten Eugen Warga. Chruschtschow sucht auf dem Gebiet des Presse-und Zeitschriftenwesens äußere Vielförmigkeit mit totalitärem Inhalt zu versöhnen. Eine beträchtliche Anzahl neuer Zeitschriften und Zeitungen sind seit seiner Machtergreifung erschienen. Er hat auch die innere Auflockerung der sowjetischen Presseerzeugnisse gutgeheißen, bei der ein Mitglied seiner Familie, Chruschtschows Schwiegersohn Adschubej, erst Chefredakteur der Komsomolskaja Prawda, dann der Izwestija, eine führende Rolle spielt. Unter Stalin wäre jede Konzession an den populären Geschmack, so z. B. Vermischung politischer und nicht-politischer Nachrichten und Artikel oder auf Blickfang ausgehende Überschriften einer ideologischen Verwässerung gleichgesetzt worden.

Heute hält man solche Konzessionen für notwendig, um Propaganda dem Volke mundgerecht zu machen. Fragen der äußeren Aufmachung der Zeitungen werden jetzt plötzlich zum Gegenstand eines gründlichen Studiums gemacht. Eine besondere Monatsschrift und eine spezielle Organisation, der sowjetische Journalistenverband, eine vom Chruschtschowregime autorisierte Neugründung, nimmt sich dieser Angelegenheit an.

Auf dem Gebiete der Organisationen zeigte Stalin übrigens die gleiche Tendenz wie im Hinblick auf die Presse. Auch hier war sein Grundsatz je weniger, umso besser. Je länger sein Regime dauerte, umso weniger Hilfsorganisationen schien er zu dulden, und jene, welche noch bestanden, wie der sowjetische Schriftstellerverband, befanden sich im Zustand der bürokratischen Erstarrung, wenn nicht des Absterbens. Chruschtschow hingegen glaubt, daß eine gegensätzliche Entwicklung am Platze ist und daß es dem totalitären Staate zum Nutzen gereichen kann, wenn außer Partei, Jugendverband und Gewerkschaften auch noch andere Organisationsformen existieren, die im kommunistischen Sinne beeinflußt sind und verschiedenen menschlichen Interessen und Tätigkeitsbedürfnissen Rechnung tragen. Die neuen Sport-, Touristen-, Gesangs-und Tanzvereine, sowie z. T. auch die Freundschaftsorganisationen für die Pflege der Beziehungen mit fremden Ländern, sind das sowjetische Gegenstück der „circenses" der römischen Cäsaren geworden.

Stalinkult und Chruschtschowkult Obzwar Chruschtschow genauso wie Stalin sein Machtwort über die verschiedensten Lebensgebiete ausspricht, hat Chruschtschow dennoch nicht den gleichen Status wie sein Vorgänger errungen. Chruschtschow ist damit zufrieden, Rußlands oberster Herrscher zu sein, aber er umgibt sich nicht mit der gleichen Atmosphäre byzantinischer Servilität, wie sie so charakteristisch für die letzten Jahre der Stalinschen Herrschaft gewesen ist. Chruschtschow versucht auch nicht, sich mysteriös im Hintergrund zu halten. Die Unnahbarkeit Stalins, die an die Art orientalischer Despoten vergangener Jahrhunderte erinnerte, ist Chruschtschow fremd. Chruschtschow bedient sich der Technik moderner totalitärer Herrscher. Er bewegt sich ständig im Lampenlicht und versucht dadurch, alle Rivalen im eigenen Lande, aber auch fremde Staatsmänner zu überschatten. Das Gewähren von Interviews, das Halten von Versammlungsreden und das häufige Erscheinen bei diplomatischen Empfängen, dies sind die Methoden, mit denen Chruschtschow sein Prestige festigt.

Im allgemeinen läßt sich sagen, daß eine der Haupttriebfedern des persönlichen Verhaltens Chruschtschows darin besteht, sich von Stalin zu unterscheiden. Seine Reisen in die sowjetische Provinz dienen unter anderem dazu, diesen Unterschied schärfer herauszuarbeiten. Chruschtschow sagte in seiner Rede in der Geheimsitzung des 20. Partei-tages, daß Stalin ein Mann war, der nie herumfuhr und die Lage in der Provinz nicht kannte. Chruschtschow hingegen will als der Mann erscheinen, der sich jede Ruhe versagt, und seine Gesundheit aufs Spiel setzt um sich mit der Lage und Stimmung in der Provinz vertraut zu machen.

Wie bewußt Chruschtschow darauf ausgeht, die Analogie mit Stalin zu vermeiden, konnte man besonders im Zusammenhang mit Chruschtschows 65. Geburtstag am 19. April 1959 wahrnehmen. Die Gelegenheit lud zu Vergleichen mit Stalins 70. Geburtstag am 21. Dezember 1949 ein. Dieses Ereignis nahm solche Proportionen an, daß es wohl noch immer in Rußland in Erinnerung ist. Die Glückwünsche, die Stalin geschickt wurden, waren so zahlreich, daß es fast volle zwei Jahre dauerte, bevor die Presse sie registriert hatte. Chruschtschows 65. Geburtstag wurde in der Presse zunächst nicht erwähnt, und erst zwei Tage nachher wurden in verhältnismäßig bescheidenem Ausmaße Glückwünsche veröffentlicht. Die Komplimente, die sie enthielten, reichten nicht annähernd an den Stalinkult heran, aber sie hoben Chruschtschow dennoch beträchtlich über die anderen Parteiführer hinaus.

Sowohl diese Geburtstagsglückwünsche als auch der Verlauf des 21. Parteitages haben gezeigt, daß es in gewissen Grenzen einen Chruschtschowkult gibt. Chruschtschow wird heute eine Vielfalt von Interessen und Leistungen zugeschrieben wie einst Stalin. Die Reden auf dem 21. Parteitag deuteten auch darauf hin, daß Chruschtschow nicht abgeneigt ist, den persönlichen Dank für das entgegenzunehmen, was unter seiner Regierung in wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Hinsicht in Rußland vollbracht wird. Chruschtschow scheint auch Wert darauf zu legen, daß ihm eine ehrenvolle militärische Rolle im Zweiten Weltkrieg zugebilligt wird, nicht nur im Partisanenkampf in der Ukraine, sondern auch an der Stalingradfront. Es ist ihm durchaus daran gelegen, daß die Kriegsgeschichte in diesem Sinne umgeschrieben wird, z. B. in Marschall Tschuikows Buch über die Stalingradschlacht. Aber auch hier sind Chruschtschows Wünsche bescheiden gemessen am Kult, der um Stalin, den Feldherrn, gesponnen wurde. Während Stalin als ein Halbgott erschien, so wird Chruschtschow noch immer in menschlichen Dimensionen gezeichnet.

Die besondere Rolle der Nationalitätenfrage Es würde genügen, von der „Partei“, der „Armee“ und der „Regierung“ der Sowjetunion in jenen allgemeinen Zügen zu sprechen, in denen wir dies getan haben, wenn der sowjetische totalitäre Staat ein Nationalstaat wäre, so wie es das Dritte Reich und das faschistische Italien in ihren ersten Entwicklungsphasen waren. Aber da die Sowjetunion ein Völkerstaat ist, genügt eine solche allgemeine Analyse nicht. Niemand ist sich dessen besser bewußt, als die sowjetischen Staatsmänner selbst. Daher spielt sowohl Stalins als auch in Chruschtschows Konzeption die Nationalitätenfrage eine besondere Rolle.

Sie ist eines jener Probleme gewesen, die Stalin mit den Mitteln des Terrors lösen wollte. Da Stalin die nationale Frage und ihre potentiellen Gefahren aus eigener Anschauung kannte, ließ er es nicht bei rein pUysisckem Terror bewenden, er ergriff auch subtilere Maßnahmen, auf die nur ein Kenner des Problems verfallen würde, wie die vollständige Verschleierung aller Nationalitätenstatistiken. Dennoch wurde die Nationalitätenfrage zu einem der schlimmsten Erbstücke, die Stalin seinen Nachfolgern hinterließ, betrifft sie doch fast die Hälfte der Bevölkerung der Sowjetunion.

Nach dem Tode Stalins suchte sich zunächst Berija der Nationalitätenfrage zu bemächtigen und die nichtrussischen Volksgruppen auf seine Seite zu bringen. Er gab wahrscheinlich den Anstoß zu den ersten Konzessionen, die im Frühjahr 195 3 an die nicht-russischen Sowjetrepubliken gemacht wurden, und diese neue Politik mußten seine siegreichen Rivalen später wohl oder übel fortsetzen.

Abgesehen von praktischen Maßnahmen schritt die kollektive Führung auch zu einer Revision der ideologischen Grundlage der Stalin-sehen Nationalitätenpolitik. Die Ideologie des russischen „älteren Bruders“, dem alle anderen Völker des Sowjetreiches Gehorsam und Dankbarkeit schulden, wurde aufgegeben. Unter dem sichtbaren Einfluß Chruschtschows wurde sie durch zwei andere Ideen ersetzt, die Idee der russisch-ukrainischen Brüderlichkeit und die eurasische Idee. Die Theorie der russisch-ukrainischen Brüderlichkeitsidee wurde im Jahre 1954 aus Anlaß der Dreihundertjahrfeier des staatlichen Zusammenschlusses zwischen der Ukraine und Großrußland ausgearbeitet. Sie wurde praktisch durch verschiedene Gesten unterstrichen, wie die Abtretung der Krim an die Ukraine und die Zuziehung von ukrainischen Kommunisten in den zentralen Staats-und Parteiapparat, wo es nun eine ganze ukrainische, Chruschtschow besonders ergebene Gruppe gibt. Damit ist die sogenannte Idee der ukrainisch-russischen Brüderlichkeit weniger Bestandteil einer Lösung der ukrainischen Frage in der Sowjetunion geworden als ein Mittel, die Chruschtschowsche Position in Moskau zu stärken. Aber es ist dennoch unverkennbar, daß die Ukrainer aus der großen Masse der Sowjetvölker etwas herausgehoben wurden und eine Sonderstellung erlangten. Diese Sonderstellung geht allerdings nicht so weit, um ihnen nationale Rechte außerhalb der Ukraine zu verschaffen. Es gibt auch jetzt weder ukrainische Schulen noch ukrainische Zeitungen irgendwo in den ukrainisch besiedelten Gebieten Zentralasiens oder der russischen Föderation. Ein Ukrainer, der die Sowjetukraine verläßt, bleibt zwar ethnographisch gesehen Ukrainer, aber ihm fehlt jede Möglichkeit einer ukrainischen kulturellen Betätigung.

Die eurasische Idee, die Idee, daß Rußland sowohl Europa als auch Asien ist, ist natürlich keine Chruschtschowsche Erfindung. Geschichte und Geographie sind dieser Idee Pate gestanden, aber Chruschtschow hat sie neu belebt; indem er den asiatischen Aspekt der Sowjetunion unterstreidtt und die asiatischen Sowjetrepubliken auf dem Weltpolitischen Schachbrett vorschiebt, versucht er, in die Front der asiatischen Staaten einzubrechen und sie im kommunistischen Sinne zu zersetzen. Diese Strategie erfordert u. a., daß besonders die zentralasiatischen Gebiete der Sowjetunion, als auch die aserbeidschanische Sowjetrepublik, in die Lage versetzt werden, sich den Kultureinflüssen des nicht-sowjetischen Ostens in größerem Maße zu öffnen, und das mag für Moskau auf längere Sicht mit einem gewissen Risiko verbunden sein. Kommunistische Propaganda wird zwar von Taschkent und Baku aus in die Länder des Vorderen Orient und nach Südostasien dringen, aber es ist ebenso leicht möglich, daß panislamische und panasiatische Gedankengänge von dort aus nach Rußland im Austausch zurückkommen. Natürlich verlangt es Chruschtschows neo-eurasische Konzeption auch, daß asiatische Kommunisten mit wichtigeren Ämtern in Moskau betraut werden. Unter Stalin konnte es ein Zentralasiate bestenfalls zum Minister für die Baumwollindustrie bringen. Chruschtschow hingegen hat sich nicht gescheut, einen Uzbeken zum Mitglied des Parteipräsidiums und des zentralen Parteisekretariats zu machen. Stalin, der sich selbst als einen Asiaten bezeichnete, war in seiner Gedankenwelt vorwiegend auf Europa ausgerichtet, während Chruschtschow, ein authentischer Sohn des europäischen Rußlands, seinen Blick ständig auf den weiten asiatischen Sowjetraum lenkt.

Der Vergleich zwischen der Nationalitätenpolitik Stalins und Chruschtschows muß noch zur Aufdeckung eines anderen Paradoxons führen. Obzwar Stalin das Großrussentum ostentativ bevorzugte, hat Chruschtschow, der in Worten viel zurückhaltender in seiner prorussischen Haltung ist, praktisch mehr für die großrussische Sache getan als sein Vorgänger. Chruschtschows große russische nationale Leistung ist, daß er durch seine Neulandgewinnungsaktion das Schicksal Kasachstans endgültig im russisch-slawischen Sinne entschieden hat. Was immer auch sonst zu einem zukünftigen Zeitpunkt in den verschiedenen nationalen Republiken der Sowjetunion geschehen mag, es ist kaum vorstellbar, daß es in Kasachstan jemals ein Zurück von der Internationalisierung und Russifizierung des Landes geben kann. Das zweite große Verdienst, das Chruschtschow sich um das Großrussentum erworben hat, ist der Aufbau der russischen Föderation, die zwar schon von Anbeginn der sowjetischen Herrschaft existierte, aber unter Stalin zugunsten der Zentralregierung in politischen Verfall geraten war. Chruschtschow hat diese russische Föderation von Grund auf neuorganisiert, sie zu einem wirtschaftlichen Machtfaktor umgewandelt und von anderen Republiken weitgehend isoliert.

Chruschtschow vereint in seinen Händen nicht nur die beiden Ämter, die Stalin innehatte, nämlich die des sowjetischen Ministerpräsidenten und kommunistischen Parteisekretärs. Er hat noch ein drittes Amt, das eines Vorsitzenden des Zentralkomiteebüros für die Russische Föderation. In dieser besonderen Eigenschaft tritt Chruschtschow selten hervor, aber das bedeutet durchaus nicht, daß dieses dritte Amt unwichtig ist. Es erlaubt ihm, den neugeschaffenen zentralen Parteiapparat der russischen Föderation direkt zu beaufsichtigen. Die Gründung dieses Apparates bedeutet, daß jede Abteilung innerhalb des kommunistischen Zentral-komitees in zwei geteilt ist. Für jedes Fachgebiet, z. B. Landwirtschaft, Industrie oder Parteipersonal bestehen seit 1956 zwei Abteilungen innerhalb der zentralen Parteibehörde — eine für die russische Föderation und eine zweite für die vierzehn nicht-russischen Sowjetrepubliken.

Dank dieser Neuordnung würde es georgischen oder lettischen Kommunisten heute schwerfallen, jenen Einfluß auf den russischen Partei-und Staatsapparat auszuüben, den sie in der Vergangenheit besaßen, während sich andererseits der russische Einfluß in den nichtrussischen Republiken noch immer stärker bemerkbar machen kann.

Trotz der administrativen Erleichterungen, die Chruschtschow durch die Abkehr von der starren Zentralisierungspolitik Stalins den Gliedstaaten der Sowjetunion brachte, hat er damit die Nationalitätenfrage einer Lösung nicht nähergebracht. Die nationalen Spannungen in der UdSSR sind vielleicht heute nicht größer als unter Stalin, aber sie sind sichtbarer geworden. Wir haben heute mehr statistisches und Tatsachen-material zur Verfügung, um den Ernst der Lage an der sowjetischen Nationalitätenfront zu beurteilen. Obwohl die Liberalisierung in der Sowjetunion sich bisher in sehr engen Grenzen bewegt hat, hat sie dennoch gewisse nationale Forderungen an die Oberfläche getragen. Dies machte sich besonders bei der Diskussion des neuen sowjetischen Schulgesetzes des Jahres 195 8 bemerkbar. Diese Diskussion nahm in einigen nationalen Republiken, besonders in der Likraine, Lettland, Armenien und Georgien einen ganz anderen Charakter an, als dies von Moskau ursprünglich vorgesehen war. Sie wurde dazu benutzt, um die einseitige Vormachtstellung der russischen Sprache in der Sowjetschule in Frage zu stellen und die Einführung des obligatorischen Unterrichts der Minderheitssprachen zu propagieren. Unwillkürlich geben auch bekannte Wortführer des Regimes gelegentlich zu, welche Kraft nationalistischen Argumenten in der Sowjetunion immer noch innewohnt. Das Präsidiumsmitglied Muchitdinow versuchte in seiner Rede vor dem 21.

Parteitag die antiparteiliche Gruppe dadurch zu diskreditieren, daß er sie einer russisch-chauvinistischen Haltung bezichtigte, und der ukrainische kommunistische Dichter Bazhan wollte „Doktor Schiwago" in den Augen der Ukrainer verunglimpfen, indem er diesem Werke gleichfalls russische Voreingenommenheit nachsagte.

Die Politik gegenüber den beiden Europas Von der Chruschtschowschen Außenpolitik läßt sich das gleiche sagen wie von der Chruschtschowschen Nationalitätenpolitik. Sie ist in viel größerem Maße Asien zugekehrt als die Außenpolitik des alternden Stalin. In seinen letzten Lebensjahren war für den Generalissimus Europa noch immer das Hauptschlachtfeld. Er verfolgte zwei Ziele: Die rücksichtslose und vollständige Gleichschaltung der Satellitenstaaten Mittel-und Südosteuropas und die Ausdehnung der kommunistischen Sphäre nach West-und Südeuropa. Die erste Aufgabe suchte er durch die Ausrottung nicht nur aller antikommunistischen Kräfte, sondern auch durch die Vernichtung des Nationalkommunismus zu erreichen, eine Operation, bei der er mit der Hilfe von Terrormaßnahmen genau solche äußeren Scheinerfolge erzielte, wie an der inneren Sowjetfront. Doch in einem seiner ursprünglichen Satellitenländer blieb ihm auch ein Scheinerfolg versagt: Jugoslawien. Auf dieses eine ungelöste Problem konzentrierte er mehr Kräfte und Energie als vom Standpunkt der kommunistischen Gesamtplanung ratsam gewesen wäre. Stalin hat zwar die jugoslawische Häresie nicht geschaffen, aber er hat sie durch die Wucht des gegen sie gerichteten Angriffs zur vollen Entfaltung gebracht und ihr Weltgeltung verschafft. Für Stalin war ein anderer als ein von Ruß-land gelenkter Kommunismus historisch, politisch und psychologisch unmöglich. Der Propagandakrieg gegen Jugoslawien, der sich auf die gewaltige Autorität der Sowjetunion, der sowjetischen Partei und Stalins selbst stützte, war dazu bestimmt, den Sturz des Titoregimes und damit das Ende des Nationalkommunismus im kommunistisch beherrschten Europa herbeizuführen. Stalin ist nicht nur in dieser Kampagne unterlegen, er hat durch sie nicht nur einen Prestigeverlust für sich und seine Partei erlitten, sondern er hat ihr auch die nach seinen Instruktionen aufgebaute neue internationale kommunistische Organisation, das Kominform, zum Opfer bringen müssen.

Als das Kominform im Jahre 1947 gegründet wurde, war es für größere Dinge bestimmt, als jenes antijugoslawische Propagandainstrument zu sein, zu dem es bereits wenige Monate nach seiner Gründung degradiert worden war. Die bloße Zusammensetzung des Kominform als eine Vereinigung von kommunistischen Parteien Rußlands, der Satelliten-staaten, Frankreichs und Italiens zeigt besser als alles andere die Europa-zentrische Konzeption Stalins. Das Kominform sollte seinen beiden Hauptzielen in Europa dienstbar sein: Wahrung und Konsolidierung des Besitzstandes in Osteuropa und Ausdehnung nach Westeuropa.

Stalin war tief beeindruckt von den Wahlerfolgen und den imposanten Mitgliederzahlen der italienischen und französischen kommunistischen Parteien, und er betrachtete ihre Machtergreifung als in naher Zukunft liegende Ereignisse.

An seiner optimistischen Einschätzung des französischen und italienischen Kommunismus hat er bis zu seinem Tode festgehalten. In seiner kurzen Rede, die er auf dem 19. Parteitag der KPdSU hielt, und die als sein Vermächtnis an die internationale kommunistische Bewegung angesehen werden kann, nannte er namentlich nur zwei ausländische Füherer, den Franzosen Maurice Thorez und den Italiener Palmiro Togliatti.

Aber außer Frankreich und Italien war zumindest seit 1949 noch ein anderes europäisches Land im Blickfeld des Nachkriegsstalin: Deutschland. Falls die französische und italienische Revolution fehlschlagen sollte, glaubte Stalin genauso wie zehn Jahre vorher, die deutsche Karte ausspielen zu können. Er schuf die sogenannte „Deutsche Demokratische Republik“ und er erklärte ihren Hauptfunktionären in einer berühmten für die internationale Öffentlichkeit bestimmten Botschaft, daß die Völker Deutschlands und der Sowjetunion das größte Potential in Europa besitzen, um große Taten von Weltbedeutung vollbringen zu können. Dabei dachte Stalin kaum daran, die „Deutsche Demokratische Republik“ permanent auf die sowjetische Besatzungszone zu beschränken. Sie war nur eine Basis, von der aus der kommunistische Einfluß auf ganz Deutschland ausgedehnt werden sollte.

Stalin hatte noch einen dritten Plan, dessen Erfüllung jedoch nicht von ihm und seinen kommunistischen Parteien abhing. Dies war Stalins Hoffnung auf einen neuen Krieg zwischen den „imperialistischen“ Staaten. Er glaubte vor allem an eine Revolte Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands und Japans gegen den „amerikanischen Imperialismus“, und diese Revolte hätte seiner Meinung nach zum Kriege führen müssen, denn der Stalinschen Konzeption gemäß waren Kriege unvermeidlich.

Wenn man auf Stalins Europakonzeption nach einem zehnjährigen Abstand zurückblickt, läßt es sich nicht verhehlen, daß sie einen Zusammenbruch erlitten hat, und zwar sowohl was das kommunistische als auch das nicht-kommunistische Europa anbelangt. Im europäischen Satellitenreich erhoben die überlebenden nationalkommunistischen Kräfte ihr Haupt, sobald ihnen die Schwächung des Terrorregimes in der nach-stalinschen Periode auch nur die kleinste Chance bot. Sie wurden zu einer ernsten Bedrohung für den inneren Zusammenhalt des Sowjet-blödes. Auch die jugoslawische Häresie hat sich behauptet und stört die Kohäsion des Chruschtschowschen Osteuropa von 1959 nicht weniger als sie die Geschlossenheit des Stalinschen europäischen Staatenblocks zehn Jahre vorher in Frage stellte.

Was das andere, das freie Europa anbelangt, so hat sich weder Stalins Plan I: die Sowjetisierung Frankreichs und Italiens, noch sein Plan II: ein im kommunistischen Fahrwasser schwimmendes Gesamtdeutsch-land als realistisch erwiesen. Plan III: der Krieg zwischen Amerika und anderen „kapitalistischen“ Staaten war von Anfang an eine naive auf überholten historischen Analogien fußende Illusion. Der größte Schlag gegen die Stalinsche Konzeption war die rückläufige Entwicklung der kommunistischen Bewegung in Westeuropa. In Frankreich hat die kommunistische Partei die Stellung der stärksten parlamentarischen Gruppe eingebüßt, in Italien blieb es ihr versagt, jene große Einheitsfront der Linken zu gründen. Der Kommunismus der „Deutschen Demokratischen Republik“ wurde nicht nur kein Exportartikel für Westdeutschland, sondern er konnte sich nicht einmal in seinem eigenen begrenzten Bereiche durchsetzen. Diese „Republik“ wurde daher entgegen ihrer ursprünglichen Bestimmung tatsächlich immer ein Selbstzweck, statt ein kommunistisches Sprungbrett für die Eroberung Westdeutschlands zu sein.

Alle diese Gründe machen es begreiflich, daß Chruschtschow nicht an die kurzfristige Verwirklichung der Ziele glauben kann, die Stalin der sowjetischen Politik und der kommunistischen Bewegung in den beiden Europas gestellt hatte. Aus dieser Einsicht hat Chruschtschow mannigfaltige Konsequenzen gezogen. In der sowjetischen Einflußsphäre in Osteuropa will er die Stabilität der kommunistischen Herrschaft nicht mehr durch die Unterdrückung aller und selbst der kleinsten nationalen Regungen erreichen, wie es Stalin versuchte. Genau so in seiner Nationalitätenpolitik so respektiert Chruschtschow auch in seiner „Satellitenpolitik“ nationale Besonderheiten, wenn sie die Struktur des kommunistischen Herrschaftsgebäudes nicht berühren. Wenn Stalin sowohl die Russifizierung als auch die Sowjetisierung der Satellitenstaaten als ein erstrebenswertes Ziel betrachtete, so ist Chruschtschow bereit, sich mit der letzteren zu begnügen. Während Stalin die inneren Blockgrenzen sozusagen gewaltsam und revolutionär beseitigen wollte, will sie Chruschtschow evolutionär zum allmählichen Absterben bringen.

Der kurzfristigen Konsolidierung des kommunistischen Systems durch Verhaftungen, Prozesse und Hinrichtungen und der schematischen Nachahmung des sowjetischen Vorbildes stellt Chruschtschow seine eigene langfristige Konsolidierungspolitik gegenüber, zu der auch taktisches Zurückweichen in schwierigen Situationen auf das Gewähren von Konzessionen auf politischem, ökonomischem und kulturellem Gebiet gehören. Die Satellitenstaaten sollen nicht allein durch das Machtwort des obersten Herrschers und die Furcht vor seiner bewaffneten Macht zusammengehalten werden. Chruschtschow bemüht sich, zwischen den Bestandteilen des Ostblocks eine echte Zusammenarbeit zu fördern, indem er z. T. die überstaatlichen Einrichtungen kopiert, die der Westen auf ökonomischem und militärischem Gebiet im Verteidigungskampf gegen den Kommunismus geschaffen hat. Die Warschaupaktorganisation nimmt sich die Nato zum Vorbild, und das Comecon, das — unter Stalin gegründet — erst unter Chruschtschow seine rechte Blüte findet, folgt in den Fußstapfen der Marshalplanorganisation.

Die gewaltlose, friedliche und schrittweise Entwicklung im Satelliten-reich ist nur Chruschtschows Ideal. In der praktischen Politik läßt sich dieser Weg von seinem Standpunkt aus gesehen nicht immer beschreiten. Nationalkommunismus, Revisionismus und das Bestehen anderer ideologisch-politischer Gefahren läßt den Rückfall in Stalinsche Methoden mitunter ratsam erscheinen wie in Ungarn, und der Einsatz der Armee bleibt die ultima ratio der Chruschtschowschen Satellitenpolitik.

In der jugoslawischen Frage hat Chruschtschow im Vergleich zu Stalin einen gewissen Fortschritt erzielt. Er konnte die jugoslawische Rebellion nicht beseitigen, aber statt ihr wie Stalin durch fortgesetzte Angriffe Weltgeltung zu schaffen, hat er viel getan, sie zu isolieren und zu lokalisieren. Stalin machte aus Tito ein internationales Widerstandssymbol. Chruschtschow will ihn wieder in einen Balkanstaatsmann zurückverwandeln. Im Gegensatz zu Stalin trennt Chruschtschow das diplomatische Problem Jugoslawien vom politischen Problem der jugoslawischen kommunistischen Partei ab, und damit hat er die Bedeutung des jugoslawisch-sowjetischen Konfliktes reduziert und die Werbekraft der jugoslawischen Politik in der weiten Welt vermindert.

Was nun das Problem des nichtkommunistischen Europas betrifft, so ist Chruschtschow noch vom Stalinschen Erbe beschwert. Die Vorstöße, die er noch immer an gewissen europäischen Teilfronten unternimmt, sind die Wiederholung Stalinscher Schachzüge, wie seine Berlin-offensive und seine hartnäckigen Versuche, die finnische Situation im sowjetischen Sinne zu beeinflussen. Aber statt Europa zu erobern, in der Art wie es Stalin vorschwebte, begnügt sich Chruschtschow mit dem Gedanken seiner Ausflankierung. Er sucht die moralische und politische Stärkung der sowjetischen Position in dem Schlagwort, daß „wir und die Chinesen“ achthundert Millionen Menschen repräsentieren, daß das gesamte sozialistische Lager „ein Drittel der Menschheit“ umfaßt und daß das „Friedenslager“, dem Rußland, die Satellitenstaaten und die neutralen Länder Asiens angehören, sogar eineinhalb Milliarden Menschen einschließt.

Stalin, Chruschtschow und Asien In solchen Gedankengängen liegt wohl ein Trumpf des internationalen aber gleichzeitig auch ein ideologischer Rückzug des russischen Kommunismus Stalinscher Prägung. Chruschtschow rechnet mit China als einem gleichberechtigten und in gewisser Hinsicht Rußland sogar überlegenen Faktor. Darin besteht einer der wesentlichen Unterschiede zwischen seiner und Stalins Konzeption. Für Stalin war China nur der erste der Satellitenstaaten, der sich quantitativ aber nicht qualitativ von den anderen Volksdemokratien unterschied. In seiner Rede auf dem 19. Parteitag sprach Stalin von den kommunistischen Sturmbrigaden, die von China und Korea bis nach Ungarn und der Tschechoslowa-kei reichten. Diese summarische Behandlung war charakteristisch für die untergeordnete Rolle, die er China zumaß. Moskau als das Welt-zentrum des Kommunismus aufzugeben, wäre Stalin als undenkbar, absurd und frevlerisch erschienen. Tatsächlich hätte zu Stalins Lebzeiten niemand die Führerrolle Moskaus bestritten — auch Tito war bereit, sie in gewissen Grenzen zu respektieren. Stalin selbst war nach der Ausbootung seiner sowjetischen Widersacher die dominierende Persönlichkeit der gesamten kommunistischen Welt. Chruschtschow hat diese Position nicht geerbt.

Die kommunistische Partei der Sowjetunion ist vielfach immer noch die führende Partei der internationalen kommunistischen Bewegung, aber ihr Führer ist nicht die hervorragende Figur des internationalen Kommunismus. Die Ehre gebührt ohne jeden Zweifel Mao Tse-tung. Dieser Umstand macht die „führende Rolle" der kommunistischen Partei der Sowjetunion außerordentlich hinfällig. Sie ist eine führende Rolle auf täglichen Widerruf, und sie kann nur dank der chinesischen Zustimmung existieren. Unter Stalin war sie axiomatisch. Wenn Stalin es sich leisten konnte, Mao Tse-tung im Winter 1949/50 wochenlang in Moskau auf die Erledigung ungelöster chinesisch/sowjetischer Probleme warten zu lassen, so muß Chruschtschow über sie in Peking verhandeln, wie er es 1954 und 1958 tat.

Die neuen nichtkommunistischen asiatischen Staaten, die einen so breiten Raum in Chruschtschows politischer Kalkulation einnehmen, lagen fast ganz außerhalb des Stalinschen Blickfeldes. Dies scheint verwunderlich, denn Stalin war doch der große Experte für National-und Kolonialfragen. Jedoch gerade deshalb war er nicht fähig, den welt-historischen Veränderungen in Südostasien die richtige Bedeutung abzugewinnen. Stalin war der Gefangene der Theorien und Richtlinien, die er selbt über die Strategie der Kolonialrevolution ausgearbeitet hatte. Er hatte gehofft, daß der Befreiungskampf der Kolonialvölker und in erster Linie Indiens auf gewaltsamem Wege vor sich gehen würde, unter Führung des Proletariats und seiner Avantgarde: der Kommunisten. Stalin war enttäuscht, daß sich die Völker Indiens, Pakistans, Ceylons, Birmas und Indonesiens nicht an seine Anweisungen hielten und ihre Befreiung nach eigenem Gutdünken, z. T. sogar im guten Einvernehmen mit der früheren Kolonialmacht in die Wirklichkeit umsetzten. Er weigerte sich darum, sie als wirkliche unabhängige Staaten anzuerkennen. Darum hatten auch Stalins Presse und Stalins Staatswissenschaftler nicht viel Gutes über die neuen asiatischen Republiken zu sagen. Sie wurden als halbe Kolonien verunglimpft, und ihre Führer wurden vielfach als Handlanger des Westens und Verräter der nationalen Revolution betrachtet. Chruschtschow hat diese Stalinsche Politik gegenüber den asiatischen Staaten total revidiert, und er hat dieser Revision vielleicht mehr Zeit gewidmet als irgendeinem anderen Teilaspekt der sowjetischen Weltpolitik. Die längste seiner vielen Auslandsreisen galt Indien und Birma. Diese Revision der sowjetischen Asienpolitik durch Chruschtschow hat sich günstig auf das Wachstum des asiatischen Kommunismus ausgewirkt. Er hat sogar eine radikale Änderung des Stärkeverhältnisses im internationalen kommunistischen Lager herbeigeführt. Die indonesische kommunistische Partei ist nahe daran, die italienische an Mitgliederzahl zu erreichen, und die indische mag bald die französische überflügeln.

Die Differenz zwischen der Stalinschen und Chruschtschowschen Haltung gegenüber den neuen asiatischen Staaten liegt nur zum Teil in der verschiedenen Einschätzung ihres Wesens und ihrer internationalen Rolle. Zum Teil besteht der Unterschied nur in der Diskrepanz im taktischen Verhalten der beiden sowjetischen Staatsmänner. Der wortkarge Stalin hielt sich an den Grundsatz „Aussprechen was ist“, wenn auch das „Aussprechen“ meist nur seine Vertrauensleute besorgten, und der redselige, aber mehr diplomatische Chruschtschow zieht es oft vor zu verschweigen, was ist. Sowohl Stalin als auch Chruschtschow betrachtet Nehru als den „Kerenski der indischen Revolution“. Aber Chruschtschow hindert diese Einschätzung nicht, den indischen Staatsmann mit Schmeicheleien zu umgarnen. Selbst der Kommunistenfeind Nas-ser wird von Chruschtschow nicht inStalinscher Weise einem Frontalangriff ausgesetzt, sondern in vorsichtiger und höflicher Weise gewarnt und gelegentlich auch zur Zielscheibe wohlwollend herablassender Bemerkungen gemacht.

Die Identität des Endziels Bei allem Unterschied zwischen den Einzelheiten des Chruschtschow-sehen und Stalinschen Weltbildes wäre es unrichtig, ihre gemeinsamen Züge zu übersehen. Chruschtschow klammert sich noch immer an gewisse Überreste der Konzeption, die sein Vorgänger in seinem letzten theoretischen Werk „Die Ökonomischen Probleme des Sozialismus in der Sowjetunion“ dargelegt hat, nämlich was wir bereits als Stalins Plan III bezeichnet haben: Die Entzweiung der der Sowjetunion gegenüberstehenden freien westlichen Welt. Im Unterschied zu Stalin sieht Chruschtschow diese Erziehung nur diplomatisch nicht aber militärisch, denn die These von der Unvermeidbarkeit der Kriege ist von Chruschtschow inzwischen aufgegeben worden.

Unverrückbar fest steht auch das kommunistische Endziel, die Unterwerfung des Erdballs unter kommunistische Herrschaft. Die Diskrepanz zwischen Stalin und Chruschtschow betrifft nur die Art der Durchführung nicht aber das Prinzip dieser Unterwerfung. Soll sie von einem Zentrum aus dirigiert werden, wie es Stalin vorschebte, oder kann es einen polyzentrischen Weltkommunismus geben, wie Chruschtschow ihn zu akzeptieren scheint? Werden die hochentwickelten europäischen Länder als erste die kommunistische Front verstärken, wie Stalin es erhoffte, oder die afro-asiatischen Länder, wie es Chruschtschow erwartet?

Dieses Dilemma ist das des Zyklopen Polyphemos, der nicht sicher war, in welcher Reihenfolge er seine Opfer verschlingen wollte.

Von den Ambitionen Stalins und Chruschtschows zu sprechen, heißt natürlich nicht anzunehmen, daß der kommunistische Welteroberungsplan Aussicht auf Erfüllung hat. Die kommunistische Welteroberung setzt zumindest dreierlei voraus: die Unterlegenheit der freien Welt, ein reibungsloses Verhältnis zwischen Rußland und den anderen kommunistischen Staaten und die Sicherheit einer glatten Entwicklung innerhalb des Sowjetstaates selbst. Auch Chruschtschow kann diese Voraussetzungen nicht einfach als gegeben betrachten. Von allem anderen abgesehen steht er heute, genauso wie Stalin in den vierziger Jahren, einem Problem gegenüber, das alle Kalkulationen über den Haufen stoßen kann: Das Problem seiner eigenen Nachfolge. Stalin hat wohl kaum erwartet, daß viele Formen, die er um den Preis riesiger Opfer geschaffen hat, in so kurzer Zeit zerbrechen würden, und daß die Männer, die er mit Amt und Würden betraute und die ihm als eine geschlossene und geeinte Phalanx erschienen, bald in einem bitteren Kampf gegeneinander verwickelt sein würden. Der gegenwärtige monolithische Charakter des Chruschtschowschen Regimes mag daher auch nur auf Täuschung basiert sein. Die Formen und Kreaturen, die Chruschtschow ihre Existenz verdanken, würden wahrscheinlich ihren Schöpfer noch weniger überdauern als jene, die Stalin ins Leben rief.

Fussnoten

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