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Erziehung zum amerikanischen Staatsbürger | APuZ 44/1959 | bpb.de

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APuZ 44/1959 Erziehung zum amerikanischen Staatsbürger

Erziehung zum amerikanischen Staatsbürger

ERWIN HELMS

Seit dem Bestehen der Vereinigten Staaten hat die staatsbürgerliche Erziehung eine zentrale Stellung im amerikanischen Bildungswesen eingenommen. Die Gründerväter lebten in der Überzeugung, auf ihrem Kontinent etwas grundsätzlich Neues zu schaffen: ein Gemeinwesen, das sich von allen bisherigen durch seinen wahrhaft demokratischen Geist unterschied, das all seinen Bürgern gleiche Rechte und Chancen einräumte. Sie waren sich dabei des Risikos, das sie eingingen, durchaus bewußt und schon Jefferson wies die Nation darauf hin, welche Bedeutung bei der Durchführung dieses großen Experiments der Erziehung zukommen würde: „Das wirkungsvollste Mittel, uw die Perversion der Macht in Tyrannei zu verhindern, ist die Aufklärung und Bildung des gesamten Volkes." Je freier der einzelne Bürger ist, desto notwendiger wird es, ihm eine Bildung und Erziehung zu geben, die ihn seine Rechte auch sinnvoll und zum Besten des Ganzen anwenden läßt.

Ein neuer, nicht minder wichtiger Gesichtspunkt ergab sich, als im 19. Jahrhundert Millionen von Europäern in dieses Land einwanderten. Trotz großer Toleranz dem einzelnen gegenüber erwartete man doch von jedem Neubürger, daß er sich bald zu dem, was man heute den „American Way of Life“ nennt, bekenne.

Als die Amerikaner dann im 1. Weltkrieg zum erstenmal zu einer weltanschaulichen Auseinandersetzung mit der übrigen Welt gezwungen wurden, entwickelten sie aus dem geistigen Erbe der Gründerväter und dem Gedankengut der führenden Denker des 19. Jahrhunderts ihre „A merican Cree d", die auch zur geistigen Grundlage der amerikanischen Erziehung wurde. Noch während des Krieges ist das Werk erschienen, das die amerikanische Erziehung am nachhaltigsten beeinflußt hat und deren Titel bereits erkennen läßt, wie eng Staat und Erziehung miteinander verknüpft werden: John Deweys „Demokratie und Erziehung“ (1916).

Schon als Direktor des Pädagogischen Seminars (School of Education) der Universität Chicago hatte Dewey sich mit dem Einfluß der Industrierevolution auf die Erziehung befaßt und den Gedanken vertreten, daß der Mensch sich an seine Umgebung anzupassen habe: „Als lebende und waclisende Wesen stehen die Kinder in ständiger Wechselbeziehung zu ihrer Umgebung. Sie passen sich ihr an, ergreifen Besitz von ihr und meistern sie." Seine Lehre, daß das, was der Schüler tut, ebenso wichtig ist wie das, was er w e i ß, hat zur Folge gehabt, daß viele Amerikaner heute noch die Entwicklung der geistigen Kräfte um ihrer selbst willen ablehnen und der Ansicht sind, daß alles Wissen nutzlos ist, wenn es sich nicht auf das Tun und Handeln bezieht. Erst die richtige praktische Lebensführung macht in den Augen der meisten Amerikaner den Menschen zum guten Staatsbürger. Aufgabe der Schule ist es, den jungen Menschen das rechte Tun und Handeln zur Gewohnheit werden zu lassen (to teach them to learn to life).

Von diesen Vorstellungen ausgehend haben die Amerikaner in diesem Jahrhundert — häufig von John Dewey und den „Progressive Educationists“ angeregt — Methoden der Gemeinschaftserziehung entwickelt, die jedem deutschen Erzieher, der an amerikanischen Schulen, Colleges oder Universitäten unterrichten konnte, als die eindrucksvollste Leistung amerikanischer Pädagogen erscheinen.

Lange Jahre hat „life a d j u s t m e n t“ (die Anpassung an das Leben) als die wichtigste Aufgabe der amerikanischen Erziehung gegolten. Noch am Ende des 2. Weltkrieges kamen amerikanische „re-educators“ nach Deutschland, um uns diese in der geistigen Nachfolge Pestalozzis, Herbarts, Fröbel und Kerschensteiners stehenden Erziehungsgrundsätze und Praktiken für den Neuaufbau unserer Demokratie zu empfehlen. Aber als dies geschah, beherrschten die Progressiven schon nicht mehr das Feld. Hie und da wurde von den Gebildeten Kritik an den Methoden und Zielen der Erziehung geübt. Man hatte das Jahrhundert des Kindes proklamiert, und Eltern und Schule waren bemüht gewesen, „to let the children enjoy life“ — „die Kinder das Leben genießen zu lassen“. Nun häuften sich von allen Seiten die Klagen, daß die Kinder nicht mehr genügend lernten und zaghafte Stimmen wurden laut, die mahnten, von der „life adjustment“ -Schule wieder zur Lernschule zurückzukehren. Überdies hatten sich in der Zwischenzeit in der amerikanischen Gesellschaft wichtige strukturelle Veränderungen vollzogen. Wie schon erwähnt, hatte die staatsbürgerliche Erziehung bei der Amerikanisierung der Neubürger eine entscheidende Rolle gespielt. Da durch die Quoten-gesetzgebung der 20er Jahre die Einwanderung auf ein Minimum herabgesetzt worden war, erübrigte sich jetzt dieser einst so wesentliche Teil des „life adjustment" -Programms. Und seitdem Franklin D. Roosevelt mit dem New Deal die amerikanische Gesellschaft zu einer Mittelstandsgesellschaft umgeformt hatte, war auch die soziale Angleichung, ein weiteres Ziel der Gemeinschaftserziehung, im wesentlichen vollzogen. Seitdem es keine „forgotten men“ (so nannte Roosevelt in seinen Reden das Heer der Arbeitslosen und sozial Schlechtgestellten) mehr gab, war die Betonung der „gleichen Chance für alle“ nicht mehr in dem Maße eine politische Notwendigkeit wie vordem.

Diese Tatsache und die Klagen der amerikanischen Eltern über die „soft education“ (so bezeichnen die Kritiker das in der Nachfolge Deweys entwickelte Erziehungsprogramm) haben zu der gegenwärtigen Auseinandersetzung über das amerikanische Schulwesen geführt.

Schon während des Weltkrieges hatten führende amerikanische Pädagogen das „life adjustment" -Programm als zu einseitig und zu anspruchslos verurteilt; aber sie waren mit ihren Forderungen nach einer „hard education", die den Schülern mehr abverlangen sollte, nicht durchgedrungen.

Erst das Erscheinen des ersten Sputnik hat die breite amerikanische Öffentlichkeit von der Notwendigkeit einer Besinnung überzeugt. In einer Flut von Schriften und Artikeln beschäftigten sich Pädagogen und Soziologen mit der Situation an den Schulen und Universitäten. Uns interessiert die Frage, was diese Vorgänge für die staatsbürgerliche Erziehung in den USA bedeuten. Wenn James B. Conant, der als der bekannteste und vielleicht als der z. Z. einflußreichste Pädagoge gilt, in seiner Programmschrift „The American High School today" (Yale Univ. -Press 1959) die Meinung vertritt: „Ich bin überzeugt, daß die anterikanisdie höhere Schulerziehung ohne radikale Veränderungen ihrer Grundlagen verbessert werden kann“ (S. 96), so gilt das gewiß auch für die staatsbürgerliche Erziehung.

Worum es im Grunde heute allein geht, ist ein neues Ausbalancieren zwischen einer angemessenen Charaktererziehung einerseits und der Anhebung des Bildungsniveaus der amerikanischen Nation andererseits. Sicherlich wird die Erziehung zur Gemeinschaft ein wesentlicher Bestandteil des amerikanischen Erziehungsprogramms bleiben. Darum soll auf den folgenden Seiten untersucht werden, welche Wege die Amerikaner zur Verwirklichung ihrer staatsbürgerlichen Ideale, wie sie sie in der American Creed zusammengefaßt haben, im Bereich der Schule in der Vergangenheit eingeschlagen haben und welche neuen Tendenzen sich abzuzeichnen beginnen.

Lebensformen in der amerikanischen Schule

John Dewey hat den Grundsatz aufgestellt: „Die Schule erzieht nicht zur Lebensgemeinschaft, sondern sie ist eine“. Es verstand sich daher für ihn von selbst, daß die amerikanische Schule keine Lernschule im europäischen Sinne sein sollte, sondern eine Institution, in der sich der heranwachsende Mensch in ständiger Auseinandersetzung mit seiner Umgebung befindet und sich ihr anpaßt.

Diese Vorstellungen hat die amerikanische Schule in den letzten Jahrzehnten in die Praxis umzusetzen versucht und so die Schulen als „Demokratien im Kleinen" betrachtet, die den American Way of Life (die amerikanische Lebensweise) praktizieren und die Ideale des American Creed ebenso als verbindlich ansehen wie die Erwachsenen.

Schon äußere Umstände machen die amerikanische Schule in ganz anderer Weise zu einer Lebensgemeinschaft, als dies etwa die deutsche Schule ist. Allein die Tatsache, daß die amerikanischen Schulen Ganztagsschulen sind, bewirkt, daß die Schüler nicht nur zusammen lernen, sondern auch zusammen leben. Sie essen gemeinsam — nicht nur die Schüler, sondern häufig genug Schüler und Lehrer. Da die meisten öffentlichen Schulen Jungen und Mädchen gemeinsam erziehen, entwickelt sich von früh an ein außerordentlich natürliches Verhältnis zwischen den Geschlechtern, und ohne Schwierigkeiten können die Schulen als Gemeinschaft Feste und Feiern gestalten. So erzieht die Schule schon den jüngsten Schüler zur Beobachtung von bestimmten Formen und Regeln des Zusammenlebens, die sein ganzes Leben hindurch richtungweisend bleiben sollen. Wesentliche Erziehungsfunktionen, die früher — wie heute noch oft in anderen Ländern — das Elternhaus ausübte, hat somit die amerikanische Gesellschaft der Schule übertragen.

Aus der Tatsache, daß die amerikanische Schule kein Ausleseprinzip kennt und jedem Schüler die gleiche Chance gibt, ist klar zu erkennen, daß der Grundgedanke der amerikanischen Republik, daß „alle Menschen gleich geschaffen sind“, auch das Grundprinzip der amerikanischen Schulen ist. Der Amerikaner vermeidet es ängstlich, daß unter seinen Jugendlichen ein Kastengefühl entsteht. Ja, er schickt sie nicht nur alle auf die gleichen Schulen — nur ein kleiner Prozentsatz besucht die gewöhnlich recht teuren Privatschulen —, sondern hat es bis vor kurzem meistens energisch abgelehnt, sie nach Leistungen zu trennen (heterogeneous grouping). Erst in den letzten Jahren, besonders nach dem Erscheinen des Sputnik, hat eine größere Zahl von Schulen damit begonnen, für die Begabten eigene Klassen einzurichten.

Zeigt der Aufbau ihrer Schulen, wie sehr die Amerikaner die „Gleichheit der Chance" eines, jeden Staatsbürgers betonen, so bezeugen viele Lebensformen der Schulen, daß sie gleichzeitig einen großen Wert auf die Entwicklung und Pflege des Gemeinschaftsbewußtseins legen. Alle nur möglichen Gelegenheiten zur Förderung der „co-operation“ (Zusammenarbeit) werden aufgegriffen.

Eine bedeutungsvolle Übertragung des Partnerschaftsgedankens auf die Unterrichtspraxis wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom Massachusetts Board of Education vorgenommen. Es ist bekannt, daß die amerikanische Pädagogik entscheidende Impulse von Deutschland empfangen hat, besonders durch Fröbel und Herbart. Sie hatten bereits auf die Bedeutung der Korrelation der einzelnen Fächer hingewiesen. Diesen Gedanken griff der Massachusetts Board of Education mit der Absicht auf, die landwirtschaftliche Berufsausbildung wirkungsvoller zu gestalten. Die Erzieher wurden angeregt, ihren Schülern sogenannte hörne projectsals Haus-bzw. Ferienaufgabe zu übertragen. Ursprünglich sollten diese Projekte nur die normale Schularbeit ergänzen. 2)

Dewey und Kilpatrick erkannten den erzieherischen Wert dieser Methode, und, statt sie nur als Höhepunkt der schulischen Ausbildung zu betrachten, erhoben sie sie zum Unterrichtsprinzip. Fortan sollte das einzelne Fach nicht mehr isoliert dastehen, da ihrer Ansicht nach die fruchtbarste Arbeit in Gemeinschafts-, die Fächer überschneidenden Projekten geleistet wird. Ähnlich wie im Leben, z. B. in einer Fabrik, viele Hände und Köpfe Zusammenarbeiten, um gemeinsam ein Auto, eine Maschine zu fertigen, sollen Schüler aller Begabungsgruppen und möglichst vieler Interessenzweige in gemeinsamem Bemühen ein Werk vollbringen.

Ein Beispiel solcher Gruppenarbeit soll hier geschildert werden. Auf Anregung eines deutschen Austauschlehrers hin fertigten die Schüler seiner Gastschule eine Gemeinschaftsarbeit über die Stadt Wilmington an, die gegen eine ähnliche Arbeit aus der Heimatstadt des deutschen Lehrers ausgetauscht werden sollte. Im Englisch-Unterricht beschäftigten sich verschiedene Gruppen nach eigener Wahl mit der Industrie, dem Bildungs-und Gesundheitswesen, der Presse, dem Sport der Stadt und der Freizeitgestaltung ihrer Bürger. Auf Anregung der Schüler wurden Besichtigungen angesetzt und Fragen für Interviews ausgearbeitet. Die einzelnen Arbeitsgruppen trugen die Ergebnisse ihrer Umfragen und Untersuchungen der Gesamtheit vor und stimmten sie für den Schlußbericht aufeinander ab. Im Rahmen dieser Eigentätigkeit der Schüler erzielte der Lehrer wertvolle Ergebnisse: seine Schüler wurden im sorgfältigen Beobachten geschult, lernten Interviews vorbereiten und durchführen, Briefe an die Behörden und Unternehmen, die sie besuchen wollten, schreiben. Wie die meisten Projekte dieser Art blieb die Arbeit nicht auf den Englisch-Unterricht beschränkt. Die Schüler selbst bezogen andere Fächer in ihr Gesamtvorhaben mit ein: im MathematikUnterricht wurden graphische Darstellungen angefertigt, die Foto-Arbeitsgemeinschaft lieferte Aufnahmen zur Illustration, die Kunstklassen entwarfen und fertigten den Einband usw. Bevor diese Gemeinschaftsarbeit nach Deutschland abgesandt wurde, berichtete eine weitere Gruppe darüber im Fernsehprogramm.

Mit solchen Gruppenarbeiten beginnen die Amerikaner bereits im Kindergarten. Das Kind lernt auf diese Weise früh seine besonderen Fähigkeiten kennen und entwickeln. Es mag sein, daß diese Projekte deshalb die frühzeitige und übermäßige Spezialisierung der amerikanischen Jugend fördern. Diesem Nachteil steht aber gegenüber, daß der Amerikaner schon in seiner Jugend lernt, seine eigene Leistung in den Dienst einer großen Sache zu stellen und harmonisch mit anderen zusammenzuarbeiten. Da viele dieser Arbeiten die Welt außerhalb der Schule miteinbeziehen, gewinnen die Jugendlichen Sicherheit im Auftreten und Zutrauen zu sich selbst.

Die Projekte betonen das Tun, wobei die Tat von Wert für den einzelnen wie für die Gemeinschaft sein muß. Kilpatrick sieht in diesem planvollen Handeln innerhalb einer Gruppe ein typisches Merkmal des wertvollen Lebens: „Ein Mann, der sein Leben plant und sich nicht treiben läßt, repräsentiert das Ideal des deuiohratisdten Bürgers, d. h.den freien Bürger int Gegensatz zum Sklaven."

Es wird von den Verfechtern der Projektmethode immer wieder betont, daß sie zur Verantwortung innerhalb der Gemeinschaft erzieht, und nicht, wie die Methoden des 19. Jahrhunderts, zum unbedingten Gehorsam. Sie verhindert nach ihrer Ansicht die Entwicklung des Kindes zu ausgesprochen egoistischer Haltung, sie weckt sein Interesse und erreicht, daß es gern zur Schule geht. Die Gefahr dieser Methode liegt vielleicht darin, daß das Streben nach Harmonie der Gruppe die schöpferische Einzelleistung unterdrücken kann. Richtete sich der Schüler früher nach Maßstäben aus, die vom Lehrer aufgestellt waren, so ist jetzt oft die Klassengemeinschaft normenbildend. Außerdem unterstützt diese Methode die Neigung der amerikanischen Schüler, Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, da sie bei solchen Gruppenarbeiten häufig Themen wählen, die ihnen besonders liegen, oder — vor allem die bequemeren Schüler — solche, von denen sie annehmen, daß sie nur wenig Arbeit machen.

Die Gemeinschaft erhält ihre zentrale Stellung aber nicht nur im Unterricht, sondern sie ist Lebensprinzip der amerikanischen Schule schlechthin. Die kleinste Gruppe der amerikanischen Schulgemeinschaft ist nicht die Klasse, sondern der sogenannte hörne room. Während in unseren Klassen im wesentlichen gleichaltrige Schüler sitzen, befinden sich in den meisten amerikanischen Schulen in einem homeroom Angehörige aller Jahrgänge der Schule, also in einer High School Schüler des 9. — 12. Schuljahres. Gewöhnlich sind in den homerooms Jungen und Mädchen getrennt. Außerdem wird Wert darauf gelegt, daß der homeroom einen Querschnitt aller Leistungsgruppen und aller beruflichen und schulischen Interessen aufweist.

In diesen homerooms wird der Grundstein der Schulgemeinschaft gelegt. Conant fordert deshalb in seinem richtungweisenden Buch „The American High School Today“, daß „dem homeroom genügend Zeit zur Verfügung gestellt werden sollte, damit die Schüler diese Stunde benutzen können, um einen Gemeinschaftsgeist (a sense of Community interest) zu entwickeln und um sich in kleinem Ausmaß in den Praktiken der Demokratie zu üben."

Damit der Schüler von Jugend auf die Grundgedanken der amerikanischen Ideologie kennen und sich als Glied der nationalen Gemeinschaft fühlen lernt, wird in manchen Schulen, besonders aber in denen, die von Kindern kürzlich Eingewanderter besucht werden, der Schultag mit einem feststehenden Ritus begonnen, der recht deutlich erkennen läßt, wie die Amerikaner christliches Gedankengut und die Ideen ihrer Gründerväter pflegen. Nach dem Verlesen einer Bibelstelle und einem gemeinsamen Gebet sprechen alle Schüler mit dem Blick auf die in jeder Klasse befindliche Flagge der USA und mit der rechten Hand auf dem Herzen im Chor das Treuegelöbnis: „Ich gelobe der Fahne der USA und der Republik, für die sie das Symbol ist, Treue; eine Nation, unter Gott, unteilbar, mit Freiheit und Gerechtigkeit für alle." Dieser Ritus erscheint dem ausländischen Lehrer zunächst etwas eigentümlich und ist gelegentlich eine unnötige Betonung des Nationalismus bezeichnet worden. Er muß aber wohl eher als ein Ausdruck der tiefen Sehnsucht des Amerikaners nach einer Tradition und als ein eindrucksvolles Zeugnis von der Beständigkeit seiner Wertwelt angesehen werden.

Aber der Sinn, des homerooms ist nicht nur die Festigung des Traditionsbewußtseins: er soll, wie Conant unterstreicht, auch der Schulung der demokratischen Gewohnheiten dienen. In diesem Sinne ist er die kleinste Einheit der Schülermitverantwortung. Wenn die Schüler ihre Klassensprecher und ihre Vertreter für die Einrichtungen des Schüler-rats wählen, lernen sie die Grundregeln des Lebens in einer Demokratie kennen. Im Verlauf des Schuljahres werden die Jungen und Mädchen von ihren homeroom-Lehrern darüber hinaus zu vielen Tätigkeiten innerhalb dieser kleinen Gemeinschaft angeregt. So überläßt man es z. B. meistens den Schülern selbst, die Anwesenheit zu prüfen und das tägliche Nachrichtenblatt der Schule zu verlesen. Dieses Bulletin gibt ihnen immer wieder Anregungen zu Diskussionen, die im Rahmen des homeroom durchgeführt werden können (z. B. durch Hinweise auf nationale Feiertage, auf wichtige Tagesereignisse, auf prominente Persönlichkeiten usw.). Natürlich widmen die homerooms auch der Freizeitgestaltung (Vorbereitung von Klassenbällen, Elternabenden u. ä.) wie der Erziehung zur Hilfsbereitschaft (Durchführung von Sammlungen) ihre Aufmerksamkeit. Nicht selten wird der homeroom teacher die Zeit auch benutzen, um größere Veranstaltungen der ganzen Schule mit vorzubereiten. Solche Versammlungen der Schulgemeinde werden an vielen Schulen sehr regelmäßig durchgeführt. Auf Einladung des Direktors oder des Schülerrats sprechen bedeutende Männer der Wissenschaft, des öffentlichen Lebens oder der Politik zu den Schülern. Besonders gern wird es aber gesehen, wenn einzelne Gruppen oder Klassen selbst diese Feierstunden oder Zusammenkünfte ausgestalten. Das Niveau dieser Veranstaltungen schwankt allerdings sehr. Neben oft ausgezeichneten Konzerten der meist zahlenmäßig großen Orchester und Chöre und neben guten Theateraufführungen stehen z. B. Moden-schauen der Mädchen, auf denen sie selbstgefertigte Kleider vorführen oder flache, selbstverfaßte Sketches der Sprachklassen, die in einer Sprache vorgetragen werden, die die Mehrzahl der Schüler ohnedies nicht versteht. Auch die Wahl und Krönung der Mai-oder Fußball-königinnen — eine Konzession an den Zeitgeschmack —wären in diesem Zusammenhang zu nennen. Gelegentlich kann man sich daher des Eindrucks nicht erwehren, daß hier wertvolle Zeit vertan wird, nur um dem gemeinschaftsbildenden Prinzip zu genügen.

Gewisse Assemblies dienen auch unmittelbar der Stärkung des Schulgeistes. Dies ist besonders während der Fußball-und Basketballsaison der Fall. Vor jedem Spiel trifft sich die ganze Schulgemeinde zum p e p meeting, oft in buntem Aufzug: die Lehrer mit Schlipsen in den Schulfarben, die Jungen in gleichfarbigen Kappen und die Mädchen in den dazu passenden Röcken und Blusen. Nach wenigen Minuten gleicht die Stimmung eines solchen „Pep Meeting“ einer karnevalistischen Versammlung. In rhythmischen Bewegungen üben die in Pullover und kurze Röcke gekleideten cheer-leaders die Anfeuerungsrufe der Schule ein. Der football-coach — an vielen Schulen der geachtetste Mann, der es oft dank seines Organisationstalentes zum Direktor bringt — spricht seiner Mannschaft gut zu und lobt ihre bisherigen Leistungen. Vergleicht man die Teilnahme deutscher Schulgemeinden an sportlichen Ereignissen mit derjenigen amerikanischer Schulen, so muß man zugeben, daß der Erfolg solcher „Pep Meetings“ überraschend ist. Es ist nicht nur Ehrensache für jeden Schüler, zu erscheinen, sondern auch der Großteil der Lehrer und viele Eltern finden sich zu diesen Spielen ein. Vor dem Spiel und in der Spielpause werden außer den cheer-leaders auch noch die baton-twirlers und school-band aufgeboten, die mit Schulund Nationalfahne in außerordentlich farbigen, geradezu Operettenhaft anmutenden Uniformen einmarschieren. Das farbenfreudige Bild einer solchen Veranstaltung ist, wenn für uns auch fremd, gewiß sehr eindrucksvoll und erfüllt die Schüler mit Stolz auf ihre Schule. Die Einnahmen solcher Veranstaltungen sind erstaunlich hoch. Sie liefern einen soliden Grundstode für die Kasse des Schülerrats, der damit oft manche wertvolle und vielleicht weniger populäre Veranstaltung finanziert.

Das Zusammenleben der Schüler mit ihren Lehrern hat notwendigerweise auch ihr Verhältnis zueinander beeinflußt. Wenn der amerikaniSche Lehrer häufig Dinge tun muß, die ein deutscher Lehrer als nicht seines Amtes ansehen würde, so handelt er nur nach Grundsätzen des American Way of Life. Der Gedanke der gutnachbarlichen Beziehungen bedeutet für den Lehrer, daß er sich nach Möglichkeit nicht als Respektsperson gibt, sondern als Berater und Vertrauter der jungen Menschen. Natürlich könnte man anführen, daß er dies auch deshalb tut, weil seine Anstellung von einem guten Verhältnis zu seinen Schülern abhängt, denn Verlust ihrer Sympathien muß er oft mit der Entlassung bezahlen. Aber bei der wesentlich größeren Zahl überwiegt zweifellos die Überzeugung, daß ein Vertrauensverhältnis zum Erfolg der schulischen Arbeit beiträgt: „Die Lehrerin braucht die Mitarbeit aller ihrer Kinder, damit sie die Gewißheit hat, daß sie ihre Aufgabe sachgemäß erfüllt (that she is doing the job).“ Deweys Ansicht, daß Gewaltanwendung und Zwang seitens des Lehrers nur Opposition und Unlust erzeugen, ist durch die Lehrerbildungsanstalten und Universitäten zu einem tragenden Grundsatz der amerikanischen Erziehung geworden.

Mit welch feinen, vorsichtigen Mitteln amerikanische Lehrer ihre Schüler lenken, mag folgender Vorfall illustrieren: In einer Geschichtsstunde hatte eine ausgezeichnete Kollegin die sachlich falsche Antwort eines Schülers richtiggestellt, woraufhin dieser Schüler bockig wurde und mit ihr zu streiten versuchte. Sie begegnete seinem Unwillen mit den bescheidenen, aber wirkungsvollen Worten: „Ick wollte Dick nickt kritisieren, ick wollte Dir nur eine Information geben." Riesman stellt dieses Verfahren als ein Grundprinzip des Schüler-Lehrerverhältnisses heraus: „Die Lehrerin kält immer nodt die Zügel der Autorität in ihren Händen, aber sie verbirgt ihre Autorität wie ihr Leidensgefährte (compeer), der nad^ auflen geridrtete Vater unter dem Deckmantel des „Ver nünftig-Redens" und der Manipulation (of „reasoning" and „manipulation" Diese sanfte Art der Lenkung läßt sich der amerikanische Schüler noch gefallen.

Der amerikanische Lehrer scheut auch nicht davor zurück, das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern dadurch systematisch zu beeinflussen, daß er die Jugendlichen zur Anerkennung der Leistung ihrer Lehrer anleitet. An manchen Schulen geschieht dies in der Form, daß einmal im Jahr die Schüler alle Amtsgeschäfte der Schule übernehmen — vom Direktor über den Dean of Boys (eine Art Verwaltungsoberstudienrat) bis zum jüngsten Lehrer, ja sogar vom zahlreichen Personal des Schulbüros bis zum Heizer. Die Schüler bekommen an diesem Tage zu spüren, welch beachtliche Leistung der Direktor und seine Mitarbeiter vollbringen und was für den Lehrer dazu gehört, eine ganze Unterrichtsstunde sinnvoll zu gestalten.

Oft kann man beobachten, daß die Schüler nicht nur von der fachlichen Leistung ihrer Lehrer beeindruckt, sondern von echter menschlicher Zuneigung zu ihnen erfüllt sind. Diese Gefühle werden nicht schamhaft verdeckt. Es ist durchaus nicht ehrenrührig, wenn der Lehrer an seinem Geburtstag oder zu Weihnachten die Geschenke seiner Schüler annimmt. Ebenso geraten die schenkenden Schüler nicht in den Verdacht, Streber zu sein. Um Auswüchse in Form zu üppiger Geschenke zu vermeiden und um gleichzeitig zu erreichen, daß auch die weniger beliebten Lehrer eine Anerkennung für ihr Bemühen erhalten, ist an manchen Schulen ein Teacher’s Appreciation Day eingeführt worden, an dem vom Klassensprecher als Symbol der Dankbarkeit dem Lehrer ein Apfel überreicht wird und in einer von den Haushaltungsschülerinnen ausgestalteten Kaffeestunde die Lehrer bewirtet und durch ein buntes Programm unterhalten werden (Snokomish High School). Das Schüler-Lehrer-Verhältnis bekommt so fast familiären Charakter, und in der Tat sprechen die Amerikaner gern von der Schule als Familie, deren Funktionen sie oft übernommen hat.

Diese Beispiele zeigen, wie der amerikanische Jugendliche die Schule als eine große Gemeinschaft erlebt und wie er sie durch seine Mitarbeit selbst zu dem gestaltet, was sie ist. Er erfüllt somit die Aufforderung, die über dem Eingang mancher Schulen steht: „Your school is what you make it“ (Deine Schule ist das, was Du aus ihr machst).

Es ist eine Folge der amerikanischen Gegebenheiten und der Dezentralisierung des amerikanischen Schulwesens, daß kaum eine Schule der anderen in ihren Methoden und Wegen gleicht. Es konnte daher hier nur versucht werden, am Beispiel einiger besonders charakteristischer Erscheinungen grundlegende Züge aufzuzeigen. Die Lebensformen der amerikanischen Schule sind bereits so angelegt, daß der „good Citizen“, der in Freiheit unter dem Gesetz lebt, das natürliche Ergebnis dieser Umwelt ist.

Parallel zu dieser Erziehung zur Gemeinschaft durch das Erleben und Handeln läuft die staatsbürgerliche Erziehung durch Belehrung. Allerdings sind diese beiden Wege nur selten scharf voneinander getrennt; ob die Unterweisung unter dem Namen US History, Social Sciences oder Problems of Democracy (Sozialkunde) erfolgt, immer wird sie, wie ich noch zeigen werde, eng mit den „activities“ verbunden sein. Daß diese Fächer für ein oder mehrere Jahre Pflichtfächer sind, zeigt deutlich, welches große Gewicht auch dieser mehr theoretischen Form der staatsbürgerlichen Erziehung beigemessen wird.

Aktivierung des Schülers im Schulbetrieb

Im letzten Abschnitt wurde bereits auf die Bedeutung des Geschichtsunterrichts, der Social Sciences (Sozialkunde) und Problems of Democracy Classes für die staatsbürgerliche Erziehung hingewiesen. Es ist die besondere Eigenart des Amerikaners, diese Unterweisung weniger theoretisch zu betreiben, als sie nach Deweys Grundsatz „learning by doing“ durch praktische Tätigkeit lebendig und eindrucksvoll werden zu lassen. Viele Lebensbereiche werden in die Betrachtung mit einbezogen und durch praktische Beispiele sowie durch die Eigentätigkeit des Schülers verständlich gemacht.

Wo diese Schulung systematisch erfolgt, führt sie den Schüler schrittweise von der Schulgemeinde zur lokalen Selbstverwaltung, zur Regierung des Einzelstaates und des Bundes und endet mit der Betrachtung der Stellung Amerikas in der Welt. Ein ähnlicher Weg wird auch, im Geschichtsunterricht und in der Gemeinschaftskunde, in den Richtlinien der meisten deutschen Länder dem Lehrer empfohlen. Doch darf man wohl behaupten, daß die Amerikaner sich mehr noch als wir um eine möglichst lebensnahe Behandlung der oben genannten Themen bemühen und stets bestrebt sind, ihre Schüler zu aktivieren. Der Amerikaner räumt den Organisationen der Schüler bei weitem mehr Rechte und Pflichten ein, als das in Deutschland im allgemeinen der Fall ist. Allerdings wird auch in Amerika heute ständig betont, daß der Student Council keine Schülerselbstverwaltung, sondern nur eine Schülermitverwaltung ist. Ganz ohne Zweifel spielt der Präsident des Student Council im amerikanischen Schulleben eine hervorragende Rolle. Äußerlich wird seine Stellung schon dadurch betont, daß er bei allen Schulveranstaltungen an der Seite seines Direktors auftritt. Der Direktor zieht ihn und seine Mitarbeiter oft zu Besprechungen hinzu, und umgekehrt findet der Schülerrat bei ihm meist ein offenes Ohr. Die Schulleitung hält sich oft so sehr zurück, daß man fast den Eindruck gewinnen kann, als sei ein großer Teil des äußerlichen Schullebens den Schülern selbst überlassen. Tatsächlich ist das auch an vielen Schulen in großem Maße der Fall.

Die amerikanischen Erzieher haben allerdings mit dem Sponsor-System eine wirkungsvolle Methode der Einflußnahme entwickelt. Aber diese Vertrauenslehrer üben eine so weise Zurückhaltung, daß in den Schülern das ermutigende Gefühl der Eigentätigkeit und der Eigenverantwortung lebendig bleibt. Sie, die Schüler, sind es, welche die Feste und Assemblies der Schule vorbereiten und gestalten: sie begrüßen die Gastredner und bewirten sie nach dem Vortrag; sie sind als Sekretärinnen in der Verwaltung der Schule tätig; sie arbeiten oft verantwortlich beim Vertrieb von Schreibmaterialien und Süßigkeiten wie bei der Essensausgabe mit. Ein sogenannter Traffic Squad überwacht die Besucher der Schule, empfängt sie und berät sie höflich; während der Pausen sorgen diese Jungen und Mädchen für Ordnung, und bei Schulversammlungen regeln sie den Einzug der Klassen in die Aula. Auch die meisten vorzüglich ausgestatteten Schulbibliotheken und Sammlungen werden zu einem großen Teil von Schülern selbst verwaltet. In allem wird die Tendenz offenbar, dem Jugendlichen Verantwortung zu übertragen.

Ein Vorfall mag zeigen, wie positiv der Schulgeist durch diese Einstellung beeinflußt wird. Da die amerikanischen Schüler den ganzen Tag über in ihrem Schulgebäude sind, erhält jeder Schüler ein Spind zugewiesen, in dem er seine Bücher, Sportsachen usw. aufbewahren und verschließen kann. Einige Schüler hatten ihre Spinde mit Pin-up-Girls ausgeschmückt. Sie machten sich ein Vergnügen daraus, in den Pausen die Mädchen dadurch zu schockieren, daß sie die Türen ihrer Spinde vor ihren Augen ostentativ öffneten. Das geschah, ohne daß der Schulleiter oder die aufsichtführenden Kollegen eingriffen. Es zeigte sich bald, daß dies nicht ohne Überlegung geschah; denn eines Tages traten schlagartig die Mädchen des Leader Corps — eine Elitegruppe der Schule — vor ihre Klasse und trugen in äußerst sachlichem, aber entschiedenem Ton ihr Entsetzen über die Ungezogenheit ihrer Mitschüler vor. Es entspann sich zwischen Jungen und Mädchen eine lebhafte Diskussion, in der die Jungen die Unart ihrer Schulkameraden zu bagatellisieren versuchten, die Mädchen aber nachdrücklich erklärten, wie sie durch diese Bilder in ihrer Ehre verletzt seien und ein wie schlechtes Licht das Verhalten dieser Jungen auf den Geist der Schule werfe. Sie verstanden es schließlich, die ganze Klasse von der Verwerflichkeit des Tuns ihrer Mitschüler zu überzeugen. Der Erfolg ihres Vorgehens war, daß der Verwaltungsoberstudienrat nun eingriff, die Bilder beschlagnahmte und den Eltern der betreffenden Schüler zuschickte.

Was dieses Vorkommnis so charakteristisch amerikanisch macht, ist, daß die Schulleitung von einem Eingreifen absah und die Bereinigung dieser Angelegenheit den Schülern selbst überließ. Statt sich des krassen Verbots zu bedienen, vertrauten die Lehrer auf die Einsicht und das natürliche Anstandsgefühl der Schüler.

Es soll hier nicht der Versuch gemacht werden, die Aktivitäten des Schülerrats in allen Einzelheiten zu schildern. Die Unterschiede zu den deutschen Gepflogenheiten sind gering. Natürlich kämpft man in Amerika ebenso gegen die Indifferenz der großen Masse der Schüler wie in Deutschland, aber, wie mir scheint, mit geeigneteren Mitteln und darum erfolgreicher. Überall, wo ehrenamtlich etwas für eine Gemeinschaft geschehen soll, sind es meist wenige, die das Mehr an Pflichten auf sich nehmen. Den Amerikanern gelingt es, eine größere Zahl von Schülern hierzu heranzuziehen, weil sie ihnen ein weiteres Betätigungsfeld einräumen und weil sie ihnen gestatten, auf dem Gebiet für die Allgemeinheit tätig zu sein, das sie wirklich interessiert.

Wir wissen, daß die Jugend einen ausgesprochenen Gerechtigkeitssinn besitzt. Ilm ihn zu aktivieren, haben viele Schulen den Versuch gemacht, die Bestrafung von Vergehen gegen die Schulgemeinschaft den Schülern selbst zu überlassen. Auch drüben hat man die Erfahrung gemacht, daß die Schülergerichte im Anfang viel zu harte Strafen verhängten; aber durch kluge Lenkung gelang es den Sponsors im Laufe der Zeit, die Schülergerichte vor Übertreibungen zu bewahren. An den Schulen, an denen das glückte, ist die Schülergerichtsbarkeit von Bestand gewesen, an den übrigen ist sie bald wieder von der Bildfläche verschwunden.

Da in den USA eine ständig wachsende Zahl der Schüler einen Wagen fährt, ist die Häufigkeit der Verkehrsvergehen Jugendlicher dementsprechend groß. Ein Versuch, der Jugend ihre Verantwortung im Verkehr bewußt zu machen, sind die an manchen Schulen eingeführten Verkehrsgerichte. An der Queen Anne High School, Seattle, Washington, z. B. existiert ein solcher Gerichtshof für Verkehrsvergehen seit 1954 Er ist aufgebaut wie ein normaler Gerichtshof und arbeitet aufs engste mit der Polizei des Ortes zusammen. Alle ernsten Vergehen gegen die Verkehrsgesetze werden vor diesem Schüler-gericht verhandelt — im Durchschnitt jährlich etwa 40. Es ist erstaunlich, wie weitgehende Vollmachten den jugendlichen Richtern eingeräumt wurden: sie können mit ihren Strafen bis zum Entzug des Führerscheines gehen. Dies erscheint uns Deutschen nahezu ungeheuerlich, Erfahren wir aber, daß der Grundsatz des Gerichts “ to promote safety, educate, not penalize" (die Sicherheit zu fördern, zu erziehen und nicht zu bestrafen) ist, dann können wir uns vorstellen, daß die Jugendlichen ihre Vollmachten wahrscheinlich recht vernünftig handhaben. Da die Sitzungen dieser Gerichte öffentlich sind und die Schulzeitung und die lokale Presse darüber berichten, wird einem großen Kreis vor Augen geführt, wie wichtig Einsicht und Vernunft und wie groß die Verantwortung der Autofahrer sind. Gleichzeitig erfährt die Öffentlichkeit wieder einmal, wie die Schule die ihr anvertraute Erziehung der jungen Menschen zum selbständig handelnden und verantwortungsbewußten Staatsbürger erfüllt.

Es ist allerdings bemerkenswert, daß die National Association of Student Councils in den letzten Jahren eindeutig gegen jede Form der Schülergerichtsbarkeit Stellung genommen hat. Auf ihrer Tagung im Jahre 195 8 wurde den Vertretern aller Schülerräte des Landes die Frage vorgelegt: „Glauben Sie, daß ein Schiilerrat ein Schülergerickt schaffen oder beibehalten sollte?" Die Antwort war ein emphatisches , Nein‘. „Disziplin und Verwaltung eines Gerichts sind Aufgabe der zivilen Gerichte oder, wenn nötig, des Lehrerkollegiums

Der Schüler lernt also schon im internen Betrieb der Schule, durch die Schülermitverwaltung und alles, was damit zusammenhängt, die Spielregeln der Demokratie und übt sich im Gebrauch seiner Rechte und seiner Pflichten. Aber die Amerikaner lassen es bei diesem auf die Schule beschränkten Bereich nicht bewenden; sie führen ihre Jugend auch in die Gebiete ein, in denen sie als zukünftige Staatsbürger Verantwortung übernehmen sollen.

Nach der Schule ist die nächstgrößere Einheit die lokaleSelbstVerwaltung. Auch hier verzichtet man auf eine rein theoretische Unterweisung, die die Schüler nur langweilen würde, sondern man schickt sie in die städtischen Ämter und Ratssitzungen, damit sie sich an Ort und Stelle mit den Problemen und Aufgaben vertraut machen. Wir haben in der deutschen Presse oft davon gelesen, daß an vielen Orten in Amerika Schüler einen Tag lang in alle Ämter der Stadt-oder Kreisverwaltung eintreten, wo man ihnen zum Teil sogar gestattet, die Funktionen der Stadträte und Beamten zu übernehmen. Das ist sicher für jeden einzelnen eine wertvolle Erfahrung und dank der großen Aufgeschlossenheit und dem Entgegenkommen der amerikanischen Behörden ein ertragreiches Unterfangen.

Noch viel ergiebiger wird diese Art der staatsbürgerlichen Erziehung, wenn sie an Probleme anknüpft, die von unmittelbarem Interesse für die Jugend sind. So nahm sich eine Sozialkunde-Klasse der Madison West High School, Wis., für ein Semester das Problem der Jugendkriminalität vor, das ja eines der schwierigsten und brennendsten Probleme des amerikanischen Lebens der Gegenwart ist. Denken wir nur an solche Filme wie „Die Saat der Gewalt" oder „Denn sie wissen nicht, was sie tun" oder halten wir uns an die nüchternen Zahlen der amerikanischen Statistik, wonach nach zuverlässigen Schätzungen 1951 mehr als 1 Million Jungen und Mädchen unter 18 Jahren der Polizei wegen irgendwelcher Vergehen gemeldet worden sind und dem Staat Kosten in Höhe von mehr als 15 Millionen Dollar verursachten. Für unsere Gesamt-untersuchung ist das Problem der Jugendkriminalität übrigens auch deshalb interessant, weil, wie einige Soziologen (Riesman, Oberndorfer) glauben, diese Ausbrecher aus dem normalen Leben der amerikanischen Gesellschaft wahrscheinlich deshalb Rebellen geworden sind, weil sie die Anpassungslehre der amerikanischen Gesellschaft satt haben.

Im Verfolg des Studiums der Jugendkriminalität untersuchte diese Klasse die Verhältnisse in ihrer eigenen Stadt. Ähnlich wie bei der oben geschilderten Gruppenarbeit wurde zuerst gemeinsam eine Liste derjenigen Stellen und Ämter erarbeitet, die, in welcher Form auch immer, mit der Jugendkriminalität in Berührung kommen. In Gruppen von je 2 Schülern (meistens ein Junge und ein Mädchen) besuchte die Klasse dann die örtlichen Erziehungsheime, das Gefängnis, den Jugendrichter, Nervenheilanstalten, Rechtsanwälte, Gerichte und die Polizei und richtete an die Beamten ihre vorbereiteten Fragen. Der Lehrer ließ es nicht bei der Befragung und bei der Beobachtung durch seine Schüler bewenden, sondern forderte sie auf, Kritik zu üben und Verbesserungsvorschläge zu machen. Es versteht sich von selbst, daß bei dieser Arbeitsmethode alle Schüler mit großem Eifer bei der Sache sind und daß sie beim Anhören der einzelnen Berichte ein lebendiges Bild von der ganzen Problematik erhalten, wie es durch ein bloßes Buch-studium niemals erreicht werden kann.

Solche Arbeitsprojekte dienen aber nicht nur der Schulung des Geistes und der politischen Willensbildung, sondern auch der Entwicklung eines sozialen Verantwortungsbewußtseins. Als Beispiel sei hier ein Unternehmen erwähnt, das alljährlich einmal alle Schulen in die soziale Arbeit der Gemeinde mit einbezieht: der Red Feather C a m p a i g n. Eine Woche lang sammeln alle amerikanischen Gemeinden für diesen Wohltätigkeitsfonds, der gemeinnützigen Organisationen zugute kommt, wie z, B. Blindenheimen, dem Christlichen Verein Junger Männer, den Pfadfindern u. ä. An vielen Schulen wird diese Sammlung in Form eines Wettbewerbs aufgezogen; bezeichnenderweise oft nicht zwischen den einzelnen Schülern, sondern der Gruppenethik entsprechend einmal der einzelnen home-rooms untereinander und zweitens der Schüler gegen die Kollegien. Jeden Tag wird im Mitteilungsblatt der Schule der Stand der Sammlung veröffentlicht und der beste homeroom besonders gelobt.

Eindrucksvoller noch als diese Geldsammlung ist eine Sammlung von Lebensrnitteln, die an vielen Schulen alljährlich zu Weihnachten für die 25 bedürftigsten Familien durchgeführt wird.

In ähnlicher Weise haben die Schulen kurz nach dem Kriege die CARE-Aktion unterstützt. Der Gedanke menschlicher Nächstenliebe liegt auch den „Wochen der Brüderlichkeit" zugrunde.

Diese Opferbereitschaft ist so sehr Allgemeingut der Schüler und des gesamten amerikanischen Volkes geworden, daß sich bei entsprechenden Anlässen immer Menschen finden, die die Initiative ergreifen und solche Hilfsaktionen in Gang bringen.

Dies mag genügen, um die activities, wie sie im Bereich der Gemeinden durchgeführt werden, zu kennzeichnen. Auf der nächsthöheren Ebene werden die Aufgaben anspruchsvoller, und es ist ganz natürlich, daß der Kreis der Beteiligten sich nun nicht mehr auf eine einzelne Schule beschränkt, sondern daß jetzt alle Schulen eines Staates ihre besten Jungen und Mädchen für die Unternehmen auf Länderebene auswählen. Häufig schalten sich bei der Durchführung solcher Projekte die Klubs der Erwachsenen mit ein, um bei ihrer Vorbereitung zu helfen, die Schüler zu beraten und die oft nicht geringen Unkosten zu tragen. Audi hier mag zur Illustration aus der Unzahl der möglichen Beispiele ein besonders charakteristisches dienen, der Government Day. Ähnlich wie es für die Gemeindeverwaltung schon geschildert ist, übernehmen die Schüler an einem Tage im Jahr sämtliche Geschäfte der Länderregierung. Dem Besuch in der Landeshauptstadt geht eine sorgfältige Vorbereitung durch die Arbeitsgruppen der einzelnen Schulen voran. Parallel zu den in den Staatenparlamenten anstehenden Gesetzentwürfen bereiten die Schüler ihre eigenen Gesetzentwürfe vor. Der beste Entwurf oder ein für die Jugendlichen besonders wichtiger werden dann in parlamentarischer Form durchdiskutiert, mit Zusätzen versehen und schließlich zur Abstimmung vorgelegt. Ist der Vorschlag angenommen, geht er zu dem an diesem Tage als Gouverneur fungierenden Schüler zur endgültigen Genehmigung.

Auch über die Funktionen des Bundes werden die Schüler nicht in der Form belehrt, daß man, etwa an Hand der amerikanischen Verfassung, die einzelnen Organe, ihre Machtbefugnisse und ihre Bedeutung im Kräftespiel der Nation erörtert, sondern die Schulen geben ihren Schülern Gelegenheit, die Einrichtungen ähnlich wie bei einem militärischen Planspiel in möglichst wirklichkeitsgetreuer Form kennenzulernen. Damit sie z. B. später wissen, wie sie sich bei einer Präsidentenwahl zu verhalten haben, führen die meisten Schulen während einer solchen Wahl , mock elections'= Scheinwahlen durch. Genau wie die Erwachsenen sich in Wahlreden für den einen oder anderen Kandidaten einsetzen, finden sich auch Schüler, die in einer Schülerversammlung für den einen oder anderen Präsidentschaftskandidaten werben. Selbständig durchdachte und unter Anleitung der Rhetoriklehrer in den Speech-Classes geschliffen formulierte und sprachtechnisch sorgfältig ausgefeilte Reden werden vorgetragen. Gleichzeitig bereiten andere Gruppen die technische Durchführung der Wahl vor. Auf einem besonders dafür eingerichteten Büro müssen sich alle Schüler, die wählen wollen, registrieren lassen. An dem Tag der Wahl können die Schüler in den Pausen ihre Stimme abgeben. Nach der Wahl zählt ein Wahlausschuß die Stimmen, und noch ehe der Schultag zu Ende ist, gibt ein Extrablatt der Schulzeitung das Ergebnis der Stimmauszählung bekannt.

Das gleiche Verfahren wird auch auf die Wahl der Schülerratsvorsitzenden und seiner Mitarbeiter angewandt und gewinnt so für das Schulleben praktische Bedeutung. Da es sich für die Schüler durchaus nicht von selbst versteht, daß sie immer die bestgeeignetsten Mitschüler für diese Ämter Vorschlägen, hoffen die amerikanischen Erzieher, durch diese Methode den Schülern zu zeigen, daß sie bei solch einer Wahl nicht ihren Gefühlen nachgehen, sondern, wie im späteren Leben, wenn sie selbst als Staatsbürger an öffentlichen Wahlen teilnehmen, ihre Entscheidung so fällen, daß sie der für die betreffende Aufgabe geeignetsten Person ihre Stimme geben.

In den letzten Jahren haben sich die Amerikaner besonders darum bemüht, in ihrer Jugend eine ihrer politischen Weltstellung entsprechende Aufgeschlossenheit für die Belange anderer Völker zu wecken. Wie sehr die amerikanische Jugend selbst dieses Bedürfnis hat, beweist das Tagungsprogramm der National Conference of Student Councils, die im Juni 195 8 730 Delegierte aus 46 Staaten sowie aus dem District of Columbia and Hawaii vereinigte. Das zentrale Thema dieser Zusammenkunft war die internationale Verantwortung der Amerikaner. Von 75 Arbeitsgruppen befaßten sich allein 15 mit der Frage: „Was kann der Sdtiilerrat tun, um die internationalen Beziehungen zu fördern? 14 Viele praktische Vorschläge sind dort vorgetragen worden, und es ist anzunehmen, daß die einzelnen Schulen durch die mannigfachen Anregungen wertvolle Impulse empfangen haben Zu den Trägern des Gedankens der internationlaen Verständigung gehören auch die UN-Klubs. Auf sie greifen die Lehrer gern zurück, wenn sie ihre Klassen etwas von der weltumspannenden Verflechtung der heutigen Politik spüren lassen wollen. Auf Schul-oder Staaten-ebene werden die Schüler zur Beschäftigung mit den vor der UNO (Vereinte Nationen) zu erörternden Problemen angeregt. Sie lassen sich von dem UNO-Sekretariat Unterlagen schicken, und verschiedene Klassen oder Schulen bekommen den Auftrag, sich mit dem Standpunkt je einer Nation vertraut zu machen. In einer Miniaturvollversammlung diskutieren Jungen und Mädchen die in New York zur Verhandlung stehenden Fragen und bemühen sich sogar dort Lösungen zu finden, wo die Vereinten Nationen bisher versagt haben.

Ein Projekt aus der Wirtschaftsei zum Schluß erwähnt. Es bezieht die Schüler in den Kreis der amerikanischen Erwerbsgesellschaft mit ein. Es ist bekannt, daß viele amerikanische Jugendliche durch Tätigkeit in Drug-stores, Autowäschereien, Warenhäusern etc.selbst oft ganz gut verdienen. Eine Lehrerin in Madison, Wis., hat sich diese Tatsache zunutze gemacht und ihre Sozialkunde-Schüler in den Bereich des amerikanischen Wirtschaftslebens eingeführt, an dem weite Kreise der amerikanischen Bevölkerung heute teilhaben, das ist die Kapitalerhöhung durch Aktienspekulation. Sie fand 80 Schüler und Schülerinnen, die gewillt waren, je 10 Dollar für den Ankauf von Aktien zur Verfügung zu stellen. Nach längerer Beobachtung der Börsenkurse beschlossen die Schüler selbst, welche Aktien sie kaufen wollten. Monatelang verfolgten sie täglich die Börsenberichte und warteten einen günstigen Augenblick ab, um ihre Aktien vorteilhaft zu verkaufen.

Die hier dargestellten Arbeitsprojekte mögen gezeigt haben, daß die Amerikaner ihre Jugend im Laufe der Schulzeit systematisch von einem aktiven Leben in ihrer Klassengemeinschaft zum Bewußtsein ihrer Zugehörigkeit zur Völkergemeinschaft hinführen. Natürlich gibt es zahllose ähnliche Projekte. Ob der Lehrer in der oben geschilderten Weise verfährt oder aus der Situation des Augenblicks heraus z. B. das heiße Eisen der Korruption in den amerikanischen Gewerkschaften anpackt oder die Schüler die Rassenfrage oder die Aufnahme Rotchinas in die UNO diskutieren läßt, oder ob er sie Überlegungen über die Vor-und Nachteile des Hausbaues oder Hauskaufes anstellen läßt, immer ist das Ziel, die Schüler zur Aktivität anzuspornen und sie über sachliches Erfassen der Probleme zu sinnvollen Verbesserungsvorschlägen zu führen.

Arbeitsgemeinschaften und sonstige „activities"

Ähnlich wie die Engländer in ihren Public-Schools schon im 19. Jahrhundert das „monitorial System“ entwickelt haben, das in die Schulen das „Government by the Governed" (die Regierung durch die Regierten) einführte, haben die Amerikaner ein auf ihre Verhältnisse zugeschnittenes System der Schülermitverantwortung geschaffen, das noch mehr als das englische Vorbild die Eigentätigkeit des Schülers und den demokratischen Gedanken betont. Zwar sind nur wenige amerikanische Schulen Heimschulen, aber auch in der Ganztagsschule liegen die Verhältnisse ähnlich: es hieße die Schüler überfordern, wenn man sie während des langen Schultages (meist von 8 h — 16 h) nur in wissenschaftlichen Fächern unterrichtete. Deshalb hat auch die amerikanische Schule sich gezwungen gesehen, den Tagesablauf durch Sport und andere „activities“ aufzulockern. Grundsätzliche Erwägungen, besonders der Einfluß John Deweys und der progressiven Pädagogen, haben diese Tendenzen noch verstärkt und allmählich dazu geführt, daß die Extra-oder Co-Curricular-Activities einen den eigentlichen Unterrichtsfächern ebenbürtigen Platz einnehmen. Ähnlich wie die amerikanischen Schulen ihren Schülern eine Einzahl von verschiedenen wissenschaftlichen und berufs-vorbereitenden Fächern anbieten (häufig mehr als 50), stellt sie ihnen auch eine Vielzahl von „activities“ zur Wahl.

Von jedem Schüler, der nicht als krasser Außenseiter gelten will, wird erwartet, daß er an mehreren solchen Activities teilnimmt. Geschieht die Auswahl im allgemeinen auch auf der Basis der Freiwilligkeit, so üben doch oft genug die home-room-und guidance-Lehrer auf die Schüler einen moralischen Zwang aus. Wie auch im Leben der Erwachsenen die „sociability“, die Bereitwilligkeit zur Geselligkeit eines jeden eine große Rolle für seinen Erfolg oder Mißerfolg spielt, kann sich auch ein Jugendlicher dieser Forderung der Gemeinschaft nicht entziehen, wenn er nicht riskieren will, als „maladjusted", nicht anpassungsfähig, zu gelten. Die amerikanische Schule tut alles, um ausgesprochene Individualisten oder gehemmte Kinder in die Schulgemeinschaft mit einzubeziehen. Wie sehr die Lehrer und die gesamte Öffentlichkeit die Beteiligung an solchen Co-Curricular-Activities betont, zeigt die Tatsache, daß für die Gesamtbeurteilung des Schülers die Charakter-beurteilung und die Betätigung des Schülers in den Klubs ebenso wichtig ist wie seine Leistungen in den wissenschaftlichen Fächern.

Mehr noch als für die einzelnen Zeugnisse gilt dies für die „cumulative folders", der Sammlung der Zeugnisnoten und Beurteilungen eines Schülers während seiner ganzen Schulzeit. Was dort über das Verantwortungsbewußtsein, die „co-operation", das „adjustment“ und die Initiative des Schülers ausgesagt wird, ist für sein späteres Fortkommen häufig wichtiger als seine Zensuren.

Wie es der Grundsatz der amerikanischen Schule ist, dem Schüler bei der Wahl seiner Unterrichtsfächer freie Hand zu lassen, kann er sich auch seine Co-Curricular-Activities selbst wählen. In beiden Fällen steht ihm allerdings ein Counselor als Ratgeber zur Verfügung. Heute zielt diese Beeinflussung meistens darauf hin, den Schüler vor einem Zuviel und einer Verzettelung zu bewahren. Alle Klubs stehen ihm ohnedies nicht offen: manche von ihnen entscheiden selbständig über Aufnahme oder Nicht-Aufnahme des Bewerbers; in anderen ist die Mitgliedschaft an gute schulische Leistungen gebunden. Im ersten Falle hat sich an den High Schools die wohl an den Colleges (fraternities, sororities = eine Art studentischer Korporationen) entstandene, jedoch recht fragwürdige Methode des „pledging" (Verpflichtung und Bewährung) eingebürgert. Gewöhnlich dauert eine solche Aufnahmeprüfung eine Woche und nimmt Formen an, die von humorvollen bis zu beinahe grausamen Bewährungsproben alles aufweisen kann. Z. B. müssen Jungen und Mädchen während dieser Zeit in der Schule eine auffällige Kleidung tragen (verschiedenfarbige Strümpfe, als Kaninchen oder im Tropen-anzug oder mit Frack und Zylinder gekleidet gehen) oder sich eine besonders ausgefallene Frisur zulegen. Andere Klubs verlangen von ihren Füchsen besondere Dienstleistungen (Bedienen der älteren Mitglieder, Tragen der Schulbücher) oder Mutproben (die neuen Mitglieder werden z. B. nachts mit verbundenen Augen in einem Auto verschleppt, irgendwo abgesetzt und müssen sich nun zu Fuß auf den Heimweg begeben). Welche gefährlichen Ausmaße dieses „pledging“ annehmen kann, zeigt der Film „Denn sie wissen nicht, was sie tun“. Kein Wunder, daß an vielen Schulen auch seitens der Schüler recht energisch Front dagegen gemacht wird und in letzter Zeit eine Reihe von Schulen es ausdrücklich verboten hat. Dieses Ausleseprinzip, wie eigentlich jedes, steht im krassen Widerspruch zu den Idealen des American Creed. Jede Cliquenbildung — und „pledging“ führt zu nichts anderem — läßt sich mit dem Gleichheitsgedanken nicht vereinbaren.

Es ist aus diesem Grunde verständlich, daß die amerikanischen Schulen es auch den Außenseitern leicht machen, den Weg zur Gemeinschaft zu finden: irgendein Sonderinteresse hat fast jeder Jugendliche. Gibt es an seiner Schule eine seinen Neigungen oder „Hobbies“ (Steckenpferd) entgegenkommende Gruppe noch nicht, bleibt es ihm überlassen, einen neuen Klub zu gründen. Er braucht nur Freunde zu suchen, die mit ihm die neue „activity" an seiner Schule einführen wollen. An diesem Punkt setzt, von den Schülern unbemerkt, die staatspolitische Erziehung bereits ein: der Jugendliche wird angehalten und ermutigt, aus seiner Isolierung herauszutreten und Unternehmungsgeist zu zeigen. Jede Klubgründung erfolgt dann in der gleichen Weise: hat der Schüler genügend Interessenten gefunden, wird er eine verfassungsgebende Versammlung einberufen, den oder die Vorsitzenden wählen — alles dies politisch wertvolle Tätigkeiten. Es ist bezeichnend, daß jede Neugründung der Anerkennung durch den Schülerrat bedarf. So erfährt die ganze Schülerschaft von der neuen „activity“ und Fehlgründungen werden vermieden.

Auf diese oder ähnliche Weise sind die vielen „activities" an den amerikanischen Schulen entstanden. Grob gesprochen, kann man 3 Haupt-typen unterscheiden: 1. die wohl größte Gruppe der „r e c r e a t i o n a T‘ und „social activities“. Sie verfolgen in erster Linie den Zweck, den Jugendlichen zu helfen, ihre Freizeit richtig und sinnvoll zu gestalten — ein in Amerika äußerst wichtiges Problem, wenn wir bedenken, daß auch der Erwachsene in jeder Woche mindestens zwei freie Tage hat. Der junge Mensch lernt auf der Schule, was im späteren Leben für ihn von entscheidender Bedeutung ist. In diese Gruppe gehören vor allem die Klubs, die an große nationale Organisationen angelehnt sind, wie die „Y-Teens“ und der „High-Y“ (Verbindung zum CVJM) sowie die Pfadfinder. Der Amerikaner hat bezeichnenderweise keine Bedenken, diese Gruppen auf der Schulebene zuzulassen, weil er — mit Recht — der Überzeugung ist, daß nicht die Gefahr einer standesbedingten Struktur solcher Gruppen besteht. Die Lehrer ihrerseits sehen diese Gruppen an ihrer Schule gern, weil sie die Anhänglichkeit an die Schule fördern und eine willkommene Verbindung zur Öffentlichkeit herstellen. Das Motto der Y-Teens „Fun, Friends, and Fellowship“ (Spaß, Freunde und Kameradschaft) spiegelt deutlich die lebensbejahende, hedonistische Einstellung des other-directed (nach außen gerichteten) Amerikaners wider, während dasjenige des High-Y „Clean Speech, Clean Sportsmanship, Clean Scholarship and Clean Living“ (frei übersetzt: Sauberkeit der Rede und der Lebensführung, Fairneß und Ehrlichkeit in der schulischen Arbeit) noch Züge des inner-directed (nach innen gerichteten) Amerikaners des vergangenen Jahrhunderts trägt. Beiden Gruppen gemeinsam ist die Pflege der Kameradschaft und der Nächstenliebe. Sie haben an den meisten Schulen die größte Mitgliederzahl.

Zu dieser ersten Gruppe rechnen aber auch die Glee-Clubs, Bands und Orchestras der Schule, die gewöhnlich unter der Leitung der entsprechenden Fachlehrer Musisches pflegen und für die Fest-und Feier-gestaltung in der Schule zur Verfügung stehen. Ferner wären die vielen Hobby-Klubs, wie Photo-Klub, Radio-und Fernseh-Klubs, sowie die zahlreichen Sportvereinigungen zu erwähnen.

$Mit der letzteren Gruppe greifen wir aber bereits in einen zweiten Bereich über: die mehr fachlich orientierten Gruppen. Sie sind meist anspruchsvoller und erfassen oft nur einen kleinen Kreis. Hierher gehören z. B. die naturwissenschaftlichen, Geschichts-, Literatur-, Laienspiel-, Sprach-(Deutsch, Französisch usw.) und Diskussions-Klubs, internationale und UN-Vereinigungen und ähnliche Klubs. In ihnen spielt weit häufiger als in der erstgenannten Gruppe der „Sponsor“, der Vertrauenslehrer, den im übrigen jeder Klub haben muß, eine entscheidende Rolle, obwohl auch in ihnen die Schüler äußerlich die Leitung in den Händen haben. Sie können daher unseren freien Arbeitsgemeinschaften ähnlich sein.

Besonders charakteristisch für Amerika scheint mir die dritte Gruppe zu sein: die auf bestimmte Berufe vorbereitenden Vereinigungen. Häufig haben bei ihrer Gründung die Berufsorganisationen der Erwachsenen Pate gestanden. Diese betreuen sie liebevoll und benutzen sie, um den Jugendlichen bei ihrer Berufswahl zu helfen und ihnen Anregungen zu geben, gleichzeitig aber auch, um sich den Nachwuchs zu sichern. Sie sind eine wertvolle Ergänzung des amerikanischen Erziehungssystems. Je nach dem wirtschaftlichen Charakter eines Ortes finden wir die verschiedenen Berufe vertreten: in landwirtschaftlichen Gebieten trifft man stets die „Future Farmers of America“ (FFA) und den 4-H-Club die beide bemüht sind, bei den Jugendlichen die Liebe zum Beruf des Farmers zu wecken. Früh schon vertraut man ihnen kleine Aufgaben an, z. B. die Züchtung von Kleinvieh oder die Pflege von Jungtieren. In regelmäßigen, großzügig organisierten Wettbewerben (ähnlich unseren Berufswettkämpfen) werden die besten Leistungen ausgezeichnet. Gleichzeitig wird alles getan, um die Jugend zu einem gesunden Berufsethos zu erziehen. Ähnliche Ziele verfolgen die Future Teachers of America (FTA), die Future Nurses of America und die Future Merchants of America. Da die Mitgliedschaft der FTA besonders hohe Leistungen und die Empfehlung durch einen Lehrer voraussetzt, wird sie von den Schülern als große Ehre angesehen. Im Rahmen ihrer Activities werden pädagogische Probleme diskutiert, andere Schulen und Colleges besucht, und die Schüler erhalten Gelegenheit, selbst bereits die ersten Unterrichtserfahrungen zu sammeln. Die Future Merchants helfen bei der Vermittlung von Nebenbeschäftigungen und helfen so die zukünftige Berufswahl steuern.

Auch die weitverbreiteten Schulzeitungen (1957: 7726) verfolgen u. a. das Ziel, die jungen Mitarbeiter auf einen Beruf hinzuweisen. Zweifellos geben sie einer recht großen Zahl von Schülern die Gelegenheit, ihren Neigungen nachzugehen und ihre Fähigkeiten zu bewähren. Natürlich ist ihr Hauptanliegen, Schüler und Eltern über das Schulgeschehen auf dem laufenden zu halten, und vor allem, die Leistungen einzelner Schüler und der Gruppen vor die Öffentlichkeit zu bringen. Wenn ihr Niveau gelegentlich auf billigem Klatsch (social gossip) absinkt, so sind sie damit nur ein getreues Abbild vieler lokaler Blätter. Wie diese wollen auch sie durch die namentliche Erwähnung einer möglichst großen Anzahl ihrer Leser erreichen, daß diese sich als vollgültige Glieder der großen Gemeinschaft fühlen und so Zutrauen zu sich selbst gewinnen.

Es muß auch an dieser Stelle wieder besonders betont werden, daß die Erwachsenen, in diesem Falle in erster Linie die Herausgeber der örtlichen Zeitungen und ihre Mitarbeiter, den jungen Menschen hilfreich zur Hand gehen und ihnen oft sogar ihre technischen Einrichtungen zur Verfügung stellen. Die Lebensläufe mancher zu Ruhm und Ehre gelangter Journalisten und Schriftsteller beweisen, daß sie oft ihre Laufbahn als Mitarbeiter an einer Schul-oder College-Zeitung begonnen haben.

Eine ähnliche Aufgabe wie die Schulzeitungen erfüllen auch die Jahrbücher, die von fast allen Schulen für die abgehenden Schüler von diesen als Erinnerung an ihre Schulzeit in häufig sehr luxuriöser Form herausgegeben werden. Jeder Schüler ist einzeln und in Gruppen (Klubs, Sportmannschaften) abgebildet und ein meistens recht schmeichelhafter Text trägt dazu bei, sein Selbstbewußtsein zu heben.

Zum Schluß seien zwei Klubs erwähnt, die eine Sonderstellung einnehmen: Das Girls'Leader Corps und die National Ho -nor Society. Beides sind Eliteorganisationen. Das Ausleseprinzip der Leader Corps Girls ist „efficiency, initiative, loyalty and unselfishness" (Leistung, Entschlußkraft, Treue und Selbstlosigkeit). Diese Tugenden sollen die Mädchen in erster Linie auf sportlichem Gebiet bewiesen haben. Es wird von ihnen erwartet, daß sie sich als Vorturner, Schiedsrichter u. ä. mindestens 20 Stunden im Jahr freiwillig zur Verfügung stellen. Da die Zahl der Mitglieder beschränkt ist, müssen die Bewerber eine von den alten Mitgliedern entworfene sportliche Prüfung bestehen und ihre geistige Reife durch einen Aufsatz unter Beweis stellen. Der gute Einfluß dieser Gruppe auf die Schulmoral ist bereits an anderer Stelle geschildert worden.

Die höchste Ehre, die einem amerikanischen High School Absolventen zuteil werden kann, ist zum Mitglied der National Honor Society (NHS) gewählt zu werden. Sie ist eine der wenigen Organisationen, die gute schulische Leistungen zur Bedingung für alle Mitglieder macht. Außerdem muß sich der Schüler als Führer bewährt und Dienst an der Gemeinschaft geleistet haben. Im Gegensatz zu allen anderen Klubs nimmt an der Auswahl dieser Schüler (höchstens 15 Prozent der obersten Klasse) neben den Mitgliedern der NHS die ganze Lehrerschaft teil. Die Society verlangt vom Aufgenommenen „Standhaftigkeit und Ausdauer, Pflichtbewußtsein gegenüber der Schule und später gegenüber dem Leben. . . . Mitgliedschaft erzeugt den Wunsch, Größeres zu lei- Sten und Höheres zu erstreben. Sie bringt den einzelnen auch in engen Kontakt zu seinen Lehrern, die ihm vertrauen, und gibt ihm ferner ein echtes Verantwortungsbewußtsein“. (Wilmington High School Handbook, S. 77/78). Dieser Überblick über die Co-Curricular-Activities wird gezeigt haben, daß die amerikanische Schule fast jeder Neigung ihrer Schüler Rechnung trägt. Ein geschickter Direktor oder Lehrer kann die einzelnen Activities ohne Schwierigkeiten in den Dienst großer Schulvorhaben stellen. Die Zusammenarbeit einzelner Arbeitskreise untereinander, z. B. bei Theateraufführungen, bei denen Schauspieler oder Sänger, Elektriker und Kulissenmaler, Kartenverkäufer und Berichterstatter benötigt werden, ist erstaunlich gut. Ein erfolgreiches Unternehmen beweist den Schülern, wie wichtig gute Zusammenarbeit ist und wie jeder nach seinen Fähigkeiten für die Gemeinschaft von Wert ist. Da je Klub mindestens fünf Ämter zu vergeben sind, erhält eine sehr große Anzahl von Schülern die Gelegenheit, sich hervorzutun 1S). So sehen die Amerikaner in den Co-Curricular-Activities in erster Linie eine Möglichkeit, jeden einzelnen in die Lage zu versetzen, seinen Wert zu erkennen, einmal als Kamerad (social adjustment, co-opera-tion = Anpassung an die Gemeinschaft und Bereitschaft zur Zusammenarbeit)

und zweitens als officer = Amtsträger (Entwicklung der Persönlichkeit und der Verantwortungsbereitschaft), und sich in der Gemeinschaft zu bewähren. Nach Ansicht der Amerikaner kommen die Co-Curricular-Activities außerdem dem Bedürfnis der Jugend entgegen, „beachtet, für wichtig gehalten, gelobt zu werden und etwas zu erreichen“

In dieser Auseinandersetzung über die Reform in der amerikanischen Schule sind die Extra-oder Co-Curricular-Activities z. T. heftig angegriffen worden. Allerdings gehen die Kritiker nie so weit, sie ganz abschaffen zu wollen. Aber seitdem der russische Sputnik die Amerikaner überzeugt hat, daß ihre Jugend nicht genug lernt, haben weite Kreise eine Einschränkung der E. C. A. befürwortet. Eltern, Lehrer und Schüler sind je nach ihrer pädagogischen Herkunft in Befürworter und Gegner einer solchen Einschränkung getrennt. Die jetzige Einstellung wird am besten durch folgende Aussage eines amerikanischen Direktors charakterisiert: „Wegen der sozialen und wirtschaftliclten Herkunft und der geistigen Grenzen unserer Schüler betonen wir die staatsbürgerliche, charakterliche und berufliclte Erziehung in fast gleichem Maße.“

Zusammenfassung

Die staatsbürgerliche Erziehung nimmt in der gegenwärtigen Diskussion über das amerikanische Erziehungsproblem eine zentrale Stellung ein. Wie der Streit der Meinungen auch ausgehen mag, es läßt sich jetzt schon mit Sicherheit voraussagen, daß sie keine wesentliche Einschränkung erfahren wird. Es mag gewisse Akzentverschiebungen geben; man wird sich bemühen, das Bildungsniveau der gesamten Nation zu heben und vor allem die Begabten in größerem Maße zu fördern als das bisher der Fall war, aber das Endziel, der „gute Bürge r", wird gewahrt bleiben. Seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung sind die Ideale, die der Amerikaner mit der Vorstellung vom „good Citizen“ verbindet, zum Allgemeingut der gesamten Nation geworden. Sie machen den Kern des American Creed aus.

Dieser „gute Staatsbürger“ darf für sich ein großes Maß an Freiheit beanspruchen, aber schon der Kindergarten und die Schule achten darauf, daß diese Freiheit nicht in Zügellosigkeit ausartet. Früher, d. h. im 19. Jahrhundert, geschah dies durch die Autorität des Elternhauses und der Lehrer. Die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts erreicht diese Bindung, die „Liberty Linder The Law“ durch die Verpflichtung des einzelnen, sich der Gemeinschaft anzupassen, ihre Regeln und Gesetze zu beachten und mit ihr zusammenzuarbeiten. Whyte stellt als ein Charakteristikum seines Jahrhundert, geschah dies durch die Autorität des Elternhauses und der Lehrer. Die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts erreicht diese Bindung, die „Liberty Linder The Law“ durch die Verpflichtung des einzelnen, sich der Gemeinschaft anzupassen, ihre Regeln und Gesetze zu beachten und mit ihr zusammenzuarbeiten. Whyte stellt als ein Charakteristikum seines „Organization Man“ seine wachsende Neigung (preoccupation)

zur Gruppenarbeit heraus (S. 52) und Riesman spricht in diesem Zusammenhang von einem „socialized behavior"; seine „other-directed people" werden von ihren Zeitgenossen gelenkt. In der Schule sind es heute neben den Lehrern die Mitschüler (peer group), die jeden einzelnen in seinen Handlungen beeinflussen. „Die Rolle der Lehrerin in dieser Situation ist oft die des Meinungsführers. Sie ist es, welche die den Gesdtmack betreffenden Richtlinien, die aus den fortschrittlichen städtisclten Zentren kommen, verbreitet. Sie bringt den Kindern bei, daß das, worauf es ankommt, nicht ihr Fleiß und ihr Wissen als solches sind, sondern ihre Anpassung an die Gruppe, ihre Mitarbeit (co-operation), ihre Entschlußkraft und ihre Verantwortungsbereitschaft“

16). Die Lebensform der Schule, alle Projekte und „activities"

dienen dem einen großen Ziel, jedem Schüler die Anpassung an seine Gruppe zu erleichtern und ihn vor dem Alleinsein zu bewahren.

Sie sollen ihm darüber hinaus Gelegenheit geben, Initiative und Verantwortungsbereitschaft zu entwickeln. Gerade letzteres ist für die amerikanische Gesellschaft heute von entscheidender Bedeutung, da Umfragen bei den Jugendlichen ergeben haben, daß der Wunsch nach Sicherheit zu weit verbreitet ist. Auch für Amerika scheint die Zeit des Pioniergeistes und des rücksichtslosen Individualismus vorüber zu sein.

Eine Folge davon ist, daß sich die Energie des einzelnen nicht mehr so sehr im Selbstschöpferischen ausdrückt, sondern im Verbrauch der von einer Massenindustrie gelieferten Güter 17).

Die ständige Forderung „t o a d j u s t y o u r s e 1 f" (sich anzupassen) hat bereits zu einem gefährlichen Konformismus geführt. Immer schon haben die Amerikaner Spitzenleistungen mit großem Mißtrauen betrachtet und nur geringen Respekt vor dem Genie gezeigt. Heute sind Eltern und Lehrer an dem Adjustment ihrer Kinder interessiert und bemüht, „to cut everyone down to size who Stands up or Stands out in any direction“ (jeden zurechtzustutzen, der in irgendeiner Beziehung hervor-oder herausragt; Riesman, S. 93, s. a. S. 18). Aus Angst anders zu sein als seine Mitmenschen, beobachtet der jugendliche und erwachsene Amerikaner ständig seine Umwelt und paßt sich ihr an. Eine Gesellschaft, die ausgezogen war, um die Freiheit des einzelnen zu gewährleisten, könnte sie schließlich aufheben. Aber sie beginnt, sich dessen bewußt zu werden. Immer eindringlicher weisen die Pädagogen und Soziologen der Gegenwart darauf hin, daß die Überbetonung des Adjustment zu einem gefährlichen Opportunismus führt, in dem alle festen, beständigen Werte und die Innerlichkeit des Menschen verloren-gehen und die Mittelmäßigkeit Triumphe feiert. 19)

Aber es wird nicht leicht sein, dieses „socialized behavior“ und sein Anpassungsideal zu überwinden, da es eng mit dem aus der Zeit des Unabhängigkeitskrieges stammenden Grundsatz des American Creed, daß . alle Menschen gleich geschaffen sind', verknüpft ist. Die Bejahung dieses Gedankens hat die Vereinigten Staaten dazu gebracht, sich als klassenlose Gesellschaft zu verstehen. Aus diesem Grunde sind die amerikanischen Schulen Einheitsschulen: kein Amerikaner soll im späteren Leben dem Staat den Vorwurf machen können, ihm sei nicht die gleiche Chance gegeben worden wie jedem anderen Staatsbürger auch.

Deshalb galt bisher das „heterogeneous grouping“, die Zusammenfassung aller Begabtenstufen in den Klassen als das Ideal. Kein Schüler soll auf den Gedanken kommen, er sei etwas Besseres als sein Mitschüler.

Mit großer Unruhe betrachten darum auch die meisten Erzieher jede Cliquenbildung und versuchen sie schon im Keim zu ersticken.

Der Grundsatz „all men are created equal" wird allerdings nicht wörtlich genommen, sondern als „equality of opportunity“ interpretiert.

Deutlicher als zur Blütezeit der Progressive Education und zugleich ehrlicher betont man heute die beschränkte Wahrheit dieses Grund-satzes. „The idea that men are created free and eqnal is both trne and misleading: men are created different, they lose their social freedom and their individual autonomy in seeking to become like each other“ (Riesman, S. 349). Diese Wandlung der Auffassung muß notwendigerweise eine Neuorientierung der staatsbürgerlichen Erziehung zur Folge haben.

Sinn dieser staatsbürgerlichen Erziehung ist aber nicht nur die Entwicklung einer Wertwelt im Sinne des American Creed, sondern auch die Gesinnungsbildung durch Gewöhnung, das „learn to live“. Eng verbunden mit der Weltanschauung des American Creed ist der „A m e r icanWay Of Eis e". Getreu der Ansicht Deweys, daß die Schule nicht Vorbereitung für das Leben ist, sondern das Leben selbst, gibt die Schule ihren Schülern Gelegenheit, dieses Verhalten ständig zu üben und sich durch die dauernde Übung gewisse Gewohnheiten des Zusammenlebens anzueignen. Vom Kindergartenalter an werden dem amerikanischenjugendlichen ständig mehr Aufgaben überlassen. Der Lehrer handelt schließlich nur noch als Anreger und Vermittler innerhalb der Gruppe.

(Riesman, S. 91). Diese Methode hat das erfreuliche Ergebnis, daß die amerikanischen Jungen und Mädchen meistens eine viel größere Sicherheit und ein größeres Maß an Selbständigkeit zeigen, als ihre gleichaltrigen europäischen Kameraden; jedenfalls im eigenen Land. Es erscheint paradox, daß, wie schon de Tocqueville beobachtet hat, trotz dieser Tatsache der Amerikaner da, wo er im Ausland in ein echtes Gespräch kommt, mitunter seiner selbst und seiner Werte nicht sicher ist.

Flößen die vielen Activities dem amerikanischen Schüler auf der einen Seite Selbstvertrauen und Selbstbewußtsein ein, so erziehen sie auf der anderen Seite zu einer bedenklichen Oberflächlichkeit. Oft sind die Activities so banal, daß der erzieherische Gewinn in keinem Verhältnis zu dem Zeitaufwand steht. Prof. Barzun von der Columbia Llniversity prangert sie geradezu als Zeitverschwendung an. Eine Far Western Llniversity hatte Aprikosenpflücken zu einem Projekt seines Sozialkundestudiums gemacht. Hierüber urteilt Barzun: „Sie verschwenden Zeit, weil der Ertrag an Weisheit aus dem Aprikosenpflüd^en gering ist. Die Kenntnis von den wirklidren Verhältnissen in einer Konservenfabrik, die soziale Anpassung an ihre Arbeitskollegen und der schriftliche Beridtt über diese Erfahrungen liefern dem Geist nidit genug Grundsätze, die diese Bemühung rechtfertigen könnte" Allerdings weiß auch Barzun die Activities als „Ventil für den Herdentrieb, die politischen und gerne-groß (would-be adults) Instinkte der Jugend durchaus zu schätzen“.

Es läßt sich nicht leugnen, daß viele Projekte, so sehr sie auch den Eifer und die Begeisterung der Schüler anspornen, dies eben nur deshalb tun, weil es sich um Spielereien handelt. Die Schüler werden verwöhnt und lernen oft erst spät echte Arbeit kennen. Schwierigkeiten, an denen sie wachsen könnten, werden ihnen aus dem Wege geräumt. , The cushion has become the Symbol of education today. We so protect dtildren from every disagreeable experience that they no longer are able to take the , bumps of life. ‘ (Das Kissen ist zum Symbol der heutigen Erziehung geworden. Wir schützen unsere Kinder vor allen unangenehmen Erfahrungen in einer Weise, daß sie nicht mehr in der Lage sind, die Härten des Lebens zu ertragen) Eine besondere Spielart dieser Erziehungsmethode ist das ständige Loben der Schüler nach dem Motto , Be quick with praise and slow with criticism’ (Sei schnell mit dem Lob bei der Hand und zurückhaltend mit dem Tadel). In Amerika geschieht in dieser Richtung zweifellos des an sich Guten oft zuviel. Der Schüler weiß schließlich nicht mehr, was eigentlich eine wirkliche Leistung ist.

Amerikanische Lehrer und besonders Lehrerinnen werden diese Gewohnheit schwerlich aufgeben, da auch sie wiederum auf das engste mit den amerikanischen Lebensprinzipien verbunden ist. Der Optimismus ist ein Teil der amerikanischen Lebensauffassung.

Daß die . activities* in der staatsbürgerlichen Erziehung der Amerikaner so sehr im Vordergrund stehen, hat sich nicht nur aus Deweys Grundsatz des . learning by doing'ergeben, sondern ist wie dieser auch historisch bedingt. Für die Pilgrim Fathers und ihre Nachfahren galt das puritanische Axiom, daß Aktivismus die Pflicht eines jeden Gläubigen ist. In den Augen der Amerikaner ist auch heute noch der handelnde Mensch der Vollstrecker der Geschichte. Auch aus diesem Grunde hat geplantes Tun in Amerika einen hohen Grad von indiskutabler Selbstverständlichkeit erreicht.

Amerika ist von modernen Soziologen nicht nur als eine klassenlose Gesellschaft, sondern auch als eine Erwerbsgesellschaft angesprochen worden. Das Streben nach materiellem Erfolg wird als Zeichen der Tüchtigkeit gewertet. Die negativen Folgen liegen auf der Hand: eine Jugend, die vorwiegend im materiellen Erfolg das Ziel des Lebens sieht, muß notgedrungen in ihrem seelischen Leben verkümmern. Sie wird früh reif. Es geschieht ein Vorgriff auf Erlebnisse und Erfahrungen, die den Erwachsenen vorbehalten bleiben sollten. Die Veräußerlichung des Lebens, das zu große Gewicht, das auf die sozialen Verpflichtungen gelegt wird, führt zu einer Vernachlässigung der inneren Entwicklung des einzelnen Menschen.

Welche Schwächen auch immer das amerikanische System der staatsbürgerlichen Erziehung aufweisen mag, es ist auf jeden Fall ein eindrucksvolles Experiment. Seine Stärke liegt zweifellos in der engen Verknüpfung seiner geistigen Zielsetzung mit der Wertwelt des . American Creed'und des . American Way of Life*. Sein sichtbarster Erfolg ist das hohe Maß an Initiative und Verantwortungsbewußtsein der Mehrzahl der amerikanischen Bürger. Daß nur wenig mehr als 60 Prozent der amerikanischen Bevölkerung an den Wahlen teilnehmen, darf uns nicht täuschen: das wahre Feld dieses Verantwortungsbewußtseins und der partnerschaftlichen Tugenden ist der Alltag.

Der Amerikaner erwirbt diese Gesinnung als junger Mensch durch Gewöhnung in der Schule und überträgt sie auf sein späteres Leben. In den zahllosen .service clubs’ (Rotary, Lions, Kiwanis, Exchange etc.) herrscht der gleiche Geist. Ihnen sich anzuschließen und auf diese Weise seine Kraft in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen, gehört zu den selbstverständlichen Pflichten eines jeden erwachsenen Amerikaners.

Wir haben kein , American Creed'und unser , Way of Life* ist ein anderer als der der Amerikaner. Aber die Notwendigkeit staatsbürgerlicher Erziehung besteht auch bei uns. Wir können das »American Creed'nidit einfach übernehmen, da sich unsere Wertwelt trotz vieler Gemeinsamkeiten doch von der amerikanischen nicht unbeträchtlich unterscheidet. Ebenso beruht unsere Lebensart auf anderen Erfahrungen. Und doch sollten wir die Methoden der staatsbürgerlichen Erziehung der Amerikaner genauestens studieren und uns nicht scheuen, das, was sich bei ihnen bewährt hat, unter steter Wahrung unserer eigenen Art und unseres Bildungsniveaus zu übernehmen. Wir sollten darum die gegenwärtige Diskussion über die Reform des amerikanischen Schulwesens aufmerksam verfolgen, denn, wenn die augenblickliche Phase der Kritik vorüber ist, wird vermutlich nur das wahrhaft Wertvolle übriggeblieben sein.

Weitere Literatur:

Adler, M. J. & Mayer, Milton: The Revolution in Education. Univ.

Chicago Press 1958.

Brameld, Theodore: Ends and Means in Education. Midcentury Appraisal. New York 1950.

Brubacher, J. S. & Rudy, W.: Higher Education in Transition. An American History 1636— 1956. NY 1956.

B r u b a c h e r , J. S.: History of the Problems of Education. NY 1947.

Conant, J. B.: Education in a Divided World. HUP 1948.

General Education in a Free Society (Harvard Report) ed. Conant, J. B. HUP 1945.

Geiger, G. R.: John Dewey in Perspective. NY 1958.

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Hutchins, H. M.: The Higher Learning in America. New Haven 1948.

Kilpatrick, W. H.: Philosophy of Education. NY 1951.

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Witty, Paul: The Gifted Child. Boston 1951.

Weniger, Erich: Politische und mitbürgerliche Erziehung. Die Sammlung Juni 1952.

Wilhelm, Theodor: Eine Lanze für die Partnerschaft. Die Sammlung, Mai 1954.

Litt, Theodor: Die politische Selbsterziehung des deutschen Volkes. Schriftenreihe der Bundeszentrale für Heimatdienst. Heft 1.

Anmerkung:

Erwin Helms, Dr. phil. Oberstudienrat in Göttingen; Dozent für Amerikakunde an der Universität Göttingen. 1934/35 Austauschstudent an der University Manchester/England. 1952/53 Austauschlehrer in den USA an der Wilmington High School, Wilmington, Delaware.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Nicht immer war es leicht, sich mit solcher Kritik hervorzuwagen. So wurde ein Lehrer, der sich 1953 gegen die Überbetonung des Sports an seiner Schule wandte, von der zornigen Elternschaft und dem Local School Board gezwungen, von seinem Posten zurückzutreten. So sehr entsprachen damals noch die Ideale der Progressiven den Ansichten des Durchschnitts-amerikaners.

  2. Vivian T. Thayer: The Passing of the Recitation, Boston 1928, Chapt. 16.

  3. Dewey-Kilpatrick: Der Projekt-Plan. Pädagogik des Auslandes. Herausg. Dr. P. Petersen, Weimar 1935.

  4. Ibid. S. 74.

  5. Auch manche amerikanische Kreise stehen diesem Treuegelöbnis kritisch gegenüber. Die Zeugen Jehovas konnten in einem vielbeachteten Rechtsstreit vom Obersten Gerichtshof die Entscheidung erreichen, daß ihre Kinder sich davon ausschließen dürfen.

  6. Riesman, a. a. D. S. 84.

  7. Ibid. S. 83.

  8. Im Jahrbuch der National Association of Student Councils 1958 heißt es auf S. 56: „Der Schülerrat nimmt an der Verwaltung der Schule teil. Er ist keine Regierung als solche".

  9. Daß nach gleichen Grundsätzen auch an vielen anderen Schulen gehandelt wird, beweist ein Vorfall, den der Sekretär der National Association of Student Councils in der Zeitschrift Clearing House ‘A Journal for Modern Junior and Senior High School Faculties, Vol. 23, No. 7, März 1949, S. 399 ff. schildert.

  10. Seattle Times, Oct. 21, 1956.

  11. Jahrbuch der N. A. St. C. 1958, S. 55.

  12. NEA Journal, Oct. 1953.

  13. Student Council Yearbook 1958, ed. Nat. Assoc. of Student Councils, Wash. D. C. 1958, S. 134 ff.

  14. sogenannt nach seinem Verpflichtungsgelöbnis: I pledge:

  15. Nach einer Veröffentlichung des US Office of Education haben sich von 1930— 1950 fast vier Millionen High School Schüler in 190 000 ECA Gruppen betätigt. The Clearing House, Vol. 29, No. 5, Jan. 1955

  16. Ausführlicher sind die Ideale der Personal Adjustment dargestellt in MacKinney: Psychology of Personal Adjustment. London 1949.

  17. Barzun, ibid., S. 98.

  18. Ibid., S. 205.

  19. Dr. L. Templin in einer Rede in Cincinnati, 3. 3. 1953. Zit. R. Bring-mann, Bildung und Erziehung, Dez. 1954, S. 724.

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