Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Realitäten des britischen Wahlrechts | APuZ 1/1960 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 1/1960 Realitäten des britischen Wahlrechts

Realitäten des britischen Wahlrechts

THOMAS OPPERMANN

Teilweiser Vorabdruck aus einer demnächst erscheinenden Abhandlung „Britisches UnterhausWahlrecht und Zweiparteiensystem“.

I. Zur soziologischen Zusammensetzung des modernen englischen Unterhauses

INHALT II. Kandidaten, Abgeordnete und ihre Wahlkreise Das sogenannte englische „Persönlichkeitswahlrecht“

Kandidatenaufstellung in der konservativen Partei Die Labour-Kandidaten Vorherrschaft der zwei Großparteien bei der Kandidatenauswahl Die Wahlfinanzen der Konservativen Die Wahlfinanzen der Labour-Partei Die Finanzierungslage bei den kleinen Parteien Persönliche Beziehungen zwischen Abgeordneten und Bevölkerung Sprechstunde, Postverkehr, Verpflichtungen III. Das Verhalten der Wählerschaft (Voting B

Es liegt in der Struktur des Wahlrechts begründet, daß Wert und Unwert seiner verschiedenen Systeme (Mehrlieitsoder Verhältniswahl insbesondere) sich bis zu einem gewissen Grade an konkreten Ergebnissen beurteilen lassen, die eine Frucht der jeweiligen rechtlichen Regelung darstellen. Dies gilt insbesondere für die Rückwirkungen der verschiedenen Wahlsysteme auf die Parteienstruktur in den Parlamenten. Hier handelt es sich um die Frage, deren Beantwortung vom Standpunkt einer Bemühung um die Konsolidierung des modern-demokratischen Verfassungsstaates vielleicht den entscheidenden Beurteilungsmaßstab über eine bestimmte Wahlform abgibt. Man kann die Frage aber zunächst auch anders stellen und untersuchen, inwieweit eine Wahlordnung Einflüsse auf die individuell-personelle Zusammensetzung des nach ihr gewählten Parlamentes ausübt, ob unter ihr bestimmte Berufsgruppen besonders günstige Chancen auf Parlamentssitze haben, ob gewisse soziale Schichten in den Vordergrund treten u. ä. Die Antworten hierauf sind nicht unwichtig, da infolge des Anwachsens der legislativen Aufgaben moderner Parlamente in den letzten Jahrzehnten das Bedürfnis eher zugenommen hat, möglichst zahlreiche Abgeordnete in den Volksversammlungen zu besitzen, die für diese Aufgaben in der einen oder anderen Weise qualifiziert sind

Berufliche Herkunft der Unterhausabgeordneten

Berufe Barrister 7)

Solicitor )

Arzt, Zahnarzt Architekt Revisor Ingenieur Verwaltungsbeamte (auch Kolonien und Commonwealth), Kommunalbeamte Bewaffnete Streitkräfte Lehrberufe:

Universität Erwachsenenbildung Schule Religionsdiener Zusammen „Professions *) Kons. Abg. 66 11 2 3 11 3 12 47 2 — 2 — 159 Labour Abg. 27 9 8 — 2 — 9 3 10 4 25 3 100

In Großbritannien ist die Zusammensetzung des Unterhauses unter diesen soziologischen Aspekten mehrfach untersucht worden, und insbesondere die britische parlamentarische Geschichte seit 1918 hat sich besonderer Aufmerksamkeit in dieser Richtung erfreut. Vor allem J. F. S. Ross hat in verschiedenen Studien die Herkunft der Parlamentsmitglieder bis ins äußerste Detail vom Standpunkt eines der Einführung der Verhältniswahl zugeneigten englischen Liberalen untersucht Weiterhin bieten etwa die Nuffield-Surveys über die Wahlen seit 1945 ausgedehntes Material in dieser Hinsicht, und wenn man noch die traditionellen Handbücher wie Whitaker's und die verschiedenen Times House of Commons hinzunimmt, bleiben über Werdegang und Leben jemandes, der einmal einen Parlamentssitz errungen hat, wenige die Allgemeinheit interessierende Fragen unbeantwortet.

Nach der oben umrissenen Fragestellung interessiert unter den verschiedenen möglichen Analysen der Zusammensetzung des modernen britischen Unterhauses hier vor allem diejenige seiner beruflichen Zusammensetzung. Sie gewährt einen ausgezeichneten Einblick in die Art der personellen Zusammensetzung des Britischen Unterhauses und zugleich in die soziologische Verschiedenheit der beiden großen Parteien des Hauses. Für das 19 5 gewählte Unterhaus ergibt sich nachstehendes Bild 5)

Vorherrschaft der „Professions”, Geschäftswelt und Gewerkschaften

Berufe Kleinere Geschäftsleute Direktoren von Gesellschaften Andere leitende Angestellte von Gesellschaften (Manager) Kaufleute, bes. Versicherungswesen, Banken: Leitendes Personal Angestellte Zusammen Geschäftswelt Kons. Abg. — 62 16 16 7 101 Labour Abg. 9 2 3 6 14 34

Die Tabellen werfen ein deutliches Licht auf die Verschiedenartigkeit des sozialen Hintergrundes beider Parteien, wie sie für die Nachkriegs-Parlamente typisch ist. Die konservativen Abgeordneten haben zum guten Teil althergebrachte und einflußreiche Berufsstellungen inne: Barristers, pensionierte Offiziere, Direktoren größerer Gesellschaften und Landbesitzer, d. h. durchweg Personen in weitgehend unabhängiger finanzieller Stellung; Angehörige der oberen Schichten machen nahezu zwei Drittel der konservativen Parlamentarier im Hause von 1955 aus. Hinzu treten einzelne Parlamentarier aus den verschiedenen anderen Professions; eine nicht unbeträchtliche Anzahl aus mittleren Stellungen in Handel und Gewerbe sowie aus dem Journalismus und politischen Stellungen innerhalb der Partei. Dagegen ist die Arbeiterschaft in der parlamentarischen konservativen Partei seit jeher beinahe unvertreten gewesen; der eine Abgeordnete im Parlament von 1955 kann den berühmten „Tory working man“, den Disraeli bereits nach der zweiten Reformbill 1867 entdeckte, nur symbolisch repräsentieren.

Andererseits liegt das Schwergewicht auf der Seite der Labour-Partei ebenfalls deutlich bei einer bestimmten Berufsgruppe. Ein gutes Drittel wird hier von der Gruppe der von den Gewerkschaften befürworteten Arbeiterkandidaten (meist zugleich Gewerkschaftsfunktionäre) gestellt. Interessant zu beobachten ist in der parlamentarischen Labour-Partei außerdem der verhältnismäßig starke Anteil der „hommes de lettre“ aus Lehrberufen und Journalismus, eine für Linksparteien oftmals charakteristische Erscheinung. Weiter bilden die juristischen Berufe, darunter wiederum die sozial besonders geachteten Barristers an erster Stelle eine ausgeprägte Fraktion innerhalb der parlamentarischen Arbeiterpartei

Diese für die Zusammensetzung des modernen britischen Unterhauses charakteristische Konzentration auf bestimmte Berufe, hat in wechselnder Form seit langem bestanden. Schließlich war das House of Commons ursprünglich als die Vertretung eines bestimmten Standes, des niederen Landadels, geschaffen worden. In späteren Zeiten, besonders nach den Bürgerkriegen des 17. Jahrhunderts bis eigentlich zur zweiten Reform 1867, wurde das Unterhaus weitgehend von der land-besitzenden Gentry beherrscht, die sich gleichermaßen in den Rängen der Whigs und Tories wiederfand. Walter Bagehot hat den homogenen Charakter der Parlamente in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus zeitgenössischer Erfahrung beschrieben, „. . . they were educated at the sawe sdtools, know one another's fawily nawe frow boyhood, form a Society, are tbe same kind of men, marry the same kind of women“ Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das weitgehende Monopol der landbesitzenden Aristokratie auf die Besetzung der Unterhaussitze gebrochen, indem durch die verschiedenen Reformen die Anzahl der städtischen Sitze vermehrt und diese in vielen Fällen Angehörige der aufstrebenden Handelsschichten einnahmen. Insbesondere die Verwandlung der früheren „Whigs“ in die Liberale Partei, um die Mitte des 19. Jahrhunderts, bezeichnet im Grunde den soziologischen Übergang von einer aristokratisch-landbesitzenden Partei in eine, in der neben der Gentry das merkantile Element seine Rolle zu spielen begann. Auch in der konservativen Partei finden sich seit den siebziger und achtziger Jahren mehr Geschäftsleute. Andererseits erfuhr die landbesitzende Schicht bei den Konservativen in den achtziger Jahren noch einmal eine Stärkung, als das Gros der echten „Whigs“ angesichts Gladstones irischer Politik 1886 zu den „Tories“ überging. Die Vertretung der Gentry ist seither ein Vorrecht der Konservativen geblieben.

Mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts veränderte sich, hauptsächlich durch das Auftreten der Labour-Partei, der soziologische Hintergrund des britischen Unterhauses. Die konservative Partei wies zwar im wesentlichen bereits die Struktur auf, welche sie sich bis heute bewahrt hat, unter allmählicher Abschwächung des Einflusses der Landbesitzer zugunsten der industriellen Kreise und der Professions. Unter den Liberalen gewannen gleichfalls die professionellen Berufe eine steigende Bedeutung, ihre beiden letzten Premiers, Asquith und Lloyd George, waren Barrister, beziehungsweise Solicitor. Vor allem aber fand die Arbeiterklasse in der bizarren Gestalt des schottischen Bergmannes Keir Hardie 1892 zum ersten Male eine Vertretung in den ehrwürdigen Räumen des Unterhauses und seit den Wahlen 1906 waren die Arbeiter mit zunächst etwa 30 Sitzen ein ernstzunehmender Faktor geworden. Nachdem Labour dann später in den zwanziger Jahren die Liberalen aus ihrer Rolle als Gegenspielerin der Konservativen im britischen Zweiparteiensystem verdrängt hatte, fand sich in ihren Reihen ein Teil des früher liberalen Mittelstandes wieder ein. Diese Tendenz hat sich bis heute eher verstärkt, wie aus der angeführten Tabelle ablesbar ist.

Wert und Unwert des Hervortretens bestimmter Berufe

Berufe Verschiedene Bürotätigkeiten Privatleute Berufspolitiker, Parteifunktionäre Journalisten, Verleger Farmer 8)

Hausfrauen Zusammen Verschiedene Berufe Kons. Abg. 4 11 17 19 31 1 83 Labour Abg. 5 — 7 27 5 2 46

Die Präponderanz bestimmter Berufsklassen im Unterhaus — Land-besitz, große Geschäftsleute, Professions bei den Konservativen, Gewerkschaftsfunktionäre, darunter besonders Bergleute und in geringerem Maße die Professions in der Labour-Partei — ist bisweilen kritisiert worden. J. F. S. Ross insbesondere hat errechnet daß seit dem Ersten Weltkrieg zwei Drittel aller Unterhausabgeordneten aus den Professions (besonders Juristen, Ärzte, Lehrberufe, Journalisten, technische Berufe) Handel, Finanz und öffentlichem Dienst jeglicher Art (Verwaltung, Streitkräfte) hervorgingen, das heißt aus Berufsgruppen, die lediglich 3 Prozent der Bevölkerung umfassen. Das restliche Drittel der Abgeordneten entstammte der Landwirtschaft und der Arbeiterschaft der verschiedenen Industrie-und Handelszweige, denen ihrerseits 86, 7 Prozent der Nation zugehören. Es erscheint aber durchaus fragwürdig, ob man in einer solchen Verteilung der Mitgliedschaft im Unterhaus, wie J. F. S. Ross es empfindet, einen Verstoß gegen den Grundsatz demokratischer Repräsentation des Volkes erblicken muß; ganz abgesehen von der weiteren Frage, ob diese Art der soziologischen Zusammensetzung des Hauses, eine notwendige Folge des Wahlsystems ist, wie es von Ross angenommen wird 13).

Die geschichtliche Erfahrung in den Parlamenten verschiedener Nationen zeigt, daß es bestimmte Berufe gibt, die sich kraft ihrer Eigenart besonders gut mit einer parlamentarischen Laufbahn verbinden lassen. Rechtsanwälte, Journalisten, die Lehrberufe, um nur einige Beispiele zu nennen, haben in Deutschland und Frankreich seit dem 19. Jahrhundert eine große Anzahl von Parlamentariern gestellt. Derartige Beobachtungen brauchen nicht im Sinne einer Verteidigung von Partikularinteressen gedeutet zu werden, wenn auch etwa die starke Vertretung von Geschäftsleuten und Landbesitz im Unterhaus sicherlich nicht ohne Einfluß auf die Geschicke dieser Berufsstände geblieben ist. Gruppen wie die des Anwaltstandes oder von Personen mit Verwaltungserfahrung sind zu besonders effektiver Mitwirkung bei der legislativen Arbeit befähigt, da ihre normale Berufstätigkeit in vielfacher Wechselbeziehung zur Gesetzgebung steht. Ähnliches kann für die Angehörigen der Presse und für die Lehrberufe gesagt werden. Auch hier handelt es sich um Berufe, die stärker als andere mit der Betrachtung der ver-schiedenen Bereiche des öffentlichen Lebens beschäftigt sind oder aktiv an ihm teilnehmen, so daß eine gesteigerte Mitarbeit aus ihren Reihen im Parlament für wünschenswert gehalten werden kann.

Ebenso kann man die ausgeprägte Vertretung der Geschäftswelt und der Gewerkschaften, in geringerem Maße heute des Landbesitzes im Unterhaus für gerechtfertigt und vielleicht sogar glücklich halten. In einer Zeit, in der sich auch in Großbritannien die innerpolitisch wichtigsten Auseinandersetzungen auf der industriellen Ebene zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer abspielen, ist es keine unangebrachte Lösung, wenn diese Berufsgruppen eine starke Vertretung im Parlament haben. Dies sichert ihnen eigene sachverständige Mitwirkung bei vieler sie betreffender Gesetzgebung und bedeutet zugleich vom Standpunkt des Staates eine Verbindung dieser machtvollen Interessengruppen mit dem Parlament. Ob die englische Lösung der teilweisen direkten Einbeziehung der modernen „Feudalitäten" in das Parlament in allen Einzelheiten als wünschenswert angesehen werden kann, bleibt natürlich eine offene Frage, deren eingehendere Beantwortung nicht in den Bereich dieser Studie fällt Eine berufsmäßige Zusammensetzung wie die des modernen britischen Unterhauses mit Schwerpunkten in bestimmten Berufen, die in hervorragendem Maße mit öffentlichen Angelegenheiten befaßt sind oder aus allgemeinen in der Zeitsituation liegenden Gründen besondere Machtstellungen einnehmen, braucht dem demokratischen Prinzip grundsätzlich jedenfalls nicht zu widersprechen. Vorstellungen von einer zahlenmäßig möglichst genauen Entsprechung der berufsmäßigen Gliederung der Gesamtbevölkerung mit derjenigen der Abgeordneten im Parlament, wie sie etwa den Untersuchungen von J. F. S. Ross zugrunde liegen, können nicht als axiomatische Voraussetzungen demokratischer Repräsentation angesehen werden

Hat das Wahlsystem Einfluß auf die berufliche Zusammensetzung des Unterhauses?

Berufe Eisenbahnangestellte Bergleute Gelernte Arbeiter und Handwerker Teilweise angelernte und ungelernte Arbeiter Zusammen Gesamtzahl Arbeiter Kons. Abg. — — 1 — 1 344 10 33 29 25 97 Labour Abg. 277 9)

Es ist nicht einfach abzuschätzen, in welchem Maße das System des Unterhauswahlrechtes als solches Einfluß auf die soziologische Zusammensetzung des Hauses genommen hat, von der ein bedeutsamer Ausschnitt im vorangehenden dargestellt wurde. Die Beantwortung dieser Frage hängt weitgehend mit der Art und Weise der Kandidatenaufstellung im englischen relativen Mehrheitswahlrecht zusammen, wie sie im folgenden Abschnitt behandelt wird. Es läßt sich jedoch allgemein sagen, daß bei der Frage, wie zukünftige Abgeordnete in den einzelnen Parteien ausgewählt werden, unter jedem Wahlsystem eine Fülle sozialer Werturteile mitspielen werden, ebenso gewisse politische Traditionen, so daß es schwerlich verläßliche Aussagen z. B. darüber geben kann, inwieweit sich die soziologische Zusammensetzung des britischen Unterhauses bei der geplanten Einführung eines Verhältniswahlsystems nach 1918 von derjenigen unterschieden hätte, wie sie sich unter dem relativen Mehrheitswahlsystem tatsächlich entwickelte. Mit einiger Sicherheit kann man nur aussagen, daß diese oder jene Eigentümlichkeit in des Unterhauses sich unter bestimmten Formen des der Gliederung Wahlsystems entwickelt hat, ohne daß man deshalb notwendigerweise jeweils den Umkehrschluß ziehen und folgern dürfte, daß ohne diese Wahlform jener Typ des Abgeordneten nicht in den Vordergrund getreten wäre.

Ein gutes Beispiel hierfür bietet der massive Block der von den Gewerkschaften unterstützten Abgeordneten der Labour-Partei, eine nach Alter und Beruf deutlich unterscheidbare Gruppe im Unterhaus. Das System der einfachen Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen bietet den Gewerkschaften günstige Aussichten, eine nicht unbeträchtliche Anzahl dieser Kandidaten in praktisch jeder Wahl ins Parlament zu bringen. In stark industrialisierten Gegenden wie Teilen der Midlands, Schottlands, den Bergwerksdistrikten von Südwales oder in Ostlondon gibt es eine Reihe von Wahlkreisen, in denen der Anteil der Arbeiterbevölkerung so stark ist, daß Labour hier einer Mehrheit selbst unter ungünstigeren Umständen, wie etwa bei der Wahl 1931, sicher ist Da in diesen Gegenden der Einfluß der Gewerkschaften in den örtlichen Komitees der Arbeiterpartei für die Auswahl der Parlamentskandidaten zumeist entscheidend ist können die Gewerkschaften unter allen Umständen mit einer bestimmten Anzahl ihnen genehmer Abgeordneter im Parlament rechnen. Wenn somit die Bildung dieser machtvollen gewerkschaftsunterstützten Gruppe innerhalb Labours sich unter dem bestehenden Wahlsystem in günstiger Weise vollziehen kann, ist damit jedoch keineswegs ausgeschlossen, daß eine ähnliche Entwicklung nicht auch unter einem anderen Wahlsystem hätte stattfinden können. Da die Gewerkschaften die wichtigsten Mitgliedschaftskörper der Arbeiterpartei sind, ist ihr Einfluß auf die Leitung der Partei in jedem Falle sehr groß, und sie könnten aller Wahrscheinlichkeit nach, etwa unter einem System der Listenwahl, über ihre Zentrale eine größere Anzahl von Kandidaten an „sicheren" Stellen auf der Liste plazieren lassen, genau wie sie über die örtlichen Auswahlkomitees die Kandidaten unter der gegegenwärtigen Wahlform auf „sicheren“ Sitzen in Einerwahlkreisen aufzustellen vermögen.

J. F. S. Ross führt die große Anzahl von Abgeordneten innerhalb der konservativen Partei, die sich in finanziell unabhängigen Stellungen befinden — die große Anzahl der Gesellschaftsdirektoren, Angehörigen der Professions — auf den „Kauf“ von sicheren Sitzen zurück, der sich unter dem System der einfachen Mehrheitswahl besonders leicht. einbürgere Die lokalen Auswahlkomitees der konservativen Partei sähen in erster Linie nicht auf die Persönlichkeit des Kandidaten oder seine spezifischen politischen Ansichten, sondern darauf, inwieweit er bereit und imstande sei, zu den Wahlkosten beizutragen und gegebenenfalls auch zwischen den Wahlen seinen Wahlkreis zu „unterhalten“. Auf diese Weise gelangten bevorzugt Leute in bestimmten sozialen Positionen auf die sicheren Sitze der konservativen Partei. Die Tatsachen, auf welche sich diese Kritik stützt, können insbesondere für die Parlamente vor 1945 nicht bestritten werden, wenngleich die Konser-vativen nach ihrer großen Niederlage 1945 weiteren Kreisen Zugang auf ihre Abgeordnetensitze eröffnet haben als vorher, wie auch aus den oben angeführten Zahlen über die berufsmäßige Zusammensetzung des Hauses von 195 5 ersichtlich ist Es erscheint aber auch hier unangebracht, den Einfluß eines bestimmten Wahlsystems in dieser Hinsicht zu sehr zu betonen. Es ist schwer einzusehen, weshalb der Einfluß finanzstarker Personen oder solcher mit einem besonderen sozialen Prestige, wie ihn Angehörige der englischen Aristokratie noch weiterhin genießen sich nicht auch unter anderen Wahlformen in ähnlichem Maße hätte fühlbar machen können, wenn auch auf leicht verändertem Wege innerhalb der Partei-und Wahlorganisationen. Dies mag von einem dogmatischen Standpunkt aus bedauerlich erscheinen, kann aber für jeden, der den modernen demokratischen Verfassungsstaat — von dem auch das heutige Großbritannien unter der Hülle seiner traditionellen Formen ein Beispiel abgibt — unter anderem als eine Form der Verständigung zwischen den verschiedenen Bevölkerungsklassen und Machtgruppen begreift, nichts Erstaunliches an sich haben. Es wäre vielmehr umgekehrt merkwürdig und unter Umständen sogar gefährlich, wenn neben den traditionellen staatserhaltenden Schichten der Professions, die beiden größten und die Geschicke Großbritanniens in entscheidendem Maße mitbestimmenden organisierten Interessen der Industrie-und Geschäftswelt sowie der Arbeiterschaft, nicht ein hervorragendes Mitspracherecht im britischen Parlament besäßen. Man kann das System des relativen Mehrheitswahlrechts als einen nicht unwichtigen Stabilisierungsfaktor im Verhältnis der Exekutive zur Legislative in der parlamentarischen Demokratie ansehen und hierbei in der Ausgestaltung mancher verfassungsrechtlicher Institutionen Einflüsse der besonderen Eigenart des Wahlsystems entdecken. Daß dagegen diese Form des Unterhauswahlrechts einen entscheidenden Anteil an der soziologischen Zusammensetzung des Unterhauses in den letzten Jahrzehnten gehabt hat, dürfte unwahrscheinlich sein. Diese erscheint vielmehr, wenn nicht als ein „miroir de la nation“ in dem berühmten Ausdruck Paradois, so doch als ein recht getreuer Ausdruck der politisch besonders aktiven Kreise des Landes, die, unter welchem wahlrechtlichen System auch immer, sich um eine machtvolle Vertretung im britischen Parlament bemüht haben würden.

II. Kandidaten, Abgeordnete und ihre Wahlkreise

Zusammen Konservative Kandidaten Labour Kandidaten ILP 36) Kandidaten CW 37) Kandidaten Liberale Kandidaten Nationalliberale u. ä. Kandidaten Kommunisten Andere (Unabh. und Natio-

nalisten aus Wales und Schottland) Gesamtzahl der Wahlkreise 1945 573 605 5 23 306 51 21 99 1. 683 640 1950 568 617 5 — 475 53 100 50 1. 868 625 i(1951 617 617 3 — 109 Kons.)

10 20 1. 376 625 1955 624 620 5 — 110 (=Kons.)

17 36 1. 412 630

Das sogenannte englische „Persönlichkeitswahlrecht”

Klassenmäßige Aufgliederung Allgemeine Wahl 1945 Gesamte Nation Mittelstand Arbeiterklasse Allgemeine Wahl 1950 Gesamte Nation Mittelsand Arbeiterklasse Allgemeine Wahl 1951 Gesamte Nation Mittelstand Arbeiterklasse Kons. 9, 6 4, 8 4, 4 12, 2 5, 8 5, 8 13, 5 6, 5 6, 2 Labour 11, 9 2, 2 9, 2 13, 2 1, 9 10, 6 13, 9 1, 9 11, 3 Andere (auch Enthaltungen) 12, 1 3, 3 8, 1 8, 6 2, 7 5, 5 6, 8 2, 1 4, 5 Zusammen 33, 6 10, 3 21, 7 34, 0 10, 4 21, 9 34, 2 10, 5 22, 0 (Jeweils in Millionen Stimmen)

Dem System der relativen Mehrheitswahl, wie es in Großbritannien eine vollausgebildete Form gefunden hat, sind oftmals die Vorzüge eines sogenannten „Persönlichkeitswahlrechts“ zugeschrieben worden. Mit diesem Begriff, der etwa auch in der deutschen Wahlrechtsdiskussion nach dem Zweiten Weltkrieg einen festen Platz im Wortschatz der Anhänger von Mehrheitswahlformen gefunden hat werden im wesentlichen zwei voneinander zu unterscheidende Eigenschaften schlagwortartig zusammengefaßt, die für die Mehrheitswahl, in besonderem Maße für die einfache, charakteristisch sein sollen. Einmal bietet sich im Gegensatz zu Systemen listengebundener Verhältniswahl, unter denen von den Parteizentralen linientreue, wenn auch sonst nicht stets hervorragende Anhänger und Funktionäre vorzugsweise aufgestellt und in Abgeordnetensitze gleichsam eingewiesen würden, bei der relativen Mehrheitswahl unabhängigen Persönlichkeiten die Chance, entweder über ihren Einfluß auf örtliche Parteiorganisationen aufgestellt zu werden oder überhaupt als unabhängige Kandidaten aufzutreten. In beiden Fällen könnten sie, kraft des Eindruckes ihrer individuellen Begabung, innerhalb eines lokalen Bereiches die Mehrheit bei der Wahl erringen. Auf diese Weise werde die Macht zentraler Parteiorganisationen wohltätig aufgelockert und das Parlament um eine Reihe wertvoller, durch ihre mehr oder weniger starke Unabhängigkeit gegenüber den „Parteimaschinen" selbständig denkender und handelnder Abgeordneter bereichert. Es ist offensichtlich, daß in diesen Vorstellungen gewisse aristokratische Züge einer Repräsentationsidee des 19. Jahrhunderts mitschwingen, Gedanken an den unabhängigen, nicht an Weisungen gebundenen, sondern nur seinem Gewissen unterworfenen Abgeordneten, an die „Besten der Nation“

Der zweite Gedanke betrifft das Verhältnis des einmal gewählten Abgeordneten zu seinen Wählern. Hier würden die verhältnismäßig kleinen Wahlkreise, beim relativen Mehrheitswahlrecht, gute Möglichkeiten für den Abgeordneten bieten, sich um besondere Wünsche seiner Wähler zu kümmern, in einem durch das Gefühl örtlicher Verbundenheit wachgerufenen Vertrauensverhältnis zu ihnen zu stehen. Während bei Listenwahlsystemen der Wähler meist nur die Partei kenne und danach abstimme, entscheide er bei der Mehrheitswahl zwischen verschiedenen Personen und gewinne dabei, wenn auch meist in recht sublimierter Form das Gefühl, einen eigenen Abgeordneten zu haben, an den er sich gelegentlich mit einer persönlichen Frage wenden könnte. Die Mehrheitswahl fördere somit Tendenzen, die der unerwünschten Vermassung und Anonymisierung der modernen Wahlen und der durch sie zusammengerufenen Volksvertretungen entgegenwirken.

Inwieweit ein Wahlsystem wie das englische tatsächlich persönlichkeitsfördernd im erstgenannten Sinne sein kann, hängt von der Ausgestaltung der Kandidatenauswahl und dem Verhalten der Wählerschaft (Voting Behaviour) gegenüber den ihnen präsentierten Kandidaten ab. Dabei ist es im letzteren Falle von besonderer Wichtigkeit zu wissen, ob die Mehrzahl der heutigen Wähler ihre Entscheidung überhaupt auf Grund einer auch nur ungefähren Kenntnis der Persönlichkeiten der einzelnen Kandidaten in den Wahlkreisen trifft oder als Folge einer mehr oder weniger gefühlsmäßigen Zuneigung zu einer der großen parteimäßigen Gruppierungen, wobei der Wähler geneigt ist, selbst einen wenig versprechenden Kandidaten der illustren politischen Persönlichkeit der Gegenseite vorzuziehen, sofern der erstere nur seinen weltanschaulichen Überzeugungen oder instinktivem klassenmäßigen Zusammengehörigkeitsgefühl besser entspricht.

Die modernen englischen Unterhauswahlen mögen als Personen-wahlen bezeichnet werden. Persönlichkeitswahlen in dem besonderen oben umschriebenen Sinne sind sie heute nur in sehr beschränktem Maße. Personenwahlen darf man sie nennen, weil der Wähler beim eigentlichen Abstimmen sich letztlich nicht zwischen Parteilisten, sondern zwischen zwei oder mehr Kandidaten zu entscheiden hat, deren Parteizugehörigkeit auf den Stimmscheinen nicht einmal erwähnt ist. Diese überkommene technische Form des Wahlvorganges kann jedoch über den entscheidenden Einfluß der Parteiorganisationen nicht hinwegtäuschen, den diese bereits auf die Aufstellung der einzelnen Kandidaten genommen haben.

Kandidatenaufstellung in der konservativen Partei

Die Art der Kandidatenaufstellung ist bei den beiden großen britischen Parteien in den Grundzügen dieselbe, wenn auch auf der Seite der Arbeiterpartei ein etwas stärkerer Einfluß der zentralen Leitung der Partei besteht. Allgemein gewährt ein System der Mehrheitswahl den lokalen Parteiorganisationen stärkere Einflußmöglichkeiten auf die Auswahl der Kandidaten, da selbst bei straff organisierten die Parteien Kandidaten in den einzelnen Wahlkreisen für die örtliche Partei akzeptabel sein müssen, was dieser ohne weiteres ein gewisses Mitspracherecht eröffnet.

Bei den Konservativen kennt man sogar eine recht weitgehende Autonomie bei der Kandidatenauswahl. Die lokalen Associations der konservativen Partei sind im allgemeinen alte und respektable Einrichtungen. Grundsätzlich besteht eine Association für jeden Wahlkreis, die in Branches für die einzelnen Stimmbezirke untergliedert ist. Die Associations dienen nicht nur Wahlzwecken, wenn die Unterstützung der Kandidaten auch eine ihrer wichtigsten Aufgaben darstellt, sondern vermitteln zusammen mit angeschlossenen Frauenorganisationen und den Klubs der Jungen Konservativen allgemeine Gelegenheiten gesellschaftlichen Verkehrs Diese Lokalorganisationen haben sich ein starkes Selbständigkeitsgefühl bewahrt, wenn sie auch in der Auswahl ihrer parlamentarischen Kandidaten nicht mehr gänzlich frei sind. Es ist bisweilen allerdings über die starken Einflüsse des Central Office in London geschrieben worden, das die Aufstellung der Kandidaten billigen müsse für eine derartige Praxis, ist im Gegensatz zu der Handhabung der Labour-Partei, indessen kein sichtbarer Beweis vorhanden. Gewisse Mißverständnisse mögen dadurch hervorgerufen sein, daß die Londoner Zentralorganisation der konservativen Partei eine ständige Liste von Persönlichkeiten führt, die bereit sind, sich als Kandidaten aufstellen zu lassen. Die auf dieser Liste befindlichen Namen werden allerdings von einem ständigen beratenden Komitee daraufhin überprüft, ob sie für eine parlamentarische Kandidatur der Partei geeignet erscheinen. Das Central Office sucht jedoch nicht die individuellen Kandidaten für die Wahlkreise aus. Die Initiative liegt gänzlich bei den lokalen Organisationen, die in den meisten Fällen, wenn sie einen neuen Kandidaten aufstellen möchten, an das Central Office herantreten und um Benennungen bitten. Dies geschieht aber nicht auf Grund satzungsmäßiger Verpflichtungen, sondern weil in sehr vielen Fällen die örtliche Partei einfach niemanden hat, der bereit ist, sich als Kandidat aufstellen zu lassen. Die hohen Kosten des Wahlkampfes, zu denen ein konservativer Kandidat besonders in Constitu-encies mit guten Erfolgsaussichten einen Teil beisteuern soll, das anstrengende Leben eines heutigen Unterhausabgeordneten bei nicht allzu hoher finanzieller Entschädigung alle diese Faktoren tragen dazu bei, daß oftmals die lokale Partei keine Kandidaten aus ihren Reihen hat. Ist dies jedoch der Fall, steht es ihr frei, diese Personen ohne Rücksprache mit der Zentrale in London zu berücksichtigen. Stehen mehrere Anwärter auf die offizielle Kandidatur im Wahlkreis zur Ver-fügung, werden sie zunächst von einem örtlichen Auswahlkomitee beurteilt und darauf einer oder mehrere von ihnen vor eine Versammlung der örtlichen Parteigruppe gebracht, welche endgültig die Investitur vergibt

Autonomie örtlichen Konservativen Die der Organisationen der Partei wurde in der Praxis auch bisweilen ausgeübt. So lehnte etwa 1923 die Parteileitung der Abbey Division von Westminster es in einer Zwischenwahl ab, Winston Churchill als ihren offiziellen Kandidaten aufzustellen, obwohl Lord Balfour, Lord Birkenhead und Austen Chamberlain, d. h. drei leitende Persönlichkeiten der Partei, zu seinen Gunsten intervenierten, und entschied sich für einen wenig bekannten Hauptmann der Armee, der ein Neffe des zurückgetretenen Abgeordneten war Daß diese Freiheiten der lokalen Parteien nicht zu häufigen Zusammenstößen mit der Zentrale führten und einer allmählichen stärkeren Einflußnahme des Central Office den Weg ebneten, lag an den finanziellen und sonstigen Bürden parlamentarischer Kandidaturen, wie sie eben beschrieben wurden. Vor allem der finanzielle Einfluß des Central Office ist durchweg stark genug, um bisweilen bestimmte Personen, die es gern im Parlament sehen möchte, in irgendwelchen Wahlkreisen unterzubringen. Jedoch machen die zentralen Parteiinstanzen der Konservativen von solchen Möglichkeiten der indirekten Machtausübung nur sehr selten Gebrauch. Im ganzen kann man vielmehr eine fühlbare Beschränkung des Einflusses der zentralen Parteimaschine feststellen. In der Art der Kandidatenaufstellung liegt freilich nur ein Grund zu dieser Entwicklung. Die locker-autonome Form der Auswahl der Bewerber für einen Parlamentssitz, bietet daneben ein gutes Beispiel für die spezifische Art selbstverständlicher Zusammenarbeit, wie sie in vielem für die englischen Konservativen bezeichnend ist. Aus diesem Grund hat sich auch das Problem noch nicht recht gestellt, ob die Parteileitung die Aufstellung eines bestimmten Kandidaten in einem örtlichen Wahlkreis ablehnen kann, weil er zu sehr aus dem Rahmen der Partei fällt. Manche Kandidaten, die von den Lokal-organisationen ausgewählt worden sind, mögen der Parteizentrale nicht in allen Einzelheiten genehm gewesen sein, doch ist das in den beiden englischen Massenparteien kein außergewöhnliches Ereignis, da diese infolge ihrer Größe ohnehin stets mehrere in einzelnen Fragen divergierende Gruppen in sich vereinigen. Gleichwohl dürfte es kaum vorkommen, daß eine konservative Ortsorganisation einen Kandidaten aufstellt, von dem man von Anfang an erwarten kann, daß er später als Abgeordneter den Grundgeboten der parlamentarischen Parteidisziplin sich nicht unterwerfen wird. Dazu ist die allgemeine Gleichgesonnenheit innerhalb der ältesten politischen Partei Englands und besonders unter den Personen, die sich als ihre Kandidaten aufstellen lassen, zu stark. Hier findet auch die Möglichkeit der Aufstellung von „Persönlichkeiten“ im anfangs genannten Sinn ihre Grenze.

Bei aller Berücksichtigung von personellen Vorzügen wie Alter, intellektuellen Fähigkeiten, Bereitwilligkeit finanziell zum Wahlkampf und überhaupt für die Partei etwas beizutragen, bleibt auch bei der undogmatischen konservativen Partei die Frage der Anhänglichkeit zu gewissen Dingen, für welche die Partei steht, ein entscheidender Auslesegesichtspunkt. Die Auswahlkomitees werden in manchen Fällen, die für die parlamentarische Alltagsarbeit zuverläßigere Person (unfreundlich bisweilen als „Jasager“ bezeichnet) einem glanzvolleren, aber unberechenbaren Bewerber vorziehen Auch sonst ist die Auswahl in einer ganz besonders den traditionellen englischen Bildungsund Lebensformen zugeneigten Partei, wie der konservativen, in mancherlei Weise be-grenzt. Der hohe Prozentsatz in den exklusiven Public Schools erzogener konservativer Unterbausabgeordneter, die Präponderanz bestimmter sozial angesehener Berufe, der Aristokratie spiegelt ja auch bestimmte Vorlieben der örtlichen Auswahlkomitees wieder. Es ist hier nicht die Aufgabe, Wert oder Unwert all dieser verschiedenartigen Faktoren abzuwägen, die bei der Auswahl konservativer Kandidaten eine Rolle spielen mögen. Aus ihrer Vielzahl wird jedenfalls deutlich, daß die Kandidatenauswahl bei den Konservativen ein komplizierterer Vorgang ist, als es das Schlagwort von der „englischen Persönlichkeitswahl" erkennen läßt. Im übrigen kann man freilich die lockere Form konservativer Parteiorganisation, die örtlicher Initiative bei der Kandidatenauswahl manche Chance läßt, als eine im ganzen glückliche Dezentralisierung von Parteifunktionen ansehen, die durch die Form der Mehrheitswahl begünstigt wurde.

Die Labour-Kandidaten

Die Kandidatenauswahl innerhalb der Labour-Partei, zeichnet sich durch eine straffere Organisation aus. Ihre Prozedur ist in der Partei-verfassung und den Regeln für die örtlichen Parteigruppen schriftlich niedergelegt Die Auswahl vollzieht sich in einer eigenartigen Zu-sammenarbeit der Parteizentrale (National Executive Committee) mit den Wahlkreisorganisationen (Constituency Labour Party). Das örtliche Exekutivkomitee setzt sich zunächst mit der Zentrale in Verbindung, um zu beraten, ob in dem betreffenden Wahlkreise ein Kandidat aufgestellt werden soll. Dies ist in der Zeit der hartumkämpften Nachkriegswahlen eine mehr oder weniger theoretische Vorschrift geworden, da Labour nach 1945 selten auf Kandidatenaufstellungen in einzelnen Wahlkreisen verzichtet hat.

Sobald man entschieden hat, einen Wahlkreis zu bestreiten, wird das allgemeine Komitee der örtlichen Labour-Partei gebeten, das örtliche Exekutivkomitee zu autorisieren, die Nominierungen für Kandidaturen entgegenzunehmen. Das lokale Exekutivkomitee lädt dan sowohl die örtliche Partei als auch die ihr angegliederten Organisationen (Affiliated Organisations) ein, Vorschläge zu machen. Insbesondere die letzteren, unter denen sich mit den Gewerkschaften und Konsumgenossenschaften (Cooperative Movement) zwei Hauptstützen der Labour-Partei befinden, haben auf diese Weise Gelegenheit, ihre Leute für eine Kandidatur zu präsentieren Da in vielen Fällen, die von diesen beiden Organisationen unterstützten Personen die einzigen sind, die einen Wahlkampf kostenmäßig bestreiten können, bieten sich diesen Bewerbern oftmals die besten Chancen, die Kandidatur zu erlangen. Nachdem das lokale Exekutivkomitee alle Nominierungen erhalten hat, setzt es sich erneut mit dem National Executive Committee in London in Verbindung, das deren Gültigkeit überprüft. Der Personenkreis, der sich um eine Kandidatur der Labour-Partei bewerben kann, ist streng begrenzt: es muß sich um ein Mitglied der Partei oder einer der ihr angegliederten Organisationen handeln, der Betreffende darf nicht bestimmten anderen Parteien angehören, und er muß darüber hinaus „accept an conform to the Constitution, Programme, Principles and Policy of the Party“ sowie „act in harmony with the Standing Orders of the Parliamentary Labour Party" Diese beiden letzten General-klauseln geben dem National Executive Committee zumindest in der Theorie die Möglichkeit, jeden Kandidaten auszuschließen, der mit der allgemeinen Parteilinie nicht übereinstimmt oder von dem anzunehmen ist, daß er sich der parlamentarischen Disziplin nicht unterwerfen wird. In der Praxis sind diese Klauseln besonders in den Jahren nach 1950 recht lax und großzügig angewendet worden, als die Partei mehrfach lebhafte innere Auseinandersetzungen zu bestehen hatte und örtliche Kandidaturen bisweilen durchgesetzt wurden, die den Vorstellungen der Londoner Zentrale wenig entsprachen Obwohl das National Executive Committee das Recht besitzt, die von den Lokalorganisationen vorgeschlagenen Personen zurückzuweisen und das die Kandidaten der Labour-Partei in einem stärkeren Maße nach ihrer Parteitreue ausgewählt werden als ihre konservativen Kollegen, ist das Ermessen der örtlichen Parteigruppen beträchtlich. Sie ergreifen zunächst die Initiative, indem sie sich um die Nominierung bemühen und das National Executive Committee sondert aus der ihr zur Überprüfung übersandten Liste gewissermaßen nur die „schwarzen Schafe“ aus. Die Auswahl unter den übrigen, der Zentrale akzeptablen Persönlichkeiten, wird auf der örtlichen Ebene in einer allgemeinen Versammlung der Partei getroffen. Der Name dieses sogenannten „prospektiven“ Kandidaten wird dann wiederum dem National Executive Committee mitgeteilt, daß auf einer speziellen Sitzung vor der Wahl diese Personen endgültig als offizielle Kandidaten der Labour-Partei anerkennt. Erst nunmehr darf der betreffende Kandidat von Partei wegen der Öffentlichkeit vorgestellt werden.

Im ganzen gewinnt man auf diese Weise von der Kandidatenauswahl innerhalb der Arbeiterpartei den Eindruck einer sorgfältigen Ausbalancierung der Befugnisse unter örtlichen und zentralen Instanzen. Dabei behält die Parteispitze zwar das letzte Wort, ist aber durch das Initiativrecht der örtlichen Gruppen in ihrer Auswahl vorbeschränkt. Über diese statutenmäßige Aufteilung der Kompetenzen hinaus fehlt es der Labour-Partei in vielen Fällen an geeigneten Persönlichkeiten, die sich als Kandidaten aufstellen lassen wollen, so daß der Zentrale oftmals gar nichts anderes übrig bleibt, als die eine Person zu akzeptieren, die ihr örtlicherseits vorgeschlagen wird Infolge der Begrenzung des Kandidatenkreises durch die Parteiverfassung und darüber hinaus der nicht immer starken Anziehungskraft britischer Politik als Beruf, wäre es auch auf der Seite der Labour-Partei verfehlt, allzu erwartungsvolle Maßstäbe einer „Persönlichkeitsauslese“ an die Kandidatenauswahl innerhalb dieser Partei anzulegen. Soweit besondere politische Begabungen in der Partei vorhanden sind, vermögen sie unter dem bestehenden Auswahlsystem sicherlich eine Kandidatur zu erreichen, schon einfach deswegen, weil es an Kandidaten fehlt. Auch vermag die durch die Wahlreform bedingte Dezentralisierung des Auswahlsystems örtlichen Bewerbern bessere Startchancen zu geben, als es vermutlich unter einem System der Listenaufstellung durch Parteizentralen der Fall wäre. Darüber hinaus in ihr eine Art Sesam-Öffne-Dich zu erblicken, daß unter allen Umständen vernünftige, kluge und machtvolle politische Persönlichkeiten in die Kandidaturen einweist, dürfte einen zu hohen Glauben in die praktischen Auswirkungsmöglichkeiten wahlrechtlicher Regelungen auf die innere Entwicklung von Parteiorganisationen voraussetzen. Durch eine organisatorische Entscheidung, wie über das System der Wahlkreiseinteilung, können die auf gleicher Ebene liegenden Details in der Technik des Auswahlvorganges innerhalb der Parteien beeinflußt werden. Dagegen erscheint es sehr fragwürdig, ob man von bestimmten Systemen der Kanditatenauswahl weiterhin regelmäßig Schlüsse auf allgemeine Qualitäten der Bewerber um eine Kandidatur ziehen darf, etwa in dem Sinne, ein lockeres, mehr die örtlichen Bedürfnisse berücksichtigendes System bewirke gewöhnlich eine Hebung des allgemeinen Niveaus der Abgeordnetenschaft. Bei der Beantwortung dieser Frage spielen in so hohem Grade außerrechtliche Einflüsse wie die der soziologischen Zusammensetzung der betreffenden Parteien mit, oder die allgemeine Bereitschaft, Mandate zu übernehmen, daß der eigentliche Einfluß bestimmter Systeme der Kanditatenauswahl demgegenüber sekundärer Natur ist.

Vorherrschaft der zwei Großparteien bei der Kandidatenauswahl

Die große Mehrzahl der Kanditaten in den Nachkriegswahlen zum britischen Unterhaus wurde durch die konservative und die Labour-Partei aufgestellt, wie aus nachfolgender Tabelle ersichtlich ist

Aus den Zahlen geht hervor, daß zumindest seit den Wahlen 1951 und 1955 das Übergewicht der beiden großen Parteien über die kleineren bereits nach der Aufstellung der Kandidaten feststand; es hatten sich nicht genügend Personen anderer Parteien oder Unabhängige beworben, die den Konservativen und Labour ihre Vormachtstellung, auch nur versuchsweise, hätten streitig machen können. Die Abnahme in der Zahl der nicht den beiden großen Parteien zugehörigen Kandidaten ist natürlich nur eine Folgeerscheinung der Tatsache, daß es mehr und mehr ins allgemeine Bewußtsein drang, daß abgesehen von Ausnahmefällen nur konservative und Labourkandidaten Aussicht auf Gewinn von Sitzen besaßen. Ob dies auf einer echten Hinneigung der Wählerschaft zu den großen Parteien beruhte, auf dem Wahlsystem als solchen, welches eine derartige Zweiteilung der öffentlichen Meinung begünstigte oder auf ein Zusammenwirken beider Faktoren, kann hier dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist unbestreitbar, daß unabhängige Kandidaturen oder solche kleinerer Parteien, zu denen selbst die Liberalen seit 1924 zählen, keinen Gewinn einbrachten. Da sie außerdem einen erheblichen Aufwand an Wahlkosten verlangten und ein unabhängiger Kandidat in besonderem Maße der Gefahr ausgesetzt war, nicht einmal ein Achtel der Stimmen seines Wahlkreises zu erlangen und smit die 150 Pfund Sterling seiner Wahlbürgschaft zu verlieren, war es nicht verwunderlich, wenn sich die Zahl der unabhängigen und Kleinparteienkandidaturen in den Nachkriegswahlen immer mehr verringerte. Die Abschaffung der Universitätswahlkreise, in der Reform 1948, tat ein übriges, die Erfolgsaussichten unabhängiger Bewerber zu verringern.

Das zeitweilige Anwachsen der Anzahl kleinerer Parteien, die sich in den zwanziger und dreißiger Jahren um Abgeordnetensitze bewarben, war demgegenüber mehr eine Übergangserscheinung gewesen, die mit dem großen Umwälzungsprozeß in der englischen Parteienstruktur zusammenhing, der Ersetzung der Liberalen durch Labour, als die zweite große Partei des Unterhauses. In demselben Maße, wie sich seit 1935 die Stellung Labours mehr und mehr konsolidierte, wurden die Chancen dritter Parteien oder Unabhängiger geringer, die Verwirrung der Meinungen in der Wählerschaft auszunutzen um als eine Art Außenseiter in einzelnen Wahlkreisen Mehrheiten zu erringen Auf diese Weise ist in den Jahren seit 1945 der in gewissem Sinne paradoxe Zustand eingetreten, daß trotz der theoretischen Chance für jedermanns sich mit der Unterstützung von zehn Personen als Kandidat nominieren zu lassen, die Wege für jemanden, der ein aktives Mitspracherecht in politischen Angelegenheiten gewinnen möchte, in der Praxis aufs äußerste begrenzt sind.

Die Wahlfinanzen der Konservativen

Insbesondere die Frage der Finanzierung spielt eine bedeutende Rolle bei der Kandidatenauslese. Die Beschränkung des Wahlkampfes in der großen Mehrzahl der Wahlkreise auf die Kandidaten der Konservativen und Labours erklärt sich zum guten Teil daraus, daß nur von diesen Parteien unterstützte Personen eine normale Wahlkampagne finaziell durchführen können. In manchen hoffnungslosen Wahlkreisen würde die örtliche Minderheitspartei das anscheinend sinnlose Risiko der Geldausgabe scheuen, das in der Aufstellung eines Gegenkandita-ten liegt, wenn nicht die Spitzenorganisation bereit wäre, Verluste zu decken oder selbst einen opferwilligen Kandidaten von ihrer Liste benennen könnte.

Die Art, in der die beiden großen Parteien die Mittel für die Wahlkämpfe aufbringen, unterscheidet sich erheblich. Die konservative Partei hat es bis auf den heutigen Tag abgelehnt, Umfang und Herkunft; ihrer Finanzquellen zu veröffentlichen, obwohl sie oftmals dazu von ihren Gegnern aufgefordert wurde Wenn auch die individuellen Namen ihrer Geldgeber auf diese Weise niemals genannt werden, unterliegt es wenig Zweifel, daß die Koservativen von jeher ihre hauptsächliche Unterstützung von ihnen nahestehenden industriellen und kaufmännischen Kreisen empfingen, ebenso wie von der landbesitzenden Aristokratie. Dies vollzog sich nicht nur in direkten Zuweisungen an die Parteifonds, sondern in den Zeiten vor dem Zweiten Weltkrieg und in beschränkterem Rahmen auch später in der Weise, daß aufgestellte Kandidaten, insbesondere in sicheren Constituencies, ihre Wahl-kosten ganz oder teilweise selbst bestritten. Darüber hinaus erwartete man nicht selten von ihnen, daß sie in der Zeit zwischen den Wahlen zur Unterhaltung der Parteiorganisation im Wahlkreise beitrugen. Es wurde bisweilen behauptet, daß eine sonst akzeptable Persönlichkeit in den Zeiten vor 1939 bei Versprechen einer jährlichen Unterstützung von etwa 2 OOO Pfund damit rechnen konnte, ohne weiteres in einem sicheren konservativen Sitz als Kandidat aufgestellt zu werden In der Nachkriegszeit gestaltete sich die Finanzierung der Partei zunächst schwieriger. Eine Direktive aus dem Jahre 1943, wonach die lokalen Parteien von keinem Kandidaten verlangen dürften, daß er mehr als 50°/seiner Wahlkosten selbst trage, mochte noch in erster Linie von dem Gedanken geleitet sein, fähige jüngere Leute zu einer Kandidatur zu bewegen, welche sich die geschilderte moderne Form der Patronage finanziell nicht leisten konnten Im Jahre 1947 mußte sich jedoch Lord Woolton, der damalige Leiter der konservativen Parteiorganisation, mit einem Appell für einen 100 OOO-Pfund Kampffonds für die nächste Wahl an das allgemeine Publikum wenden, ein Schritt, der im Vergleich zu der bisherigen Enthaltung von jeder öffentlichen Äußerung über die finanzielle Lage der konservativen Partei geradezu revolutionär wirkte. Als weitere Maßnahme folgte bald darauf die Einführung eines freiwilligen Beitragssystems der Lokalorganisationen zu den Wahlkosten der Partei. Es wurde in einer eigentümlichen Weise mit den Erfolgen der konservativen Kandidaten in den betreffenden Wahlkreisen verknüpft. War zum Beispiel der Kandidat bei der letzten Wahl in einem Stimmenverhältnis 7 : 6 erfolgreich gewesen, sollten 3d (etwa 15 Pfennige) für jede konservative Stimme an die Zentrale abgeführt werden, bei einem Verhältnis von 12 : 6 6d. War der konservative Bewerber geschlagen worden, wurde die Quote auf 0, 5— 2, 5d für jede Stimme ermäßigt, so daß auf diese Weise die Wahlkreise mit starken konservativen Mehrheiten andere mitfinanzierten, in denen etwaige künftige Chancen der Partei nicht durch frühzeitige hohe Beiträge beeinträchtigt werden sollten. Das System soll inzwischen von einer ganzen Reihe von Wahlkreisen angenommen worden sein All dieser Neuerungen ungeachtet wird man gerade auch seit der zurückgekehrten wirtschaftlichen Prosperität der fünfziger Jahre annehmen müssen, daß der überwiegende Teil der Wahlausgaben der konservativen Partei immer noch von einer verhältnismäßig beschränkten Zahl privater Geldgeber finanziert wird.

Die Wahlfinanzen der Labour-Partei

Die Labour-Partei ist der sozialen Herkunft der Mehrheit ihrer Mitglieder nach weniger in der Lage, nennenswerte Wahlzuschüsse von Einzelpersonen erwarten zu können Ihre Wahlfonds werden zum Teil aus Reserven gespeist, die aus den Mitgliedsbeiträgen gebildet werden, unter denen Angliederungsbeiträge (Affiliation Fees) der korporativ an die Arbeiterpartei angeschlossenen Gewerkschaften eine bedeutende Rolle spielen. Diese Beiträge stellen jedoch nur einen Teil des Geldes dar, weches die Gewerkschaften für die Wahlausgaben, sowohl der zentralen als der örtlichen Labour-Partei, bei jeder allgemeinen Wahl ausgeben. Die Gewerkschaften bilden hier das genaue Gegenstück zu den Unternehmerkreisen, welche den Konservativen finanzielle Unterstützung geben. Sie sind allerdings in ihren Geldausgaben für politische Zwecke gewissen Beschränkungen ausgesetzt. Seit dem Trade Union Act von 1913 müssen alle politischen Zuwendungen aus einem gesonderten Fonds erfolgen, der sich aus speziell bezeichneten politischen Abgaben der Mitglieder zusammensetzt. Es muß jedem Mitglied möglich sein, sich von dieser Abgabe freizuzeichnen (sogenanntes Contracting out). Die konservative Regierung unter Baldwin hatte zur Zeit ihrer schlechtesten Beziehungen mit den Ge-

werkschaften, nach dem großen Generalstreik 1926, diese Klausel dahingehend geändert, daß jedes Gewerkschaftsmitglied, daß die politische Abgabe zu entrichten wünscht, dies ausdrücklich zu beantragen habe (sogenanntes Contracting in). Die Spekulation auf die menschliche Trägheit war recht erfolgreich; die Zahl der zum politischen Fonds beitragenden Gewerkschaftler und damit deren Mittel nahmen beträchtlich ab, so daß die Labourregierung bald nach ihrem Wahlsieg 1945 das Contracting out wieder einführte, wonach die politischen Revenuen der Gewerkschaften eine erneute Aufwärtsbewegung nahmen Aus diesem politischen Fonds steuern die Gewerkschaften bei jeder Wahl neben den Affiliation Fees beträchtliche Unterstützungssummen für die Labour-Partei bei. Diese betrugen für 1950 z. B. 303 000 Pfund, 1951 225 000 und 1955 2 30 000 Pfund. Im letzten Falle machte diese Summe bei einer vorsichtigen Sthätzung etwa 60°/der gesamten Ausgaben der Arbeiterpartei für die Wahl aus Schließlich zeichnen die Gewerkschaften auch in den Jahren zwischen den Wahlen verschiedentlich Summen für Labour, die teilweise in Wahlrücklagen gehen. Das Geld wird von den Gewerkschaften unter den nationalen und örtlichen Organisationen der Arbeiterpartei aufgeteilt. Man kann ohne weiteres von einer finanziellen Abhängigkeit der Labour-Partei von den Gewerkschaften im Wahlkampf sprechen.

Infolge des Fehlens genauer Zahlen bei der konservativen Partei ist es nicht möglich, die Finanzen beider Parteien zu vergleichen. Die Ansichten, welche von ihnen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die reichere Partei ist, gehen auseinander. Während bisweilen die Auffassung ausgedrückt wird, im Gegensatz zu früheren Zeiten müßten heute die Konservativen Labour um ihre bei jeder Wahl mit Sicherheit zu erwartenden gewerkschaftlichen Zuschüsse beneiden, schätzt M. Harrison in seiner inhaltsreichen Studie zu diesen Fragen die konservativen Wahlausgaben immer noch doppelt so hoch ein wie die der Arbeiterpartei. Wie dem auch sei, es besteht wenig Zweifel, daß beide Parteien heutzutage imstande sind, die Wahlkosten ihrer Kandidaten in der vom Gesetz gestatteten Höhe zu decken und den ganzen Apparat einer modernen Wahlkampagne mit dem Druck von Literatur, Rundfunk-und Fernsehsendungen u. s. f. zu bestreiten.

Finanzierungslage der kleinen Parteien

Angesichts ihrer geringen Erfolgsaussichten in den Unterhauswahlen, können die kleineren Parteien nur über weitaus beschränktere Mittel verfügen. Das politische Jahresbudget der Liberalen, von dem ein guter Teil für die laufende Unterhaltung der Parteiorganisation verwendet werden muß, wird gegenwärtig auf etwa 50 000 Pfund geschätzt, das der Kommunisten, die einige der kleineren Gewerkschaften kontrollieren, auf ungefähr das Doppelte dieser Summe. Diese Parteien müssen daher bereits bei der Auswahl ihrer Kandidaturen genau deren Erfolgschancen prüfen, um den Verlust allzu vieler Wahlbürgschaften zu verhindern. Die Wahl 1950 war z. B. eine finanzielle Katastrophe für die Liberalen, die 475 Kandidaten aufgestellt hatten, aber nur 12 durchbrachten und bei nicht weniger als 319 die Wahlbürgschaften verloren. 1951 reduzierten sie daraufhin die Anzahl ihrer Kandidaturen auf 109, verloren aber immer noch 66 Bürgschaften

Persönliche Beziehungen zwischen Abgeordneten und Bevölkerung

Wenn im vorangehenden mehrfach die Zweifelhaftigkeit gewisser Vorstellungen von der englischen relativen Mehrheitswahl als eines „Persönlichkeitswahlrechts“ in einer Zeit betont wurde, die in Großbritannien mehr denn je unter dem Zeichen der politischen Vorherrschaft zweier großer, von den mächtigsten Interessengruppen des Landes finanziell unterstützter Massenparteien steht, sollten damit keineswegs gewisse andere, allgemein begrüßenswerte Möglichkeiten verkannt werden, die sich unter dem System der Einerwahlkreise für die Beziehungen zwischen den einmal gewählten Abgeordneten und ihren Wählern eröffnen. Hierin liegt vielleicht, wie oft erkannt worden ist neben dem Einfluß auf die Parteikonstruktur im Parlament, einer der we-

sentlichen Vorzüge der Mehrheitswahlformen. Die Kleinheit der Wahlkreise mit durchschnittlich 000— 60 000 Personen im heutigen Großbritannien ermöglicht mancherlei Wege des persönlichen Kontaktes zwischen Wähler und Abgeordneten, die ungeachtet aller politisch parteimäßigen Bindungen des letzteren in gewissem Sinne den alten klassisch-repräsentativen Gedanken der Vertretung von Gemeinden (Communities) im Unterhaus wachhalten. Der einmal von einem Abgeordneten verwendete Ausdruck, er sei „in wany ways almost the father and the wother of his constituents“ 50) drückt diesen Gedanken besonders gefühlvoll aus. Es bleibt nichtsdestoweniger richtig, daß gerade in der persönlichen Beziehung zur Wählerschaft der normale englische Unterhausabgeordnete sich immer noch für deren Gesamtheit verantwortlich fühlt, auch wenn er in den allgemeinen politischen Fragen sich der parlamentarischen Parteidisziplin unterwirft und unter Fraktionszwang abstimmt.

Diese für den englischen Parlamentarismus charakteristischen starken Beziehungen zwischen dem Abgeordneten und seinen Wählern haben eine lange Geschichte hinter sich. Porritt erwähnte in seinem Werk über das alte House of Commons vor 1832 bereits für das 15. Jahrhundert häufige Reisen der Abgeordneten in ihre Wahlkreise, die damals allerdings meist den Grund hatten, den Wählern Rechnungen über Auslagen zu präsentieren, ohne deren Begleichung die oft nicht allzu vermögenden Ritter mit der Niederlegung ihrer Ämter in Westminster drohten Später waren oftmals Dinge üblich, die man mit einem modernen Ausdruck als imperatives Mandat bezeichnen würde, wie ausdrückliche Instruktionen von Gutsbesitzern an die durch ihre Patronage in das Unterhaus gebrachten Abgeordneten, in bestimmten Sinne zu wirken oder das im 18. Jahrhundert bisweilen vorzufindende System der Pledges, durch die sich die Kandidaten vor der Wahl zu einem bestimmten Verhalten verpflichteten. Ferner reichten sie Petitionen der Wähler im Parlament ein und erhielten dafür bisweilen regelmäßige Gehälter. Was immer man gegen die Einbeziehung des modernen Unterhausabgeordneten in die sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer stärker ausbildende Parteiorganisation einwenden mag: gegenüber direkten, individuellen Einflüssen aus der Wählerschaft seiner Constituency steht er heute unabhängiger da als vor anderthalb Jahrhunderten.

Sprechstunde, Postverkehr, Verpflichtungen

Die zumindest monatlich abgehaltenen Sprechstunden heutiger Unterhausabgeordneter in ihrem Wahlkreis, spiegeln noch bis zu einem gewissen Grade jene alten Einflüsse wider. Jacques Cadart macht da-auf aufmerksam daß die Möglichkeit, dermaßen durch Vorstellungen bei den Abgeordneten gegen Mißbräuche der Verwaltung vorzugehen, in gewissem Maße das Fehlen einer eigenen Verwaltungsge-richtsbarkeit in Großbritannien ausgleicht. Der Weg über die ordentliche Gerichtsbarkeit ist lang und kostspielig. Andererseits bieten sich dem Abgeordneten, wenn er eine derartige Klage in die Hand nimmt, oftmals schnelle Möglichkeiten der Abhilfe. Zunächst ist das soziale Prestige eines Unterhausabgeordneten derart, daß oftmals ein Brief an die betreffende Verwaltungsstelle genügt, eine Lösung für die Probleme des Wählers zu finden. Als schwereres Geschütz bietet sich dem Parlamentarier immer noch die Möglichkeit, in der mehrmals wöchentlich stattfindenden Fragestunde des Unterhauses die Angelegenheit aufzugreifen und das betreffende Ministerium um Aufklärung zu bitten. Diese parlamentarische Übung erklärt die jedem ausländischen Besucher des Unterhauses zunächst erstaunliche Fülle der Fragen während der „Question-time", ebenso wie die Verschiedenheit der dabei berührten Lebensgebiete, etwa vom Detail des Baues einer Brücke in einer bestimmten Gemeinde bis zu allgemeinen Fragen der Außenpolitik. Die Zeit reicht niemals für eine mündliche Beantwortung sämtlicher Fragen aus (der Speaker hat ein Auswahlrecht, welche Punkte verhandelt werden), jedoch empfängt der Abgeordnete zumindest eine schriftliche Stellungnahme des zuständigen Ministeriums, so daß nötigenfalls ein weiterer Anstoß gegeben werden kann. Sicherlich verwendet der Abgeordnete und das ganze Unterhaus auf diese Weise unverhältnismäßige Zeit auf die Erledigung einer oftmals unbedeutenden Einzelfrage. Gleichwohl handelt es sich bei diesem Recht des Wählers, seine privaten Anliegen in die Beratungen des Unterhauses einzufügen, um ein psychologisch nicht zu unterschätzendes Mittel, der Allgemeinheit in einem Lande ohne geschriebene Verfassung und Grundrechtskatalog die dauernde Wahrung der bürgerlichen Freiheiten durch das Parlament vor Augen zu führen.

Abgesehen von der Sprechstunde besteht in der Regel ein lebhafter Postverkehr zwischen den Abgeordneten und ihrer Wählerschaft, der sich bei der Behandlung bestimmter Fragen im Parlament, bei denen die Öffentlichkeit stark mitfühlt, wie etwa die Abschaffung der Todesstrafe plötzlich vervielfachen kann Selbst unter normalen Umständen empfängt ein Abgeordneter bis zu mehreren Dutzend Briefen seiner Wähler an einem Tage, die größerenteils eine Bitte irgendwelcher Art enthalten und somit Antwort verlangen. Schließlich gehen Londoner bisweilen direkt zu ihrem Abgeordneten nach Westminster. Das ist die Urform des sogenannten „Lobbying“; vor allem Hausfrauenvereinigungen erlangen auf diese Weise eine regelmäßige Publizität in der Tagespresse.

Der britische Unterhausabgeordnete hat außerdem traditionsgemäß eine Reihe sozialer Verpflichtungen in seinem Wahlkreis zu erfüllen. Vereine und Clubs verschiedenster Art möchten ihn als Ehrenpräsidenten haben und erwarten gewisse Gegenleistungen. Er hat zu Wohltätigkeitsbällen beizusteuern, Sportveranstaltungen zu eröffnen, Ansprachen zu halten und ähnliches mehr. Dies gilt in besonderem Maße für die ländlichen Wahlkreise, in denen vermögende konservative Landbesitzer diesen Aufgaben mit ihrem umfänglichen finanziellen Aufwand am ehesten gerecht werden können. Es ist natürlich im Einzelfalle nicht immer ganz einfach zu unterscheiden, wo bei all diesen Tätigkeiten der wünschenswerte Kontakt zwischen Abgeordneten und Wählerschaft aufhört und eine mehr oder weniger diskrete finanzielle Ein-flußnahme örtlich bedeutsamer Personen und Institutionen anfängt. 'Es sind auch bisweilen seitens einzelner Abgeordneten Klagen laut geworden, daß diese verschiedenartigen Verpflichtungen zu starke geldliche Lasten für sie bedeuten, und gewisse Beschränkungen wurden in dieser Richtung Ende des Zweiten Weltkrieges vorgenommen Im ganzen betrachtet gewähren all diese Kontaktmöglichkeiten mit den Wählern dem englichen Unterhausabgeordneten eine sonst nicht mögliche Vertrautheit mit vielen Einzelproblemen seines Wahlkreises, wobei er mancherlei Gutes tun kann, vor allem, wenn ein Abgeordneter denselben Wahlkreis mehrere Legislaturperioden hindurch vertritt

III. Das Verhalten der Wählerschaft (Voting Behaviour)

Man kann dem schillernden Begriff des englischen „Persönlichkeitswahlrechts" schließlich eine weitere, für die Erkenntnis des Arbeitens des britischen Wahlsystems, bedeutsame Fragestellung abgewinnen. Nadi welchen Gesichtspunkten entscheidet sich der Wähler unter den ihm präsentierten Kandidaten? Beeinflußt die individuelle Persönlichkeit des Bewerbers seine Entscheidung in spürbarem Maße, oder ist das Gefühl der Zugehörigkeit oder Sympathie für eine große politische Partei der primäre Gesichtspunkt, nach dem er seine Wahl orientiert?

Kandidatenpersönlichkeit und Parteivorliebe

Eine überwältigende Anzahl von Stellungnahmen verschiedenster Art haben sich in jüngerer Zeit dafür ausgesprochen, daß das Partei-etikett des Kandidaten den entscheidend die Meinungsbildung der Wähler beeinflussenden Faktor darstelle. In einem weiten Ausmaß ist dies richtig, wie ein Blick auf die Wahlergebnisse der letzten Jahrzehnte beweist, insbesondere auch das Vorhandensein der „sicheren" Sitze für die beiden großen Parteien, von Wahlkreisen also, die Jahrzehnte hindurch ihre Parteivorliebe nicht änderten, ohne Rücksicht darauf, welche individuellen Kandidaten aufgestellt waren. Seit dem Aufbau von Partei-organisationen im modernen Sinne, in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, haben die großen politischen Gruppen in immer steigendem Maße die englischen Wahlen beherrscht; bis nach der Abschaffung der Universitätssitze im Jahre 1948 führen die Parlamente seit 1950 keinen einzigen unabhängigen Abgeordneten mehr als Mitglied

Trotz dieser allgemeinen Entwicklung läßt sich in einzelnen Fällen nachweisen, daß die Person des Kandidaten und sein Ruf auch unter den heutigen Verhältnissen nicht ohne Einfluß auf die Entscheidung der Wähler geblieben sind. Das vielleicht erstaunlichste Beispiel hierfür verdankt die britische Wahlrechtsgeschichte dem liberalen Kandidaten F. Gray in Oxford bei den Wahlen 1923 und 1924. Oxford galt seit jeher als sicherer Sitz der Konservativen. Gray, ein vermögender Privatmann, entfaltete jedoch vor der Wahl 1923 eine fieberhafte Tätigkeit. Er besuchte nahezu alle Häuser des Wahlkreises und machte sich der überwältigenden Mehrzahl der Einwohner persönlich bekannt. Zwei Sekretäre unterhielten für ihn eine Karthotek, in der die Namen tausender von Wählern verzeichnet waren, die sich mit irgendwelchen Fragen oder Anliegen an ihn gewandt hatten. Gray versprach, sich in jeder möglichen Weise für die Verbesserung des Loses von Kranken, Kindern und Erwerbslosen einzusetzen. Bei all diesen Besuchen und in seiner umfangreichen Korrespondenz bat er niemals ausdrücklich darum, daß jemand für ihn seine Stimme abgeben möge. Er wurde 1923 und 1924 mit erheblichen Mehrheiten als Liberaler in der konservativen Hochburg gewählt. Leider entdeckte nach der zweiten Wahl der konservative Gegenkandidat eine leichte Überschreitung der Wahlkosten durch Grays Agenten und focht die Wahl daraufhin mit Erfolg an, so daß Gray sich später nicht mehr in Oxford aufstellen lassen konnte. Es kann kaum ernsthaft erwartet werden, daß eine nennenswerte Anzahl von Kandidaten jemals finanziell und zeitlich in der Lage sein werden, F. Grays Beispiel nachzuahmen; dessenungeachtet zeigt der Fall in all seiner Skurilität, daß Möglichkeiten der Beeinflussung der Wählerschaft durch die besondere Persönlichkeit des Kandidaten auch heute grundsätzlich bestehen. Die Parteivorliebe des Durchschnittswählers braucht auch in England nicht als eine Art unverrückbares Glaubensbekenntnis aufgefaßt zu werden, wenn der Wähler auch in den meisten Fällen mangels eines ähnlich intensiven persönlichen Kontaktes mit dem Kandidaten eher bereit ist, seinen abstrakten Wert-und Zusammengehörigkeitsgefühlen zu folgen

Man kann die Einwirkung der Persönlichkeitseinflüsse in schwächerem Umfang als bei jenem Paradebeispiel des Persönlichkeitskandidaten auch anderswo nachweisen. Bei der Wahl 1931 wurde der spätere Labourparteiführer und Premierminister C. Attlee in seinem damaligen Wahlkreis in Limehouse, Ostlondon, mit einer knappen Mehrheit wiedergewählt, während in allen angrenzenden Constituencies mit ähnlicher Bevölkerungszusammensetzung, die Labourkandidaten der gegnerischen Koalition unterlagen. Da Attlee zu jener Zeit noch keineswegs in der nationalen Politik eine bekannte Figur war, konnte dieser Erfolg nur auf seine Tätigkeit in der Kommunalverwaltung seines späteren Wahlbezirkes vor dem Ersten Weltkrieg zurückgeführt werden, aus der er vielen Leuten noch in guter Erinnerung war

Ähnlich hat D. E. Butler in seiner Untersuchung über die Unterhauswahl von 1955 allgemein nachgewiesen, daß Abgeordnete, die in ihrem bisherigen Wahlkreis die Wiederwahl suchten, im allgemeinen mehr Stimmen im Durchschnitt erhielten, als neue Kandidaten in vergleichbaren Wahlkreisen Auch diese Beobachtung kann in gewissem Um-fang auf den Eindrude zurüdezuführen sein, den bisherige Abgeordnete kraft ihres individuellen Wirkens im Wahlkreis auf die Wähler gemacht hatten. Ebenso drückte sich 195 5 die Tatsache, daß eine national bekannte politische Persönlichkeit kandidierte, in den Ergebnissen der betreffenden Wahlkreise merklich aus Wenn es sich bei diesen Feststellungen auch nur um bestimmte Einzelbeobachtungen handelt, deren Gültigkeit beschränkt ist und die wie die meisten Aussagen im Gebiet des Voting Behaviour durch das Auftreten neuer empirischer Faktoren wieder in Frage gestellt werden können darf man doch einen ge-wissen, auf verschiedenartigen Gründen beruhenden Einfluß der Individualität bestimmter Kandidaten auf die Entscheidung der Wählerschaft ihrer Wahlkreise annehmen. Dessenungeachtet bleibt richtig, daß dieser Einfluß nur in Ausnahmefällen wie den beiden erstgenannten stark genug ist, den Ausgang der Wahl in einer Constituency entscheidend zu beeinflussen. Betrachtet man die Gesamtergebnisse einer Unterhauswahl, wird man die eingangs gemachte Feststellung, daß die Wählerschaft nach Parteien, nicht nach Personen abstimmt, zusammenfassend betrachtet, als richtig ansehen können

Einflüsse der Massenmedia

Man kann diese bereits weitgehend an der Stärke der beiden großen Parteien im Unterhaus ablesbare These näher von der soziologischen Seite untersuchen. Dies ist in Großbritannien gerade in den Jahren nach 1945 in stärkerem Maße unternommen worden. Es lassen sich dann eine Reihe weiterer Gründe anführen, welche die erstrangige Bedeutung der Parteiassoziation eines Kandidaten unterstreichen.

Zunächst begünstigen mehrere allgemeine Faktoren die starke Einflußnahme politischer Massenorganisationen auf die Formung der öffentlichen Meinung. Die britische Wählerschaft ist heute eine der am besten unterrichteten der Welt. Der Einfluß der modernen Kommunikationsmittel wie vor allem Presse, Rundfunk und das in den Jahren nach 1950 immer stärker in den Vordergrund getretene Fernsehen auf den Verlauf der Wahlkampagne, ist bereits oft geschildert worden Vor allem die Bedeutung der Presse im Wahlkampf kann in einer Nation von Zeitungslesern, wie die Engländer bisweilen nicht zu Unrecht genannt werden, nicht gering veranschlagt werden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß in Großbritannien der größere Teil der populären Tagespresse mehr oder weniger eindeutig parteigebunden ist, größerenteils zugunsten der Konservativen. Wenn auch über den Anteil der sogenannten Presselords wie Northcliffe und Beaverbrook an der Bildung der öffentlichen Meinung durch die von ihnen kontrollierten Blätter mangels genauer Zahlen kaum geschrieben werden wird, ist unbestreitbar, daß hier starke Einflußnahmen vorliegen

Ein anderer Umstand, der besonders ausländischen Beobachtern in diesem Zusammenhang auffällt, ist die ausgesprochene Homogenität der britischen öffentlichen Meinung. Bereits in den Vorkriegsjahren ähnelten sich die weltanschaulich anscheinend von so grundverschiedenen Positionen ausgehenden Programme der großen Parteien in vielen Punkten 00), und seitdem die Arbeiterpartei in den Jahren nach 1945 die hauptsächlichen Anliegen ihres Nationalisierungsprogrammes verwirklicht hatte und die Konservativen nach 1951 den Großteil dieser Maßnahmen unangetastet ließen, haben sich die Gegensätze weiterhin gemildert. Eine der anerkannten Schwierigkeit für Labour seit 1951, ihre Rüdekehr als Regierungspartei vorzubereiten, liegt darin, ein sich von den konservativen Vorstellungen deutlich unterscheidendes und zugleich anziehendes Programm für die Innenpolitik zu entwerfen. Diese communis opinio in vielen politischen Fragen wirkt sich in England aber nicht in einem Trend von den bestehenden Parteien weg zu unabhängigen Kandidaten aus, wie zuletzt wieder bei den Wahlen 1959, durch eine derartige Stagnierung der Parteipolitik die konservative Partei als die traditionelle Wahrerin bestehender Zustände und Institutionen begünstigt. In dieser Erscheinung spiegelt sich zugleich etwas von der selbstverständlichen Stellung wider, die die englischen Parteien als politische Organe nicht nur im Verfassungsbereich, sondern im Volksbewußtsein überhaupt einnehmen.

Die klassenmäßige Bevölkerungsschichtung als Wahlfaktor

Ein wesentlicher Beweggrund für die Anziehungskraft des Parteinamens bei der Wahlentscheidung dürfte schließlich in der berufs-und klassenmäßigen Zusammensetzung der Wählerschaft zu suchen sein. Dies gilt besonders im Hinblick auf die Arbeiterwähler. Die Labour-Partei ist eine politische Organisation, die sowohl nach ihrer Entstehung als auch in den Hauptpunkten der politischen Zielsetzung seit jeher in erster Linie die Interessen der Arbeiterklasse vertreten hat. Die Tatsache, daß sie sich damit zum Exponenten der im hochindustrialisierten Großbritannien weitaus überwiegenden Bevölkerungsschicht gemacht hat, — lohnempfangende Handarbeiter machten 1951 71, 8% aller Berufstätigen aus — hat dazu geführt, daß bei den Unterhaus-wahlen in den letzten Jahrzehnten die Verwendung von Argumenten, die in irgendeiner Weise an eine berufs-oder klassenmäßige Solidarität appellieren, stark zugenommen hat. Derartiges war dem früheren Ge-gegensatz zwischen Konservativen und Liberalen noch weitgehend fremd gewesen.

Die Anhängerschaft der konservativen Partei ist demgegenüber ihrer soziologischen Herkunft nach differenzierter gegliedert. Die Konservativen waren gezwungen, eine Antwort auf die Herausforderung Labours zu finden, sich als die berufene Vertreterin der zahlenmäßig mächtigsten Schicht innerhalb Großbritanniens auszugeben. Diese Situation mag die ständige Aufrechterhaltung und Erneuerung des alten Grundsatzes der Konservativen erklären, eine nationale, d. h. alle Bevölkerungsschichten gleichmäßig berücksichtigende Partei sein zu wollen. Diese Haltung ist nicht nur eine Folgeerscheinung der zahlreichen Fusionen, welche die Tories in den letzten siebzig Jahren mit anderen, hauptsächlich liberalen Parteigruppen eingegangen sind, sondern bedeutet seit dem Aufstieg Labours im Grunde überhaupt eine Voraussetzung für ihren Anspruch, eine mögliche Mehrheitspartei im Unterhaus zu bleiben. Ohne einen bestimmten Anteil an den Arbeiterstimmen zu erlangen, könnten die Konservativen, wie zahlenmäßig noch zu zeigen sein wird, seit der Einführung des allgemeinen Stimmrechtes keine Regierung mehr bilden. Man weiß innerhalb der Partei seit langem um diese Notwendigkeit, sich eine aus den verschiedensten Bevölkerungs-

schichten rekrutierende Wählerschaft zu erhalten. Disraeli beschrieb bereits in einem eindrucksvollen, wenn auch sicher nicht verfassungsrechtliche Richtigkeit erheischenden Satze, eines seiner frühen Romane, die beiden herausragenden Institutionen der britischen Verfassung als „the king and the multitude" Nach der Erweiterung der Wählerschaft durch die zweite Reformbill 1867 appellierte er in seinen Reden des öfteren an den „Tory working man". Lord Randolph Churchill nahm in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts diese Ideen unter dem Schlagwort der „Tory Democracy“ wieder auf, und der Gedanke der konservativen Partei als der Sammelstätte aller Kreise der Bevölkerung ist seither aus ihren Wahlappellen nie ganz verschwunden. Andererseits muß die Partei auch auf die Tatsache Rücksicht nehmen, daß sie einen guten Teil ihrer Wählerstimmen aus den mittleren und oberen Bevölkerungsschichten erhält und somit in bestimmtem Maße gleichfalls eine klassengebundene Partei ist.

In jüngerer Zeit haben eine Reihe von soziologischen Studien, die mit dem Verhalten der britischen Wählerschaft befaßt waren, deutlich gemacht, daß diese Betonung der Verbundenheit zu bestimmten Bevölkerungsklassen, wie sie in der Wahlpropaganda vor allem der Labour-Partei anklingt, in der Tat eine Ausnutzung realer Gegebenheiten darstellt Die Entscheidung vieler englischer Wähler ist in hohem Maße von gewissen tiefeingewurzelten sozialen Werturteilen und Zugehörigkeitsgefühlen bestimmt. In einer besonders umfassenden Studie gibt J. Bonham folgende interessante Übersicht der grundsätzlichen klassenmäßigen Aufgliederung der britischen Bevölkerung zwischen Mittelstand und Arbeiterklasse in den ersten drei Nachkriegswahlen'0):

Die Zahlen schließen Familienangehörige und aus Altersgründen nicht mehr Berufstätige jeweils ein. Die Differenzen, die in der Tabelle zwischen der für die Gesamtwählerschaft und der aus einer Addition von Mittelstand und Arbeiterklasse gewonnenen Zahl bestehen, erklären sich durch die Nichtberücksichtigung bestimmter Zwischengruppen, hauptsächlich der ländlichen Berufe oder der zahlenmäßig schwachen Oberschicht, wie sie von J. Bonham im Interesse einer klaren Abgrenzung zwischen den beiden Begriffen vorgenommen wurde. Die eigentliche Trennungslinie zwischen Mittelstand und Arbeiterklasse wird hier in der Tatsache gesehen, ob eine bestimmte Berufsgruppe Lohnempfänger für Handarbeit ist oder nicht. („Manuel wages“ im Gegensatz zu allen anderen Arten der Vergütung. Bei dieser Unterscheidung handelt es sich nach Bonham um mehr als einen bloßen technischen Kunstgriff, sondern sie würde mehr oder weniger dem Volksbewußtsein entsprechen. Der „Mittelstand“ umfaßt bei dieser Definition dann einen weiteren Bereich an Berufsstellungen, als ihm im gewöhnlichen Gebrauch des Wortes in der deutschn Sprache zugeordnet wird. Die drei Hauptgruppen sind die Geschäftswelt, die Professions, sowie eine Reihe von Büroberufen, die sogenannte „White collar" -Gruppe. Innerhalb jeder dieser Gruppen bestehen große Unterschiede in Einkommensverhältnissen und sozialer Stellung. Die Arbeiterklasse wirkt demgegenüber als eine homogen zusammengesetzte Schicht und umfaßt im wesentlichen gelernte und ungelernte Lohnempfänger in den verschiedenen Zweigen der Industrie.

Bedeutung und Grenzen der Wahlanalyse nach Bevölkerungsklassen

Trotz mancher notwendigen Vereinfachungen und des Risikos gewisser Fehlschätzungen, lassen sich aus diesen und ähnlichen Zahlen einige genauere Aufschlüsse über das Verhalten der britischen Wählerschaft gewinnen. Vor allem wird als fundamentale Tatsache deutlich, daß die Parteifronten in Großbritannien zum Teil mit der durch verschiedene Berufsstellung und Einkommen hervorgerufenen Gliederung der Bevölkerung parallel laufen. Wie Bonham es ausdrückt, kann man die Wahlen auf diese Weise u. a. auch als einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Klassen der Bevölkerung auffassen, die jede eine Priorität in der Sicherstellung ihrer materiellen Bedürfnisse beanspruchen. Der Einzelwähler braucht sich dabei nicht bewußt zu sein, daß das egoistische klassenmäßige Interesse regelmäßig die Entscheidungsgrundlage seiner Wahl darstellt Die Beobachtung liefert weiterhin eine überzeugende Erklärung für die erwähnte Bevorzugung des Partei-etiketts von der individuellen Persönlichkeit bei der großen Mehrzahl der Wähler.

Besonders stark tritt der Gedanke der Klassenvertretung, wie bereits angedeutet, bei der Labour-Partei hervor, die sich in entscheidendem Maße auf die Arbeiterwähler stützt. Sie ist zugleich eine ausgesprochene städtische Partei. Demgegenüber unterstützt nur ein ausgesprochen geringer Anteil des Mittelstandes die Arbeiterpartei, wobei es sich wiederum um die einkommenmäßig am niedrigsten stehenden Gruppen der Lower Middle Class (insbesondere Büroberufe) handelt. Gegenüber dieser Uniformität der Labourwählerschaft beziehen die Konservativen ihren Stimmanteil zu ungefähr gleichen Teilen aus dem Mittelstand und der Arbeiterklasse. Diese Unterstützung der in ihrer parlamentarischen Spitzengruppe immer noch sehr aristokratisch — exklusiv erscheinenden Tories könnte erstaunlich wirken, zöge man nicht die im vorangehenden erwähnte traditionell nationale Ausrichtung der Partei mit in Betracht. Die politische Zukunft der Konservativen, ist auf diese Weise bei der augenblicklichen Zusammensetzung der Bevölkerung, stets von der wahlmäßigen Unterstützung zumindest eines Drittels des Arbeiterstandes abhängig. Man hat das die Grund-tatsache des englischen politischen Lebens in den letzten Jahrzehnten genannt Während Labour selbst auf die Unterstützung ihres gegenwärtigen Mittelstandsanhanges verzichten könnte, wenn es dafür einen Teil der konservativen Arbeiterschaft zu sich herüberzöge, ist das Umgekehrte für die Konservativen nicht möglich, ohne daß sie in einer deutlichen Minderheit gelassen würden.

Die genannten Zahlen sind zugleich eine eindrucksvolle Bestätigung der Tatsache, daß trotz aller Bedeutsamkeit der klassenmäßigen Zugehörigkeit für die Parteivorliebe des Durchschnittswählers, die englischen Wahlen nur in sehr beschränktem Maße als Ausdruck eines bewußten Klassenkampfes gedeutet werden können. Die im allgemeinen für eng-lische Wahlkämpfe charakteristische Mäßigung der politischen Temperamente ist oftmals gesehen worden Auch sie kann man zu einem guten Teil aus der sozialen Zusammensetzung der Wählerschaft erklären. Die beiden großen politischen Parteien müssen zu einer gewissen Zurückhaltung in ihren Wahlprogrammen und der allgemeinen politischen Haltung bereit sein, um sich nicht entscheidende Teile ihrer Anhängerschaft zu entfremden und so den Gegner an die Regierung zu bringen. Allzu liberale Wirtschaftsgrundsätze oder offensichtliche Begünstigung landwirtschaftlicher Interessen, könnte die Konservativen leicht einen Teil ihrer Arbeiterwähler verlieren lassen, und umgekehrt hat Labour nach seinen Niederlagen 1951 und 195 5 mehrfach bewußte Anstrengungen unternommen, das Parteiprogramm zu liberalisieren, d. h., es auch für größere Teile der Mittelstandswähler schmackhafter zu machen als bisher

Man darf die in diesem Abschnitt hinsichtlich der klassenmäßigen Bindungen der britischen Wählerschaft gezogenen Schlüsse freilich nicht verabsolutieren. Sie beruhen im wesentlichen auf einem Material, das auf dem Wege der sogenannten Meinungsforschung gefunden worden ist, wobei in Großbritannien durch die allmähliche Verfeinerung der Befragungsmethoden u. ä. direkte Falschaussagen zwar weitgehend ausgeschlossen worden sind die gewonnenen Ergebnisse jedoch immer nur eine bestimmte Augenblickssituation widerspiegeln und daher nur auf diese bezogen, eigentliche Gültigkeit beanspruchen können. Wie D. E. Butler, einer der erfahrensten englischen Wahlexperten es ausgedrückt hat, besteht eine der größten Schwierigkeiten beim Studium von Wahlen darin, zu beurteilen, ob ein bestimmtes Zahlenmaterial eine ephemere Zufallssituation wiedergibt oder eine weitergehende Aussage ermöglicht. Dieser Schwierigkeit unterliegt auch die bisher behandelte Frage des Verhaltens der Wählerschaft gegenüber Parteien und Individuen. Daß die Persönlichkeit der Einzelkandidaten nicht ohne jeden Einfluß ist, war bereits erkannt worden. Aber auch die klassenmäßigen Sympathien der Wählerschaft können bisweilen durch andere Einflüsse zurückgedrängt werden. Die britische Wahlrechtsgeschichte kennt mehrere Beispiele, in denen überwältigende politische Ereignisse die Wähler aus der Bahn ihrer normalen Zu-neigungen rissen und sie gewöhnlich dann hinter einer im Mittelpunkt des Tages stehenden Persönlichkeit oder Partei zu einen vermochten. Hierher gehörte etwa der konservative Erfolg in den unter dem Schatten des südafrikanischen Krieges stehenden „Khaki" -Wah-len, die dominierende Persönlichkeit Lloyd Georges 1918, der eine sonst recht heterogene Koalition hinter sich zu einem der größten Wahlsiege der parlamentarischen Geschichte Großbritanniens zu vereinen wußte; oder auch der überwältigende Erfolg der nationalen Koalition Mac Donalds in der Wirtschaftskrise 1931 Wenn auch das Zahlenmaterial für jene Wahlen noch nicht mit der gleichen Genauigkeit wie nach 1945 soziologisch untersucht worden ist und man außerdem stets im Auge behalten muß, daß unter dem System relativer Mehrheitswahlen beträchtliche Änderungen im Sitzzahlverhältnis der Parteien im Unterhaus durch eine wesentlich geringere Verschiebung der Stimmenzahlen innerhalb der Wählerschaft hervorgerufen zu werden pflegen, kann doch mit einiger Sicherheit angenommen werden, daß in Zeiten aufgewühlter politischer Leidenschaften sich die klassenmäßigen Festlegungen der Wählerschaft auflockern. Für normale Zeiten können dagegen die oben anhand der Tabelle J. Bonhams gemachten Feststellungen als gültige Aussagen über das Voting Behaviour der britischen Nachkriegswählerschaft angesehen werden.

Weitere Aspekte des Wählerverhaltens

Dies kann mit großer Sicherheit deshalb angenommen werden, da Bonhams Thesen durch die Feststellungen einer Reihe von Einzel-studien in bestimmten Wahlkreisen in glücklicher Weise bestätigt werden Diese beruhen im Gegensatz zu J. Bonhams Darstellung, der sich entsprechend seiner weiteren Fragestellung größerenteils auf Zahlen des British Institute of Public Opinion stützte, auf unmittelbaren sogenannten „Feldstudien" der betreffenden Autoren oder Autoren-gruppe. Für die hier zu behandelnde Frage ist es von Bedeutung, daß diese Studien, die voneinander unabhängig, zu verschiedenen Zeiten und in dem sozialen Milieu nach sehr unterschiedlichen Wahlkreisen unternommen worden sind, regelmäßig zu demselben allgemeinen Ergebnis gelangen, daß nämlich die Zugehörigkeit zu einer bestimmten s'zialen Klasse der regelmäßig determinierende Faktor bei der Wahl-entscheidung sei Aus diesen Studien geht auch deutlich hervor, wie ein großer Teil der Wähler, insbesondere in der Arbeiterschaft, seine Wahlentscheidung auf Grund bestimmter ganz einfacher „Bilder" trifft, welche er von den verschiedenen Parteien in sich trägt(z. B. Labour — „die Partei, welche gegen Arbeitslosigkeit kämpft“ In einer von ihnen findet sich ferner eine nähere Aufschlüsselung des konservativen Arbeiterwählers. In dem hier im Oktober 1951 untersuchten Wahlkreis von Droylsden wurde festgestellt, daß diese Stimmen größerenteils von Frauen kommen, sowie aktiven protestantischen Kirchenmitgliedern, älteren Personen, Arbeitern mit einem gewissen Eigentum, wie z. B. einem Haus, Nichtgewerkschaftlern, Arbeitern in größeren Betrieben und solchen, die länger als 6 Jahre in demselben Betrieb unter derselben Leitung tätig waren. Die Labourarbeiterschaft setzte sich demgegenüber mehr aus Männern jüngeren Alters zusammen, Atheisten, Katholiken, kinderreichen Familien, Mietern, Gewerkschaftlern und Arbeitern in Betrieben mit weniger als 100 Mann Personal. Wenn auch gerade bei der Beurteilung derartiger Untersuchungen in dem beschränkten Gebiet eines Wahlkreises Vorsicht vor Verallgemeinerungen geboten ist, vermögen sie doch einen ungefähren Einblick in die soziale Zusammensetzung und manche der Attitüden der britischen Wählerschaft zu geben. Ähnliche Arbeiten haben Licht auf die Rolle der Frauenstimmen in den Unterhauswahlen geworfen Aus ihnen geht hervor, daß diese heute einen ebenso wesentlichen Bestandteil der konservativen Stimmstärke bilden wie das erwähnte Drittel der Arbeiterschaft (die beiden Gruppen sind vermutlich zum Teil identisch, da ein großer Teil weiblicher Arbeiter konservativ stimmt). Seit der Einführung des Frauen-stimmrechtes 1918 und 1928, deuten alle vorhandenen Zahlen darauf hin, daß die Mehrzahl der Frauen sich regelmäßig für die Konservativen entscheidet, die nach einigen Schätzungen etwa 60 °/o ihrer Wahl-unterstützung von Frauen erhalten Diese Feststellungen entbehren nicht einer gewissen Ironie, wenn man bedenkt, daß in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gerade die konservative Partei der entschiedenste Gegner des Frauenwahlrechtes gewesen war, was seinen Grund neben einer allgemeinen Zuneigung zur Beibehaltung überkommener Zustände vor allem in einer falschen Einschätzung der für die Gesamtheit der Frauenwähler untypischen radikalen Suffragettenbewegung gehabt hatte. Die englischen Zahlen stimmen mit älteren schwedischen Untersuchungen Tingstens überein der in allgemeinerem Zusammenhang nachzuweisen versucht, daß die Einführung des Frauen-stimmrechtes stets Parteien eines bourgeosien Typus, insbesondere solche mit Verbindungen zu den Kirchen begünstigt hat.

Die „Floating Vote" im britischen Wahlsystem

Diese soziologischen Untersuchungen, die insgesamt gesehen unter normalen Zeitumständen eine gewisse Starrheit in der durch die Klassenzugehörigkeit vorbedingten Entscheidung der Mehrzahl der Wähler erkennen lassen, sind für eine Untersuchung des britischen Wahl-systems besonders bedeutsam. In der relativen Mehrheitswahl besteht die eigentliche Aufgabe für eine Partei, die Kandidaten ins Unterhaus bringen möchte, darin, Mehrheiten in den örtlichen Wahlkreisen zu finden. Erkennt man an, daß die Mehrzahl der englischen Wähler, entsprechend ihrer soziologischen Zugehörigkeiten, normalerweise auf eine der beiden großen Parteien festgelegt sind, lassen sich zwei Grund-situationen in den Wahlkreisen denken. Entweder besteht in bevölkerungsmäßig homogen zusammengesetzten Constituencies wie Arbeitervororten auf der einen, Villenvierteln oder ländlichen Bezirken auf der anderen Seite, in nahezu jeder Wahl eine sichere Mehrheit für eine Partei. Dies sind die sogenannten »sicheren" Sitze, ein begehrenswertes Ziel der meisten Unterhausabgeordneten. Oder aber die Bevölkerung setzt sich in anderen Wahlkreisen aus den verschiedensten Schichten zusammen, so daß die Mehrheiten von einer Partei zur anderen öfters wechseln (sogenannte „Marginal Seats"). In diesen Bezirken werden englische Unterhauswahlen eigentlich entschieden. Da aber auch in solchen Wahlkreisen, allem vorhandenen soziologischen Zahlenmaterial zufolge, die Mehrheit der Wähler eine feste Parteivorliebe hat, ist die eigentliche Entscheidung von einer relativ kleinen Bevölkerungsgruppe abhängig, die geneigt ist, ihre politischen Überzeugungen von Zeit zu Zeit zu wechseln oder sich bisweilen der Stimme zu enthalten. Eine Anzahl von Untersuchungen in der Zeit nach 1945 hat sich bemüht, nähere Tatsachen über diese sogenannte „Floating Vote“ festzustellen, die unter dem englischen System eine Schlüsselposition einnimmt und den Ausgang der Wahlen bestimmt Es scheint indessen nicht einfach zu sein, die Zusammensetzung dieser Gruppe in genauerem Maße kennenzulernen. Eine These geht dahin, daß es sich dabei in der Hauptsache um die einkommenmäßig am niedrigsten stehenden Gruppen des Mittelstandes (Büroberufe) handele, die wirtschaftlich auf einer Höhe mit Facharbeitern stehen. Diese Schicht könne als eine Art Stimmungsbarometer der Wählerschaft angesehen werden. Eine wirtschaftliche Baisse, auch geringeren Ausmaßes, träfe sie besonders, andererseits spüre sie ebenfalls einen Aufschwung recht bald. Sie nehme somit eine Mittelstellung zwischen begüterteren Schichten und der Arbeiterschaft ein, und dies drücke sich unter anderem in einem häufigen Wechsel ihrer Parteivorliebe zwischen den Konservativen und Labour aus

Dieser die „Floating Vote" im wesentlichen mit der „Lower Middle Class“ gleichsetzenden Auffassung ist jedoch in neueren Untersuchungen, u. a.derjenigen J. Bonhams über den Mittelstand, widersprochen worden. Aus den vorhandenen Einzelstudien des „Voting Behavi-our" in speziellen Wahlkreisen geht zumindest negativ hervor, daß sich die „Floating Vote" nicht geschlossen aus einer bestimmten Berufs-und Einkommensschicht zusammensetzt, sondern eine komplexere Erscheinung darstellt. Wahrscheinlich ändern mehr Leute und solche aus den verschiedensten Bevölkerungsgruppen von Zeit zu Zeit ihre politischen Ansichten, als es jene andere Theorie angenommen hatte Wie sich aber die „Floating Vote“ im einzelnen zusammensetzt, ist bisher noch nicht festgestellt worden. Es hieße vermutlich die Technik der Befragungsmethoden überfordern, festzustellen, inwieweit Wähler beabsichtigen, zukünftig ihre Meinung zu ändern. Abgesehen von diesen Schwierigkeiten, ihre genaue Struktur zu bestimmen, ist die Erkenntnis vom Vorhandensein der „Floating Vote“ und ihrer zentralen Bedeutung für das Verständnis des praktischen Arbeitens des englischen Systems unerläßlich. Man kann sie verschieden beurteilen. Kritiker der relativen Mehrheitswahl wie J. F. S. Ross haben sich bisweilen gegen die Tatsache aufgelehnt, daß eine kleine wankelmütige Minderheit der Bevölkerung als Zünglein an der Waage das Gesamtergebnis einer Unter-hauswahl in entscheidender Weise zu beeinflussen vermag Von anderen ist die „Floating Vote“ wiederum als der politisch aktive Teil der Nation angesehen worden, der sich ein selbständiges Urteil in öffentlichen Angelegenheiten bilde und daher mit Recht einen gesteigerten Einfluß bei der politischen Willensbildung ausübe. Keine dieser Hypothesen konnte indessen bisher durch genaueres Tatsachenmaterial gestützt werden; ohne solches spiegeln sie lediglich die Sympathien beziehungsweise Abneigungen der betreffenden Autoren gegenüber bestimmten Wahlformen wider.

Politik und Zeitgeschichte

AUS DEM INHALT DER NÄCHSTEN BEILAGEN:

Ernst Deuerleins „Deutschland in Vorstellung und Aussage des Marxismus-Leninismus" Gerhard v. Mende; „Die Situation der Turkvölker in der UdSSR"

Franz Strebin: „Autorität und Freiheit — über die Anfänge der deutschen Jugend-bewegung" Kari C. Thalheim „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft"

Heinrich Uhlig« „Hitlers Einwirkung auf Planung und Führung des Ostfeldzuges"

Walter Wehe; „Menschenrechte und Grundfreiheiten" *** „Pekings Wirtschaftsbeziehungen zum Ausland"

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. hierzu „Grundlagen eines Deutschen . Wahlrechts", Bericht der vom Bundesminister des Innern eingesetzten Wahlrechtskommission, 1955, S. 49 f.

  2. Vgl. Ross „Parliamentary Representation" 2. Ausl. 1943 passim;

  3. Whitakers Almanach, ein jährlich erscheinendes allgemeines Handbuch, das u. a. Zahlenmaterial über die einzelnen Wahlkreise und deren Resultate in den Wahlen enthält. Die „Times House of Commons* erscheint als Bammelband nach jeder allgemeinen Wahl und enthält vor allem nähere Angaben über den Werdegang der neugewählten Abgeordneten und auch ihrer unterlegenen Gegenkandidaten.

  4. In den oben angegebenen Werken wird die Zusammensetzung des Unterhauses u. a. nach dem Alter der Abgeordneten, Mitgliedschaft von Frauen, Erziehung und dem Anteil des Adels unter den Abgeordneten untersucht.

  5. Vgl. D. E. Butler «The British General Election of 1955", 1955, S. 43. Für die vorangegangenen Wahlen geben R. B. Mc Callum „The British General Election of 1945', 1947, S. 273 f., H. G. Nicholas „The British General Election of 1950", 1951, S. 47 ff. D. E. Butler „The British General Election of 1951', S. 41 entsprechende Tabellen. Der Verfasser hat sich dafür entschieden, lieber die Zahlen einer bestimmten Wahl anstelle von Durchschnittswerten anzugeben. Ein Vergleich mit Ross „Elections and Electors", S. 373 ff., der Durchschnittszahlen seit 1918 errechnet, zeigt, daß die grundsätzlichen Verhältnisse dieselben geblieben sind. Unter diesen Umständen erweckt die Art der Darstellung wie hier keine falschen Vorstellungen und hat andererseits den Vorteil größerer Anschaulichkeit. Die Zahlen der Wahl von 1955 wurden bevorzugt, weil diese Wahl im ganzen sehr harmonisch verlief und selbst im Stimmen-Sitzzahlverhältnis

  6. Der Ausdruck „Profession'umfaßt im Englischen die Berufe mit einer Art schulmäßigen Vorbildung, sei es an der Universität, militärischen Ausbildungsstätten oder vermittels einer besonderen Fachausbildung.

  7. Die beiden Laufbahnen, die zusammen der deutschen Rechtsanwaltschaft entsprechen.

  8. Diese Gruppe umfaßt sozial sehr verschiedene Personenkreise, von Pächtern bis zu Großgrundbesitzern, so daß die einheitliche englische Bezeichnung am besten beibehalten wurde.

  9. Die Aufstellung gerade dieser Tabellen über die berufsmäßige Gliederung des Hauses muß oftmals Schwierigkeiten bereiten, da viele Abgeordnete mehrere Berufe hinter-oder nebeneinander ausüben. R. B Mc Callum schilderte dies dem Verfasser einmal an dem Beispiel Churchills, den man unter so verschiedenartige Kategorien wie Schriftsteller, Angehöriger der bewaffneten Streitkräfte, Berufspolitiker, Privatmann hätte einordnen können. Mc Callum entschied sich in diesem Falle für die Armed Services (Flotte), da die Vorliebe Churchills für militärische Angelegenheiten seit seiner Jugend ausgeprägt war. Im Gegensatz hierzu ordnete H. G. Nicholas „The British General Election of 1950', 1950 S. 48, ihn 1950 als „Berufspolitiker" ein.

  10. Zur „Intelligenz" in der Labour-Partei vgl. J. F. S. Ross „The Personell of the Parties", in: S. D. Bailey “ The British Party System“ 2. Ausl. 1953, S. 168 ff. (173).

  11. Bagehot „The English Constitution", 17. Tausend, 1919, S. 163.

  12. „Parliamentary Representation" 2. Ausl., S. 66 ff. Vgl. besonders die Tabellen mit den drei besonders hervorstechenden Berufsarten der Rechtsanwälte, Gesellschaftsdirektoren und Gewerkschaftsführern, S. 76.

  13. Ross geht sogar bis zu der Aussage, unter dem gegenwärtigen System sei das durchschnittliche Maß an Integrität und Fähigkeit im Unterhaus weit unter dem, was man normalerweise erwarten könnte: Parliamentary Representation“ 2. Ausl., S. 170.

  14. Kenntnisse der Kommunalverwaltung sind im Unterhaus gut verbreitet. Im Parlament von 1951 befanden sich z. B. unter 625 Abgeordneten 222, die früher in irgendeiner Form im Local Government tätig gewesen waren; vgl. D. E. Butler „Local Government in Parliament", in: Public Administration Vol. XXXI (1953), S. 46 f. und den Aufsatz unter gleichem Titel von B. Keith-Lucas, in: Public Administration Vol. XXXIII (1955), S. 207 ff.

  15. Für eine grundsätzliche positive Bewertung der Stellung der Interessenverbände im Verfassungsstaat für England vgl. neuerdings S. E. Finer „In Defence of Pressure Groups“ in «The Listener“ 1956, S. 751 ff.

  16. Ross'Vorstellungen zu diesem Punkte stellen letztlich einen Abglanz der berühmten Rede Mirabeaus vom 30. Juni 1789 dar. „Les Etats sont pour la nation ce qu'est une carte reduite pour son itendu physique; soit en partie, soit en grand, la copie doit toujours avoir les memes proportions que l'originar (zit. nach K. Braunias „Das Parlamentarische Wahlrecht. Ein Handbuch über die Bildung der gesetzgebenden Körperschaften in Europa" 1932, Bd. I, S. 194). Diese Worte, oftmals zur Rechtfertigung der Verhältniswahl verwendet, waren ja ursprünglich viel mehr in einem berufsständischen als modern parteimäßigen Sinne gemeint. Die geschichtliche Erfahrung zeigt freilich, daß es unmöglich ist, die „memes proportions“ in zu engem Sinne auszulegen. Gewöhnlich sind es bestimmte soziologische Schichten, die zu besonderer parlamentarischer Aktivität und Vertretung drängen, wie das Bürgertum in Frankreich 1789, oder in England im 19. Jahrhundert landbesitzende Aristokratie und Handelsschichten, heute Unternehmerschaft und Gewerkschaften.

  17. 1931 wurde Ramsay Mac Donald, der damalige Premierminister zusammen mit einigen anderen Führern der Labour-Partei über Differenzen in der Behandlung der Wirtschafts-und Finanzkrise aus der Partei ausgeschlossen. Mc Donald gründete daraufhin eine eigene Nationale Labour-Partei und führte die Wahlen 1931 an der Spitze einer Einheitsfront mit den Konservativen und dem größeren Teil der Liberalen durch. Seine eigene Partei wurde fast überall geschlagen, aber die Spaltung in den Reihen Labours verminderte ihre Sitze von 288 auf 52, die fast ausschließlich in den erwähnten Arbeiterhochburgen lagen.

  18. Schon weil sie die größten Geldgeber der Labour-Partei bei der Durchführung einer allgemeinen Wahl sind. Vgl. für die Wahl 1955 den aufschlußreichen Artikel M. Harrisons . Trade Unions and the Election“, in: D. E. Butler „The British General Election of 1955", 1955, S. 212 ff. bs. S. 216.

  19. „Parliamentary Representation" 2. Ausl., S. 129 ff. mit einzelnen Beispielen aus der Vorkriegszeit.

  20. Auch J. F. S. Ross „Elections and Electors“, S. 288 glaubt, daß der »Verkauf“ von Sitzen in der Konservativen Partei nach 1945 unterdrückt worden ist.

  21. J. F. S. Ross erkennt dies selbst an, wenn er von dem „Polish" und „savoir faire“ der Aristokratie spricht, die ihr neben ihren finanziellen Ressourcen günstige Startpositionen für eine politische Laufbahn eröffnen) vgl. „Parliamentary Representation" 2. Ausl., S. 167 f.

  22. Vgl. etwa die Aufsatzsammlung . Der Wähler, die Hauptperson in der Demokratie" ’ Heidelberg 1947 (Schriften der deutschen Wählergesellschaft, 1. H.), darin insbesondere D. Stemberger . Uber die Wahl, das Wählen und das Wahlverfahren“.

  23. Etwa im Sinne der Darstellung Carl Schmitts . Verfassungslehre" 1928. Neudruck 1954, S. 310 ff.

  24. Eine gute Übersicht über die Konservative Wahlkreisorganisation bei K. Bulmer-Thomas »The Party System in Great Britain“, 1953, S. 133 ff.

  25. Vgl. J. F. S. Ross „Parliamentary Representation" 2. Ausl., S. 145 f.; J. Cadart . Le Regime Electoral Britannique. Le Scrutin Uninominal ä un Tour'in: M. Duverger „L’Influence des Systemes Electoraux sur la Vie Politique" 1950, S. 140;

  26. Abgeordnete haben unter Umständen drei Wohnungen zu unterhalten, in London, ihrem Wahlkreis und eventuell am Heimatort. Hinzu kommen andere Kosten für die Unterhaltung eines Büros in London, Repräsentationspflichten u. ä. Die Gesamtkosten wurden 1956 auf mindestens 700— 800 Pfund jährlich geschätzt. Abgeordnete erhalten an finanziellen Entschädigungen, alles eingerechnet, gegenwärtig 1 000— 1 200 Pfund im Jahr, so daß anderweitige geldliche Zuwendungen für die Mehrzahl der MP's eine Lebensnotwendigkeit bedeuten.

  27. Der Verfasser ist Miss Patricia Hornsby-Shmith, MP, für freundliche Auskunft zu den Fragen der Kandidatenauswahl innerhalb der Konservativen Partei zu Dank verpflichtet.

  28. Dieser schlug den berühmten Churchill, der sich dann als unabhängiger Antisozialist aufstellen ließ, um wenige Stimmen; ein bezeichnendes Beispiel, welche Bedeutung der offiziellen Parteikandidatur in den Augen der Wähler zukommt. Vgl. V. Cowies . Winston Churchill" 1953, S. 252 ff.

  29. Vgl. R. B. Mc Callum u. a. »The British General Election of 1945", S. 72.

  30. Vgl. „The Labour Party. Party Constitution and Standing Orders* Ausgabe 1954, Clause IX.; „The Labour Party. Constitution and Rules for Constituency Labour Parties in Single and undivided Boroughs“. Set A Clause XII. Der Verfasser ist der Labour Party, Transport House, London SW 1, National Agents Department für die Übersendung dieser Dokumente dankbar.

  31. Bisweilen werden dann Kandidaten offiziell als “ Cooperative and Labour“ aufgestellt, um ihre Anhängerschaft zu vergrößern. Für einen Einzelfall vgl. S. B. Chrimes „The General Flection in Glasgow 1950“, 1950, S. 36.

  32. VgL „The Labour Party. Party Constitution" a. a. O_ Clause IX (7), (c). (d).

  33. Es handelt sich zumeist um Auseinandersetzungen zwischen dem gemäßigteren Kurs der Parteileitung und Anhängern des zeitweilig weiter links stehenden Aneuran Bevan, die sich auch in den örtlichen Auswahlkomitees abspielten. So gewann etwa der Linkssozialist K. Zilliacus vor der Wahl 1955 in dem sicheren Laboursitz von Gorton, Manchester, die Nominierung gegen den von der Londoner Zentrale bevorzugten prospektiven Kandidaten. Freilich sind dies nur Einzelfälle. VgL Hierzu: D. E. Buttler „The British General Flection of 1955“, 1955, S. 46.

  34. R. B. Mc Callum, u. a. „The British General Flection of 1945“, S. 73, machen allgemein darauf aufmerksam, daß das praktische Problem in den Nachkriegsjahren darin besteht, überhaupt genügend Kandidaten zu finden. Die bereits erwähnten finanziellen Belastungen spielen eine erhebliche Rolle. „British Politics . . . are extremely pure, one might even say, arid.“

  35. Zahlen zusammengestellt nach der Aufstellung Cadarts „Regime Elec-torai et Regime Parlementaire en Grande-Bretagne", 1948, S. 74, und den verschiedenen „Times House of Commons“ für die genannten Wahlen. Für die Wahl 1959 ergaben sich keine grundsätzlichen Abweichungen.

  36. Independent Labour Party, eine der Arbeiterpartei nahestehende intellektuelle Gruppe.

  37. Commonwealth-Partei. Sie bildete sich als eine ebenfalls links-stehende Organisation während der Krfegsjahre.

  38. Eine günstige Situation für Kleinparteien bot noch einmal der Zweite Weltkrieg, als die Konservative-Labour-Koalition nach 1940 In Zwischen-wahlen nur je einen gemeinsamen Kandidaten aufstellte. Dies brachte einer kurzlebigen Gründung, der sozialistischen Commonwealth-Partei während der Kriegsjahre einen gewissen Stimmenzulauf ein. Bei den Wahlen 1945 konnte die Partei mit 23 Kandidaten, aber nur noch in einem Wahlkreis, die Mehrheit erringen, nachdem die Arbeiterwähler wieder überall für Labour-Kandidaten stimmen konnten. Ob die seit 1958/59 zu beobachtenden einzelnen Erfolge der Liberalen wirklich bereits ihre Rückkehr in das britische Zweiparteiensystem unter erneuter Verdrängung Labours für die Zukunft ankündigen, erscheint heute noch mehr als zweifelhaft.

  39. Einiges zur Finanzierung der Wahlausgaben der Konservativen Partei bei J. Bulmer-Thomas „The Party System in Great Britain* 1953, S. 177 f.

  40. Vgl. J. F. S. Roos „Parliamentary Representation" 2 Ausl. 1948,

  41. Vgl. J. Caar . Regime Electoral et Regime Parlementaire en Grande-Bretagne", 1948, S. 103 ff,

  42. Vgl. J. Bulmer-Thomas „The Party System in Great Britain" 1953, S. 178. Zu den Konservativen Parteifinanzen, ferner R. T. Mc Kenzie „A Note on Party Finances" in: S. D. Bailey „The British Party System“ 2. Ausl., 1953, S. 134 ff.

  43. Hierzu vgl. ebenfalls R. T. Mc Kenzie „A Note on Party Finances" a. a. O., S. 134 ff.

  44. 2 & 3 Geo 5, C. 30. Vgl. besonders section 3.

  45. Näheres zur Finanzierung der Labour Partei durch die Gewerkschaften bei M. Harrison „Trade Unions and the Flection" in: D. E. Butler „The British General Flection of 1955, S. 212 ff. (215 bis 218).

  46. Vgl. M. Harrison „Trade Unions and the Flection" a. a. O., S. 217.

  47. Vgl. M. Harrison „Trade Unions and the Flection“ a. a. O., S. 218.

  48. Zahlen nach J. F. S. Ross „Elections and Electors" 1955, S. 223, 378, 384.

  49. Vgl. für Deutschland jüngst wieder . Grundlagen eines Deutschen Wahlrechts“ a. a. O., S. 50 f.

  50. Major Vivian Henderson im Unterhaus am 8. April 1921. zit. nach E. Lakeman — J. D. Lambert . Voting in Democracies. A Study of Majority and Proportional Electoral Systems* 1955, S. 132.

  51. Vgl. zu diesen frühen Beziehungen E. Porritt »The Unreformed House of Commons. Parliamentary Representation before 1832* 1903, Vol. I, S. 256 ff.

  52. Vgl. J. Cadart . Regime Electoral et Regime Parlementaire en Grande-Bretagne* 1948, S. 90.

  53. Vgl. hierzu P. G. Richards „Honourable Members. A. Study of the British Backbencher." 1959, S. 168 ff.

  54. Die Speakerkonferenz von 1944 beschäftigte sich mit diesen Fragen und empfahl, daß Parlamentsmitglieder nicht von örtlichen Organisationen zu stark finanziell belastet werden sollten. Vgl.den Text bei J. Cadart „Regime Electoral et Regime Parlementaire en Grande-Bretagne", 1948, S. 93. Das sogenannte „nursing“ der Wahlkreise hat aber nicht gänzlich aufgehört, dafür ist das Interesse der Parteien, sich Einfluß in den Wahlkreisen zu bewahren, zu stark.

  55. Das Vorhandensein der sicheren Sitze bringt es mit sich, daß Abgeordnete oftmals für Jahrzehnte denselben Wahlkreis vertreten. So ist z. B.der gegenwärtige Innenminister R. A. Butler seit 29 Jahren Abgeordneter für Saffron Walden, Essex. Das Unterhaus kennt auch den inoffiziellen Titel des „Father of the House of Commons", der dem Abgeordneten mit der längsten ununterbrochenen Mitgliedschaft im Hause, wenn auch nicht notwendigerweise für denselben Wahlkreis, verliehen wird. J. F. S. Ross „Elections and Electors", S. 470 ff. hat deren Liste seit 1835 zusammengestellt, in der sich bekannte Namen wie z. B.der D. Lloyd Georges (nahezu 55 Jahre fortdauernde Zugehörigkeit zu den Commons) befinden. Im 1959 gewählten Parlament ist dieser Titel Sir Winston Churchill zugefallen.

  56. Statt aller vgl. I. Jennings „The British Constitution“ 3. Ausl. 1950, S. 18.

  57. Das Beispiel gab Joseph Chamberlain mit der Einrichtung des soge-nannten „Caucus“ in Birmingham, einer wahltechnisch äußerst wirksamen liberalen Parteiorganisation, verbunden mit erfolgreicher Kommunalverwaltung. Bei der Kandidatenaufstellung wurden dort stets die Belange der Gesamtpartei in erster Linie berücksichtigt, nur selten Einzelpersönlichkeiten herausgestellt. Wie fest die Parteiorganisation in Birmingham die Wählerschaft hinter sich hatte, kann aus der Tatsache ersehen werden, daß es Joseph Chamberlain 1886 ohne weiteres gelang, als er sich als Liberal Unionist von der Hauptpartei trennte, die Wählerschaft in Birmingham hinter sich zu behalten. Nachdem die Liberal Unionists im Laufe der folgenden Jahrzehnte mehr und mehr in der konservativen Partei aufgingen, bildete die Birminghamer Parteiorganisation, in der lange Jahre spätere Angehörige der Familie Chamberlain wie Sir Austen und zuletzt Neville Chamberlain eine bedeutende Rolle spielten, ein wesentliches Kräftezentrum der Konservativen. Erst in der Wahl 1945 begann auch die Mehrheit der Birminghamer Arbeiter Labour zu wählen. Eine eingehende Schilderung der Einrichtung des Birminghamer Caucus bei M. Ostrogorski „Democracy and the Organisation of Political Parties“ 1902, Vol. I, S. 161 ff. - 1959 wurde wieder 1 Unabhängiger ins Unterhaus gewählt. -

  58. Zu dem interessanten Fall F. Gray vgl. J. Cadart „Regime Electoral et Regime Parlementaire en Grande-Bretagne“ 1948, S. 70 und Grays eigenes Buch „The Confessions of a Candidate", 1925.

  59. Vgl. R. Jenkins „Mr. Attlee. An Interim Biography“ London 1948, S. 146. Einige Beispiele für die Wahl 1955, in denen die besondere Persönlichkeit des Kandidaten Einfluß auf das Stimmenverhältnis gewann, bei D. E. Butler „The British General Election of 1955", 1955, S. 204 bes. Anm. 1.

  60. Vgl. D. E. Butler „The British General Election of 1955" 1955, S. 160, 204. Diese Beobachtung kann indessen nur eingeschränkt im Sinne einer Persönlichkeitszuneigung der Wähler gedeutet werden, da die Wahl 1955 eine der ruhigsten in den letzten Jahrzehnten war und eine allgemeine Tendenz zeigte, einfach den Status Quo der politischen Machtverteilung aufrechterhalten zu wollen. Von einer derartigen Tendenz wurden eingesessene Abgeordnete natürlich besonders begünstigt. — Für entgegengesetzte Beobachtungen vgl. etwa D. E. Butler „The British General Election of 1951“ 1951, S. 4.

  61. Sowohl Sir Antony Eden als auch Mr. Attlee veränderten durch ihr persönliches Ansehen in ihren Wahlkreisen gegenüber dem durchschnittlichen Trend im ganzen Lande das Ergebnis etwas zugunsten ihrer jeweiligen Partei. Zahlen bei D. E. Butler „The British General Election of 1955“ S. 204.

  62. „One trouble with the study of elections is that generalisations have to be based so few instances; it is always necessary to decide whether an apparent trend is a manifestation of a fundamental truth or the product of some quite ephemeral Situation"; vgl. D. E. Butler „The British General Election of 1955" 1955, S. 161.

  63. Zahlenmäßig ließ sich der bisweilen sehr geringe Einfluß von Einzelpersönlichkeiten früher in den Doppelwahlkreisen gut ablesen; vgl. ein Ergebnis in Antrine (Nordirland) 1945:

  64. Vgl. etwa J. Jennings „The British Constitution“ 3. Ausl. 1950, S. 6.

  65. Allerdings bleibt es mit der Einflußnahme der Presse auf die öffentliche Meinungsbildung eine eigentümliche Angelegenheit, sie sollte auch nicht überschätzt werden. In den Vereinigten Staaten waren in den dreißiger Jahren etwa 80% der Tagesblätter republikanisch orientiert, was die viermalige Wiederwahl F. D. Roosevelts mit jeweils beachtlichen Mehrheiten nicht verhinderte. In Großbritannien konnten die hohen Auflagezahlen der konservativ beeinflußten populären Presse am großen Wahlsieg Labours 1945 nichts ändern. Vgl. hierzu ferner A. H. Birch u. a. „The Populär Press in the British General Election of 1955“, in: Political Studies Oct. 1956, S. 297 ff.

  66. Vgl. hierzu J. Jennings „The British Constitution'3. Ausl. 1950,

  67. Zahl nach J. Bonham „The Middle-Class Vote“ 1954, S. 194. Entsprechende Ziffern: Deutschland 1946: 55, 2%; USA 1940: 59, 8%; Frankreich 1946: 59%; Italien 1936: 40, 6%.

  68. „Sybil or the two Nations” 1845.

  69. Die bisher umfassendste Darstellung bei J. Bonham „The Middle Class Vote“, passim. Zu Teilergebnissen dieses aufschlußreichen Buches vgl. bereits vorher: J. Bonham „The Middle Class Elector“, in: The British Journal of Sociology, Vol. III (1952), S. 222 ff. Wichtig auch A. H. Birch u. a. „Partis politiques et Classes sociales en Angleterre" in: Revue Francaise de Science politique, Vol. V (1955), S. 772 ff. Etwas unübersichtlich demgegenüber J. K. Pollock u. a. „British Election Studies 1950” 1951, S. 62. Vor allem wird die Klasseneinteilung dort nicht immer deutlich.

  70. Vgl. J. Bonham „The Middle Class Vote” 1954, S. 168. Bonham stützt sich auf das Zahlenmaterial des British Institute of Public Opinion, des angesehensten der englischen Meinungsforschungsinstitute.

  71. Vgl. J. Bonham „The Middle Class Vote“ 1954, S. 94.

  72. Vgl. A. H. Birch u. a. „Partis politiques et Classes sociales en Angleterre” a. a. O., S. 795.

  73. Ausführliche Darstellung bei J. Cadart „Regime Electoral et Regime Parlementaire en Grande-Bretagne“ 1948, S. 114 ff.

  74. Beide Parteien pflegen sich über den jeweiligen Stand der öffentlichen Meinung in allen Einzelheiten auf dem laufenden zu halten. Die konservative Partei unterhält zu diesem Zweck ein besonderes Research Department, während Labour sich auf die Arbeit der Fabian Society stützen kann, einer der Partei nahestehenden wissenschaftlichen Vereinigung, die regelmäßig Veröffentlichungen im Gebiet von Politik und Wirtschaft unternimmt.

  75. Das British Institute of Public Opinion hat vor den vier letzten Un-ferhauswahlen die Stimmverteilung (im Gegensatz zur Sitzverteilung, die unter dem englischen System größeren Schwankungen unterworfen ist) bis in die Bruchteile von Prozenten richtig vorausgesagt. Vgl. hierzu H. Durant „Political Opinion“ 1949.

  76. 1900 gewannen die Regierungsparteien (Konservative und Liberal Unionists) 402 von 670 Sitzen. Lloyd Georges Koalition 1918 483 von 707 und die „nationale“ Regierung Mac Donalds 1931 sogar 521 unter 615 Sitzen.

  77. Vgl. besonders M. Bunney u. a. „Social Class and Politics in Greenwich“ in: The British Journal of Sociology Vol. I (1950), S. 310 ff.; „How People vote. A Study of Electoral Behaviour in Greenwich" 1956, passim; A. H. Birch u. a. „Voting Behaviour in a Lancashire Constituency“; in; The British Journal of Sociology Vol. I (1950), S. 197 ff. S. B. Chrimes „The General Election in Glasgow 1950“, passim; P. Campbell u. a. „Voting Behaviour in Droylsden in October 1951“ in: The Manchester School of Economics and Social Studies Vol. XX (1952), S. 57 ff.; F. M. Martin „Social Status and Electoral Choice in two Constituencies" in: The British Journal of Sociology Vol. III (1952), S. 231 ff.; R. S. Milne u. a. „Straight Fight“ 1954 passim.

  78. Statt aller vgl. M. Bunney u. a. „Social Class and Politics in Greenwich, a. a. O., S. 326; „. . . that social class, in one or other of its . . . mani-festations, is the chief determinant of political behaviour“.

  79. Vgl. R. S. Milne u. a. „Straight Fight“ 1954, S. 145.

  80. Vgl. P. Campbell u. a. „Voting Behaviour in Droylsden in October 1951“ a. a. O., S. 62. Die religiösen Einflüsse auf die Wahlentscheidung in zwei Einzelwahlen in Kingston schildert mit Statistiken J. Meisel „Religious Affiliation and Electoral Behaviour, a Case Study“, in Canad. Journal Econ. Polit. Science Nov. 1956, S. 481 ff.

  81. Vgl. J. F. S. Ross „Women and Parliamentary Elections" in: The British Journal of Sociology Vol. IV (1953), S. 14 ff.; Ders. „Elections and Electors" 1955, S. 252 ff.

  82. Vgl. J. F. S. Ross „Elections and Electors“ 1955, S. 267.

  83. Vgl. T. Tingsten „Political Behaviour“ 1937, S. 229.

  84. Vgl. eine Spezialstudie in diesen Fragen: R. S. Milne u. a. „The Floating Vote“ in: Political Studies Vol. III (1955). S. 65 ff. Wichtig hierzu auch J Boham „The Middle Class Vote" 1954, S. 25, 177.

  85. So im wesentlichen die in der vorhandenen Anmerkung zitierten Stellungnahmen von Jennings und Duverger. Vgl. ferner J. Jennings „The Queen s Government“ 1955, S. 58.

  86. Vgl. R. S. Milne u. a. „The Floating Vote" a. a. O., S. 68; J. Bonham „The Middle Class Vote" 1954, S. 177.

  87. So J. F. S. Ross „Parliamentary Representation“ 2. Ausl. 1948, S. 227.

Weitere Inhalte