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Die Türkvölker im Herrschaftsbereich der Sowjetunion | APuZ 16/1960 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 16/1960 Die Türkvölker im Herrschaftsbereich der Sowjetunion

Die Türkvölker im Herrschaftsbereich der Sowjetunion

GERHARD VON MENDE

Quellen

Abbildung 1

Wenn man das Buch des bekannten Orientalisten C. Brockelmann »Die Geschichte der islamischen Völker und Staaten" durchblättert, um sich über die islamischen Völker im Bereich des russischen Staates oder der Sowjetunion zu unterrichten, so wird man zu seinem Erstaunen feststellen müssen, daß diese, die für die Entwicklung des Islams im Mittelalter sowohl wie in den Reformationsbewegungen der Neuzeit von nicht zu unterschätzender Bedeutung waren, in dieser Darstellung der islamischen Völker außer Betracht gelassen oder nur ganz am Rande im Zusammenhang mit der Darstellung der russischen Orientpolitik mit einigen wenigen Daten erwähnt werden. Brockelmann ist dabei für die Zeit vor dem 2. Weltkrieg kein Einzelfall, sondern die Regel. Aus zwei Gründen sind die Türkvölker im Bereich der Sowjetunion in der wissenschaftlichen Literatur des Westens stiefmütterlich behandelt worden:

Abbildung 5

Der russische Staat und die Sowjetunion haben es verstanden, einen Schleier vor die Geschehnisse in Rußland zu ziehen und die Fragen der politischen Entwicklung, mit denen sie intern fertig werden wollten, einer objektiv wissenschaftlichen Forschung vorzuenthalten. Zu solchen Tabus gehört seit jeher die nationale Frage, das heißt, Stand und Entwicklung der nicht-russischen Völker. Diese Frage hätte, vom Folkloristisch-Kulturellen ins Politische übergreifend, dem Gedanken des Einheitsstaates gefährlich werden können, und mit den Selbständigkeitsbestrebungen der einzelnen Nationen den zentral regierten Staat gesprengt.

Abbildung 6

Mit dem Sturz des Zarismus änderte sich zwar vorübergehend diese Lage. Die einzelnen Nationen kamen kurzfristig zu Wort. Sie erschienen vorübergehend auf der politischen Bühne. Der Bolschewismus schrieb sogar die nationale Frage groß auf seine Fahne und nannte seinen Staat einen vielnationalen, in dem unter Fortfall aller Beschränkungen und Privilegien alle Nationen gleichberechtigt seien. Mit der Festigung der zentralen Macht in der Sowjetunion änderte sich dieses Bild jedoch erneut. Die nationale Frage wurde wieder eines der großen Tabus in der Sowjetunion. Über kaum eine andere Frage ist es so schwierig, zuverläßige Auskünfte aus der Sowjetunion zu erhalten, wie über die Zahl und Entwicklung der einzelnen Nationen. Die Statistik schweigt besonders beharrlich zu diesem Thema. Das Verhältnis des Staatsvolkes, der Russen, zu den anderen Völkern steht nicht zur Diskussion. Russifizierungsbestrebungen, wie neuerdings etwa durch das Schulreformgesetz vom Dezember 1958 ausgelöst, sind der breiten Erörterung entzogen. Der sowjetische Kolonialismus darf nicht erwähnt, geschweige denn kritisiert werden. Gelegentliche Anprangerungen von „lokalem Nationalismus“ deuten aber darauf hin, daß auch in dem Lande, das vorgibt, die nationale Frage vorbildlich gelöst zu haben, zumindest noch Reste nationaler Eigenständigkeit lebendig sind, die noch nicht in der schab-lonenhaften Gleichmacherei der Sowjetunion untergegangen sind. Das konsequente Verschweigen von Tatsachen zur nationalen Frage zeigt aber, daß dies eine heikle Frage sein muß, in der die Sowjets besonders empfindlich sind.

Abbildung 7

Ganz besonders trifft das für die Türkvölker zu, die ja zugleich Muslims sind. Sie dienen heute der sowjetischen Propaganda als Aushängeschild gegenüber den afro-asiatischen Völkern. Und zwar einmal als Beispiel für die sowjetischen Errungenschaften bei früher rückständigen orientalischen Völkern wie zum anderen als Träger der alten islamischen Tradition, die in dieser Eigenschaft auf ihre Glaubensbrüder außerhalb der Sowjetunion wirken sollen. Es muß also den Sowjets daran liegen, die Frage der Türkvölker in der Sowjetunion nach außen so erscheinen zu lassen, wie die angestrebte propagandistische Wirkung es verlangt, und Tatsachen, die diesem Bilde widersprechen, nicht bekannt werden zu lassen.

Abbildung 8

In diesen politischen Hemmungen von russischer oder sowjetischer Seite sind die größten Schwierigkeiten für eine Beschäftigung mit den Türkvölkern zu sehen. Doch liegen auch auf unserer Seite Hemmungen vor, die im wesentlichen an der traditionsgebundenen Einstellung unserer Orientalistik liegen, die die Beschäftigung mit den Türkvölkern in der Sowjetunion als ein zu abwegiges Fachgebiet ansieht. Hierzu treten schließlich noch technische Schwierigkeiten. Das Studium auf diesem Gebiet setzt nicht nur die Kenntnis der russischen Sprache, sondern auch des Türkischen und der Türk-Dialekte voraus wie nach Möglichkeit auch die Kenntnis noch anderer orientalischer Sprachen. Diese Voraussetzungen sind aber nicht oft gleichzeitig gegeben.

Abbildung 9

Unser Bild über die Türkvölker und ihren gegenwärtigen Stand ist daher immer noch recht unvollkommen. Auch die russische Literatur, die zur historischen Entwicklung der Türkvölker reichhaltiges Material geliefert hat, versagt aus den oben angegebenen Gründen für die Gegenwart. So sehr sich die sowjetische Orientalistik mit der gegenwärtigen Entwicklung in Nah-und Mittelost befaßt, so wenig soll sie sich den Fragen des eigenen sowjetischen Orients zuwenden. Auf dem sowjetischen Orientalistenkongreß in Taschkent, 1958, ist von sowjetischer amtlicher Seite, und zwar durch den Mund des Sekretärs und Mitgliedes des Präsidiums des Zentralkomitees der KP der Sowjetunion, des Usbeken Muchitdinov, ausdrücklich festgestellt worden, daß die Fragen des Kaukasus und Zentralasiens aus dem Studium der allgemeinen Orientalistik herausgenommen werden sollten, weil sie zu den internen Fragen der Sowjetunion gehörten. Man unterstreicht zwar aus propagandistischen Gründen von sowjetischer Seite gern die Verbundenheit zwischen dem sowjetischen und dem ausländischen (nicht sowjetischen) Orient, will aber diese Verbindung in der Orientalistik nicht gelten lassen, um eine echte Verbundenheit der Islam-und Türkvölker, die unter Umständen auch in der Sowjetunion selbst Fuß fassen könnte, nicht aufkommen zu lassen.

Abbildung 10

Die Literatur zur Frage der Türkvölker in westeuropäischen Sprachen war bis vor wenigen Jahren sehr dürftig. Erst seit den 5O-er Jahren mehrt sich die Zahl der Arbeiten zu diesem Thema oder zur Gegenwartslage einzelner Türkvölker.

Zur allgemeinen Orientierung darf auf folgende wichtigsten Arbeiten verwiesen werden, die in chronologischer Folge geordnet sind:

G. v. Mende Der nationale Kampf der Rußlandtürken — ein Beitrag zur nationalen Frage in der SU — Berlin 1936. Olzscha-Kleinow Turkestan. Leipzig 1941. Edige Kirimal Der nationale Kampf der Krimtürken.

Emsdetten 1953. Olaf Caroe Soviet Empire. The Turks ov Central Asia and Stalinism. London 1953. Stefan Wurm Turkic Peoples of the USSR. London 1954. Walter Kolarz Die Nationalitätenpolitik der Sowjetunion.

Frankfurt/M 1956. B. Hayit Turkestan im XX. Jahrhundert. Darmstadt 1956. Alexander G. Park Bolshevism in Turkestan 1917— 1927.

New York 1957. Charles W. Holster Turkism and the Soviets. London 1957. Vicent Monteil Les Musulmans sovietiques. Paris 1957. W. Baczkowski Russian Colonialism.

The Tsarish and Soviet Empire in „Idea of Colonialism". New York 1958.

Der laufenden Unterrichtung dient die „Central Asian Review“, herausgegeben vom Central Asian Research Centre in London, die in Vierteljahresheften zu Fragen der Geschichte, Geographie, Demographie, Kunst, Erziehung, Verkehr der sowjetischen Muslim-Republiken Aserbeidschan, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisistan und Kasachstan Informationen gibt.

In ähnlicher Form unterrichten die Berichte der „Documentation Franpaise“. Der „Forschungsdienst Osteuropa“ gibt seit Anfang dieses Jahres Analysen aus den fünf zentralasiatischen Republiken auf Grund der türksprachigen und russischen Presse dieser Sowjetrepubliken heraus, sowie kleinere Arbeiten zu Einzelfragen aus dem Bereich der Türkvölker.

Zahlen und Siedlungsräume

Abbildung 2

Für die Beurteilung der Größe und Verteilung der auf dem Territorium der Sowjetunion lebenden Völker, wie überhaupt deren Entwicklung unter sowjetischer Herrschaft geben die drei bisher in der Sowjetunion durchgeführten Volkszählungen von 1926, 1939 und 1959 unterschiedlichen Aufschluß.

Die Volkszählung vom 17. 12. 1926 brachte vielseitige und zuverläßige Ergebnisse zur nationalen Frage. Diese Ergebnisse sind auch heute noch wichtig, selbst wenn sie für viele Volksgruppen und Gebiete durch starke Migration, Assimilation, unterschiedlichen nationalen Zuwachs in den vergangenen 32 Jahren, besonders aber durch Kriegs-und Ausrottungsverluste (z. B. für die Krimtürken), überholt sein dürften. Die Volkszählung vom 17. 1. 1939 gab nur sehr dürftige allgemeine Daten zur nationalen Gliederung, mit denen wenig anzufangen ist. Erst die letzte Volkszählung vom 15. 1. 1959 scheint wieder vollere Ergebnisse bringen zu wollen. Allgemeine erste Übersichten wurden in der sowjetischen Presse im Mai 1959 veröffentlicht. Sie sind jetzt durch eingehendere Ergebnisse zum Bildungsstand der Bevölkerung, zu ihrer nationalen Zusammensetzung, zu ihrer Gliederung nach Alter und Geschlecht und der Zahl der Eheschließungen durch eine Veröffentlichung in der »Pravda vom 4. 2. 1960 ergänzt worden. Auf diese Publikation stützen sich die im weiteren für 1959 angegebenen Zahlen.

Die Veröffentlichungen zur nationalen Gliederung der Bevölkerung der Sowjetunion 1959 zerfallen in zwei Teile: Im ersten wird eine Zusammenstellung aller Völker der Sowjetunion gegeben, geordnet nach ihrer Größe, beginnend mit dem russischen Volk von 114, 5 Millionen bis hin zu so kleinen Einheiten wie den Jukagiren öden den Aleuten mit je 400 Personen. Gleichzeitig wird der Prozentsatz der Personen angegeben, die als ihre Muttersprache die Sprache ansehen, zu deren Volkstum sie sich bekennen. Es ist bemerkenswert, daß die Zahl der Angehörigen der Türkvölker, die ihre eigene Türksprache als Muttersprache angeben, für die Türkvölker Turkestans und Kaukasiens über dem allgemeinen Durchschnitt in der Sowjetunion liegt. So sprechen 98, 9'/« aller Turkmenen turkmenisch, 97, 6’/• aller Aserbeidschaner aseri-türkisch. Für die Türkvölker des Wolga-Ural-Raumes ergibt sich wegen der Sonderlage dort ein etwas anderes Bild. Von allen Tataren geben als Muttersprache 92, 1 •/• Tatarisch an. Der Rest spricht wahrscheinlich russisch. Von allen Baschkiren hatten nur 61, 7 ° Baschkirisch als Muttersprache. Das bedeutet jedoch nicht, daß der Rest Russisch als Muttersprache hatte, sein überwiegender Teil dürfte vielmehr sehr wahrscheinlich Tatarisch als Muttersprache sprechen.

Schon diese wenigen Hinweise zeigen, daß die ersten Veröffentlichungen zur Volkszählung von 1959 noch viele Fragen offen lassen.

Das wird noch deutlicher, wenn man die Daten zum zweiten Teil der nationalen Zusammensetzung der Bevölkerung, nämlich der nationalen Aufgliederung der Bevölkerung in den 15 Unionsrepubliken heranzieht. Für jede Unionsrepublik wird eine Aufstellung der wichtigsten in ihr lebenden Völker in absoluten und in Anteilzahlen gegeben. Doch wird bei einigen Republiken wie z. B. bei der Kasachischen SSR über einen sehr erheblichen Bestandteil der Bevölkerung überhaupt nichts über die nationale Zusammensetzung ausgesagt.

Die Gesamtzahl der Türkvölker in der Sowjetunion betrug nach sowjetischen Angaben 1939 ca. 20 Millionen Menschen. Sie betrug nach der Volkszählung von 1959 etwa 23 Millionen.

Die Türkvölker leben über ein weites Siedlungsgebiet verstreut im wesentlichen zwischen Wolga und Ural, in Nord-und Transkaukasien, zwischen dem Kaspischen Meer und der chinesischen Grenze und im Altai. Außerhalb dieser Hauptsiedlungszonen fanden sich vor dem Weltkrieg kleinere Gruppen auf der Krim, in Litauen und in Weißruthenien. In Nordost-Sibirien, ohne Siedlungskontakt zu den anderen Türkvölkern, leben die Jakuten. Über die Verteilung im einzelnen s. beiliegende Kartenskizze, die sich mit gewissen Abänderungen auf die Karte „Distribution of the Turkic Languages" in Stefan Wurm, Turkic Peoples of the USSR, London 1954, stützt.

Die starke Streuung hat geographische und historische Gründe. Die Türkvölker waren ursprünglich nomadisierende Steppenvölker, die die Landnahme im großen Wurf vollzogen und nicht im schrittweisen, aber konstanten Vordringen als Adeerbauern. Die Kasachen nomadisierten in Anpassung an die Lebensbedingungen ihres weiten Landes z. T. noch bis 1930 und wurden durch die sowjetische Kollektivierung, durch die Verstaatlichung ihrer Herden und durch das immer weitere Vordringen der Industrie in ihren Lebensraum unter hohen Verlusten von Menschen und Vieh zur Seßhaftigkeit gezwungen. Hinzu kommt, daß die klimatischen Voraussetzungen (geringe Niederschlagsmengen) in ganz Turkestan ständige Siedlungen nur in Oasen, im Bereich des bewässerungsfähigen Landes, zulassen, während weite Strecken dazwischen menschenleer bleiben.

Wichtiger als die geographischen Gegebenheiten erscheinen aber für die Zerstreuung die historischen. Für einen Teil der Türkvölker bedeutet ihre heutige starke Streuung eine politische Diaspora. Wir müssen ihr Schicksal in der jahrhundertealten, in kontinentalen Ausmaßen verlaufenden Auseinandersetzungen zwischen Türkentum und Russentum sehen. Auf die wiederholten Vorstöße türksprachiger Stämme aus Zentralasien durch die Völkerpforte zwischen Ural und Kaspischem Meer in die Steppen Osteuropas (Hunnen, Chasaren, Petschenegen und Rumänen vom 4. bis 11. Jahrhundert) folgten unter Dschingis-Chan zwei Vorstöße (1223 und 1236— 42), die die Vormachtstellung der Türkvölker im ganzen Südosten des heutigen europäischen Teils der Sowjetunion für fast 300 Jahre sicherten. Es ist die Schaffung der Goldenen Horde oder des Reiches Kiptschak (1242— 1502), das seine Tributherrschaft über fast den gesamten Siedlungsraum der Russen ausübte für die Zeit, die in der russischen Geschichte als die Epoche des tatarischen Jochs bezeichnet wird. Das Reich der Goldenen Horde zerfiel Anfang des 16. Jahrhunderts in eine Reihe von Nachfolgestaaten (Chanat Krim, Kasan, Astrachan), denen im Großfürstentum Moskau ein überlegener Gegner erwuchs. Mit der Eroberung des Chanats Kasan 15 52 und des Chanats Astrachan 1556 durch den russischen Großfürsten Iwan IV., den Schrecklichen, veränderte sich die Konstellation zu Gunsten der Russen und zu Ungunsten der Türkvölker. Das bisher von den Türkvölkern bedrängte Russentum dringt jetzt gesammelt und unter der Führung Moskaus nach Osten vor. Die bisher aggressiven Türkstämme sind in die Defensive gedrängt und verlieren ständig an Boden. Seit dem Fall von Kasan begann die russische Eroberung Sibiriens, an die sich im 19. Jahrhundert die Eroberung Turkestans anschloß. Auf die verschiedenen Phasen des russischen Vorgehens wird noch kurz bei der Behandlung der einzelnen Türkvölker einzugehen sein.

Hier sei nur festgestellt, daß das Vordringen Moskaus im wesentlichen die kompakten Siedlungsräume der Türkvölker zerschlug. So wurde der Wolga-Ural-Raum nach dem Fall Kasans mit russischen Siedlern durchsetzt, wobei das bessere Land entlang den Flußläufen durch Maßnahmen der russischen Regierung den Tataren entzogen und an russische Siedler übergeben wurde. So wurden große Teile der Krimtürken bei der Eroberung der Krim durch die Russen (1783) und erneut zurZeit des Krimkrieges (1856) aus ihrer Heimat in die Türkei abgedrängt, bis dieses kleine Volk schließlich zu Ende des 2. Weltkrieges durch die totale sowjetische Deportierung als Volk völlig vernichtet wurde. So wurde der Lebensraum der Kasachen durch Ansetzung russischer Kolonisten in der kasachischen Steppe schon vor der Oktoberrevolution 1917 empfindlich eingeschränkt, und ihre zwangsweise Ansässigmachung zur Zeit der Kollektivierung (1930) führte zu einem teilweisen Ausweichen der nomadisierenden Kasachen nach China und zu erneuten Landverlusten für sie. Diese Entwicklung der ständigen Verdrängung der Kasachen hat schließlich seit 1954 im Zuge der Neulandgewinnung in Nord-Kasachstan dazu geführt, daß erhebliche Teile Kasachstans heute ganz dem kasachischen Volk verloren gegangen und russischer Siedlungsboden geworden sind. Schließlich hat die Industrialisierung auch die bisher geschlossenen Siedlungsgebiete der Türkvölker berührt. In Aserbeidschan ist ein ständiger Zustrom fremder Erdölarbeiter zu vermerken. Für Usbekistan ist die Zuwanderung russischer Industriearbeiter und der zwangsweise Abzug von Usbeken zum Arbeitseinsatz in andere Teile der Sowjetunion — z. B. jetzt zum Neubau des Kraftwerkes von Bratsk in Ostsibirien — festzustellen. Das ständige Abschöpfen der nationalen Intelligenz im Zuge der sich wiederholenden sogenannten „Säuberungen" hat diesen Aufsplitterungsvorgang zu Ungunsten der Türkvölker noch mehr gefördert.

Eine Darstellung der wichtigsten Gruppen der Türkvölker möge dieses allgemeine Bild vervollständigen. Sie werden hier nach den wichtigsten Siedlungsräumen zusammengefaßt für das Wolga-Ural-Gebiet, für Nord-und Transkaukasien und für Turkestan.

Auf die kleine Gruppe der Krimtürken wird, obgleich sie heute als Volk in der UdSSR nicht mehr bestehen, doch wegen ihrer Bedeutung für die gesamt-türkische kulturpolitische Bewegung gesondert kurz hinzuweisen sein.

1. Wolga-Ural-Gebiet

Die Zahl der Tataren wird in der sowjetischen Statistik für 1939 bis 1959 nicht untergliedert. Sie bezieht sich daher nicht nur auf die im Wolga-Ural-Gebiet lebenden Tataren, sondern umfaßt auch die Krim-türken (1939 ca. 240 000), die tatarischen Streusiedlungen östlich des Ural und die recht bedeutenden tatarischen Kolonien in Moskau, im Donezgebiet und in anderen Teilen der Sowjetunion.

Jedes dieser Völker hat im Bereich der RSFSR sein eigenes Verwaltungsgebiet, eine autonome Republik, mit folgender Größe und Bevölkerung 2): Bemerkenswert ist die geringe Bevölkerungszunahme von 1939 zu 1959 trotz des Ausbaus der Ölindustrie in Baschkirien und obgleich keine der drei Republiken von direkter Kriegseinwirkung betroffen wurde.

Die Tatarische ASSR weist sogar trotz des Wachstums ihrer Hauptstadt Kasan 1926 179 000 Einwohner, 1939 402 000 Einwohner, 1956 565 000 Einwohner, 1959 643 000 Einwohner, einen geringen Bevölkerungsverlust auf. Ein Vergleich der Bevölkerungszahl für die einzelnen Volksgruppen wie für die Republiken gleichen Namens zeigt, daß sich nationale Siedlungsräume und staatliches Territorium für die Türkvölker dieses Gebietes nicht decken. Der Siedlungsraum ist durchsetzt mit fremden Volksgruppen, vorwiegend mit Russen und ostfinnischen Stämmen.

National am einheitlichsten ist die ASSR der Tschuwaschen, in der die Tschuwaschen selbst nach sowjetischen Angaben 80°/0 (1926) der Bevölkerung stellten. Das bedeutet, daß etwa 3/4 aller Tschuwaschen in ihrer kleinen Republik an der Wolga und etwa 1/4 außerhalb, meist in den Nachbargebieten, leben.

Die Tschuwaschen sprechen einen türkischen Dialekt, der, ähnlich dem ausgestorbenen Donau-und Wolga-Bulgarisch wie vermutlich der von den Chasaren gesprochenen Türksprache, sich am stärksten von den übrigen einander sehr nahestehenden Türkdialekten abhebt. Ihre Schrift ist seit 193 8 das Kyrillische in der für sie vorgeschriebenen Form. Davor benutzten sie für ihre Literatur seit Mitte des vorigen Jahrhunderts bereits eine leicht modifizierte kyrillische Schrift. Grabsteine aus dem 12. und 13. Jahrhundert tragen arabische Inschriften in tschuwaschischer Sprache.

Die Tschuwaschen, die auch heute noch im wesentlichen ein bäuerliches Volk sind, erlebten nach dem Fall von Kasan das gleiche Los eines besiegten Volkes wie die Tataren. Ihre Unterdrückung führte zu ihrer Beteiligung an den bekannten Bauernaufständen und den Volkserhebungen im Wolgaraum. Im Zuge ihrer LInterwerfung wurden sie christianisiert. In der Mehrzahl sind sie daher orthodox, z. T. auch Muslims oder Anhänger des Schamanentums. Wie weit diese religiösen Bindungen heute noch Gültigkeit haben, ist nicht bekannt.

Im Juli 1917 bildete sich im Zuge der allgemeinen nationalen Erneuerung der Völker Rußlands auch ein all-tschuwaschischer National-Kongreß, dessen politische Forderungen auf die Gleichstellung der Tschuwaschen im Rahmen eines demokratischen Rußlands hinausliefen. In der gesamttürkischen Bewegung in dieser Zeit haben sie kaum eine Rolle gespielt. Am 24. 7. 1924 wurde von sowjetischer Seite das tschuwaschische autonome Gebiet gebildet, das am 21. 4. 1925 in eine autonome Republik umgeändert wurde.

Die Baschkiren s 1925 in eine autonome Republik umgeändert wurde.

Die Baschkiren stellten 1926 23, 5% der Bevölkerung ihrer Republik, die Russen 39, 9%. Doch müssen bei der Beurteilung der nationalen Gliederung Baschkiriens die Russen der gesamten türkisch-mohammedanischen Bevölkerung — das heißt den Baschkiren und Tataren, die zusammen über 40% der Bevölkerung ausmachten, — gegenübergestellt werden. Auch die in diesem Gebiet ansässigen ostfinnischen Stämme dürften, da sie dem gleichen Einfluß der Russifizierung wie die Türkvölker ausgesetzt sind und sich in der Defensive befinden, in ihrer Haltung eher diesen als den Russen zuzuzählen sein. Sprachlich stehen die Baschkiren und Tataren einander sehr nahe. Eine eigene Schriftsprache haben sie erst zu Anfang des 20. Jahrhunderts herausgebildet. Sie ist nach der Oktoberrevolution im Sinne der Aufteilung der Türkvölker besonders gefördert worden. Durch die Förderung einer eigenen Sprache und eigenen Schrift (ursprünglich arabische, ab 1917 reformierte arabische Schrift, ab 1930 Lateinschrift, ab 1939 kyrillisches Alphabet mit Modifikationen), durch die Betonung der eigenen historischen Entwicklung und die eigene Republik sollten die Baschkiren herausgehoben und die sich anbahnende Verschmelzung von Baschkiren und Tataren verhindert werden. Es sei bemerkt, daß die Freiwilligen aus dem Wolga-Uralraum, die im 2. Weltkrieg auf deutscher Seite in der Wolga-tatarischen Legion Idel-Ural zusammengefaßt waren, kaum — soweit sie Baschkiren waren — das Baschkirische betonten. Einige von ihnen waren besonders ausgesprochene Vertreter eines gesamttürkischen Zusammengehens im Wolga-Ural-Gebiet.

Die Baschkiren sind nach dem Fall Kasans der russischen Durchdringung und Eroberung ausgesetzt worden. In einer Reihe von großen Aufständen in der Mitte des 17. und im 18. Jahrhundert haben sich die Baschkiren der um sich greifenden russischen Herrschaft, den daraus folgenden Landkonfiskationen, dem Vordringen russischer Manufakturen und der zwangsweisen Bekehrung zur orthodoxen Kirche zu widersetzen versucht. Erst im 19. Jahrhundert kam es zu einem gewissen Ausgleich und zur Beruhigung, wobei die Enteignung von Land zu Gunsten russischer Siedler bis zur Oktoberrevolution akut blieb und zu Wiedergutmachungsansprüchen der Baschkiren führte. Während des auf die Oktoberrevolution folgenden Bürgerkrieges wurde Baschkirien wichtiger Kriegsschauplatz. Im Dezember 1917 konstituierte sich in Orenburg die allbaschkirische gesetzgebende Versammlung (Kurultai), die mit eigenen Truppen und in Verbindung mit dem Kosaken-Ataman Dutov in die Bürgerkriegskämpfe einzugreifen versuchte.

Am 23. 3. 1919 wurde von sowjetischer Seite die Baschkirische ASSR mit dem Zentrum Sterlitamak (sogenanntes kleines Baschkirien) und am 14. 7. 1922 die erweiterte Baschkirische ASSR mit der Hauptstadt Uta (sogenanntes großes Baschkirien) geschaffen. Es sei bemerkt, daß die Hauptstadt Baschkiriens, Uta, bis zur Oktoberrevolution Sitz der geistlichen Verwaltung und des Muftis für die Mohammedaner des inneren Rußlands und Sibiriens war und es seit einigen Jahren wieder ist. Trotz dieser Einrichtung stößt natürlich auch für Muslims die freie religiöse Betätigung auf die in der SU üblichen Schwierigkeiten.

Die bedeutendste Gruppe der Türkvölker im Wolga-Ural-Gebiet sind die T a t a r e n mit fast 5 Millionen (1959). Von den 1939 ausgewiesenen 4, 3 Millionen Tataren lebten 1939 nur etwa 1, 5 Millionen in der tatarischen ASSR. Sie stellten hier mit z. T. geschlossenen Siedlungen im Nordosten ihrer Republik 1939 49 % der Bevölkerung neben 43 % Russen (vornehmlich in den Städten und an den Uferstreifen an Wolga und Kama) 4, 4% Tschuwaschen und 2, 4% Ostfinnen-Stämme. 3)

Der größte Teil der Tataren lebt im Wolgagebiet von Gorki abwärts bis Astrachan. In den östlich an die tatarische ASSR angrenzenden Gebieten von Perm, Swerdlowsk, Tscheljabinsk, Orenburg, in der Baschkirischen ASSR und in Westsibirien sind die Tataren durch größere Gruppen vertreten. 4) Diese starke Streuung ist, wie bereits oben angedeutet, durch ihre Geschichte bedingt. Die Eroberung Kasans und die darauf folgende Zwangs-Christianisierungen und Landenteignungen vertrieben viele von ihnen aus ihrer Heimat. Ihre frühe Berührung mit dem russischen Staat machte sie später zu bevorzugten Mittlern im Handel zwischen Moskau und dem Orient und förderte ihre Verbreitung als Kaufleute von Finnland bis nach Chinesisch-Turkestan. Diese Verbreitung war ein Nachteil und Vorteil zugleich. Den Tataren fehlte der geschlossene, abgegrenzte nationale Siedlungsraum, sodaß z. B. Pläne wie der 1917 vorgesehene Plan zur Schaffung eines eigenen Staates Idel-Ural im Wolga-Ural-Raum, der sich auf die türkisch-mohammedanischen Elemente und die ostfinnischen Stämme dieses Gebiets stützen sollte, nur schwer realisierbar waren. Sie bildeten aber andererseits durch ihre vielfachen Beziehungen zu den anderen Türkvölkern und ihre längere und bessere Kenntnis des russischen Partners die Förderer der nationalen und religiösen Erneuerung nicht nur bei sich selbst, sondern beim gesamten Türkentum Rußlands. Die nationale Entwicklung der Wolga-Türken hat sich stets sehr stark am russischen Gegner orientiert. Die Unterdrückungspolitik der russischen Regierung wurde von tatarischer Seite mit Aufständen beantwortet, die die russische Regierung zu zeitweiligen Konzessionen — z B. zu Ende des 18. Jahrhunderts und erneut 1905 in der Frage der Religionsausübung oder im Orienthandel — veranlaßte. Über die russischen Mittlerund in geringerem Maße auch über die Türkei gelangte europäisches Wissen zu den Tataren. Es wurde einer der nationalen Grundsätze, sich dieses Wissen zum Ziel der nationalen Selbsterhaltung weitestgehend anzueignen, um im modernen Lebenskampf bestehen zu können. Daher ist von Seiten der Wolgatataren viel für den Ausbau ihres eigenen Volksschulnetzes, für die Einrichtung von Mittelschulen und geistlichen Hochschulen getan und nach Möglichkeit auch dafür Sorge getragen worden, ein Studium ihrer Jugend im Ausland zu ermöglichen. Hand in Hand damit ging seit 1905 — das heißt nach dem Fortfall der einschneidenden russischen Zensurbestimmungen — der Ausbau der eigenen Presse und der Herausgabe von allgemeinbildender Literatur.

Aus dieser außerordentlich exponierten Stellung heraus, in der sich die Türkvölker des Wolga-Ural-Raumes befanden, sind die Schritte zur Modernisierung des Erziehungswesens und zur Aufrechterhaltung des nationalen Gedankens nicht nur im engen Rahmen des Wolga-Tatarentums, sondern in der Ausweitung auf alle Türkvölker Rußlands unternommen worden. Das Denken im gesamttürkischen Rahmen wurde seit dem Auftreten des Krimtürken Ismail Gaspiralis, auf den noch zurüdezukommen sein wird, oder der Wolgatataren Merdschani, Faizhani, Nassiri u. a. bis in die ersten Jahre nach der Oktoberrevolution eine Selbstverständlichkeit.

Im Zuge der ersten Revolution von 1905 erfolgten auch die ersten politischen Schritte von Seiten der Wolgatataren. Die mohammedanische Fraktion in der Duma, die in der 1. und 2. Duma mit 25 bzw. 3 5 Deputierten verhältnismäßig stark vertreten war, nach dem Wahlgesetz vom 16. Juni 1907 jedoch stark eingeschränkt wurde (durch das neue Wahlgesetz, das z. B. die mohammedanische Bevölkerung Turkestans völlig von der Wahl ausschloß, fiel die Zahl der mohammedanischen und türkischen Abgeordneten in der 3. Duma auf 10 und in der 4. Duma auf 6 Delegierte), vertrat geschlossen die politischen Wünsche der Türkvölker in Rußland wie z. B. ihre Gleichstellung als Staatsbürger, den Ausbau ihres Schulsystems, die Einstellung der russischen Kolonisation im Generalgouvernement Steppe usw.

Während des 1. Weltkrieges bekundeten die Muslims Rußland deutlich ihre Sympathien für die Zentralmächte. Man fühlte sich als Türke der Türkei und ihren Freunden mehr verbunden als dem unterdrückenden russischen Staat. Wolga-tatarische Vertreter wie Jussuf Aktschuraoglu vertraten im Ausland die politischen Ziele der Türkvölker. Aus russischen Kriegsgefangenen tatarischer Nationalität (nur die Türkvölker des Wolga-Ural-Gebietes und der Krim unterlagen der allgemeinen Wehrpflicht) wurde die Muslim-Legion in Wünsdorf bei Berlin aufgestellt. Diese politische Aktivität steigerte sich nach der Februarrevolution von 1917 auch in Rußland selbst. Am 1. 5. 1917 fand in Moskau der große All-Mohammedanishe Kongreß — die letzte Demonstration gesamttürkischen Wollens in Rußland — statt, der den föderativen Aufbau des russischen Reiches und in diesem kulturelle oder territoriale Autonomie für die Türkvölker verlangte. Der 2. All-Mohammedanische Kongreß 1917 in Kasan mußte sich bereits, da die zunehmende Anarchie im Staat und die Verkehrsunsicherheit eine Anreise der Vertreter aus der Türkei, der Krim und dem Kaukasus unmöglich machte, auf die Vertreter der Türkvölker aus dem Wolga-Ural-Gebiet allein beschränken. Hier zeigte sich zum ersten Mal praktisch, wie sehr das Auseinanderliegen der Siedlungsgebiete der Türkvölker ihr Zusammengehen erschwerte und sie zu regionalen Lösungen zwang. So mußte man sich auch in Kasan mit der Schaffung einer nationalen kulturellen Autonomie für den Bereich Idel-Urals (des Wolga-Ural-Gebiets) mit eigenen Organen für die religiöse Frage, für Finanzen und für die Erziehung begnügen. Hinzu trat für die militärischen Angelegenheiten der All-mohammedanische Militärische Rat, der sich die Zusammenziehung der in der russischen Armee dienenden Tataren in eigene tatarische Einheiten angelegen sein lassen sollte. Diese Bemühungen hatten bis April 1918 Bestand, gingen danach aber im allgemeinen Bürgerkrieg unter. Am 27. Mai 1920 wurde von sowjetischer Seite die Tatarische ASSR geschaffen, die den Wolga-Tataren zwar formell ein kleines Verwaltungsgebiet, aber noch weniger als zur zaristischen Zeit die Erfüllung ihrer national-politischen Wünsche und Forderungen brachte.

Auf die weitere Entwicklung der Türkvölker des Wolga-Ural-Gebietss wird bei der Behandlung der bolschewistischen Politik gegenüber den Türkvölkern einzugehen sein.

2. Nord-und Transkaukasien

Im nordkaukasischen Gebiet leben 4 kleine Türkstämme:

Karatschaier /Balkaren /Nogaier /und Kumüken.

Karaschaier (1939 75700, 1959 81000) und Balkaren (1939 42700, 1959 42000) im westlichen Teil des Nordkaukasus stehen sich sprachlich sehr nahe. Sie gehören der nordwestlichen Sprachgruppe des Türkischen, der Kiptschakgruppe an. Beide Türkstämme dürften Relikte ursprünglich größerer türkischer Siedlungsgruppen in der nordkaukasischen Ebene sein. Beide Stämme wurden 1944 unter dem Vorwurf der Zusammenarbeit mit dem Feinde und der Illoyalität gegenüber dem Sowjetregime unter polizeilicher und militärischer Eskorte überraschend und geschlossen aus ihrer Heimat ausgesiedelt und unter großen Opfern an Menschen nach Kasachstan verbracht. Sie wurden als ganzes Volk dafür bestraft, daß sie dem Feinde ihrer Feinde mit Sympathie begegneten und daß einzelne von ihnen, die Chance des Krieges nutzend, sich den deutschen Truppen im Kampf gegen die Unterdrücker ihrer nationalen Freiheit zur Verfügung stellten.

Die Verwaltungseinheiten, die ihren Namen trugen, wurden aufgelöst und der freigewordene Siedlungsraum z. T. unter Siedler aus den Zentralgebieten der Sowjetunion aufgeteilt.

Es ist bezeichnend, daß die Große Sowjet-Enzyklopädie in ihrer 2. Auflage weder die Karatschaier noch die Balkaren erwähnt, obgleich diese Völker bis 1944 in Nordkaukasien lebten und danach, wenn auch in andere Teile der SU verbracht, doch auch weiter physisch existierten. Beide Völker hatten aber nach ihrer Aussiedlung für die sowjetische Öffentlichkeit nicht mehr zu existieren und durften daher nicht erwähnt werden. Erst das Jahrbuch der Großen Sowjet-Enzyklopädie für 1958 erwähnt wieder ihre Verwaltungsgebiete.

Durch Erlaß vom 9. 1. 57 wurden das Karatschajo-Tscherkessische Autonome Gebiet und die Kabardino-Balkarische ASSR wieder restituiert. Den Angehörigen beider Völker wurde unter gewissen Bedingungen (Nachweis eines Arbeitsplatzes oder Nachweis freien Siedlungsbodens) die Rückkehr in ihre alte Heimat gestattet.

Die Nogaier (1926 36000, für 1939 nicht ausgewiesen, 1959 41000) siedeln in der nordkaukasischen Ebene. Sie waren bis zum 19. Jahrhundert nomadisierende Viehzüchter, die zu Anfang des 19. Jahrhunderts unter russische Herrschaft kamen. Die Nogaier sind Reste der Türkstämme, die zur „Goldenen Horde“ gehörten und nach deren Zerfall unter ihrem Anführer Nogai die „Nogaische Horde“ bildeten.

Die Kumüken schließlich siedeln im Flachland Daghestans. Ihre Zahl betrug 1926 110 000, 1959 135 000. Bei der sprachlichen Aufsplitterung im nördlichen Kaukasus gewann das Kumükische vor dem Ersten Weltkrieg mehr und mehr die Stellung einer allgemeinen Handels-und Verständigungssprache für den Nordkaukasus. Es wird heute durch das Russische verdrängt.

Die vier türkischen Stämme im Nordkaukasus haben sich nach der Februarrevolution an den nationalen Bestrebungen für die Unabhängigkeit der nordkaukasischen Bergvölker beteiligt. Diese Bestrebungen gipfelten in der Proklamation der Unabhängigkeit der Republik der Bergvölker am 11. 5. 1918. Sie hatte jedoch nur kurzen Bestand, weil sie durch den Einmarsch des Generals Denikin bereits zu Anfang des Jahres 1919 vernichtet wurde. Nadi dem Sieg der Bolschewiken über Denikin wurde von sowjetischer Seite nicht wieder ein geschlossenes Verwaltungsgebiet für alle nordkaukasischen Stämme eingerichtet, sondern es wurden kleine und kleinste Verwaltungseinheiten für jeden Stamm im Rahmen der RSFSR geschaffen. Damit war den nordkaukasischen Stämmen praktisch die Möglichkeit zu eigener geschlossener politischer Entwicklung genommen. Der Zweite Weltkrieg zeigte jedoch, das damit die alten Gegensätze zwischen dem russischen Eroberer und den einheimischen nordkaukasischen Stämmen nicht überwunden waren, sondern daß der Freiheitswille unter den Nordkaukasiern und nicht zuletzt auch unter ihren türkischen Stämmen noch lebendig war. Beim Rüdezug der deutschen Truppen aus dem Nordkaukasus 1942 schloß sich ihnen ein Trede von mehreren tausend Nordkaukasiern an, darunter auch Karatschaier und Balkaren. Mehr als 8000 Personen dieses Trecks wurden vorübergehend geschlossen in Pauluzzo in Norditalien angesiedelt. Sie wurden 1945 zwangsweise in die Sowjetunion repatriiert. Die Nordkaukasische Legion, die, Ende 1941 aufgestellt, etwa 25 000 Freiwillige aller nordkaukasischen Stämme umfaßte, war ein weiteres Symbol dieses Freiheitskampfes.

Die türkische Komponente in Kaukasien wird jedoch in erster Linie von den Aserbeidschanern vertreten. Sie leben im wesentlichen in der Aserbeidschanischen SSRwie in den angrenzenden Teilen der beiden Nachbarrepubliken Georgien und Armenien. Hier seien die Zahlen der für die Besiedlung der Aserbeidschanischen SSR wie für die Aserbeidschaner als Volk gegenübergestellt (in Tausenden):

Sowohl die Gesamtbevölkerung der Aserbeidschanischen SSR sowie die Zahl der Aserbeidschaner in der Sowjetunion zeigte von 1926 zu 1939 eine beachtliche Steigerung. Die Zuwachsrate für die Aserbeidschaner war die höchste aller Türkvölker in der Sowjetunion. Auch von 1939 zu 1959 ergibt sich wieder ein beachtliches Ansteigen der Zahl der Aserbeidschaner.

In Aserbeidschan waren (für 1926 vergleichsweise in Klammern): 1959 1926 67, 1 (62, 1) •/• der Bevölkerung Aserbeidschaner, 1 3, 9 (16 ) •/• Russen, meist der Arbeiterschaft in der Stadt Baku und dem Verwaltungsapparat des Landes angehörend, 12 (16 ) •/• Armenier mit einem hohen Anteil an der Stadtbevölkerung in Baku und im Gebiet Berg-Karabach.

Die übrigen 7 (9, 9) °/entfielen auf Lesgier, Talyschen, Taten, Kurden, Georgier, Juden und andere.

Es ist bemerkenswert, daß der Anteil der Aserbeidschaner sich von 1926 zu 1959 um 5 % erhöht und der Anteil der Russen sich etwas verringert hat. Die Aserbeidschaner stellten ihrerseits 1959: 6, 1 ’/• (1926: 8, 2%) der Bevölkerung in der Armenischen SSR und 3, 9% (1926: 5, 3 %) in Georgien. Mit Ausnahme der Hauptstadt Baku, die heute mit Vorstädten mit 968 000 Einwohnern die viertgrößte Stadt der Sowjetunion ist und eine national sehr gemischte Bevölkerung besitzt, ist Aserbeidschan ein im großen und ganzen türkisch besiedeltes Gebiet. Es sei daran erinnert, daß der im Süden angrenzende Nordiran ebenfalls aserbeidschanische Bevölkerung mit einer Zahl von etwa 3 Millionen besitzt.

Der Name „Aserbeidschan“ geht auf die Araber zurück, die das Land im 7. Jahrhundert eroberten. Der Name dürfte sich auf die wesentlich ältere Namensform Atropatene gründen. Die Islamisierung der ur-sprünglich kaukasischen Bevölkerung (Albaner) begann mit der Eroberung des Landes durch die Araber zu Ende des 6. Jahrhunderts.

Die Türkisierung erstreckte sich über mehrere Jahrhunderte und dürfte — weiter verstärkt durch die türkischen Völkereinbrüche unter Dschingis Chan und Tamerlan — zu Ende des 11. Jahrhunderts unter der Seldschukenherrschaft weit fortgeschritten gewesen sein.

Das Land besaß unter den Schirwanschanen im 14. und 15. Jahrhundert eine politische Geschlossenheit etwa in den heutigen Grenzen des Landes, verfiel jedoch danach immer stärker persischen politischen und kulturellen Einflüssen. Der erste russische Vorstoß nach Aserbeidschan geht auf Peter I. zurück (Eroberung Derbents 1722), dem ein zweiter 1796 folgte. Erst nach der Festsetzung der Russen in Georgien, 1801, begann jedoch die eigentliche Eroberung Nord-Aserbeidschans (der Chanate Derbent, Kuba, Schirwan, Scheki, Gandscha, Baku, Karabach und Talysch) durch die Russen. Sie erreichte ihren Abschluß mit dem Frieden von Turkmantschai (1828), in dem die noch heute bestehenden Grenzen zwischen der Sowjetunion und dem Iran festgelegt und das Siedlungsgebiet der Aserbeidschaner in einen russischen und einen persischen Herrschaftsbereich aufgeteilt wurden. Aserbeidschan unterlag unter der zaristischen Verwaltung den für die Statthalterschaft Kaukasus bestehenden Sonderbestimmungen. Sie gestatteten den Aserbeidschanern keine eigene politische Entwicklung und gaben ihnen nur geringe Möglichkeiten einer Betätigung auf kulturellem Gebiet durch das vorsichtige Gewährenlassen aserbeidschanisch-türkischer Bestrebungen gegenüber den alten persischen Kultureinflüssen. Nach vorsichtigen Anfängen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Arbeiten von Mirza Fathali Achund Zade und des Herausgebers der ersten aserbeidschanischen Zeitung, Serdabi, entwickelte sich erst nach der ersten russischen Revolution von 1905 ein etwas freieres publizistisches und literarisches Leben. Das führte auch zu einer stärkeren politischen Betätigung sowohl im Rahmen der muslimischen Duma-Fraktion wie in eigenen Parteien. Die wichtigste war die ursprünglich aus sozialistischen Anfängen hervorgegangene nationaldemokratische Partei Mussawat — Gleichheit (gegründet 1911. Ihr Leiter, auch im Exil, war Mehmed-Emin Resul Zade) —, die in ihrem Programm die Einheit aller Muslimvölker ohne Rücksicht auf Nationalität oder Sekte und die Wiederherstellung der Unabhängigkeit aller Muslimvölker forderte.

Mit der Februarrevolution 1917 wurde von aserbeidschanischer Seite die territoriale Autonomie für ihr Land verlangt. Nach der Oktoberrevolution von 1917 bildete sich im Februar 1918 die Transkaukasische Demokratische Republik, bestehend aus Georgien, Armenien, Aserbeidschan, die jedoch sehr bald aus internen Spannungen — hervorgerufen durch das unterschiedliche Verhältnis der Föderationspartner zur Türkei — im Mai 1918 auseinanderfiel. Am 28. 5 1918, der auch heute noch von nationalen Kreisen Aserbeischans als Nationalfeiertag begangen wird, erklärte das aserbeidschanische Parlament die Unabhängigkeit des Landes.

In Aserbeidschan, reich an Erdöl und daher im Blickpunkt der Großmachtinteressen, durch seine türkische Bevölkerung ethnisch mit der im Kriege stehenden Türkei verbunden, konnte sich die neue staatliche Unabhängigkeit nur schwer konsolidieren. In Baku herrschten, gestützt im wesentlichen auf das russische Proletariat, die Sowjets unter der Leitung von Schaumian (von April bis August 1918). Sie wurden durch eine kurze britische Besetzung Bakus abgelöst, auf die die Türken folgten, die wiederum am 17. 11. 1918 durch ein britisches Truppendetachement ersetzt worden sind. In diesem ständigen politischen Wechsel in der Hauptstadt des Landes, bei schwieriger finanzieller Lage und den Unruhen in der ganzen Welt, war die Festigung des neuen Staatswesens kaum durchzuführen.

In der Nacht zum 28. 4. 1928 erfolgte der Einmarsch der Roten Armee in Aserbeischan und, angeblich gestützt auf die revolutionären Kräfte im Lande selbst, die Ausrufung der Aserbeidschanischen SowjetRepublik. Sie wurde am 12. 3. 1922 mit Georgien und Armenien zur Transkaukasischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik zusamB publiken aufgelöst wurde. Aserbeidschan bildete seit dieser Zeit eine Unionsrepublik im Rahmen der SU.

Im letzten Weltkrieg kämpften auf deutscher Seite etwa 30 000 Aserbeidschaner, vor allen Dingen zusammengefaßt in Kampfbataillonen der Aserbeidschanischen Legion wie in der 162. Türk-Infanterie-Division. Sie hatten ihre politische Vertretung im Aserbeidschanischen Nationalkomitee, in dem Sprecher der Freiwilligen A. Fathalibeyli Dudanjinski war. Die Aserbeidschaner sind Schiiten, sie sprechen ein Türkisch, das dem in der Türkei gesprochenen Türkisch sehr nahesteht. Ihre Schrift war von 1924 ab das lateinische, von 193 3 an das vereinheitlichte türkisch-lateinische Alphabet, das ab 1934 durch das kyrillische Alphabet ersetzt wurde, um, wie es in der sowjetischen Begründung heißt, das Erlernen der russischen Sprache für die aserbeidschanischen Kinder zu erleichtern.

3. Turkestan

Das wichtigste Siedlungsgebiet der Türkvölker in der SU ist der große Raum zwischen Kaspischem Meer und dem Tjan-Schan-Gebirge, der herkömmlich als Turkestan (Türkenland) bezeichnet wird. Es umfaßt nach der zaristischen Verwaltungseinteilung die General-Gouvernements Steppe und Turkestan, das Chanat Chiva, das Emirat Buchara und das Transkaspische Gebiet; nach der heute gültigen Verwaltungseinteilung in der SU die Unionsrepubliken Kasachstan — Usbekistan — Kirgisistan — Turkmenistan — Tadschikistan.

Der Name Turkestan für das ganze Gebiet wird bei den Sowjets seit 1924 nicht verwendet, sondern man faßt den Raum, falls er als Einheit behandelt werden muß, zusammen als die zentralasiatischen Republiken und Kasachstan. Es liegt auf der Linie der Aufteilungspolitik, auch schon den gemeinsamen Namen „Turkestan" für das Gebiet zu vermeiden. Es ist bemerkenswert, daß der Name Turkestan heute von sowjetischer Seite nur noch für den Turkestanischen Wehrkreis verwandt wird, der sich mit dem von uns als Turkestan bezeichneten Gebiet deckt. Die gemeinsame geistliche mohammedanische Verwaltung für das gleiche Gebiet darf jedoch nicht den Namen „turkestanische" Verwaltung tragen. Einer spezifisch einheimischen, der religiösen Tradition des Landes verbundenen Einrichtung wie der geistlichen Verwaltung ist es also versagt, sich „turkestanisch“ zu nennen, während der Wehr-kreis — Symbol und Instrument der für das Land fremden, zentralen sowjetischen Macht — sich „turkestanisch" nennt, obgleich bisher kein Turkestaner Wehrkreiskommandant gewesen ist oder im Wehrkreis maßgeblichen Einfluß besessen hätte.

In Turkestan leben die 5 Türkstämme der Usbeken — Kasachen — Kirgisen — Turkmenen und Karakalpaken. Wenn im folgenden auch die einen iranischen Dialekt sprechenden Tadschiken bei der allgemeinen Betrachtung mit hinzugezogen werden, so ist das dadurch begründet, daß die Tadschiken, die vielfach zweisprachig sind (d. h. neben dem Tadschikischen auch eine Türksprache beherrschen), in einer engen räumlichen, kulturellen und traditionellen Symbiose zu den Türkvölkem stehen, so daß sie als zu der einheimischen Bevölkerung Turkestans gehörig betrachtet werden müssen.

Wichtig für Turkestan ist das zahlenmäßige Verhältnis der einheimischen muslimischen Bevölkerung zu den Zugewanderten, meist Russen, aus dem europäischen Teil der Sowjetunion. In den letzten Jahrzehnten haben sich durch den Krieg, die zunehmende Industrialisierung und seit 1954 durch die Neulandgewinnung in Nordkasachstan sehr wesentliche Bevölkerungsverschiebungen zu Ungunsten der einheimischen Türkvölker ergeben. Als Erläuterung hierzu werden daher die Zahlen für die Bevölkerung der Unionsrepubliken und für die einzelnen Türkvölker gesondert nebeneinander gestellt. Die Bevölkerung der Unionsrepubliken in Tukestan betrug (in Tausenden):

Der Zuwachs an Bevölkerung in den 20 Jahren von 1939 zu 1959 betrug für alle Republiken 6, 3 5 Millionen Menschen, der zu einem großen Teil auf Zuwanderung aus anderen Teilen der Sowjetunion zurüdezuführen ist.

Die Zahl der Angehörigen der wichtigsten in Turkestan lebenden Türkstämme und der Tadshiken betrug (in Tausenden):

Es standen also 1926 einer Gesamtbevölkerung des Gebiets von 13, 6 Millionen Menschen 10, 5 Millionen einheimische Türkvölker und Tadshiken gegenüber, während das Verhältnis für 1939 16, 6 Millionen zu 11 Millionen und für 1959 bereits 22, 9 Millionen zu 13, 1 Millionen war. Shon aus dieser Gegenüberstellung erkennt man die Steigerung der Zahl der zugewanderten Russen. Um aber ein annäherndes Bild darüber zu erhalten, ob und inwieweit Turkestan auh heute noh ein geshlossenes Siedlungsgebiet der Türkvölker darstellt, ist zunähst ein Blick auf die beiden wihtigsten Republiken Kasahstan und Usbekistan nötig.

Die Kasahen bewohnen, bis in die 30er Jahre noh als nomadisierende oder halbnomadisierende Viehzühter lebend, die weiten Steppen Nordturkestans. Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde ihr Lebensraum ständig durh die staatlih geförderte Ansetzung russisher Kolonisten eingeengt. Die Verdrängung der Kasahen erfolgte vor allem in den für den Ackerbau nah, Böden und Klima günstigen Gebieten in Nordkasahstan und entlang dem Irtysh. Dieser Vorgang, der nah der Februarrevolution von 1917 vorübergehend mit Rücksicht auf den Widerstand aller Türkvölker abgebremst wurde, erhielt eine neue Steigerung durh die mit der Kollektivierung verbundene zwangsweise Ansässigmahung der nomadisierenden Kasahen (1930). Sie erlitten damals einen Verlust von mindestens 1 Million Menshen, von denen etwa 1/3 mit ihren Herden nah China abwanderte und 2/3 durh Deportation und Hunger umkamen. Ein Vergleih der von sowjetisher Seite bekanntgegebenen Zahlen für die Kasahen für 1926 — = 3, 96 Millionen — und 12 Jahre später (1939) 5) — trotz dem zu erwartenden natürlihen Zuwahs nur noh 3, 09 Millionen — bestätigt dieses Bild. Dem Verlust auf kasahisher Seite entsprah eine gesteigerte Zuwanderung von Russen als Arbeiter in die im Ausbau begriffene Industrie des Landes wie als Kolhosbauern. Letztlich hat aber die von Chrushtshow initiierte Aktion zur Neulandgewinnung in Kasahstan seit 1954 das zahlenmäßige Verhältnis der Nationen im Lande völlig verändert. In Kasahstan wurde nah der Volkszählung von 1959 eine Gesamtbevölkerung von 9, 31 Millionen ausgewiesen. Die Statistik der nationalen Gliederung der Bevölkerung von Kasachstan weist über die bereits oben genannten Volksgruppen hinaus noch die Koreaner mit 74 000 (0, 8 ’/o) und die Dunganen mit 10 000 (0, 1 °/o) aus. Über die nationale Zugehörigkeit von mehr als 1 Million Personen in Kasachstan schweigt jedoch die sowjetische Statistik. In dieser Zahl dürfte ein beträchtlicher Anteil Deutscher enthalten sein

Diese Gegenüberstellung der Türkvölker einerseits und der Russen und der übrigen Zugewanderten aus dem europäischen Teil der Sowjetunion zeigt mit aller Deutlichkeit, daß die Kasachen in ihrem eigenen Lande, besonders durch die Hereinnahme fremdnationaler Elemente bei der Neulandgewinnung, bereits erheblich in der Minderzahl sind.

Die Große Sowjet-Enzyklopädie (2. Auflage, Band 19, S. 326) drückt diese Tragik für das kasachische Volk euphemistisch wie folgt aus: „Die Kasachen stellen zusammen mit den Russen 80 % der Bevölkerung. Die übrigen 20 ’/o entfallen auf Ukrainer, Usbeken, Uiguren, Dunganen, Tataren, Koreaner, Karakalpaken usw.“ Ich glaube, wir gehen nicht fehl, wenn wir annehmen, daß der Norden Kasachstans etwa nördlich des 45. Breitengrades heute überwiegend russisch besiedelt ist und daß alle Städte und Industriezentren Kasachstans einen hohen Anteil an russischer Bevölkerung besitzen. Für den Süden des Landes und die ausgesprochen ländlichen Bezirke dürfte sich dagegen ein Bild der nationalen Verteilung mit vorwiegend türkischer Bevölkerung ergeben wie für das übrige Turkestan auch. Als Beispiel dafür sei Usbekistan herangezogen:

Im Gegensatz zu den Kasachen vermehrte sich die Zahl der Usbeken von 1926 auf 1939 um fast 1 Million. Der natürliche Zuwachs in 12 Jahren war ein beachtlicher. Für 1939 betrug die Gesamtbevölkerung Usbekistans 6, 282 Millionen. Von diesen entfielen zufolge der Großen Sowjet-Enzyklopädie, Band 44, S. 11, für das gleiche Jahr auf:

Der Rest verteilte sich auf Ukrainer, Turkmenen, Uiguren, Iraner, mittelasiatische Juden und Zigeuner. Für 1959 ergaben sich nicht unwesentliche Veränderungen. Die Zahl der Usbeken hat sich von 1939 zu 1959 wiederum erheblich vergrößert. Sie hat für den Bereich von ganz Turkestan um 1, 16 Millionen und für Usbekistan um 943 000 zugenommen. Trotzdem ist ihr Anteil, im wesentlichen durch die Zuwanderung von Russen und Tataren, in Usbekistan seit 1939 um 3 0/o gesunken.

Die Bevölkerung Usbekistans gliedert sich national nach der Volkszählung von 1959 wie folgt:

Hierzu treten noch 133 000 Koreaner (1, 7 °/o) und 94 000 (mittelasiatische) Juden, (1, 2%).

Wie die Gegenüberstellung zeigt, ist Usbekistan trotz der geringen Steigerung des russischen Anteils ein im wesentlichen türkisch besiedeltes Land.

Die türkische Bevölkerung in diesem Lande ist eine alteingesessene, die mit den besonderen landwirtschaftlichen Bedingungen dieses Landes — Baumwollanbau und Reiskultur auf Bewässerungsgrundlage — in alter Tradition verbunden ist und in diesen Aufgaben nicht durch fremde Arbeiter ersetzt werden kann. Der russische Anteil beschränkt sich hier auf einen Teil der Industriearbeiter und des Verwaltungsapparates. Das Bild der nationalen Verteilung in den Unionsrepubliken Turkmenistan und Tadschikistan entspricht im allgemeinen dem in Usbekistan.

In Turkmenistan stehen 1 149 000 (oder 75, 8 %) türkischer Bevölkerung 263 000 Russen und 21 000 Ukrainer (oder insgesamt 19, 2’/o) gegenüber.

In Tadschikistan treten zu den 1, 051 Millionen Tadschiken (oder der Gesamtbevölkerung) 000 Einheimische türkischer 53, 1% noch 550 Bevölkerung, so daß hier einer einheimischen Gruppe von 89, 9 % 290 000 Russen mit 14, 7% gegenübertreten.

In Kirgisistan liegt der Anteil der Russen wesentlich höher. Er beträgt hier mit 624 000 Menschen 30, 2 %, zu denen noch 137 000 oder 6, 6 % Ukrainer zu rechnen sind.

Dem einheimischen türkvölkischen Element von 1, 161 Millionen oder 56, 2% stehen hier also bereits 761 000 oder 36, 8% Zugewanderte gegenüber. Die russische Zuwanderung nach Kirgisistan geht ähnlich wie in Kasachstan im wesentlichen auf die letzten Jahre zurück.

Südturkestan ist auch heute noch ein im wesentlichen von Türkvölkern besiedelter Raum, bei dem allerdings auch schon der ethnische Einfluß von Elementen aus dem europäischen Teil der Sowjetunion dank der langjährigen russischen Kolonialpolitik zu spüren ist.

Die russische Eroberung Turkestans verlief in zwei wesentlichen Etappen. Durch den Fall Kasans und die Eroberung Sibiriens im 16. Jahrhundert ergaben sich für die russische Politik die ersten Kontakte zu China und Zentralasien. Auf der Suche eines Weges nach Indien unter Peter I. entstand das Interesse für Turkestan wie von selbst. Jedoch erst zu Anfang des 19. Jahrhunderts wurden diese ersten Ansätze zu einem Credo führender russischer Politiker, — daß nämlich die Eroberung Turkestans die Grundlage des imperialen russischen Vordringens bilden müsse. Es wird zu zeigen sein, daß diese Auffassung auch heute wieder, wenn auch in etwas abgewandelter und erweiterter Form, ihre Gültigkeit hat.

Die erste Etappe des Vordringens nach Süden im 18. Jahrhundert und zu Beginn des 19. Jahrhunderts verlief in der schrittweisen Besetzung und Sicherung des Steppengebietes bis etwa zur Linie Syr-Darja/Issik-Kul.

Ihr folgte als zweite Etappe der militärische Vorstoß gegen die Chanate Kokand, Chiva, das Emirat Buchara und in das Turkemengebiet Diese zweite Etappe wurde durch den von der Basis Orenburg ausgehenden Angriff gegen die Festung Akmedschid (18 52) eröffnet und mit der Eroberung der Stadt Merw (Mary) 1884 abgeschlossen. Das Chanat Kokand wurde dem russischen Staatsgebiet einverleibt. Das Emirat Buchara und das Chanat Chiva standen seit 1868 als Vasallenstaaten in unmittelbarer Abhängigkeit vom russischen GeneralGouverneur in Turkestan. Durch die Besetzung Pamirs (heute Tadschikistan) 1893— 95 wurde die Eroberung Turkestans abgeschlossen. Nur am Rande sei bemerkt, daß Turkestan sehr viel später durch Ruß-land erobert wurde als etwa Algerien durch Frankreich.

Turkestan war zur Zeit der russischen Eroberung politisch aufgeteilt und geschwächt. Es war ein Land, das durch die Entdeckung des Seeweges nach Indien und dem daraus resultierenden Verfall des Handels-weges zu Lande von China nach dem Orient und Osteuropa wirtschaftlich in Stagnation geraten war und an der modernen technischen Entwicklung noch kaum teilgenommen hatte. Die militärische Auseinandersetzung mit dem russischen Eroberer wurde daher trotz vielfach harten Widerstandes mit ungleichen Waffen und im Resultat ergebnislos geführt.

Auch auf kulturellem Gebiet hatte der religiöse Formalismus die Entwicklung gehemmt. Trotzdem darf nicht vergessen werden, daß dieses Land mit seinen alten Stätten islamischer Religion und Kultur in die gesamte islamische Welt eingebettet war und für diese viel bedeutete, und daß alle Stämme des Landes sich in dieser Kultur verbunden fühlten, die sich auf den Islam gründete, die aber durch große Leistungen auf dem Gebiet der Literatur und Wissenschaft von Turkestanern selbst in türkischer Sprache erweitert und bereichert worden war. Es sei nur an den Mystiker Ahmed Jassavi (gestorben 1066) und an den Dichter und Staatsmann Ali Schir Navayi (1441— 1501) erinnert. Ohne diese Grundlage wäre die weitere kulturelle und nationale Entwicklung Turkestans bis heute nicht denkbar.

Die russische Verwaltung in Turkestan war seit der Errichtung der General-Gouvernements Steppe und Turkestan darauf gerichtet, im Lande einen kolonialen Status ein-und durchzuführen. Er äußerte sich auf wirtschaftlichem Gebiet im Norden des Landes durch gewaltige Landkonfiskationen. So sind im Steppengebiet bis 1917 für Kosaken und russische Bauern mehr als 30 Millionen ha, im General-Gouvernement Turkestan bis 1913 fast 50 Millionen ha enteignet worden. Im Süden des Landes wurde der Anbau von Brotgetreide zu Gunsten von Baumwolle zwangweise verdrängt. Denn jedes Pud turkestanischer Baumwolle, hieß es, sei ein willkommener Konkurrent der amerikanischen Baumwolle, jedes überschüssige Pud turkestanischen Weizens jedoch nur ein Konkurrent für den eigenen russischen und sibirischen Weizen. Zu diesen wirtschaftlichen Nachteilen trat noch die Diskriminierung der Turkestaner als Staatsbürger 2. Klasse, denen unter dem ständig über das Land verhängten Kriegszustand Beschränkungen in der Bewegungsfreiheit, im Immobilienerwerb, in der Ausübung religiöser und richterlicher Funktionen, im Schulwesen usw. auferlegt waren. Die Reaktion der Turkestaner äußerte sich auf zweierlei Weise: im gewaltsamen Widerstand und in der Erneuerung ihres nationalen Lebens in Anpassung an die moderne Entwicklung.

Der gewaltsame Widerstand erreichte seinen Höhepunkt im großen Aufstand von 1916. Der direkte Anlaß dazu war die Mobilisierung von Turkestanern — die nicht kriegsdienstpflichtig waren — für Erdarbeiten an der Front. Dieser Aufstand, der fast das ganze Land erfaßte, wurde. wie es scheint, von russischer Seite mit einer Härte niedergeschlagen, die in keinem Verhältnis zu den Ursachen und Auswirkungen des Auf-standes stand. 673 000 Turkestaner an Toten, Deportierten nach Sibirien und Flüchtlingen nach China wurden damals Opfer des russischen Vorgehens.

Die Reformbestrebungen im kulturellen Bereich hatten ihre Wurzeln in der eigenen nationalen und geistlichen Tradition. Sie erhielten aber ihre Impulse aus dem Ausland, — aus Ägypten, der Türkei und Indien und schließlich auch aus der Begegnung mit dem russischen Eroberer wie einem Meinungsaustausch mit den anderen Türkvölkern in Ruß-land. Ausschlaggebende Wirkungen dürften dabei von den Jungtürken ausgegangen sein, deren Gedanken der Dichter und Schulmann Fitrat in seiner Weise in Turkestan vertrat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand ein ganzer Kreis von Publizisten, Schriftstellern und Lehrern als Interpreten der Reformbewegung zur Verfügung. Ihre Gegner waren dabei nicht nur die Vertreter der orthodoxen Mission und Russifizierung, sondern sie fanden sich auch in den Reihen der eigenen reaktionären Geistlichkeit, die zuvor ein nicht unwesentlicher Rückhalt im nationalen Widerstand gewesen war, jetzt aber hemmend wirkte. Die Forderungen der Reformisten erstreckten sich neben einer Schulreform im modernen Sinne auf die Gewährung einer eigenen geistlichen Verwaltung, der freien richterlichen Betätigung und der Sicherung des Bodenrechts, der Rückgabe der konfiszierten Weideländer und der Gleichstellung mit den anderen Staatsbürgern des zaristischen Reiches.

Die Februarrevolution von 1917 veränderte auch in Turkestan die Lage radikal. Die bisherigen Forderungen nach einer gewissen kulturellen Freiheit und staatsbürgerlichen Gleichstellung verschoben sich auf das politische Gebiet. Auf die einzelnen Phasen der recht verwickelten Entwicklung kann hier nicht eingegangen werden. Es sei nur festgehalten, daß jede politische Initiative durch mindestens zwei, wenn nicht mehr organisierte Verwaltungs-und Machtzentren gegensätzlicher Anschauungen gehemmt wurde. Den russischen Organisationen in Taschkent, die sich auf die Verwaltungsbeamten, die Transportarbeiter und die im Lande stationierten russischen Truppen stützen konnten, stand der Turkestanische Muslimische Zentral-Rat gegenüber, der die territoriale Autonomie für Turkestan im Rahmen eines föderativen Rußland als politisches Ziel erklärt hatte. Nach der Oktoberrevolution von 1917 spitzte sich die Gegensätzlichkeit in beiden Lagern so zu, daß zu Ende 1917 auf dem Territorium Turkestan 8 verschiedene Regierungszentren bestanden und zwar fußend auf turkestanischen Gruppen: das Emirat Buchara, das Chanat Chiva, die beiden nationalen territorialen autonomen Republiken von Kokand und der Alasch-Orda, zuerst mit Sitz in Orenburg, später in Semipalatinsk und die Halbnomaden-Chanate im Altai-Gebirge; fußend auf dem russischen Bevölkerungsanteil oder der Armee, das sowjetische Kommissariat in Taschkent, die weißgardistische Regierung in Omsk und der Kosakenstaat des Atamanen Dutow im südlichen Ural-Gebiet.

Die weitestgehenden Bestrebungen von turkestanischer Seite zielten damals auf die Unabhängigkeit ihres Landes, — ein Ziel, das unter den gegebenen Umständen nicht zu erreichen war. Im August 1919 eröffneten die Bolschewisten mit der sogenannten „Turkestanischen Front“ die zweite Eroberung Turkestans für das sowjetische Imperium Aus den folgenden 5 Kriegsjahren, in denen die Turkestaner, formiert in den Basmatschi-Verbänden, für ihre Freiheit gegen die Sowjets kämpften, gingen die Sowjets als Sieger hervor, und zwar dank ihren weit überlegenen militärischen Machtmitteln und ihrer zentral gesteuerten Organisation. Die Festigung der Sowjetmacht kann mit dem Jahre 1924 als abgeschlossen gelten trotz der bis in die 30er Jahre fortdanernden Partisanenkämpfe in Usbekistan, den Aufständen in Kirgisistan und Kasachstan und des immer wieder aufflackernden Widerstandes in allen Teilen des Landes. Im Herbst 1924 erfolgte die große „nationale Auseinandergliederung“ (nacional’noe razmeevanie) des Territoriums Turkestan in die auch heute noch bestehenden Verwaltungseinheiten in diesem Raum. Zweck der Auseinandergliederung, die mit der Notwendigkeit der klaren Abgrenzung der einzelnen Stämme zur Vermeidung von Spannungen begründet wurde, war gerade das Gegenteil: nämlich zu verhindern, daß sich die kaum spürbaren sprachlichen und Stammesunterschiede ausglichen und alle Stämme Turkestans zu einem turkestanischen Volk zusammenwachsen ließen. Durch die Auf-gliederung in „eigene Republiken“ und durch die Anhebung der Dialekte zu selbständigen Sprachen und der Stämme zu Nationen sollte hier ein geschlossener türkischer Siedlungsraum zersprengt werden.

Das Emirat Buchara, das am 14. 9. 1920 unter Einsatz roter Truppen Volksrepublik geworden war, aber doch sich eine gewisse, auch von den Sowjets anerkannte Souveränität bewahren konnte, wie das Chanat Chiva, das am 1. 2. 20 in die Volksrepublik Chorezm umgewandelt worden war, wurden im Zuge der Auseinandergliederung von sowjetischer Seite 1924 aufgelöst. Die im August 1919 geschaffene Autonome Kirgisische (Kasachische) Sowjetrepublik und die im April 1921 von sowjetischer Seite ausgerufene Turkestanisdie ASSR unterlagen ebenfalls der Umwandlung. So ergab sich nach verschiedenen Zwischenetappen nach der neuen Verfassung von Dezember 1936 die auch heute noch gültige Aufteilung in die 5 Unionsrepubliken Kasachstan, Usbekistan mit der ebenfalls 1936 zugeteilten Karakalpakischen ASSR, Kirgisistan, Turkmenistan und Tadschikistan. Diese Aufgliederung nach Stämmen, die sich trotz der z. T.sehr komplizierten Grenzführungen praktisch doch nicht sauber durchführen ließ, war etwas völlig Neues in der turkestanischen Geschichte. Sie ging nicht auf die Wünsche der Turkestaner selbst zurück, sondern sie war ein Mittel zur leichteren Durchsetzung der Sowjetisierung und zur Aufrechterhaltung der Sowjetmacht im ganzen Lande

Als im 2. Weltkrieg im Rahmen der deutschen Wehrmacht turkestanische Freiwilligenfonnationen gebildet wurden — sie stellten mehr als 180 000 Mann — zeigte es sich, daß die Stammesunterschiede kaum eine Rolle spielten und daß das Zusammengehörigkeitsgefühl der Turkestaner untereinander selbstverständlich war oder aber unter Berufung auf die gemeinsame islamische und türkische Kultur, auf die gemeinsame geschichtliche Tradition und den gemeinsamen Feind leicht geweckt werden konnte.

Der gesamttürkische Gedanke

Abbildung 3

Der Zusammenhalt der Türkvölker unter sich, der sich bis zur Oktoberrevolution in zunehmendem Maße abzeichnete, hatte eine Reihe sehr natürlicher Gründe. Die Türksprachen besitzen, wenn man von den beiden Extremen, dem Tschuwaschischen im Westen und dem Jakutischen im Nordosten absieht, eine bemerkenswerte Ähnlichkeit. Auch in der Sprachentwicklung durch die Jahrhunderte zeigt das Türkische sehr geringe Wandlungen. Die sprachliche Verständigung zwischen Angehörigen verschiedener Türksprachen ist daher im allgemeinen nicht schwierig. Sie fördert wie selbstverständlich das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Solange die Türkvölker in Rußland — im allgemeinen etwa bis 1928/30 — die arabische Schrift benutzten, förderte diese, bei Nachteilen auf anderen Gebieten, noch die Verständigung auf schriftlichem Wege, denn durch ihre Eigenart als Kurzschrift glich sie viele mündlich in Erscheinung tretende Dialektunterschiede noch weiter aus. Es ist daher sicher eine bewußte politische Maßnahme von Seiten der Sowjets zur Aufspaltung der Türkvölker, wenn die arabische Schrift seit 1928/30 durch die modernisierte Lateinschrift und diese seit 1939/40 durch die russische Schrift ersetzt werden mußte.

Zur sprachlichen Nähe tritt als weitere Klammer die Religionsgemeinschaft im Islam. Wiederum ohne die Jakuten im Osten, die kleinen türkischen Gruppen im Altai und den größeren Teil der Tschuwaschen, die orthodox sind, sind alle Türkvölker und zwar gerade in den wichtigsten Siedlungsräumen Muslims. Da bis zum Aufkommen des modernen Nationalismus sich die russisch-türkischen Gegensätzlichkeiten, gefördert noch durch den in Konfessionen und nicht in Nationen denkenden zaristischen Staat, sehr stark auf der konfessionellen Ebene, das heißt der russisch-orthodoxen Kirche wie als Islam abspielten, so wurden die Vertreter der Türkvölker darauf gestoßen, im Islam nicht nur ihre Religion und eine der wichtigsten und darum zu verteidigenden Grundlagen ihrer Kultur zu sehen, sondern ihn als einen entscheidenden integralen Teil ihrer nationalen Existenz zu betrachten. Die Deklassierung aller Muslims in Rußland, etwa in der Beschränkung bei der Bekleidung von Staatsämtem oder beim Erwerb von Immobilien, drängte viele Muslims dazu, sich ihrer Zugehörigkeit zum Islam und zu allen Muslims bewußt zu werden und diese Bindungen zu bejahen. Türkentum und Islam sind die beiden gegebenen, sozusagen natürlichen Komponenten im gesamttürkischen Zusammenhalt. Diesen Zusammenhalt mit den Schlagworten Pantürkismus und Panislamismus zu belegen. erscheint daher übertrieben und dürfte aus der politischen Polemik des Gegners herrühren.

Den ersten politischen Akzent erhielt dieses Bestreben jedoch erst mit dem Bewußtwerden der Notwendigkeit eines gemeinsamen Widerstandes gegen eine fremde, die Existenz der Türkvölker in zunehmendem Maße bedrohende Staatsgewalt. Der russische Staat, der die ihm unterworfenen Türkvölker in seinem Interesse zu nutzen versuchte und, wenn sie sich sträubten, sie zu beugen gewillt war, war die eigentliche, wahrscheinlich auch nachhaltigste Ursache für die Versuche eines politischen Zusammengehens der Türkvölker in gemeinsamer Verteidigung gegen einen gemeinsamen Feind. Es ist bezeichnend, daß die erste politische Note in dem gesamttürkischen Gedanken aus dem Kreise der am meisten exponierten Türkgruppen hineingebracht wurde, und zwar aus der Krim und dem Wolgagebiet. Hier, wo man bereits in mehreren Jahrhunderten die Auseinandersetzung mit dem Russentum zu spüren bekommen hatte, wo das einheitliche Siedlungsrecht bereits stark angeschlagen war, wo der Drude der Missionierung und Russifizierung sich lange und in immer neuen Vorstößen geltend gemacht hatte, wurde das Gefühl der eigenen Schwäche am ehesten offenbar. Die Reaktion darauf war eine Besinnung auf sich selbst und die daraus resultierenden Reformbestrebungen. Man wollte kenntnisreicher und moderner sein, um im Lebenskampf besser bestehen zu können. Eine weitere Folge war die Suche nach Bundesgenossen, um im Abwehr-kampf nicht allein zu stehen. Diese boten sich im weiten nationalen Kreis und unter den Glaubensgenossen an, die unter den gleichen politischen Bedingungen lebten wie man selbst. Das sei durch einige Hinweise erläutert.

Seit Mitte des vorigen Jahrhunderts setzte sich eine Reihe von Männern im Wolgagebiet (Schihabeddin Merdschani, Kajum Nassiri und Hüssein Faischani) für die Europäisierung des wolga-tatarischen Lebens und für die Modernisierung des Schulsystems ein. Sie wandten sich gegen die Enge des religiösen Formalismus wie gegen die Abgeschlossenheit des tatarischen Lebens überhaupt, das in seiner eigenen Stagnation zu ersticken drohte. Nassiri versuchte dabei, durch Publikationen, die sprachlich auch der breiten Masse verstandlieh waren, seinen Gedanken der nationalen Erneuerung Breitenwirkung zu verleihen. Diese ersten Ansätze erhielten ihre erste Ausprägung im gesamttürkischen Sinne durch den Krimtürken Ismail Bey Gaspirali, russisch Gasprinski (1851 bis 1914). Gaspirali hatte als Kind die für die Krimtürken sehr schweren Folgen des Krimkrieges miterlebt. Er war im Militärgymnasium in Moskau erzogen worden und hatte dort Eindrücke über den Panslawismus sammeln können, die er auf sein Volk, die Türken im weitesten Sinne, anzuwenden versuchte. Er hatte sich zu Studien in Istanbul und Frankreich aufgehalten und dabei Kontakt zur europäischen Entwicklung gewinnen können.

Diese Eindrücke und Überlegungen führten ihn dazu, als Lösung für sein gefährdetes Volkstum das Zusammengehen aller Türkvölker zu propagieren. Er verlangte die Vereinheitlichung der Türkdialekte zu einer gemeinsamen türkischen Schriftsprache und führte diese Forderung in der neuen von ihm geschaffenen Sprachform in seiner Zeitung „Tercüman“ und in den von ihm herausgegebenen Schulbüchern selbst durch. „Einheit in Sprache und Gedanken" war seine immer wiederkehrende Losung. Durch die Modernisierung des Schulwesens, in dem er als verpflichtende Unterrichtssprache aller Türkvölker die von ihm propagierte neue Sprachform eingeführt wissen wollte, durch die Befreiung der Frau, der er wichtige nationale Erziehungsaufgaben zusprach, und durch eigene Publikationsorgane sollte diese Forderung in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Er selbst vertrat diese Auffassung in der bereits erwähnten, von ihm herausgegebenen Wochenzeitung “ (der „Tercüman Übersetzer), die in der neuen türkischen Schriftsprache und in Russisch erschien und die trotz des vorsichtigen Tons, der in ihr herrschte, als ein Fanal der Vereinigung sehr schnell ein breites Publikum nicht nur unter den Krimtürken selbst, sondern unter allen Türkvölkern Rußlands gewinnen konnte. Gaspirali wird manchmal der Vorwurf gemacht, daß er in seiner Haltung zu Rußland allzu loyal und zu wenig eindeutig zu Gunsten seiner eigenen gesamttürkischen These aufgetreten sei. Ihm muß aber zugute gehalten werden, daß er unter der strengen russischen Zensur zu arbeiten hatte, die bei zu weitgehender Kritik an Rußland seine Zeitung verboten und ihm damit das Sprachrohr für seine Idee genommen hätten. Auch die Wirkung Gaspiralis auf alle Türkvölker, besonders aber auf seine engsten Landsleute, die Krim-türken und die Tataren im Wolgagebiet, ging bei weitem über das hinaus, was man von seinen vorsichtig vorgetragenen Forderungen hätte erwarten können. Das ist nur dadurch zu erklären, daß er Wünsche formulierte und aussprach, die unter allen Türkvölkern latent vorhanden waren. Gaspirali erhielt sehr bald eine Reihe jüngerer Mitstreiter aus den anderen Türkvölkem. So gingen der Aserbeischaner Ali Hussein Zade und die Wolgatataren Jussuf Aktschura Oglu und später auch Ayas Ishaki in die Türkei, um dort für den gesamttürkischen Gedanken zu werben und die Verbindung zwischen den Türken in der Türkei und den Auslandstürken zu halten. Besonders Aktschura Oglu war während des 1. Weltkrieges ein besonders aktiver Vorkämpfer dieser Bestrebungen und schuf in der Türkei Organisationen, die sich den Auslands-türken widmeten.

Als Folge der Revolution von 1905 erhielten auch die Rußlandtürken gewisse politische Erleichterungen. Die Zahl ihrer Periodica nahm beträchtlich zu, die Ausrichtung ihrer Schulen wurde vereinheitlicht, die ersten politischen Parteien begannen sich zu bilden. Im Januar 1906, auf dem 2. Kongreß der Muslims ganz Rußlands in St. Petersburg erfolgte die Bildung der damals wichtigsten politischen Partei „Ittifak“ (Union), der Vertreter aller Türkvölker angehörten und die auch in den vier Dumen als eigene Fraktion ihr Programm vertrat. Radikalere Gruppen, die noch in der 2. Duma von 1907 zu Wort kamen, sind im Zuge der 1908 einsetzenden russischen Reaktion durch Zensur, Inhaftierungen und Exilierungen zum Schweigen gebracht worden.

Die Wünsche der Türkvölker im gesamttürkischen Sinne zielten au, die Durchsetzung einer gewissen kulturellen Autonomie, das heißt auf den Ausbau eines eigenen Schulwesens, das vom russischen Staat geduldet, von eigenen Wohlfahrtsorganisationen und privaten Stiftungen aus den Reihen der Türkvölker getragen wurde, und auf die freie Religionsausübung mit eigener Wahl der kirchlichen Vertreter (Muftis). Auf diesen Gebieten konnte einiges erreicht werden. In der weiteren, oft in der Duma aufgeworfenen Frage der Einstellung der Landkonfiskation und der Rückgabe der beschlagnahmten Weideländer im Ural und in Nordturkestan hatten die Türkvölker bis 1917 keinen Erfolg. Die von Gaspirali propagierte einheitliche Schriftsprache setzte sich nur z. T. durch. Das Streben nach sprachlicher Einheit wurde von den russischen staatlichen und kirchlichen Stellen nicht gefördert, sondern bekämpft. Den Türkvölkern selbst fehlte für die Durchsetzung einer einheitlichen Sprachnorm für alle Schulen die eigene zwingende Staatsgewalt. Durch die Heranziehung immer weiterer Bevölkerungskreise in die Schulen verstärkte sich aber auch das Festhalten am eigenen Dialekt.

Erst die Februarrevolution von 1917 brachte mit der Sprengung der staatlichen Fesseln für ganz Rußland auch einen Höhepunkt für die gesamttürkischen Bestrebungen. Gleich nach der Revolution trat im März 1917 eine erweiterte Konferenz der rußlandtürkischen Abgeordneten der Duma in St. Petersburg zusammen, die einen Allrussischen Muslim-Kongreß beschloß, an dem Vertreter aller Türkvölker, möglichst entsprechend ihrer Bevölkerungszahl, teilnehmen und durch Repräsentanten der Wohlfahrts-, Bildungs-und sonstigen Institutionen ergänzt werden sollten. Zur Diskussion standen Fragen der künftigen Staatsform, die Landfrage, die russische Kolonisationspolitik, die Schaffung eigener militärischer Einheiten usw. Vom 1. bis 11. 5. 1917 tagte in Moskau der Kongreß mit mehr als 800 muslimischen Delegierten. Er war die letzte große Manifestation eines einheitlichen türkisch-muslimischen Willens in Rußland. Diskutiert wurden die oben erwähnten Fragen, wobei als künftige politische Form für die Türkvölker die kulturelle Autonomie in einem föderativ aufgebauten Rußland oder — von dem Aserbeidschaner Resul Zade vorgeschlagen — die territoriale Autonomie, „das eigene Zimmer im russischen Haus" gefordert wurde. Konkrete Ergebnisse hatte der Kongreß nicht mehr. Die auf die Oktoberrevolution folgenden Wirren und die daraus resultierenden Verkehrs-schwierigkeiten, die sich für die weit auseinanderliegenden Türkvölker besonders nachteilig bemerkbar machten, schlossen ein gemeinsames, laufend abgestimmtes Vorgehen praktisch aus.

Für die größeren Siedlungsräume wie das Wolga-Ural-Gebiet, den Kaukasus, Turkestan und die Krim mußten lokale Lösungen gesucht und gefunden werden. Dabei ergaben sich Spannungen, die aus der Lage der Dinge zwar verständlich, jedoch für das gemeinsame Auftreten und damit für ihre Durchsetzung nicht förderlich waren. Erinnert sei nur an den im Gegensatz zum gesamttürkischen Gedanken aufkommenden Tatarismus im Wolgagebiet und die Sonderbestrebungen einiger Baschkirischer Gruppen dagegen; an die auf die Türkei ausgerichtete Entwicklung in Aserbeidschan oder die nebeneinander verlaufenden Selbständigkeitsbestrebungen der Alasch-Orda im Steppengebiet und der Kokander Regierung auf dem Gebiet des ehemaligen General-Gouvernements Turkestan. Trotzdem ist festzuhalten, daß der gesamttürkische Gedanke damit nicht überholt war. Er ist in neuen Formen — etwa in den Bemühungen des kommunistischen Tataren Sultangaliev um einen kommunistischen Staat aller in Rußland lebenden Muslims, losgelöst vom übrigen Rußland — auch weiter lebendig geblieben, denn der gesamttürkische Gedanke hat in der Sprachgemeinschaft und in der aus dem gleichen Glauben stammenden gemeinsamen Gesittung aller Türkvölker z. T. auch heute noch gültige Grundlagen, die durch die anationale und atheistische sowjetische Politik des Kolonialismus noch zusätzlich wach gehalten werden.

Die Lage der Türkvölker in der Sowjetunion

Abbildung 4

Bei der Darstellung der Zahlen und Siedlungsräume der wichtigsten Türkvölker in der Sowjetunion ist bereits kurz auf ihre erneute Einbeziehung hingewiesen und ihre Entwicklung nach der Oktoberrevolution gestreift worden. Jede türkische Gruppe hat, wie wir feststellen konnten, seit 1917 sowohl in ihrer nationalen Geschlossenheit wie in den Möglichkeiten einer ungestörten eigenen Entwicklung sehr starke Einbußen erlitten. Am meisten betroffen wurde die kleine Gruppe der Krimtürken. Schon vor der Oktoberrevolution waren die Krimtürken infolge des ständigen Drucks der russischen Regierung zu Auswanderungen in die Türkei gezwungen und bereits stark deziminiert. 1939 dürfte ihre Zahl etwa 250 000 Menschen betragen haben. Sie bildeten mit 23, 1 Prozent (1933) nur noch eine Minderheit in ihrer Heimat. Ihre sehr exponierte Stellung hatte dazu geführt, daß sie sowohl als Träger des gesamttürkischen Gedankens wie in der Pflege der Kontakte zur Türkei besonders hervortraten. Der 2. Weltkrieg schien ihnen seit der Besetzung der Krim durch deutsche Truppen neue nationale Möglichkeiten zu bieten. Sie schufen ihre eigenen kulturellen und politischen Organisationen und stellten zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Lande eigene Polizeieinheiten auf. Nach der Evakuierung der Krim durch deutsche Truppen verließen auch viele Krimtürken mit diesen das Land und dienten im osttürkischen Waffenverband. Ihre negative Einstellung zur SU wurde nach Rückeroberung der Krim durch die sowjetischen Truppen unmenschlich gestraft. Die ASSR Krim wurde am 25. 6. 1946 aufgelöst, die krimtürkische Volksgruppe wurde total aus-gesiedelt, und zwar nicht nur unter Aufspaltung ihres nationalen Zusammenhalts, sondern auch unter Zerschlagung der einzelnen Familien in das Gebiet jenseits des Ural verbracht. Im Gegensatz zu den nordkaukasischen Völkern, die ein gleiches Schicksal getroffen hatte, die aber seit dem 1. 1. 1957 z. T. wieder in ihre alte Heimat zurückkehren durften, ist auch dieses Recht den Krimtürken — übrigens neben den Wolgadeutschen — bisher versagt worden. Die krimtürkische Volksgruppe ist in der Sowjetunion nachhaltig und als ganze vernichtet worden.

Die von den Türkvölkern besiedelten Gebiete sind für das sowjetische Imperium wirtschaftlich von ganz besonderer Bedeutung. Es sei nur daran erinnert, daß die ergiebigsten Erdölfunde in Aserbeidschan (Baku) und im sogenannten zweiten Baku, im Wolga-Ural-Gebiet, liegen. Turkestan ist erster Baumwoll-Lieferant der Sowjetunion und gleichzeitig Fundstätte wichtiger Buntmetalle. Der Wert des Besitzes der Territorien der Türkvölker für die Sowjetunion beschränkt sich jedoch nicht allein auf das Wirtschaftliche. Sie sind für die Sowjets zugleich auch von eminenter politischer Bedeutung. Denn nicht durch Sibierien, sondern durch Besitzungen im Kaukasus Zentralasien sind die Sowjets ihre und in eine elastische Macht und können von da aus den Anspruch erheben, in Fragen Asiens und neuerdings auch Afrikas mitzusprechen und gehört zu werden. Diese bedeutende Position, die den Sowjets durch die Eroberung des Kaukasus und Mittelasiens zugefallen ist, wurde von ihnen gleich nach der Oktoberrevolution in ihrer ganzen Tragweite erkannt und auch genutzt. Die führende sowjetische Zeitschrift für Fragen der Nationalitätenpolitik faßte dieses 1919 in folgende Worte: „Turkestan hat eine kolossale politische Bedeutung für die Befreiung des Nahen und Fernen Ostens. In der Weltgeschidtte spielte Turkestan die Rolle als Tor Asiens nach Europa. Jetzt ist Turkestan bestimmt, das Tor von Europa nach Asien zu sein. Non Sowfetrußland, von deut gegenwärtigen Zentrum der Weltrevolution aus, soll durch Turkestan nach Asien die Idee der sozialistischen und politischen Befreiung der werktätigen Masse des Orients, die von den einheimischen und fremden Ausbeutern viel erdulden mußte, einströmen."

Seit 1955, d. h.seit der energischen Einschaltung der Sowjets in die Nah-und Mittelost-Fragen, hat die Auffassung eine verstärkte Aktualität erhalten. Von zwei Gesichtspunkten aus wird der Orient von Turkestan aus in sowjetischem Sinne angesprochen, und zwar einmal durch die Betonung der jahrhundertealten islamischen Tradition, die Turkestan mit der übrigen islamischen Welt verbindet, und zum anderen durch das Herausstellen der „sozialistischen Errungenschaften“ in diesem Lande, durch die das im „sozialistischen Lager" stehende Turkestan seine noch im Feudalsystem oder in kolonialer Abhängigkeit befindlichen Nachbarn bei weitem übertreffe. Der Herbst 1958 brachte unter diesem Aspekt zwei große Veranstaltungen in Taschkent, nämlich das Filmfestival der asiatischen Länder und den Schriftstellerkongreß der afro-asiatischen Völker, durch die der Name Taschkent und damit natürlich auch der dortige Gastgeber in den Entwicklungsländern einschließlich Südamerikas bekannter geworden ist als z. B. Berlin.

Die Stellung der Türkvölker selbst ergibt sich jedoch nicht nur aus diesen spezifischen Interessen der Sowjetunion, sondern sie ist abhängig von dem Führungsanspruch und zwar einem ganzheitlichen Anspruch der KP der SU, die andere politische Kräfte neben sich nicht gelten läßt.

Das bedeutet, daß die Türkvölker in der Sowjetunion sich nicht ihren nationalen Gesetzen gemäß entwickeln können, sondern daß sie hinein-gezwungen sind in die allgemeinen sowjetischen Entwicklungstendenzen, denen sich keine Nation in der Sowjetunion ungestraft entziehen kann. Das sei an einigen Beispielen erläutert:

Bestrebungen des Pantürkismus und des Panislamismus oder Bestrebungen, die nur im geringsten als solche ausgelegt werden könnten, werden in der Sowjetunion schärfstens verfolgt und ebenso angeprangert wie etwa der Zionismus oder die als Chauvinismus bezeichneten, weil unbequemen nationalen Bewegungen. Der bekannteste Fall in dieser Richtung war der des Wolgatataren Mirseyid Sultangaliev, der, selbst Kommunist, 1918— 1919 Leiter des Kommissariats für muslimische Angelegenheiten und anschließend stellvertretender Volkskommissar (d. h. Stellvertreter Stalins) für Nationalitätenfragen in der RSFSR gewesen war. Sultangaliev forderte die Schaffung eines unabhängigen „turanischen Reiches", das alle Gebiete der Sowjetunion von der Wolga bis Zentralasien umfassen sollte, in dem die Mehrzahl der Bevölkerung türkisch (muslimisch) ist. Gleichzeitig propagierte er die Schaffung nationaler kommunistischer Parteien für jede Republik, aus denen sich, unabhängig von der kommunistischen Zentrale in Moskau, Parteien der muslimischen Arbeiter und Bauern, der Intellektuellen und der Kleinbürger entwickeln sollten. Sultangalievs Plan war einer der großzügisten zur politischen Zusammenfassung der Türkvölker in der Sowjetunion. Er ist dafür bereits 1923 nach Georgien abgeschoben und 1924 verhaftet worden. Nach einer erneuten Verhaftung 1928 und einem langwierigen Prozeß wurde er sehr wahrscheinlich hingerichtet. Mit ihm wurde eine sehr große Zahl von Vertretern der Intelligenz der Türkvölker, besonders der wolgatatarischen, vernichtet. Die Kommunistische Partei der Sowjetunion, die auch in ihrem eigenen organisatorischen Aufbau keine nationalen Sonderorganisationen kennt, ließ nationale Bestrebungen, selbst wenn sie als national-kommunistisch in Erscheinung traten, nicht zu und unterdrückte sie rigoros.

Ebenso müssen die großen Säuberungen des Partei-und Staatsapparates in allen nationalen Republiken gesehen werden, die in den Jahren 1937/38 wohl am heftigsten von allen Teilen der Sowjetunion gerade Turkestan betroffen haben. Im Zuge dieser Säuberungen sind Wissenschaftler, Dichter, Künstler, Lehrer, bei denen nur der geringste Verdacht einer nationalen Einstellung gegeben war — aus der eo ipso auf eine potentionelle Feindschaft zum kommunistischen System geschlossen wurde —, damals in einem Ausmaß deportiert oder liquidiert worden, daß der kulturelle Bestand der Türkvölker fast katastrophal getroffen wurde.

Die Klagen über den örtlichen Nationalismus bei allen Türkvölkern, über die Verzeichnung ihrer Geschichte im nationalen Sinne, über eine zu geringe Würdigung der Verdienste des großen russischen Volkes um die wirtschaftliche und kulturelle Hebung der rückständigen Türkvölker, die sich freiwillig unter den Schutz Rußlands begeben hätten, wollen trotzdem in der sowjetischen Presse nicht verstummen. Ein Widerstand zierung, zu der die neue Schulreform vom Dezember 195 8 neue Handhaben bietet, und eine Besinnung auf die eigene Nation sind trotz des mehr als 40-jährigen kommunistischen Einflusses noch vorhanden.

Der 3. Parteisekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kasachstans, der für ideologische Fragen zuständig ist, N. Dschandildin, behandelt in einem Aufsatz, der im theoretischen Parteiorgan „Kommunist" Nr. 13 vom September 1959 erschienen ist, die nationalen Lösungen unter den Kasachen. Es heißt dort am Schluß:

Der Kamp} gegen den lokalen Nationalismus, die Erziehung aller früher versklavten (durch wen?) Nationen (d. h.der Türkvölker) im Geiste der Brüderlichkeit und Freundschaft untereinander, im Geiste grenzenloser Liebe und Anerkennung gegenüber dem Russisdten Volk ist die erste Pflicht, besonders der Kommunisten dieser Nation, während die russischen Kommunisten ihre Pflicht darin sehen, ihre Aufmerksamkeit gegen die Anzeichen des Großmacht-Chauvinismus zu richten.“

Es ist selbstverständlich, daß bei dieser Lage und der Abgeschlossenheit der ganzen Sowjetunion gegenüber dem Ausland jede Pflege von Kontakten zwischen den Türkvölkern der Sowjetunion und den außerhalb der Grenzen der Sowjetunion lebenden Türken, vor allem den Türken in der Türkei, ausgeschlossen ist. Die Türkei hat sich daher aus außenpolitischen Rücksichten wie zur Vermeidung von Belastungen einzelner Vertreter der Türkvölker in der Sowjetunion größte Zurückhaltung in allen Stellungnahmen zur Frage der Auslandstürken auferlegt. Nur in der Aufnahme von Flüchtlingen türkischen Volkstums aus der Sowjetunion, aus Bulgarien und Rumänien hat die Türkei nach dem 2 Weltkrieg Vorbildliches für die Menschen ihres Blutes und ihrer Sprache geleistet.

Die Lage der Türkvölker in der Sowjetunion ist jedoch nicht allein durch die oben geschilderten Einschränkungen bestimmt. Sie unterliegen darüber hinaus ganz bestimmten, gegen die Grundlagen des Türkentums gerichteten Angriffen. Hierzu gehört die sowjetische Schrift-und Sprachenpolitik wie die atheistische Propaganda gegen den Islam. Auf die zwangsweisen Veränderungen der Alphabete für alle Türkvölker und die sich daraus ergebende Aufspaltung der bis 1917 angestrebten gemeinsamen Sprache ist bereits weiter oben hingewiesen worden. Die schnellen Übergänge von der arabischen zur Lateinschrift und von dieser zur russischen hatten zur Folge, daß mit jedem Schriftwechsel auch ein Bruch in der kulturellen Tradition und Entwicklung verbunden war. Denn wer in der Schule nur noch das lateinische oder das russische Alphabet erlernte, dem war die Literatur seines eigenen Volkes in arabischer Schrift im allgemeinen unzugänglich geworden. Das wirkte sich besonders in der religiösen Literatur aus, die in den neuen Schriftarten nicht mehr nachgedruckt wurde.

Zugleich mit dem Schriftwechsel ging aber auch eine Korrumpierung und Russifizierung der Türksprachen selbst Hand in Hand. Von sowjetischer Seite wurde verlangt, daß die sowjetische Terminologie in der russischen Sprachform — man nannte das «in der Form der Sprache der Oktoberrevolution" — in die Türksprachen aufzunehmen sei. Diese Forderung beschränkte sich nicht nur auf neue sowjetische Ausdrücke wie etwa Kolchos, Sowjet und ähnliche, sondern führte dazu, daß die gängigsten Begriffe in ihrer russischen Sprachform in die Türkspraehen einzudringen begannen. Alle Zeitungen, die in den Türksprachen der Sowjetunion erscheinen, geben dafür täglich sehr anschauliche Beispiele.

Wenn mit dem Schriftwechsel und der Sprachbeeinflussung die türkische Komponente der Türkvölker besonders getroffen wurde, so wurde versucht, ihre geistige Existenz vom Islam her durch die atheistische Propaganda zu zersetzen. Sicherlich bestehen heute für die Muslims in der Sowjetunion vier geistliche Verwaltungen, an deren Spitze je ein Mufti oder ein Scheich ül-Islam steht. Das sind Potemkinsche Dörfer, die sich bei Besuchen von Muslims aus aller Welt bisher als recht nützlich für die Sowjets erwiesen haben. Die tatsächliche Religionsübung wird jedoch gerade noch geduldet Die Religon darf aber nicht Gegenstand der Erziehung sein. Während es verboten ist, den Kindern religiöse Anschauungen und Gesittung im Sinne des Islams zu vermitteln, so steht es auf der anderen Seite den atheistischen Verbänden, die von Staat und Partei gefördert werden, frei, ihre atheistische, antireligiöse Propaganda in größtem Ausmaß zu betreiben.

Daß sich die Sowjetunion dabei der Doppelzüngigkeit bedient, d. h. aus außenpolitischen Rücksichten den islamischen Völkern im Ausland entgegenzukommen scheint und ihnen gegenüber die positive Einstellung zum Islam betont, während sie ihren eigenen Muslims gegenüber den Islam als einen überholten Aberglauben hinstellt, der zu bekämpfen ist, ist eine alte Erfahrungstatsache , 0). Aus der Flut der atheistischen Publikationen ist zu entnehmen, daß die antireligiöse Propaganda in den letzten Jahren ganz besonders den Islam zum Ziele hat. Das kann nur so verstanden werden, daß die Sowjets — da der Islam vom rein religiösen Standpunkt keine größere Gefahr für den Kommunismus bilden dürfte als andere gefestigte Religionen auch, — mit dem Angriff auf den Islam gerade auch eine wesentliche nationale Grundlage der Türkvölker zu treffen bemüht sind.

Druckfehlerberichtigung:

In der Ausgabe B 10/60 vom 9. März 1960 steht auf Seite 150, rechte Spalte: „Schließlich waren im Jahre 1932 mehr als zwei Drittel der Wähler im Reidt so weit gekommen, daß sie allein von Hitler noch'große Wunder erwarteten Es muß richtig heißen: „Schließlich waren im Jahre 1932 mehr als ein Drittel der Wähler ... Brief an die Herausgeber Berichtigungen und Ergänzungen zur Beilage B 45/59 vom 4. 11. 1959 . Einführung in die sowjetische Philosophie der Gegenwart“ von J. M. Bochenski.

Erlauben Sie mir, um die Veröffentlichung der folgenden Berichtigungen bzw. Ergänzungen zu meinem Aufsatz „Einführung in die sowjetische Philosophie der Gegenwart” zu bitten: 1. Unter dem Eindruck seines wahrlich bestialischen Angriffes auf Frau Prof. S. A. Janovskaja aus dem Jahre 1950 (VF 50, 3, 331— 339) habe ich Herm V. P. Tugarinov als „Reaktionär“ gekennzeichnet. Nun erfahre ich aus einem persönlichen Brief von Frau Janovskaja, daß er „einer ihrer besten Jünger" ist, während Herr Dr. H. Fleischer mich darauf aufmerksam macht, daß Tugarinov andere Aufsätze geschrieben hat, in denen er als ernster, aristotelisch gerichteter Denker erscheint. Tatsächlich muß ich feststellen, daß z. B.sein Aufsatz „Sootnosenie kategorij dialekticeskogo materializma" (VF 56, 3, 151— 160) zu den besten Arbeiten in diesem Gebiet gehört. Ich habe also Herrn Tugarinov Unrecht getan. Die Sache hat aber noch einen anderen, sehr interessanten Aspekt. Wenn nämlich Tugarinov ein Jünger von Frau Janovskaja und zudem ein nüchterner Denker ist, dann kann sein Angriff auf die Meisterin nicht anders denn als eine „Selbstkritik” der

Gruppe gedeutet werden. Er wurde wahrscheinlich mit dem Opfer selbst vereinbart. 2. Mit der gesamten mir bekannten sowjetischen Literatur habe ich die Lehre von den „nicht-antagonistischen" Widersprüchen Mao Tsetung zugeschrieben. Nun schreibt mir Herr Prof. Dr. K. Wittfogel, daß der in Frage kommende Aufsatz Mao's zwar von 1937 datiert, tatsächlich aber nicht vor 1950 veröffentlicht worden zu sein scheint; inzwischen war das Problem öfters und eingehend in der sowjetischen Literatur behandelt worden. Somit dürfte die Zuschreibung dieser Idee an Mao nicht zutreffen. Freilich finde ich den Ausdruck vor ihm nicht; die Sache ist aber sicher, z. B. 1947 bei Zdanov und auch anderswo vorhanden. Merkwürdig ist dabei, daß die sowjetischen Philosophen diese Lehre stets Mao zuschreiben — so letztens (wenigstens implizit) die „Osnovy Marksistkoj Filosofii" (1958, S. 273).

Die beiden Angelegenheiten bestätigen, was ich in meinem Aufsatz gesagt habe: daß das Gebiet sehr schwierig ist. Was wir heute dringend brauchen, ist eine Reihe von Versuchen, einzelne Aspekte der sowjetischen Philosophie zu verstehen. Ich habe meinen in verschiedener Hinsicht sehr unvollkommenen Aufsatz veröffentlicht, um zu solchen Arbeiten anzuregen. Es freut mich, daß er u. a. die oben referierten Berichtigungen seitens Kennern hervorgerufen hat.

J. M. Bochenski

Fussnoten

Fußnoten

  1. Carl Brockelmann, „Die Geschichte der islamischen Völker und Staaten', München/Berlin 1939, S. 495.

  2. Zahlen für 1939 nach den Volkszählungsergebnissen vom 17. 1. 1939.

  3. Für die zentralasiatischen Sowjetrepubliken werden für 1959 folgende Zahlen für die Tataren ausgewiesen:

  4. Die Volkszählung von 1926 fand am 17. Dezember, die von 1939 fand am 17. Januar statt. Das Intervall beträgt ein Jahr und einen Monat.

  5. Die Zahl der Deutschen für die gesamte Sowjetunion wird für 1959 mit 1, 619 Millionen ausgewiesen. In der Untergliederung nach Unionsrepubliken der gleichen Statistik erscheinen die Deutschen nur noch in der RSFSR mit 820 000 Personen. Wo die restlichen 800 000 Deutschen in der Sowjetunion wohnen, verrät die Statistik nicht. Vgl. zu allen Zahlen . Pravda'v. 4. 2. 1960.

  6. Am 15. 8. 1959 wurde in den zentralasiatischen Sowjetrepubliken der 40. Jahrestag der Eröffnung der Turkestanischen Front in großer Aufmachung gefeiert. Diese Feier ist um so beachtlicher, als sie der einheimischen Bevölkerung die neue Eroberung durch die Sowjets vor Augen führt und damit nationale Gefühle verletzt.

  7. Zur Entwicklung von Turkestan im einzelnen vgl. besonders B. Hayit, . Turkestan im XX. Jahrhundert", Darmstadt 1956.

  8. Vgl. Zizn'nacional’nostej No. 20, 1. 6. 1919.

  9. Beispiele zur atheistischen anti-islamischen Politik in Turkestan sind vom Forschungsdienst Osteuropa in zwei Heften . Documents — Soviel Russia’s Anti-Islam-Policy in Turkestan“, 1958 und 1959, — ausgewählt und kommentiert durch Dr. B. Hayit, herausgegeben worden.

  10. Chantal Quelquejay, „Anti-Islamic Propaganda in Kazakhstan since 1953* in The Middle East Journal, Summer 1959, S. 319, gibt an, daß vom 1. 3. 1953 bis 1. 7. 1957 in Kasachstan 26 antireligiöse Publikationen mit einer Auflage von 311 100 Exemplaren erschienen wären, davon 24 mit der Auflage von 304 100 in Kasachisch — d. h. praktisch für jede kasachische Familie ein Exemplar —, dagegen in Russisch nur eine Publikation in 3 000 Exemplaren, obgleich die Russen mehr als 50 % der Bevölkerung Kasachstans stellten, und eine Schrift mit 4 000 Exemplaren in tschetschenischer Sprache für die aus dem Nordkaukasus zwangsweise ausgesiedelten muslimischen Tschetschenen.

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