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Imperialismus in alter und neuer Sicht | APuZ 21/1960 | bpb.de

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APuZ 21/1960 Imperialismus in alter und neuer Sicht

Imperialismus in alter und neuer Sicht

Das außenpolitische Dogma des Kommunismus

Als Lenin in seinem Schweizer Exil während des Ersten Weltkriegs seine Schrift über den „Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" niederschrieb, schuf er das außenpolitische Dogma des Kommunismus, noch ehe es eine kommunistische Staatsmacht und kommunistische Außenpolitik gab. Für die Marxisten der ersten Stunde genügte die Parole „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“, um zum Sturz der Staaten und Regierungen durch die kommunistische Revolution aufzurufen; sie haben keine eigentliche außenpolitische Theorie entwickelt. Lenin schrieb sie, auf der kleinen neutralen Insel der Schweiz inmitten des Riesenkampfes der großen Mächte, indem er aus den Gedanken vieler marxistischer und nicht-marxistischer Vorgänger einige wirkungsvolle Schlagwort-Thesen, einen „gemeinverständlichen Abriß“ verfertigte.

Nicht eigentlich ihre theoretischen Begründungen im einzelnen als die Einordnung der gewaltigen Expansion der großen Mächte, die gerade im Augenblick des Todes von Karl Marx (1883) begann und von der dieser noch keine Vorstellung haben konnte, in das Geschichtskonzept des Klassenkampfes war das Entscheidende an dieser Schrift. Aus ihr sollte das Proletariat die Sicherheit gewinnen, daß am Ende des vom Imperialismus erzeugten Krieges nicht der Sieg einer der alten Gewalten, sondern der Sieg der Weltrevolution stehen werde. Der Imperialismus wird als das monopolistische Stadium des Kapitalismus definiert, in dem das Finanzkapital „aus Augst, iu dew tolleu Kampf um die letzten Brocken der unverteilten Welt oder bei der Neuverteilung der bereits verteilten Stücke zu kurz zu kommen“, möglichst viele Länder an ich zu reißen sucht, „gleichviel welche, gleichviel wo, gleichviel wie“. Monopole, Oligarchien, das Streben nach Herrschaft statt nach Freiheit, die Ausbeutung einer immer größeren Anzahl kleiner oder schwacher Nationen durch ganz wenige reiche oder mächtige Nationen, all das erzeugt nach Lenin jene Merkmale des Imperialismus, die ihn als parasitären oder in Fäulnis begriffenen, als sterbenden Kapitalismus bezeichnen lassen. Damit erneuert Lenin die alte Marx’sche Verheißung von der bevorstehenden kapitalistischen Endzeit, nur mit den Argumenten, die er aus der weltgeschichtlichen Entwicklung seit Marx'Tod nehmen zu können glaubte.

Seither ist der „Imperialismus“ der zentrale Kampfbegriff der kommunistischen außenpolitischen Doktrin geblieben, nur wird allzu leicht übersehen, wie sehr er sich im einzelnen in den wechselnden weltpolitischen Situationen gewandelt hat. Lenin ging noch von der Verschärfung der Gegensätze zwischen den imperialistischen Mächten als der mächtigsten Triebkraft der monopolkapitalistisch-imperialistischen Phase aus und hielt sie für eine notwendige Folge der ökonomischen Lage. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte die These angesichts der Geschlossenheit der der Sowjetunion gegenüberstehenden Machtgruppe nicht mehr aufrechterhalten werden. So hat wohl zuerst Shdanow in seinem Referat über die Weltlage nach dem Kriege, das er bei der Begründung der Kominform im September 1947 hielt, die neue Lehre von den beiden Lagern, dem „imperialistischen, antidemokratischen“ und dem anti-imperialistischen, demokratischen“ verkündet. Die Lehre vom Imperialismus ist jetzt weniger noch ein Stück ökonomischer Eschatologie wie bei Lenin, sondern das Ergebnis einer aktuellen politischen Analyse, die den Imperialismus als Fortsetzung des Faschismus und seines Kampfes gegen Demokratie und Sozialismus zu entlarven sucht. So wenig das noch mit Lenin zu tun hat, so sehr erfüllte es seinen Zweck, den außenpolitischen Weg der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg mit den alten Formeln zu decken: der Imperialismus, so verschieden sein Inhalt bestimmt wird, bleibt der Weltfeind Nr. 1 des Kommunismus, gleich ob dieser seinen Sieg durch die Weltrevolution des Proletariats oder die Weltmacht des Sowjetstaats herbeizuführen gedenkt.

An dieser Gesamtinterpretation der Weltlage hat sich für die Sowjetmacht auch heute wenig geändert. Der große außenpolitische Rechenschaftsbericht auf dem 20. Parteitag hält in seinen außenpolitischen Teilen an ihr fest, nur daß zwei Momente stärker betont werden: 1.) aus dem „Lager“ des Imperialismus sind die „Militärblocks“, die „abgekapselten aggressiven Gruppierungen“ oder „aggressiven Blocks“ geworden, 2.) der „Zerfall des Kolonialsystems des Imperialismus“ und die Rolle der Sowjetunion in ihm ist noch weit stärker in den Vordergrund gerückt. Angesichts der Verwendung des Imperialismus-Begriffs in der modernen politischen Polemik ist die Frage zu stellen: worin besteht nun eigentlich sein geschichtliches Wesen? In der Geschichte sind Begriffe oft ein Vorgriff auf realhistorische Entwicklungen, oft hinken sie diesen Entwicklungen erheblich nach: Staatsraison gab es, bevor dieses Wort bekannt war, Imperialismus umgekehrt existierte als Begriff, bevor seine modernen Erscheinungsformen geschichtlich vorhanden waren. Vom lateinischen imperium abgeleitet, erscheint das Wort zuerst im Französischen als Bezeichnung für die Anhänger des Kaisertums Napoleons I. und seiner Dynastie, dann allgemein für eine dem Despotismus nahestehende Regierungsform. In dieser Bedeutung ist es in die englische Sprache eingedrungen, in der es aber dann den Sinn einer Großreichspolitik erhält, die das Empire als politische, wirtschaftliche und militärische Einheit bejaht und es durch Föderation und Expansion über die ganze Welt auszubauen bestrebt ist. Die Träger des Imperialismus im konservativen und liberalen Lager Englands — z. B. Josef Chamberlain, Lord Rosebery, Cecil Rhodes — wollten das Empire zu einem gegliederten Reichskörper machen, sie wollten es aber auch über die Erde ausdehnen nach dem Wort Josef Chamberlains von 1897, daß der Zug der Zeit alle Macht in die Hände der großen Imperien lege, während die kleinen, nicht fortschrittlichen Mächte auf einen zweiten und untergeordneten Platz zurückfallen. Das eigentümliche daran ist, daß das imperialistische Bewußtsein im klassischen Land imperialer Politik in dem Augenblick entsteht, in dem das bis dahin gehaltene tatsächliche Monopol der Ausbreitung über die Welt verloren zu gehen droht, d. h. in dem Moment, in dem alle oder die meisten Mächte die Bahnen kolonialer Ausbreitung beschritten oder sich um die Umformung ihrer Kolonialreiche älteren Stils bemühten.

Verbindung ökonomischer Interessen mit politisch-militärischen Kräften

An diesem historischen Modell des Imperialismus vor den Weltkriegen hat sich die Theorie des Imperialismus gebildet, die heute noch im Kommunismus Geltung besitzt. Sie war in erster Linie das Werk seiner Kritiker und Gegner. Am Anfang steht die von englischen Liberalen wie CI. A. Conant (1899) und J. A. Hobson (1902) ausgehende kritische Analyse, die den Imperialismus aus einer Verbindung ökonomischer Interessen mit politisch-militärischen Kräften erklärt. Die ökonomische Theorie des Imperialismus ist dann eine der großen Aufgaben geworden, die sich der Marxismus, namentlich in seiner zweiten Generation stellte: indem er einen unauflöslichen Zusammenhang zwischen Imperialismus und Kapitalismus behauptete, wollte er seine Grund-these vom Ende des Kapitalismus auch noch durch seine Imperialismus-Kritik erhärten. Dies ist trotz mancher richtiger Beobachtungen im ganzen nicht geglückt, da alle marxistischen Theoretiker zu wenig den komplexen Charakter des Imperialismus und seine Abhängigkeit von den jahrhundertealten Traditionen der europäischen Machtstaatspolitik berücksichtigten. Sie hatten alle — wie vor ihnen schon Hobson — die besondere Lage um die Jahrhundertwende im Auge, in der die macht-staatliche Politik durch die ökonomischen Interessen der in industrieller Entwicklung befindlichen Völker aufgeladen wurde und ökonomische und politische Expansion ständig ineinander übergingen. Rudolf Hilferding stellte zuerst (1910) die These vom Imperialismus als der Wirtschaftspolitik des Finanzkapitals auf, das auf planmäßigen Kapitalexport dränge, weil die Gewinn-und Investitionschancen im Innern sinken (sog. Stagnationstheorie); Rosa Luxemburg führte (1913) die These vom Umschlag der Kapitalakkumulation in imperialistische Expansion bis zur Voraussage des Zusammenbruchs des Kapitalismus in dem Augenblick weiter, in dem der Imperialismus den Untergang nicht-kapi-

talistischer Kulturen besorgt und damit der Kapitalakkumulation den Boden unter den Füßen entzogen habe: „Bei der koken Bntwicklung und der immer heftigeren Konkurrenz der kapitalistischen Länder um die Erwerbung nicht-kapitalistischer Gebiete nimmt der Imperialismus an Energie und an Gewalttätigkeit zu, sowohl in seinem aggressiven Vorgehen gegen die nicht-kapitalistische Welt, wie in der Verschärfung der Gegensätze zwischen den konkurrierenden kapitalistischen Ländern. Je gewalttätiger, energischer und gründlicher der Imperialismus aber den Untergang nicht-kapitalistischer Kulturen besorgt, umso rascher entzieht er der Kapitalakkumulation den Boden unter den Füßen. Der Imperialismus ist ebenso eine gesdtichtliche Methode der Existenzverlängerung des Kapitals, wie das sicherste Mittel, dessen Existenz auf kürzestem Wege objektiv ein Ziel zu setzen.“

Alle diese Thesen, von denen die von Rosa Luxemburg mindestens für das ökonomische Gebiet durch den geschichtlichen Prozeß seither als falsch erwiesen wurden, hat dann Lenin in seiner eingangs genannten, 1916 in Zürich erschienenen Schrift über den Imperialismus zusammengefaßt. Hier finden wir alles Vorhergehende wieder: die Stagnationstheorie, die Umschlagstheorie, die Theorie vom Monopolkapitalismus, der alle Rohstoffquellen in seiner Hand zu vereinigen trachte und deshalb Kolonialpolitik treibe. Gegen diese Theorie ist nun mit guten Gründen vieles gesagt und geschrieben worden. Schon 1918/19 ist ihr Josef Schumpeter in einer bedeutenden Abhandlung mit der These von den „atavistischen“, nicht-kapitalistisch-industriellen, sondern eher feudal-aristokratischen Wurzeln des Imperialismus entgegenzutreten, später noch viele andere. Neuerdings hat man sie als eine Zweck-theorie mit propagandistischen Vorzeichen bezeichnet, die entstanden sei in einem Lande, das gar keine Chance hatte, einen Imperialismus als finanz-und exportwissenschaftliche Expansion vorzunehmen, da seine Kapitalbildung im Innern in keiner Weise ausreichend gewesen sei. Die im Grunde anti-imperialistische Theorie Lenins sollte die Anstrengung für eine nachholende Industrialisierung eines rückständigen Agrarlandes unter den spezifischen Bedingungen des eurasischen Kontinents herausfordern, indem sie die imperialistische Methode der anderen Mächte diffamierte (Raupach).

Ob dies und vieles andere nun richtig gesehen ist, oder nicht, jedenfalls ist dadurch die Wirkung der Lenin’schen Theorie nicht erschüttert worden. Sie hat geradezu kanonische Geltung im kommunistischen Bereich und jeder Versuch, sie einzuschränken oder auch nur ihre Thesen zu differenzieren, wie dies z. B.der sowjetrussische Nationalökonom Varga nach dem Zweiten Weltkrieg versucht hat, stößt auf den stärksten Widerstand einer versteinerten politischen Orthodoxie. Das erklärt sich daraus, daß sich von der Imperialismus-Theorie Lenins aus der Unfehlbarkeitscharakter des kommunistischen Glaubens wissenschaftlich auf einem Gebiet erweisen ließ, dem der ältere Marxismus wenig oder gar keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte: auf dem Gebiet der Außenpolitik. Vor der Basis der Parole „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“, also der Internationalität der proletarischen Revolution, und der Theorie vom Absterben des Staates ließ sich das Verhalten eines sozialistischen Staates unter anderen nicht-sozialistischen Staaten nicht zulänglich begründen. War es aber gelungen, den Staaten-gegensatz auf die Klassengegensätze zu beziehen, dann konnte künftig das Verhältnis zwischen kommunistischen und bürgerlich-kapitalistischen Staaten eindeutig im Sinne der marxistischen Theorie bestimmt werden. Das und nichts anderes ist seither etwa auch in den vorhin zitierten Analysen von 1947 und 1956 (XX. Parteitag) geschehen. Von hier aus gesehen ist „Imperialismus“ ein marxistischer Kampfbegriff und muß immer als solcher verstanden werden, wenn ihm auch unzweifelhaft eine reale historische Substanz entspricht.

Worin besteht diese nun? Wir versuchen zuerst selbst eine Begriffsbestimmung. Als Imperialismus in einem sehr allgemeinen Sinne läßt sich jeder Versuch bezeichnen, Machtexpansion mit dem Ziele der Imperiumsbildung z. u betreiben. Imperium geht dabei über Staat als ein begrenzteres Machtgebilde von relativ geschlossener — sei es nationaler, sei es historischer oder raummäßiger — Struktur hinaus, es ist aber auch nicht ohne weiteres mit Reich gleichzusetzen, da Reiche begrifflich Elemente der Kooperation oder Föderation in sich tragen, während Imperien rein herrschaftliche Gebilde darstellen. Sie haben die Tendenz zur Expansion, ohne daß sie sich an nationale, historische oder geographische Grenzen halten, dringen in der Regel in fremde Machträume ein, zerstören bestehende Staaten und setzen an ihre Stelle ein eigenes, militärisch, politisch und meist auch ökonomisch gesichertes Macht-system. Imperien als Produkte des Imperialismus sind geschichtlich in Erscheinung getreten als politisch organisierte, unterworfene Groß-räume mit allen Formen meist direkter, manchmal auch indirekter Herrschaft über entmachtete Staaten und Völker, die in der Regel nur minderen Rechtes sind und unter politischer, militärischer oder wirtschaftlicher Kontrolle stehen. Die Kontrollsysteme des Imperialismus sind sehr verschiedenartig und reihen von den „klassischen" Herrschaftsformen, wie sie schon die Römer entwickelt haben, zu den Formen wirtschaftlicher Kontrolle in den modernen Kolonial-Imperien der europäischen Nation, z. B.der Holländer und Engländer in der älteren Neuzeit mit ihren Produktionseinschränkungen in den Kolonialländern, bis zu den modernsten Formen indirekter Herrschaft durch außerstaatliche Parteiinstanzen und ideologische Erziehungssysteme.

Der historische Imperialismus

Was ist Imperialismus im historischen Prozeß gewesen und was ist er heute noch? Als Zeitalter des Imperialismus im engeren Sinne werden im allgemeinen die Jahrzehnte vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges bezeichnet (H. Friedjung). In ihnen trafen eine Reihe von Faktoren zusammen, die eine Veränderung der Politik der großen europäischen Mächte bewirkten: durch den erfolgreichen Abschluß der nationalstaatlichen Bewegung in Deutschland und Italien waren sämtliche großen europäischen Völker in den Besitz nationaler Großstaaten gelangt.

Sie wurden dadurch auch zu wirtschaftlichen Großkörpern zusammengeschlossen und traten in dieser Form in die Ära der kapitalistischen Industriewirtschaft. Dies geschah in einem Augenblick des größten Bevölkerungswachstums, das, nicht mehr durch steigende Geburtenziffern, sondern durch sinkende Sterbeziffern verursacht, sämtliche europäischen Länder vor die schwierigsten sozialen, ökonomischen und politischen Probleme stellte, derer sie durch eine veränderte Wirtschaftspolitik Herr zu werden versuchten. Wenn jetzt Weltwirtschaft als ein aufeinander abgestimmtes System einer von Europa technisch, finanziell und politisch geführten Gesamtwirtschaft auf der ganzen Welt entsteht, so ist dies nicht mehr die Weltwirtschaft im engen Sinne des klassischen Liberalismus mit Freihandel, freier Weltgesellschaft und Weltfrieden, sondern Weltwirtschaft als System konkurrierender, protektionistischer Nationalwirtschaften. Seit dem Ausgang der 70er Jahre gingen die meisten Staaten, zuerst Deutschland und Österreich, dann auch Frankreich vom Freihandel ab und zu einer Wirtschaftspolitik des ökonomischen Protektionismus über. Mit ihm steht der koloniale Imperialismus im engsten Zusammenhang, der seine Begründungen in dem Gedanken der Rohstoffautarkie, der Gewinnung von Räumen für die Unterbringung des Waren-und Menschenüberschusses sucht. Die Dynamik der wirtschaftlichen und ökonomischen Prozesse überträgt sich auf das politische Feld, das von den großen Antagonismen der durch wirtschaftliche Interessen mit angetriebenen Mächten bestimmt wird. Jedoch reichen ökonomische Begründungen für den Eintritt der Staaten in die imperialistische Politik nicht aus: so sehr im Grundsatz der Imperialismus als Herrschaftsanspruch eines führenden Volkes über andere dem Nationalitätsprinzip widerstreitet, so wenig hat dieser Widerspruch daran gehindert, daß imperialistische Politik als geradlinige Fortsetzung nationalstaatlicher Ziele getrieben wurde: koloniale Expansion wurde in vielen Fällen aus nationalem Prestige gefordert, der Anspruch auf politische und wirtschaftliche Mitbestimmung war oft mehr Ausfluß nationaler Machtpolitik, nationaler Ideologien und Rasseideen als genau kalkulierter ökonomischer Interessen. Da, wo es, wie in England zu Kapitalstauungen und Kapitalexport kam, ist der Kausalzusammenhang mit imperialistischer Ausbreitung keineswegs eindeutig.

Der Imperialismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in seiner klassischen Periode, setzt die Kolonial-und Expansionspolitik europäischer Mächte seit dem Zeitalter der Entdeckungen in einem eigentümlichen Stilwandel fort, und vollendet sie bis zur fast völligen politischen und ökonomischen Eroberung der Welt und ihrer Verwandlung in ein einheitliches politisches System. Das Neue ist jetzt nur, daß im allgemeinen Bewußtsein das Wesen einer großen Mäht geradezu aus ihrer Fähigkeit und ihrem Willen zu Expansion, kolonialen Gebietserwerbungen, weltpolitisher und weltwirtshaftliher Kraftentfaltung bestimmt wird. Diese Wendung ist gerade bei England deutlih, in der der Imperialismus als eine Bewegung entsteht, die das Empire niht mehr als Last, sondern seine Erhaltung und Vergrößerung als nationale Aufgabe empfindet (Kristallpalastrede Disraelis 1872). Imperialismus ist positive Reihsgesinnung und will föderativen Ausbau des Empire, namentlih im wirtshaftlihen und militärishen Bereich (Reichskonferenzen, Präferenzzölle für die Reihsteile, Reihszollverein); mit der Idee des Imperialismus verbindet sih aber auh die Vorstellung eines britishen Monopols auf Kolonien, das durh den Eintritt anderer Mähte in die Kolonialpolitik bedroht wurde (J. Chamberlain IC 38 in Leeds: „We formerly did not have in our foreign affairs to tronble ourselves ntudt with colonial questions, because we bad a ntonopoly of colonies. That monopoly bas ceased.“). Gegenüber der älteren britishen Kolonialgeshihte gab der englishe Imperialismus auh das Beispiel großer expansiver Raumpolitik (Cecil Rhodes: „Vom Kap bis Kairo), dem andere Mähte folgten: Frankreih in Nord-und Westafrika, Japan — als einzige niht-weiße Mäht — im Fernen Osten. Auh auf die deutsche Kolonialbewegung haben koloniale Reihsideen gewirkt (Carl Peters), setzten sih aber niht durh; später sind sie im Zusammenhang mit dem Bau der Bagdad-Bahn als wirtshaftlihe Raumideen (Berlin-Bagdad) noh einmal aufgetaucht. In Afrika, das im Jahre 1876 erst zu 10 °/o in der Hand europäisher Mähte gewesen war, steht die koloniale Eroberung noh in unmittelbarem Zusammenhang mit der Entdeckung und Ershließung des Landes. In Asien wird ihre Richtung durh das Vorhandensein alter Kulturen und Staaten bestimmt: unter ihnen tritt eine — Japan — selbst in die Reihe imperialistischer Mähte, während die andere — China — sih immerhin als ein auf die Dauer unverdauliher Brocken für die imperialistische Durchdringung erweist und seine politische Existenz bewahrt. Indien dagegen hat seine Einheit nur unter fremder Herrshaft erhalten können.

Anteil der USA und Rußlands an der imperialistischen Ara

Von besonderer Art ist der Anteil der USA und Rußlands an der imperialistishen Ära, also gerade der beiden Mähte, die heute die großen Antagonisten der Weltpolitik sind und die, wie man hinzusetzen muß, als einzige Mähte ihren territorialen Bestand und das Ergebnis ihrer imperialistishen Politik im wesentlihen sih erhalten haben. Bei den USA standen ursprünglih die geistigen und politishen Traditionen im Zeihen der Gegnershaft gegen jede mahtstaatlihe und imperialistische Politik. Die naturrehtlihe Anshauung war vor-herrschend, daß Aggressivität gegen die Rechte und Gesetze anderer gegen die Natur verstoße. Die Ausdehnung der Union nach Westen, das Vorrücken der Grenze wurde im Einklang mit dieser Anschauung gesehen: sie war ein gesellschaftlicher Akt der Siedler und Pioniere; sie erschlossen den Kontinent und begründeten dann Territorien mit freier Selbstverwaltung, die später in die Union als Mitgliedstaaten ausgenommen wurden. Dies ließ sich nun keineswegs ohne Gewalt und Eroberung verwirklichen. Schon die Verdrängung der weit unterlegenen indianischen Bevölkerung geschah mit Gewalt, aber auch die Auseinandersetzung mit Mexiko um die ausgedehnten Gebiete des Südens und des äußersten Westens wurde in den Formen eines Krieges geführt. Doch trat dies im Bewußtsein der Amerikaner immer weit zurück gegenüber dem Prozeß der freien Landnahme und Staatenbildung, der zweifellos auch ein einmaliger Vorgang der modernen Weltgeschichte gewesen ist. Amerika war durch diesen Prozeß so lange beschäftigt, daß eine Politik der Expansion nach außen, der Verstrickung in die Politik der großen Mächte abgelehnt werden konnte. Erst nach dem Sezessionskrieg (1861— 65) und der darauf folgenden Zeit der „reconstruction" der Union begann für die USA eine kurze Periode einer bewußt imperialistischen Politik: sie führte zum Spanisch-amerikanischen Krieg von 1898 und in seinem Ergebnis zum Protektorat über Cuba und zur Erwerbung der Philippinen. Schließlich entwickelten sich auch Formen des Kapitalexports nach Latein-Amerika (Dollar-Diplomatie), die durchaus imperialistischen Charakter hatten, und politisch-militärische Interventionen wie die Sicherung des Panamakanals, die mit Einsatz aller Machtmittel unternommen wurde und die Bildung der Republik Panama unter US-amerikanischem Druck und ihre Abtrennung von Columbien ermöglichte (1903). Grundsätzlich wichtig wurde die Ausweitung der Monroe-Doktrin von 1823 zu einem Schutzrecht der USA über alle amerikanischen Staaten, wie es etwa durch Theodore Roosevelt im Jahre 1904 gefordert wurde. Dieses Umschlagen von einem genuinen Antiimperialismus in imperialistische Praxis bleibt für die amerikanische Politik bis heute kennzeichnend. Wilsons neue Politik z. B. ist im Gegensatz gegen den massiven Imperialismus der Jahrhundertwende entstanden, sie führt aber ihrerseits wieder zu einem »humanitären“ Imperialismus, der in der Forderung „to wake tke world safe for dewocracy“ gipfelt.

Auch das Verhältnis des zaristischen Rußlands zum Imperialismus war von besonderer Natur. Das Zarenreich verfügte über alte imperiale Traditionen in Europa und in Asien, die aber auf jeden Fall vorkapitalistisch gewesen sind. Seine Expansion war militärisch, wenn auch nicht ohne allerdings primitive kommerzielle Zielsetzungen. Dieser frühe russische Imperialismus war ein schlagender Gegenbeweis gegen die Lenin’sche Theorie vom Imperialismus als Endstufe des Kapitalismus oder man kann auch umgekehrt sagen: die Lenin’sche Theorie mit ihrer Diffamierung des ökonomischen Imperialismus war ein Ausdruck der russischen Verhältnisse. Denn der militärisch-administrativen Expansion Rußlands, die sich durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch fortsetzte, steht seine wirtschaftlich-technisch-finanzielle Rückständigkeit gegenüber. Sie führte dazu, daß Rußland selbst das Anlagegebiet exportwilligen Kapitals wird: 80% des gesamten russischen Industrie-kapitals befanden sich in fremder Hand. Allein 4 Milliarden Gold-Frs.

aus Frankreich sind zur Finanzierung der sibirischen Bahn seit dem Ende des 19. Jahrhunderts aufgewandt worden. Unter dem Regime des Finanzministers Graf Witte hat die russische Politik ein eigentümliches System entwickelt, indem sie fremdes Kapital ins Land zog und dieses unter staatlicher Regie für ihre imperialistische Expansion etwa im Femen Osten einsetzte.

Rußland vor 1914 ist also beides zugleich: Subjekt und Objekt imperialistischer Politik, und es wird die von Lenin mit rücksichtsloser Konsequenz vorangetriebene Aufgabe, diesen Zustand zu beseitigen. Das berühmte Wort: „Komwumsntus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes" ist daher nicht nur aus der Perspektive der Weltrevolution, sondern auch aus der der Entwicklungsgeschichte eines spezifisch russischen Imperialismus zu verstehen. Hier stößt man auf die eine Wurzel des späteren sowjetischen Imperialismus: er ist vom Ökonomischen und Technischen her ein nachgeholter, verspäteter Imperialismus, verfügt dagegen im Administrativ-Militärischen über sehr alte Traditionen.

Häufung der Konfliktstoffe

Wir fassen an dieser Stelle noch einmal das Ergebnis dieses geschichtlichen Rückblicks zusammen: die Politik der imperialistischen Ära, die wir im engeren Sinne auf die drei Jahrzehnte von 1884 bis 1914 ansetzen können, ist grundsätzlich antagonistisch, d. h. sie wird von zahlreichen Mächten, die in ständiger Auseinandersetzung miteinander stehen, geführt und sich in ihren expansiven Bestrebungen gegenseitig bestärken und herausfordern. Nur in ganz seltenen Fällen wie bei der Niederwerfung des Boxeraufstandes in China i. J. 1900 und bei der Begründung des Kongostaats 188 5 wirken die Mächte — allerdings wiederum aus Machträson — zusammen. Lokalisierte Kriege zwischen den Kolonialmächten (z. B. Spanisch-amerikanischer Krieg 1898, Japanisch-russischer Krieg 1904/05) gehören ebenso zum Bild des Imperialismus wie Kolonialkriege gegen schwache Staaten älteren Typs (z. B. chinesisch-japanischer Krieg von 1894/95, Burenkrieg 1899 bis 1902, italienisch-türkischer Krieg von 1911/12) oder vertragliche Abgrenzungen von Interessensphären (z. B. Verträge in Afrika seit 1890 über Festlegung von Grenzen, 1907 russisch-britischer Vertrag über Persien, Afghanistan, Tibet).

Im ganzen hat der Imperialismus die Beziehungen der Mächte verschärft und die Konfliktstoffe zwischen ihnen gehäuft, wenn auch unzweifelhaft für eine bestimmte Frist durch die Expansionsbewegungen über die ganze Welt das Ausweichen vor Konflikten unter den Großmächten erleichtert wurde, ein Mittel, das Bismarck mit Virtuosität handhabte. Diese Frist war in dem Augenblick abgelaufen, in dem die machtleeren Räume auf der Erde aufgefüllt waren. Dies höchstens ist der richtige Kern der Theorie Rosa Luxemburgs von der befristeten Lebensdauer des Kapitalismus.

In seinen Ergebnissen hat der Imperialismus die Welt vorübergehend unter die Herrschaft der europäisch-abendländischen Mächte gebracht. Von den Staaten nicht-abendländischer Tradition widerstanden nur wenige: trotz vielfacher Beschneidung und Durchdringung China, in Afrika Abessinien, das abgesehen von der faschistischen Ära nur von 1889— 1896 unter italienischem Protektorat stand, die Türkei, die nach dem Ersten Weltkrieg sich nur noch als kleinasiatischer Nationalstaat behauptete, und als einziger in den Kreis der imperialistischen Mächte aufgerückter nicht-abendländischer Staat Japan, das noch im Zweiten Weltkrieg die westlichen Völker mit seinem großostasiatischen Imperialismus zu beerben suchte.

Die Politik der imperialistischen Ära hat auf die Entwicklung des Rechts in mehrfacher Hinsicht eingewirkt. Zunächst sind durch die Expansionsbewegung des Imperialismus nicht nur riesige neue Räume der Herrschaft europäischer Mächte, sondern auch dem von Europa entwickelten Staats-und Völkerrecht unterworfen worden. Dies geschah nur in wenigen Fällen (Türkei, Japan) durch die Aufnahme nichtchristlicher Staaten in die ihrer Wurzel nach christliche Völkerrechtsgemeinschaft, in der Hauptsache vielmehr durch die Einbeziehung „unterentwickelter" Gebiete in moderne Staaten und Rechtsgemeinschaften, deren prägende Kraft auch für die späteren Entwicklungsstufen halber oder ganzer Unabhängigkeit nicht übersehen werden kann. An die Stelle des Gegensatzes christlicher und nicht-christlicher Staaten rückt im imperialistischen System die Unterscheidung zivilisierter, halb-oder nicht-zivilisierter Staaten, zwischen denen rechtliche Beziehungen neuer Art hergestellt werden. Von der Bewegung des Antikolonialismus her wird das politische System des Imperialismus, vor allem seine Herrschafts-und Okkupationsformen ausschließlich negativ gesehen. Niemand wird die dunklen Seiten der europäischen Kolonialpolitik, so das ganze Kapitel der Sklaverei unterschlagen wollen, aber ihnen stehen doch auch ganz andere Züge gegenüber: es sei hier gar nicht von den materiellen Aufwendungen und Einflüssen gesprochen, die in die Kolonialländer geflossen sind. Wir denken vielmehr an das geistige und immaterielle Kapital, angefangen bei der christlichen Mission bis zu den politischen Ideen, die heute im Antikolonialismus sich auswirken. Auch die politischen Emanzipations-und Befreiungsprozesse der ehemaligen Kolonialvölker von heute sind ohne die Ära der Kolonialherrschaft in vielen Fällen kaum denkbar. Meist bestimmt auch heute noch bei den emanzipierten Kolonialstaaten der koloniale Status die politischen Grenzen. Überall wo ältere staatliche Traditionen fehlen, sind die heutigen souveränen und halbsouveränen Länder einfc. ch freigesetzte Kolonien. Man kann auch sagen, daß der politische Einheitsgedanke von Gebieten wie Indonesien, aber auch von Indien fast ausschließlich kolonialistischer Herkunft ist.

Die spätimperialistische Phase

Unser historischer Rüdeblick ist damit bereits in die Nähe der unmittelbaren Gegenwart angelangt. Wir haben vorhin den klassischen Imperialismus auf die Jahrzehnte zwischen 1884 und 1914 beschränkt. Eigentlich müßte man den Ersten Weltkrieg selbst noch dazunehmen; denn in ihm sind in der Tat noch imperialistische Programme auf allen Seiten aufgestellt und verfochten worden. Der Ausgang des Krieges jedoch zeigte, daß der Höhepunkt der imperialistischen Politik bereits überschritten war; gemessen an den imperialistischen Programmen der Mächte im Kriege selbst, brachte der Kriegsausgang neue Faktoren ins Spiel, die eine Schwächung imperialistischer Politik bedeuteten: 1. Der Weltkrieg war die geschichtliche Bestätigung der Tatsache, daß die politische Voraussetzung der bisherigen Politik der imperialistischen Expansion: die Existenz politischer Leerräume, nicht mehr gegeben war. Marokko war der letzte Fall, bei dem dies noch zu glükken schien, ebenso vielleicht noch Lybien und Tripolis. China als ganzes widerstand durch seine Größe dem Versuch der Durchdringung. 2. Von den imperialistischen Großmächten waren zwei — Deutschland, Rußland — nach dem Kriege zunächst ausgeschieden. Eine dritte, die USA trat mit dem Anspruch eines anti-imperialistischen Programmes auf, dem Selbstbestimmungsrecht und der Schaffung eines Staatenverbandes, der an die Stelle der Machtpolitik und Geheimdiplomatie treten sollte. 3. Die Realisierung dieses Programms hat in Europa das Ende übernationaler Großstaaten bedeutet und dafür in bestimmten Bereichen ein System von Klein-und Mittelstaaten geschaffen, denen an sich schon die Macht fehlte, imperiale oder imperialistische Politik zu treiben. 4. Der Genfer Völkerbund wurde nur ein sehr unvollkommenes Instrument, um im Sinne seines Begründers Wilson das alte System der Mächte und Mächtepolitik zu beseitigen. Doch ist notwendigerweise jeder Versuch zur Erneuerung imperialistischer Politik auf seinen wenn auch schwachen und unzureichenden Widerstand gestoßen: so Japan in der Mandschurei, Italien in Abessinien. Außerdem wird vom Völkerbund ein — wenn auch wiederum problematisches — Instrument entwickelt, um das bisherige Rechtssystem der kolonialen Besitznahme zu durchbrechen: die Völkerbundsmandate, aus der angelsächsischen Idee der trusteeship, der Treuhänderschaft entwickelt, waren ein erster Versuch, die rein imperialistischen, unkontrollierten Festsetzungen von Mächten in kolonialen Gebieten durch ein kontrolliertes System, das der Staatenunion des Völkerbunds verantwortlich war, zu ersetzen. Gewiß ließ dieser Versuch die Kolonialreiche der Siegermächte bestehen und krankte an seiner höchst parteiischen Anwendung auf einige Gebiete der Verlierermächte, auf deutsche Kolonialgebiete und auf Gebiete des türkischen Reiches, während der Schöpfer des Mandatsgedankens, der Südafrikaner Smuts, eine umfassende Ordnung im Auge gehabt hatte. Aber man kann wenigstens von einem Anfang sprechen.

All dies hat die traditionelle Großmachtpolitik kaum wirklich einzuschränken vermocht, trotzdem ist Imperialismus seit 1918/19 kein offen bekanntes Ziel mehr, seine moralische Geltung ist wenn nicht gebrochen, so doch fraglich geworden. Das gilt solange, bis sich in einer spätimperialistischen Phase ein neuer Typ imperialistischer Politik ausbildet. Seine Träger sind Japan, das faschistische Italien und das nationalsozialistische Deutschland, schließlich sie alle ablösend die stalinistische Sowjetunion. Japan lassen wir als Sonderfall beiseite: es war seit 1931 im Ausgreifen auf das fernöstliche Asien begriffen und tritt 1941 in den Zweiten Weltkrieg mit einem atemberaubenden Anlauf zu imperialer Eroberung im pazifischen Raum und Südostasien. Seine Antriebe sind teils militärische teils ökonomisch-soziale. Es verbindet die japanische Politik mit der faschistischen und nationalsozialistischen, daß in allen diesen Fällen Expansion in keiner Weise mehr wie in der Zeit des klassischen Imperialismus Ausdehnung aus Überfluß — Überfluß an Kapital, Menschen und Waren — ist, sondern Ausdehnung als eine Art Kurzschlußreaktion auf politische Depression und wirtschaftliche Krise und Verarmung. Während die sozialistischen Massenbewegungen älteren Stils im ganzen pazifistischer Gesinnung zuneigen, werden die neuen Massenbewegungen militant und aggressiv. Das sind Vorgänge, die wir vorläufig nur registrieren, aber noch nicht erklären können. In gewissem Umfange gilt dies auch für den Gesamtkomplex des Imperialismus des Dritten Reiches. Er sieht sich, was man bei Hitler in „Mein Kampf" nachlesen kann, im Gegensatz zum Imperialismus des Kaiserreiches durch seine Stoßrichtung: war dieser kolonial-überseeisch „weltpolitisch“, so ist jener kontinental. Seine Ursünde war eine doppelte: einmal seine zeitliche Verspätung, d. h.der Versuch, Imperialismus zu treiben, als allenthalben Herrschaftsverhältnisse der imperialistischen Epoche bereits in der Rückbildung begriffen waren. Sodann als zweites: die Übertragung frühkolonialistischer Formen aus nicht-europäischen Kontinenten in das national, kulturell und sozial durchgeprägte Europa. Die Vorstellung, Polen und Tschechen, aber auch Ukrainer auf die Stufe halbentwickelter Fellachenvölker herabdrücken zu können, war nicht nur utopisch, sie verstieß gegen das Grundgesetz der europäischen Geschichte, in der sich zwar die stärksten kulturellen Differenzierungen, aber doch ein einheitliches Rangbewußtsein und ein äußerst verletzliches Selbstbewußtsein der Völker ausgebildet hatte.

Führungsanspruch des deutschen „Herrenvolkes"

Die Frage wird immer wieder gestellt, ob der offene Imperialismus Hitlers seit dem Frühjahr 1939 als ein Abweichen von einer ursprünglich vorhandenen völkisch-nationalstaatlichen Grundidee aufgefaßt werden kann. Ich möchte das für Hitler selbst verneinen: schon „Mein Kampf“ zeigt, daß er das nationale Selbstbestimmungsrecht als Vehikel einer nationalistisch verstandenen Weltherrschaftspolitik aufgefaßt hat. Sicherlich haben Millionen von Anhängern der Partei im nationalen Selbstbestimmungsrecht den Kerngedanken der NS-Politik gesehen, aber jede neue Quelle, die bekannt wird, belegt, daß dies nicht zutrifft, am wenigsten für Hitler und die Führungskreise der SS, die vor allem einen imperialen Reichsgedanken vertreten haben, für den den fremdnationalen SS-Verbänden eine besondere Rolle zugewiesen war. Das Lebensrecht der anderen Völker war in der „neuen Ordnung Europas“, wie sie vor allem im Kriege proklamiert wurde, nur insoweit anerkannt, als es den Führungsanspruch des deutschen Herrenvolkes nicht beeinträchtigte. Das konnte zu sehr verschiedenen Formen der Unterwerfung oder Schutzherrschaft führen, wie sie uns in den Reichskommissariaten der Kriegszeit, dem Reichsprotektorat Böhmen und Mähren, dem Generalgouvernement oder dem Status der Slowakei als Schutzstaat entgegentreten.

Carl Schmitts Vorstellung von „völkerrechtlicher Großraumordnung"

Ansätze, dieses System auch ideologisch zu begründen, sind von verschiedener Seite gemacht worden, am bemerkenswertesten ist wohl der des Staatsrechtslehrers Carl Schmitt, den er in erster Linie in seiner Schrift „Völkerrechtliche Großraumordnung“ entwickelte, die zum erstenmal schon im April 1939, also noch vor Ausbruch des Krieges erschienen war. Schmitt knüpfte an die Monroedoktrin an und sah in ihr das Modell für Großraumordnungen, d. h. imperiale Räume, die unter dem ausschließlichen Einfluß bestimmter Mächte stehen. Ich zitiere die entscheidenden Sätze: „Eine Großraumordnung gehört zum Begriff des Reiches, der hier als eine spezifisch völkerredttlidte Größe in die völkerrechtswissenschaftlidte Erörterung eingeführt werden soll. Reidie in diesem Sinne sind die führenden und tragenden Mächte, deren politische Idee in einen bestimmten Großraum ausstrahlt und die für diesen Großraum die Intervention fremdräumiger Mächte grundsätzlich ausschließen. Der Großraum ist natürlich nicht identisch mit dem Reich in dem Sinne, daß das Reich der von ihm vor Interventionen bewahrte Großraum selber wäre; und nicht jeder Staat oder jedes Volk innerhalb des Großraumes ist selber ein Stück Reich, so wenig jemand bei der Anerkennung der Monroedoktrin daran denkt, Brasilien oder Argentinien zu einem Bestandteil der Vereinigten Staaten von Amerika zu erklären. Wohl aber hat jedes Reich einen Großraum, in den seine politische Idee ausstrahlt und der fremden Interventionen nicht ausgesetzt sein darf.“ Man spürt hinter diesen Sätzen die Situation vom Frühjahr 1939, in der es darum geht, den englischen Anspruch auf Mitbestimmung im kontinentalen, namentlich östlichen Europa zurüdezuweisen, aber wichtig scheint mir doch vor allem zu sein, daß hier zwar viel vom Reich als einem „Kosmos im Sinne einer konkreten Ordnung, sei es einer krieg-und kampffähigen, Gegenreichen gewachsenen geschidttlidten Macht“, aber wenig vom Zusammenleben mehrerer Völker in dieser Ordnung die Rede ist, die ihren genuinen imperialistischen Charakter nicht verleugnet.

Expansionsideen des Zarenreiches wieder lebendig

Wir haben schließlich die Frage zu stellen: welcher Art ist der Imperialismus des Sowjetreiches und kann er überhaupt als Imperialismus bezeichnet werden? Hier muß man zunächst daran erinnern, daß die bolschewistische Revolution im Zeichen des Kampfes gegen den Imperialismus aufgebrochen war. Die Parole vom Selbstbestimmungsrecht der Völker kam nicht nur von Wilson, sie kam auch schon aus den ersten Verlautbarungen der russischen Revolution vom Oktober 1917: Selbstbestimmung bis zum Recht auf Sezession sicherte die Sowjetverfassung ihren Gliedstaaten und Nationen zu. Wie man sich das Resultat der Weltrevolution anfangs dachte, klingt noch in der Präambel der Sowjetverfassung von 1924 an, in der die Sowjetunion als Kristallisationskern des sozialistischen Weltbundesstaates des Proletariats erscheint. Allerdings war darüber schon sehr früh eine bemerkenswerte Diskussion im Gange: Stalin erkannte die Unvereinbarkeit dieses Programms mit den russischen Reichstraditionen und schlug, Lenin korrigierend, im Jahre 1920 vor, den engeren Kern der Föderation durch eine Konföderation zu ergänzen: Föderation für die alten Gebiete des russischen Reiches, Konföderation als eine der Übergangsformen zur Annäherung der Werktätigen der verschiedenen Nationen, für die zum Kommunismus entschlossenen Nationalitäten, die früher nicht zu Rußland gehörten, um ihnen die staatliche Annäherung an Rußland zu erleichtern.

Man weiß nun, daß die Entstehung der Sowjetunion aus den verschiedenen Teilstaaten, insbesondere der Ukraine zwar formell auf dem Wege der Föderierung, aber überall mit Gewalt vor sich gegangen ist. Das ist nach 1918/19 nicht anders als 1939/40 in den baltischen Ländern und nach 1944 in Ostmitteleuropa. Die Expansion der Sowjet-macht war eine Expansion mit militärisch-politischen Mitteln im Stile imperialistischer Ausbreitung, für die revolutionäre Erhebungen nicht der Ausgangspunkt, sondern höchstens ein Mittel gewesen sind. Indessen ist zu bemerken, daß die Sowjetunion seit 1944 keinen Schritt getan hat, der ihre staatlichen Grenzen über die anfangs des Krieges gezogenen Linien hinaus vortrieb — mit Ausnahme von Nordostpreußen und der Karpathenukraine: sie hat die Volksdemokratien also nicht in den Unionsverband ausgenommen und keine Konföderation gebildet. Sie hat vielmehr nach außen — etwa in ihren völkerrechtlichen Verlautbarungen — den Begriff der Souveränität für die ostmitteleuropäischen Staaten so betont, daß dies in einem seltsamen Kontrast zu der Minderung des Souveränitätsbegriffs im Westen steht.

Die innere Gleichschaltung der Satelliten, ihre ideologische, wirtschaftliche und soziologische Bindung an die Sowjetunion, die parteimäßige Verknüpfung — all das kommt in den vertraglichen Fixierungen zwischen der Sowjetunion und ihren Satelliten nicht zum Ausdruck. Theoretisch wird höchstens von einem intersozialistischen Völkerrecht als von einem Völkerrecht höherer Stringenz gesprochen. Die Verträge mit den Satelliten waren anfangs gesonderte Beistandsverträge mit jedem einzelnen Staat; erst im Mai 195 5 wurde der Warschauer Pakt zwischen sämtlichen Volksdemokratien und der Sowjetunion geschlossen und in ihm werden zum erstenmal — wohl nach dem Vorbild der NATO oder der Westeuropäischen Union — supranationale Organe wie ein Vereintes Kommando und ein Politischer Beratender Ausschuß eingerichtet. Von dem Gedanken des sowjetischen Weltbundesstaats ist also wenig oder nichts übriggeblieben, in den äußeren Formen wirkt das Ostblocksystem durchaus konventionell. Trotzdem kann kein Zweifel daran bestehen, daß wir es hier, wenigstens der Intention nach, mit einem Imperium zu tun haben. Die Klammer dieses Imperiums ist aber nicht das formale Verfassungsrecht oder Bündnisrecht, sondern neben der wirtschaftlichen und militärischen Interdependenz aller seiner Glieder die ideologische Verklammerung und die Partei-macht der kommunistischen Parteien, deren Dirigierung durch Moskau sich formalen Kriterien entzieht. Offenbar haben wir es hier mit einer neuen Form indirekter Herrschaft im Dienste imperialistischer Politik zu tun. So setzt sich in der politischen Literatur seit 1950 die Kennzeichnung des Systems der sowjetischen Außenpolitik als Imperialismus immer mehr durch; zusammenfassend hat zuerst David J. Dallin in einem Aufsatz „Rußlands neuer Imperialismus“ in der Zeitschrift Yale Review vom September 1950 diesen Versuch unternommen. In diesem neuen Imperialismus spielt die politische Annexion und die formale Souveränitätsminderung politisch abhängiger Alliierter die geringste Rolle. Eher wird völkerrechtlich „nationale Souveränität“ übersteigert. Dagegen vermag das dirigistische Wirtschaftssystem des Kommunismus in weit wirkungsvollerem Maße als es jemals der bürgerlich-kapitalistische Imperialismus vermocht hatte, ökonomisch-soziale Abhängigkeitsverhältnisse herzustellen. Wenn man auch den ideologischen Antrieb bei der Schaffung kommunistisch bestimmter Sozialordnungen in den von der Sowjetunion abhängigen Ländern weiterhin nicht unterschätzen darf, so wird doch fraglos die soziale Assimilation das wohl wirksamste Mittel imperialer Herrschaft, die sich außerdem noch der wirtschaftlichen Integration der abhängigen Staaten als eines Instrumentes bedient.

Es ist kein Zweifel, daß die Sowjetmacht nicht mehr auf ein gleichsam raumloses Ziel einer allgemeinen Weltrevolution zusteuert, sondern ein räumlich zusammenhängendes Imperium der führenden Macht des Kommunismus schaffen wollte und schaffen will, in dem alle Expansionsideen des Zarenreichs wieder lebendig werden. Als nicht in diesem Sinne raumgebende Elemente des Sowjetimperialismus bleiben allerdings die kommunistischen Parteien in den freien Staaten der Welt und nicht weniger die nationalen Emanzipationsbewegungen in den ehemaligen Kolonialgebieten bestehen.

Trotz diesem Charakter ihrer Politik kann die Sowjetmacht ideologisch und faktisch über ihr anti-imperialistisches Erbe nicht einfach mehr hinweggehen. Je mehr sie ihre Aktivität auf die antikolonialistischen Bewegungen verlagert und die Idee der Weltrevolution geradezu auf sie einschränkt, desto stärker muß sie auf den ideologischen Anti-Imperialismus zurückgreifen. Dies ist nicht erst seit heute und gestern so: ihre Bedeutung hatte schon Lenin erkannt, der als den wichtigsten Unterschied in der politischen Struktur der Welt den zwischen unterdrückenden und unterdrückten Völkern bezeichnet hatte und schon 1920 die Schlußparole des Kommunistischen Manifests zu dem Satze erweiterte: „Proletarier aller Länder und unterdrückten Völker vereinigt Euchl“ (26. XL 1920). Ihm folgte 1924 Stalin und sagte von den Kolonialländern, sie müßten aus Reserven des Imperialismus in Reserven der proletarischen Revolution verwandelt werden.

Solche Aussagen haben heute im Zeichen des sich überall durchsetzenden Antikolonialismus ihren Wert noch unerhört gesteigert. Angesichts der weltpolitischen Entwicklung des letzten Jahrzehnts wird die Sowjetunion gezwungen, sich in den Formen ihrer Politik so wenig imperialistisch wie möglich zu geben. Dazu wird sie seit Titos Abfall und erst recht seit 1956, aber auch durch die Rücksicht auf die ost-mitteleuropäischen Volksdemokratien gezwungen: trotz der Erfolge, die die Sowjetunion in Ungarn und Polen erzielt hat, ist nach den revolutionären Bewegungen von 1956 zweifellos nicht einfach die alte Lage wiederhergestellt worden. Ein Rest autonomer Politik ist in diesen Ländern mit ihrem hochexplosivem Nationalgefühl zurückgeblieben. Nimmt man dazu, daß China als zweite potentielle Weltmacht im kommunistischen System steht, so ergibt sich, daß die Sowjetunion nicht mehr die gleiche Bewegungsfreiheit für einen ungehemmten Ausbau ihres Imperiums besitzt wie in dem Jahrzehnt nach dem zweiten Weltkrieg. Sie wird also ihre anti-imperialistische Ideologie aktivieren und faktisch zu Formen der Kooperation im kommunistischen Staaten-system übergehen, die ihr ein Echo bei den antikolonialistischen Völkern sichern. Die Zusammenschweißung des Ostblocks wird sie demgegenüber noch mehr durch wirtschaftliche Integration versuchen.

Vom Kolonialismus zur verantwortlichen Selbstregierung

Von hier aus gesehen ist das Gesetz des Handelns nicht mehr vom sowjetischen Imperialismus in seinen ursprünglichen Formen, sondern von der allgemeinen anti-imperialistischen Tendenz der Zeit bestimmt, zu der die großen angelsächsischen Imperien den Anstoß gegeben haben. Es wird oft zu leicht vergessen, was weltgeschichtlich die Freigabe der nicht-weißen Dominions durch Großbritannien und die Verselbständigung der Philippinen durch die USA bedeutet haben und bedeuten. Aus dem Kolonialismus selbst sind die Ideen der verantwortlichen Selbstregierung (responsible government), der Treuhänderschaft und der Föderation hervorgegangen, die am Ende zur Gewährung der Unabhängigkeit an eine Reihe von Kolonialländern führten. Dieser Weg ist dann, wenn auch nicht überall, weitergegangen worden, eine Reihe afrikanischer Staaten hat inzwischen Unabhängigkeit erlangt. Beispiele anderer Art, bei denen es wie in Indonesien zu gewaltsamen Auseinandersetzungen gekommen ist, zeigen an, daß nur durch freie Vereinbarung die Grundlagen geschaffen werden können, um die Frage der Befreiung vom Kolonialismus zum Wohle der selbständig werdenden Völker zu lösen. Der Imperialismus darf nicht durch einen chauvinistischen Nationalismus und wirtschaftlichen Verfall auf der anderen Seite abgelöst werden.

In dieser säkularen Auseinandersetzung kommt der führenden Macht des Westens, den USA eine entscheidende Rolle zu. Die USA sind durch kolonialistische Traditionen kaum belastet, aber ihr Ansehen als genuin antikolonialistische Macht hat in der Welt, vor allem bei den farbigen Völkern, erheblich gelitten. Sie ist durch ihre Politik der Abwehr gegen den Kommunismus in militärische und politische Positionen hineingedrängt worden, die sie eines neuen Imperialismus verdächtig machen. Die Sowjetunion tat das Ihre, um diesen Verdacht zu bestärken: es fällt leicht, die enormen Aufwendungen der USA für den wirtschaftlichen Wiederaufbau der Welt, vor allem die Mittel des ERP-Plans als Formen der wirtschaftlichen Unterwerfung im imperialistischen Sinne zu deuten, ebenso den Aufbau eines strategischen Stützpunktsystems rings um den sowjetischen Machtbereich, in dem höchstens ein defensiver, konservierender Imperialismus gesehen werden darf.

Sicherlich stehen auch in den Vereinigten Staaten heute anti-imperialistische Verpflichtungen und imperialistische Verlockungen nebeneinander, und niemand wird den utopischen Glauben hegen, daß Weltpolitik ohne die Bürde der Macht getrieben werden kann. Eher ist das Gefühl dafür in der westlichen Welt zu gering, als daß es überschätzt werden kann. Macht ist eine reale, materielle Größe, aber sie ist auch eine moralische Größe, mindestens eine moralische Verpflichtung. In einer Welt wie der heutigen, in der der Demokratisierung der innerstaatlichen Verhältnisse eine Demokratisierung auch der zwischenstaatlichen Beziehungen und ihre Entwicklung im Geiste des Gleichheitsdenkens entspricht, ist ein Imperialismus jeglicher Art, gegründet auf Herrschaft über andere, veraltet und gefährlich, im eigentlichen Sinne des Worts reaktionär geworden. Nur wer Macht zu repräsentieren und gleichzeitig Vertrauen bei den Schwächeren zu erwerben vermag, wird den Sieg in der Hand behalten. Das Ringen der Weltmächte ist zu einem Ringen um den Anti-Imperialismus, d. h. um das Vertrauen der Schwächeren geworden: mächtig zu bleiben und doch die Herrschaft über andere in das Zusammenwirken m i t anderen zu verwandeln, ist die große Aufgabe des Jahrhunderts. Die westliche Welt hat hier ihre großen Traditionen und ihre bleibenden Werte der Freiheit, der Selbstbestimmung und der Zusammenarbeit ins Feld zu führen.

Politik und Zeitgeschichte

Aus dem Inhalt der nächsten Beilagen:

Werner Conze: „Die deutschen Parteien in der StaatsVerfassung vor 1933"

Ernst Deuerlein: „Deutschland in Vorstellung und Aussage des Marxismus-Leninismus" Nelson Rockefeller: „Zielstrebigkeit in der Politik"

Karl C. Thalheim: „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft"

Walter Wehe: „Die wirtschaftspolitische Entwicklung Europas seit dem Marshallplan"

Fussnoten

Weitere Inhalte