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Die Vergangenheit mahnt — Wille, Wege und Wagnis zur Bewältigung | APuZ 27/1960 | bpb.de

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APuZ 27/1960 Die Vergangenheit mahnt — Wille, Wege und Wagnis zur Bewältigung Wartheländisches Tagebuch

Die Vergangenheit mahnt — Wille, Wege und Wagnis zur Bewältigung

WALTER JACOBSEN

A) Die jüngsten antisemitischen Exzesse — ein Mahnzeichen

B) Die jüngsten 1. 2. 3. 4. Mahnzeichen Zum sichtbaren Geschehen; Motivation Analyse Ausland Echter und Scheinantisemitismus Hintergründe 5. Nationalismus und Autoritarismus 6. „Zukünftiges ist wichtiger als Vergangenes“

7. Grundeinstellung 12. 13. 14. 15. 16. Schwierigkeiten Prädisposition der Jugend heute Hemmungen in der Aufarbeitung Wer ist zuständig?

Was kann man tun? Sachverständige Auslösungsreiz und Probleme 8. Erziehung und zeitgeschichtlicher Unterricht 9. Komplikation durch kommunistische뚈ܢ?

1. Zum sichtbaren Geschehen; Auflösungsreiz und Motivation Daß die Häufigkeit der antisemitischen Demonstrationen den Charakter einer Kettenreaktion durch „Ansteckung" hatte, erscheint nach allen bisherigen Meldungen offenkundig und dürfte auch das Wahrscheinlichste sein. Bei den Auslösungsreizen ist die Unreife der meisten Attentäter, (die nicht allein aus dem Lebensalter zu schließen ist), kennzeichnend. Besonnene Menschen wählen andere Wege zur Durchsetzung ihrer politischen Tendenzen. Bei den Unreifen spielt das Geltungsmoment eine sehr große Rolle mit. Der hier offenkundig gewordene Geltungs erfolg reizt zur Nachahmung. Aktivitätsbedürfnisse und Imponiergehabe finden mit den Hakenkreuz-und Anti-Judenparolen eine besonders dankbare Gelegenheit zur Befriedigung. Gegen Dummejungenstreiche dieser Art erscheint die Abschreckungsmethode als die unvermeidliche Sofortmaßnahme. Auf längere Sicht dagegen wirken nur eine entsprechende Erziehung und die Aufarbeitung der Vergangenheit

Mit der Kennzeichnung dieser Auslösungsreize ist über die antisemitische Grundeinstellung, deren Stärke und Verbreitung, jedoch noch gar nichts ausgesagt.

Zwischen den Auslösungsreizen beim einzelnen (Aktivitäts-und Geltungsbedürfnis, gegenseitige Ansteckung) einerseits und der möglicherweise doch in gewissem Grade verbreiteten antisemitischen Grundeinstellung, die solche Symptome ermöglichte, gibt es jedoch noch die unbeantwortete Frage nach den aktuellen Motivationen in den verschiedenen Einzelfällen, denn es reicht nicht einmal zur Beruhigung der innerdeutschen Öffentlichkeit, geschweige denn des Auslands, aus, wenn man die plötzlich überall so zahlreich auftretenden Eruptionen des Taten-und Geltungsdranges als Rowdytum oder Flegelei „erklärt". Schließlich muß es ja Gründe geben, warum das Rowdytum sich so begeistert gerade dieser Feldzeichen („Hakenkreuz" und „Juden raus“) bedient.

Vermutlich fühlte sich jeder einzelne Täter ganz persönlich, also spontan, aufgerufen, seiner solidarischen Gesinnung und seinem Geltungsbedürfnis vor sich selbst in gleicher Weise Ausdruck zu verleihen. Das schließt nicht aus, daß gelegentlich auch von linksradikaler Seite nachgeholfen wurde und wird. Ohne eine entsprechende, zumindest potentielle Grundgesinnung waren die meisten Farbtopfattentate aber wohl kaum möglich.

Rechtsradikale Organisationen haben diese Aktionen wahrscheinlich nicht „gesteuert“. Zwar wird es für sie eine große Befriedigung gewesen sein, zu entdecken, welch „allgemeine" Resonanz bei einem solchen Startzeichen zu erwarten ist; sie werden sich gestärkt und ermutigt fühlen. Andererseits wird niemand erschrockener als sie gewesen sein darüber, nun plötzlich vor aller Welt derart kompromittiert zu werden.

Diese zwielichtige Rolle der Attentäter fordert erst recht zur genaueren Erhellung ihrer individuellen Motivationen heraus. Es gilt, jene „Sympathie" -Beziehungen bloßzulegen, die in einem unbekannt großen Teil unserer Bevölkerung zu solchen Taten prädisponieren ; man muß bedenken, daß ja nur ein verschwindend kleiner Teil der Sympathisierenden (bzw. Halbdemokraten bzw. Antidemokraten) sich zu Manifestationen, noch dazu so unreifer Art, hinreißen läßt. 2. Analyse Man muß leider befürchten, daß die Motivationen entweder nur unzureichend oder in falscher Interpretation aufgedeckt werden, wenn man die Erst-und Zweitverhöre der Gefaßten dem Routinebetrieb in den Polizeistuben überläßt. Man kann von den Kriminalbeamten meistens nicht erwarten, daß sie die oft recht komplizierte Psyche der Delinquen-ten in dem ergiebigsten Zeitpunkt der Voruntersuchung zweckmäßig zu durchleuchten verstehen. Die forensische und Aussage-Psychologie, besonders bei Jugendlichen und Zurückgebliebenen, hat in dieser Beziehung stets erschütternde Tatsachen ans Licht bringen können. In einem so delikaten, dazu auch noch politisch so schwerwiegenden Falle sollte man daher, das ist meine Ansicht, wo irgend es möglich ist, bei Verhaftung eines Attentäters sofort den nächst zuständigen forensischen Psychologen herbeirufen. Solche können von fast jedem psychologischen LIniversitätsinstitut zur Verfügung gestellt oder benannt werden.

Was auf diese Weise an psychologischem Primärmaterial gesammelt werden kann, würde auch allen künftigen Maßnahmen sehr zugute kommen können, die zur Bekämpfung von Rechtsradikalismus und Antisemitismus vorgenommen werden müssen. 3. Ausland Überzeugte, also sozusagen „echte" Antisemiten gibt es in allen Ländern. Sie glauben an die Weltverschwörungsidee des Judentums oder zumindest an seine dekompositorische Funktion gegenüber Ordnung und Nationalgefühl. Auch im Ausland stehen die Antisemiten meistens den radikalen Rechtsparteien nahe, aber nicht ausschließlich. Leute mit fixen Ideen dieser Art sind oft geneigt, ein deutlich sichtbares Fanal aufstellen zu wollen. Wenn diese Leute im Ausland jetzt den Eindruck gewannen, daß sich in Deutschland eine allgemeine antisemitische Empörung anbahne, dann mag sich, wie gesagt, der eine oder andere von ihnen dort zu einer Art Solidaritätskundgebung bewo-gen fühlen. Ja, es deutet auch einiges darauf hin, daß zwischen Gleichgesinnten in verschiedenen Ländern ein guter Verständigungskontakt aufrechterhalten wird. 4. Echter und Scheinantisemitismus Vor 1914 war der Antisemitismus in Deutschland nicht unbedingt mit ultrarechtsstehenden Parteien verkoppelt. Er konnte damals bald bei dieser, bald bei jener politischen Gruppe je nach aktuellem Gefolgschaftsbedarf, nach demagogischem Geschick und nach Skrupellosigkeit hochgezüchtet werden. Zu „manipulieren" verstand man auch schon damals. Seit dem Goebbels’schen 12-Jahrespropagandakrieg ist der Antisemitismus aber das Privileg der deutschen Nationalisten und der Rechtsradikalen geworden.

Was sonst noch an latenter Abneigung gegen Juden — bewußt oder unbewußt — bei vielen Deutschen vorhanden sein mag, würde bei anhaltender Inaktualität uninteressant werden. Man würde sie vergessen. Das gilt erst recht für jene Art von äußerlichem, gar nicht ernst gemeinten Antisemitismus, der nur in dem gedankenlosen Gebrauch antijüdischer Redensarten besteht.

Immerhin wird es stets Menschen geben, die für wieder manifestwerdende antijüdische Parolen geschickter Volksverhetzer besonders leicht anfällig sind, da der „Resonanzboden" dafür bei ihnen gleichsam vorgegeben ist. Richtige Erziehung gegen Vorurteile und Vorurteilsbereitschaft würde die nur auf diese Weise gefährdeten Menschen, die potentiellen Antisemiten, vor einer zu starken Leichtgläubigkeit in gewissem Grade bewahren können.

Die eigentliche Gefahr bei uns kommt aber von den Ewig-gestrigen, d. h. von allen jenen, die noch ganz oder teilweise an den vom Nationalsozialismus gesetzten und kultivierten Göttern festhalten. Hier bedarf der Ausdruck „Ewiggestrige“, wie er hier gemeint ist, jedoch einer noch näheren Erklärung: Zu den vom Nazismus „gesetzten“ Göttern ließe sich etwa das unbedingte Führerprinzip, das Vormachtsrecht der „nordischen" Rasse („Herrenvolk"), der „Mythos des 20. Jahrhunderts“, die „Vorsehung“ so wie sie der nie irrende Diktator benutzte, das „Neuropa“ nach Hitlers Ideen und unter seiner Führung und ähnliches rechnen; zu den nur „kultivierte n", — d. h. schon vorhanden gewesenen, aber nun maßlos hochgezüchteten— Göttern etwa das übersteigerte nationale Selbstbewußtsein, (zum Teil eine Überkompensation von Minderwertigkeitsbesorgnissen) und die Überwertung des „deutschen Wesens" und der deutschen Weltgeltungsmission, die Erziehungsideale „Zucht und Ordnung“, Obrigkeitshörigkeit und Selbstaufopferung in der Pflichterfüllung (hochgezüchtet bis zum: „Du bist nichts, dein Volk ist alles!") und ähnliche überkommene Spitzenwertungen. Wer von all diesen Übersteigerungen nicht lassen kann, wer immer noch einen bedeutenden Rest von Treue ihnen gegenüber bewahren zu müssen glaubt, auch wenn er jetzt keinen allzu lauten Gebrauch davon machen zu dürfen vermeint, der ist hier mit meinem Ausdruck „Die Ewiggestrigen“ gemeint. Mancher von ihnen wird sich selbst nicht dazu rechnen wollen, besonders derjenige nicht, der mit Hitler nur unter vielen Vorbehalten eine Strecke des Weges mitgegangen ist (aber mit seiner bedingungslosen Pflichttreue und seiner Untertanenmoral vielleicht eine zuverlässigere Stütze des Gewaltregimes gewesen ist als der waschechte revolutionäre Bannerträger Hitlers).

Die antisemitische Parole ist für Rechtsradikale diejenige, mit der sie am ehesten Dumme finden oder, richtiger gesagt, unbewußte Vorurteile zu aktualisieren vermögen, es ist für sie also vor allem eine Parole, ein Werbemittel, und verkörpert somit nicht ihre eigentliche und letzte Zielvorstellung. Mit der Bekämpfung des Antisemitismus allein würde man dem Übel daher noch nicht an der Wurzel beikommen. Die eigentliche Wurzel des Übels liegt, so meine ich, bei dem nicht völlig überwundenen Nationalsozialismus bzw.dessen Hintergründen und Abarten. Es wird also notwendig sein, das Schwergewicht aller Erziehungsmaßnahmen denjenigen zuzuwenden, die noch nicht die entschiedene und restlose Abkehr vom Nationalsozialismus, vom Autoritarismus bzw. bloßen Nationalismus vollzogen haben. An der wichtigsten Schlüsselposition für diese Erziehung stehen vor allem die Lehrer und die Eltern, soweit es sich um die Nachfolgegeneration unseres Volkes handelt.

B) Hintergründe

5. Nationalismus und Autoritarismus Es ist ja nicht etwa so, daß ein heimlicher, verbreiteter, womöglich fanatischer Antisemitismus sich des Hakenkreuzes und nationalistischer Phrasen bedient und rechtsradikale Grüppchen am Leben erhält, sondern umgekehrt: Ein verbreiteter, bei den meisten nur notgedrungen beurlaubter, bei einigen Gruppen aber gewollt wachgehaltener Nationalsozialismus, (übrigens ein Sammelbegriff, der viele Schattierungen enthält), bedient sich mit Vorliebe auch der antisemitischen Parolen, weil sie, erstens, so bequem zur Hand liegen und, zweitens, (weil Irrationales provozierend) garantiert werbekräftig sind, wie es Jahrhunderte ja schon immer bewiesen haben. Die Umworbenen reichen dann den kleinen Finger, indem sie zunächst dem Rassenvqrurteil und gewissen antijüdischen Anwürfen Glauben schenken (so wird der irrationale Affekt nachträglich rationalisiert), und stehen dann schon zu einem Teil im Bannkreis der antidemokratischen Demagogen.

Ein hoher kirchlicher Würdenträger bezeichnete dieser Tage diese Halbdemokraten mit Recht als die eigentliche Gefahr für die Demokratie. Man könnte sie auch Pseudodemokraten nennen. Vielfach reden sie sich selbst ein, sie seien gute Demokraten — nach dem Schema: „Wie ich die Demokratie verstehe". Sie wollen alle von „Aufarbeitung", von echter, vollständiger Distanzierung vom Dritten Reich nichts wissen, wollen einen dicken Strich darunter ziehen und lauschen gern denen, die ihnen versichern, sie alle und ein großer Bestandteil des Hitlerregimes hätten einen gerechten Anspruch auf moralische Rehabilitierung. Diese breite Schicht stellt einen dankbaren Nährboden für antidemokratische, also autoritaristische und nationalistische Tendenzen dar, d. h. sie widersteht allen demokratischen Erziehungsbemühungen durch verschleierten, aber steigenden Gegendruck — ähnlich wie eine widerstandskräftige, wenig elastische Folie: Erst eine Perforierung gibt den Weg frei. Ähnlich bedarf es bei den „Ewiggestrigen“ ebenfalls erst einer Auflösung ihres seelischen Widerstandes, ihres irrationalen Tabus, um eine vorbehaltlose Gewissensauseinandersetzung bei ihnen mit sich selbst zu ermöglichen Erst wo diese ausgelöst werden kann, dort werden Vorbehalte gegen die Gegenwart abgebaut und die innere Verkrampftheit gelöst werden können; zu einer Überprüfung der persönlichen Wertrangordnung wird man bereit.

Das klingt ein wenig nach Psychoanalyse, bewegt sich aber alles noch im Rahmen der Normalpsychologie und Normalpädagogik. 6, „Zukünftiges ist wichtiger als Vergangenes"

Nicht übersehen werden darf auch die gesunde Tendenz zur Selbsterhaltung und Selbstentfaltung, die sich nun einmal lieber aufs Gegenwärtige und Zukünftige anstatt auf Vergangenes richten will. Dem Widerstand gegen „Aufarbeitung“ braucht also nicht notwendig immer ein schlechter Wille zugrunde zu liegen.

Wüßte man nicht von der Anfälligkeit so vieler, doch wieder in aller Harmlosigkeit solchen Parolen Gehör zu schenken, die für unsere nationale Existenz verhängnisvoll gewesen sind und dies in Zukunft erst recht sein würden, — kennte man nicht die Großmacht „politische Verführung“ und die Leichtgläubigkeit der breiten „politisch uninteressierten" Massen, dann würde man bei diesen „Harmlosen“ vielleicht gar nicht s o unerbittlich auf eine gründliche und ehrliche Auseinanderset-zung mit der jüngsten deutschen Vergangenheit zu drängen brauchen, vorausgesetzt, daß sie wenigstens offen und uneingeschränkt zugeben, daß im Namen Deutschlands Ungeheuerliches, Niewiedergutzumachendes geschehen ist. 7. Grundeinstellung Die antidemokratische nationalistische Grundeinstellung bei vielen Deutschen hat den Charakter des Angeborenen, Ererbten, infolgedessen Tiefverwurzelten und ist daher nicht von heute auf morgen, etwa durch bloße rationale „Aufklärung", Belehrung oder Überzeugungsgründe, auch nicht durch Totschweigen, sondern nur in langwieriger Erziehungsarbeit zu überwinden. Jeder zweite oder dritte Mitbürger trägt insgeheim, vielfach unbewußt, die Sehnsucht nach einem rechtfertigten stolzen und mächtigen Großdeutschland mit sich herum; die Demokratie betrachtet er als eine aufoktroyierte, zwar nicht direkt schlechte, aber doch Notlösung, die man glaubt, akzeptieren zu sollen, ohne aber sich deswegen zu ihr bekennen oder gar in ihr mitarbeiten zu müssen.

Die Niederlage Hitlers war durchaus nicht Grund genug, um aus einer Mehrheit von nationalistischen und autoritätsgläubigen Deutschen plötzlich lauter freiheitlich und mitverantwortlich gesinnte gutwillige Lehrlinge der Demokratie zu machen, — die „Reeducation“ kam ja ohnehin bei vielen schief an (was nicht n u r an der Methode und der Sieger-Besiegten-Situation liegen dürfte, sondern wohl auch etwas am „Passiven Widerstand" des Objekts). Eine verhaltene, im Gefühls-bereich schwelende Opposition nationalistischen Charakters dürfte trotz allem opportunistischen Konformismus und trotz aller demokratischen Lippenbekenntnisse mehr oder weniger unterschwellig am Leben geblieben sein; jeder aufmerksame Zuhörer von politischen Gesprächen könnte dies feststellen. Freilich will man allgemein „keine Experimente“, sicherlich auch keine rechtsradikalen, aber die Residuen aus der Nazizeit sind noch latent vorhanden; es hat keinen Zweck, die Augen davor zu verschließen oder sich mit der Kleinheit und Zersplitterung der rechtsradikalen Organisationen zu beruhigen. Diese Tatsache nenne ich den „Mutterboden" für Nationalismus und Autoritarismus, der seit jeher im deutschen Volk vorhanden ist, den Mutterboden, auf dem schon immer Parolen wie „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“, „Stolz weht die Flagge schwarz-weiß-rot“, „Deutschtum“, „Platz an der Sonne“, „Die andern haben mindestens ebensoviel Schuld“, „Es war nicht alles schlecht, was Hitler wollte", „Wie kann man nur das eigene Nest beschmutzen!“, „Kraftvolles Auftreten nach außen tut not“, „Starke Führung, verschworene Gemeinschaft", „Zucht und Ordnung“ usw. usw. gedeihen konnten und auch heute immer noch begeisterten Beifalles bei sehr vielen Mitbürgern sicher sein können.

Unlust zur persönlichen politischen Mitverantwortung und zur Beanspruchung der persönlichen Urteilksraft und des Gewissens, verbreitete Ohne-mich-Einstellung und Abschieben jeder Verantwortung auf „Die da oben“, Bereitschaft zum Nach-dem-Munde-reden gegenüber Vorgesetzten und Cliquen, denen man angehört, Freude über gelegentlich möglichen Nonkonformismus dann, wenn man etwas Abfälliges über die Demokratie, „die Parteien“ oder die Regierung (vorsichtig) äußern oder entsprechenden Äußerungen akklamieren kann, Wahrnehmung jeder Gelegenheit zur Selbstrechtfertigung und Selbstbestätigung (daß man selbst und daß Deutschland doch eigentlich immer das Beste gewollt hätten und einem selbst und Deutschland eigentlich Unrecht geschehen sei — die anderen seien „auch nicht besser“ — usw.), nationalistische Selbstüberheblichkeit (die Tüchtigsten und Zuverlässigsten in der ganzen Welt, die besten Soldaten und treuesten Kameraden, Unbestechlichkeit, Pflichtbewußtsein, .. . dann noch — beiläufig Entschuldigung heischend: Juden haben uns allerdings viel geschadet), das alles und ähnliches mehr charakterisieren jenen Mutterboden, auf dem nationalistische Hetzer viele Früchte ernten können, wenn die Gelegenheit günstig ist.

C) Probleme

8. Erziehung und zeitgeschichtlicher Unterricht Vorbeugen könnte hier nur eine Erziehung, die besondere Überlegungen und Maßnahmen voraussetzt, denn die Erziehungssituation ist ungewöhnlich, s o vielleicht noch nie dagewesen, so daß man mit den alten, gewohnten Erziehungsmethoden allein jetzt kaum noch auskommen dürfte. Ungewöhnlich ist die Erziehungssituation in zweifacher Beziehung: a) beim Jugendlichen, b) bei Lehrern und Eltern: a) Die Jugendlichen stehen gleichsam zwei Wertwelten gegenüber; die eine wird (ausgesprochen oder unausgesprochen) von jenen Lehrern und Eltern vertreten, die nach der obigen weitgefaßten Definition zu den „Ewiggestrigen“ zu rechnen sind, die anderen von den Fürsprechern der freiheitlichen und stark verpflichtenden demokratischen Lebensform mit dem Appell an Selbstverantwortung, Gewissen, Wahrheit und Recht. Die Jugendlichen merken und beobachten diesen Zwiespalt ihrer berufensten beiden Erziehungsmächte (der Eltern und der Lehrer) sehr kritisch — aber (naturgemäß) auch ichbezogen : ein geeignetes Feld zur Bildung von nihilistischer Bandenmoral. b) Die Eltern, aber vor allem die Lehrer stehen vielfach — natürlich längst nicht alle — in einem inneren Gewissenskonflikt, der sich vor den Schülern (bzw.den eigenen Kindern) nicht verbergen läßt. Noch mehr: Von manchen Lehrern wird hier eine innere „Umkrempelung", eine Einstellungsänderung erwartet, zu der sie ohne ganz besonders geartete Hilfen einfach nicht fähig sind. Dieses Nichtfähigsein macht sich als ein scheinbares Nichtwollen bemerkbar, denn das Aufklären, Argumentieren, Demonstrieren, — überhaupt alle rationalisierenden Bemühungen — stoßen bei ihnen bei irgendeinem Punkte schließlich auf jenes Tabu, von dem schon die Rede war. Wertvorstellungen und Abneigungen, die man ein ganzes Leben lang liebgewonnen hat, lassen sich nicht mit Verstandesmitteln allein herausoperieren. Von diesen Lehrern ist eine wirklich überzeugende Behandlung des zeitgeschichtlichen Lehrstoffes kaum zu erwarten.

In manchen Fällen wird man resignieren müssen, die Umkrempelung wird nicht gelingen; in manchen anderen Fällen wird man aber die Verkrampfung lösen können, nicht durch Überreden, Aufklären, Argumentieren oder gar Moralisieren, sondern durch Bewußtmachen solcher seelischer Vorgänge, die an dem Fixiertsein bestimmter Wertungen und an dessen ursprünglichem Zustandekommen beteiligt sind. Auch der Vorgang des Anheimfallens an nicht bemerkte demagogische Einflüsse und die Verschiedenheit der persönlichen Anfälligkeiten für Tendenzen, Wertungen, Vorurteile usw. müßte in überzeugender Weise — mit dem Erfolg des persönlichen Wiedererkennens — vor Augen geführt werden. Kurz und gut: Die „Aufarbeitung der Vergangenheit“ bedarf in diesen Fällen besonderer psychologischer Hinweise und Selbstprüfungen. Die geeigneten psychologischen Helfer müssen gefunden, spezialisiert und zur M i t Wirkung bei Fortbildungskursen, die sich mit dem Thema „Zeitgeschichte“ befassen, herangezogen werden. Auf wissenschaftlichen Modelltagungen wäre die erste Aufgeschlossenheit für diese Probleme zu erzielen.

Wenn Zeitgeschichte, weil es nun einmal verlangt wird, in den Schulen nur „durchgenommen“ wird, so als handele es sich um den 30-jährigen Krieg, also in deutlich spürbarer Distanz, dann wäre es beinahe besser, man verzichte überhaupt darauf. Ohne ein persönliches Bekenntnis des Lehrers wird er bei seinen Schülern oft nicht richtig ankommen. (Zuweilen retten die Schüler freilich selbst die Situation.) Natürlich werden Mißerfolge immer vorkommen, auch beim besten Unterricht, — das Zeitgeschichtsthema ist nun einmal „das" heiße Eisen in der Schule geworden. Auf solche Schwierigkeiten muß der Lehrer aber gefaßt sein, er darf sich nicht entmutigen lassen.

Es muß allerdings erwähnt werden, daß selbst dort, wo Lehrer nicht nur fähig, sondern auch besten Willens und von einer richtigen Einstellung sind, mitunter der zusätzliche Mut fehlt, auch noch den manchmal unausweichlichen Zwist mit „ewiggestrigen" Eltern auf sich zu nehmen. 9. Komplikation durch kommunistische Wertwelt Manche meinen, noch eine „dritte Wertwelt“ mache sich irritierend bemerkbar, die kommunistische. Die umfangreiche „Agitprop“ -Arbeit könne ja schließlich nicht wirkungslos bleiben. Aber hier dürfte ein Fehlschluß vorliegen. Die „rote Wertwelt", die DIAMAT-Lehre a 1 s solche, zündet nicht und verursacht auch keine Persönlichkeits-und Gewissensspaltung, wie es die ebengenannten beiden Wertweltcn bei einem ansehnlichen Teil der Bevölkerung tun. Die „rote Gefahr“ ist zwar groß, aber von ganz anderer Art: Nicht geistig-ideologisch-normativ, sondern vor allem außen-und machtpolitisch sowie darüber hinaus ganz elementarprivate Bezirke demoralisierend und verwirrend: d. h. man braucht keine Besorgnisse zu hegen, daß viele Deutsche von Gedankengängen der kommunistischen Dogmatik infiziert werden könnten, wohl aber, daß sie eingeschüchtert, entmutigt und z. T. auch durch plumpe Versprechungen, die ihrer momentanen (z. B. innerbetrieblichen) Unzufriedenheit und ihrer politischen Indifferenz Rechnung tragen, verwirrt, vielleicht gar zu irgend welchen Fehlreaktionen verführt werden. Also eine ganz andere Art von Anfälligkeit, der insbesondere Lehrer wohl verhältnismäßig selten ausgesetzt sein dürften.

Der von „rechts“ her drohenden, z. Zt. nur latenten, aber sehr ernst zu nehmenden Gefahr, ist nur durch eine sehr tief lotende Persönlichkeitserziehung, beizeiten zu begegnen, gegenüber der von links drohenden aktuellen, genügten jedoch unermüdliche Entlarvung des anerkannt gemeinsamen, getarnten Feindes und seiner Täuschungskünste sowie ständige Ermutigungen; freiwillig, d. h. durch Überzeugtwerden, kapituliert ihr kaum noch jemand. 10. Vorbehalte bei manchen Lehrern Im Jahre 1945 mußten fast alle Lehrer in die neu angefangene Zeit übernommen werden, auch die allermeisten mehr oder weniger überzeugten Nationalsozialisten. Man begann zwar alsbald mit politischen Aufklärungskursen, die eine Sinnesänderung hervorrufen sollten. Diese Sinnesänderung hat man wohl auch z. T. erreicht, aber doch nur zu einem gewissen Teil: Manche beharrten völlig bei ihren nationalsozialistischen Vorstellungen und kapselten sich ab. („Der Führer wollte das Beste, Verräter und Unfähige haben ihn zum Scheitern gebracht“ oder: „diese oder jene Auswüchse waren zwar nicht zu billigen, aber im Grunde war das nationalsozialistische Gedankengut richtig“.) Andere ließen sich nur zum Teil von dem Unrechtscharakter der Nazi-Diktatur überzeugen („Das Parteiengezänk ist im Grunde auch nicht besser als eine gute autoritäre Führung“ oder: „Mag sein, daß die Verräter vom 20. Juli des Glaubens waren, der Krieg sei doch nicht mehr zu gewinnen, — also mildernde Umstände, — aber Verräter waren sie d o c h “). Kurz: bei manchen Lehrern sind Vorbehalte geblieben.

Diese zu erwarten gewesene Tatsache hat sich inzwischen deutlich bemerkbar gemacht. Die Vorbehalte machten sich in irritierender Weise geltend, als der hier gekennzeichnete Teil der Lehrer gezwungen wurde, Zeitgeschichte durchzunehmen oder gar „Vergangenheit aufzuarbeiten“. Jeder weiß, wie fragwürdig ein Gesinnungsunterricht in den Schulen zu bleiben pflegt, wenn der Lehrer nicht mit seiner ganzen Überzeugung und seinem Herzen hinter dem steht, was er vertreten soll. Oft kommt genau das Gegenteil dessen heraus, was man anstrebte.

Das alles trifft natürlich nur für einen Teil der Lehrer zu. Die anderen können die besten Unterrichtserfolge bei dem Kapitel „Zeitgeschichte“ aufweisen. Sie beschränken sich nicht auf die Vermittlung von Kenntnissen, sondern beziehen Stellung und lösen bewußt „Auseinandersetzung" aus. Würde dies überall und gleich intensiv erreicht werden können, dann wäre eine gute Gewähr dafür gegeben, daß es in absehbarer Zeit keine „Ewig-Gestrigen" mehr gibt, dafür aber gute Deutsche und gute „Europäer“. 11. Schizophrenie des nationalen Wertbewußtseins Es gibt eine weitverbreitete Meinung, die besagt, daß der Rechtsradikalismus bei uns überhaupt keine Chancen mehr habe, „gefährlich“ sei (aus bekannten Infiltrationsgründen) nur der Kommunismus Ganz wörtlich genommen besteht diese Meinung wohl zu recht, denn „gefährlich“ ist der Kommunismus ja in der Tat — als weltpolitische Macht, auf der Bühne der Auseinandersetzung in höchster Ebene

In einem weniger unmittelbaren Sinne ist aber der Rechtsradikalismus im Grunde noch gefährlicher Freilich meinen wir alle nicht, wenn wir von dem „Hitler in uns" sprechen, daß einer neu drohenden „Machtergreifung“, wie gehabt, vorgebeugt werden müsse. Die rechtsradikalen Grüppchen haben in der Tat keine Chance, einen Riesenzulauf zu erhalten. Nein, das Schlagwort von „Hitler in uns“ weist auf die eben gekennzeichnete Schizophrenie in unserem Volk hin und diese ist es, die eine große Gefahr in sich schließt: Nicht nur, daß uns ein überliefertes unversehrtes Geschichtsbild fehlt, an dem wir uns gefühlsmäßig „festzuhalten" vermöchten, nein, wir vermochten bisher offenbar nicht einmal zu verhindern, daß sich 2 Seelen in unserer Brust entwickelten, die einander Lügen strafen, und daß wir die aufwachsende Generation ebenfalls in diese Seelenspaltung hineinführen. Die Kinder erfahren von ihren natürlichen Vorbildern verschiedenartige „Wahrheiten“, verschiedenartige Begriffe von „Recht“ und „Unrecht“ — und zuweilen auch von Freiheit und Menschenwürde, von Toleranz und . .. von Demokratie. Solange diese Schizophrenie nicht geheilt ist, können wir uns nicht als „Demokraten“ bezeichnen, aller perfekten demokratischen Verfassung zum Trotz. Und ebenso können wir auf kein unerschütterliches Vertrauen vom Ausland her rechnen. So dürfte es ein verhängnisvoller Irrtum sein, wenn man sich in dem Glauben wiegt, die rechtsradikalen Gesinnungselemente seien erfolgreich aus dem Felde geschlagen, der Feind stehe nur noch links. Oder, wenn man gar wahllos propagandistische Bundesgenossen gegen links akzeptiert.

D) Möglichkeiten und Schwierigkeiten

12. Prädisposition der Jugend heute Wie die Jugend aller Zeiten ist auch die heutige „skeptisch“ und oppositionell. Dahinter steckt, wie eh und je, ein gut Teil schöner Idealismus. Auch Vorsatz zur Selbstgestaltung in eigener Verantwortung nach eigenen Gesetzen. Daher auch „Ablehnung“ des Vergangenen, des „Verkorksten“. Manche wollen daher nichts von dem Vergangenen erfahren (die größere Mehrzahl allerdings wohl doch). Jedenfallsmöchte man einen absoluten Neuanfang. Mit dieser Geisteseinstellung bei der Jugend, die sich persönlich von dem Vergangenen unbefleckt weiß, ließe sich pädagogisch vortrefflich arbeiten. Es gibt Lehrer, die das können, es wollen und es auch wagen. Erfolge zeigten sich dann prompt. (Spontane Kundgebungen Jugendlicher gegen antijüdische Ausschreitungen, Wallfahrten nach Bergen-Belsen, persönlicher Einsatz zur ideellen Wiedergutmachung usw. Auch die Ausstellungsaktion des Rings politischer Jugend in Berlin ist ein solches Zeichen.)

Allerdings fragt es sich, ob Lehrer wirklich auf ein „unbefangenes Verhältnis zur Vergangenheit“ hinsteuern sollten, das es so bald wie möglich allgemein zu erreichen gälte: in diesem Sinne äußerte sich kürzlich ein Pädagoge.

Vielleicht ist es doch besser, jenes „Befangensein“ nicht gar so bald „loszuwerden"; es geht nicht an, daß man sich immer nur dann als „zugehörig“ zu einem Volk fühlt, wenn man vermeintlich Grund hat, stolz zu sein, — z. B. über Goldmedaillen, die ein Landsmann in der Olympiade erringt. Das „Kainszeichen“ ist nun einmal — sicht-und unverwischbar — d a . W i e wir es als Volk zu tragen verstehen, davon hängt die Achtung ab, die wir allmählich wiederzuerlangen hoffen. 13. Hemmungen in der Aufarbeitung Die „Aufarbeitung“ ist nicht nur wegen des Widerstandes seitens derjenigen Älteren, die noch nichts begriffen und gelernt haben und das auch nicht wollen, so kompliziert, sondern auch wegen des zwangsläufig zu verletzenden gesunden Selbstbewußtseins bei Jung und Alt. Man sträubt sich naturgemäß nicht nur — mit Recht — gegen die „Kollektivschuld-These“, sondern auch darüber hinaus — zu Ulnrecht -gegen das Postulat von der „Kollektiv s c h a m“. Für viele ist dies eine unvollziehbare Zumutung. Man nimmt es nur äußerlich, nicht innerlich, zur Kenntnis, daß das NS-Regime: a) im Grunde wirklich so unerhört verderbt gewesen ist, und b) daß man gar selbst — vielleicht — unwissentlicher Steigbügelhalter und aufopfernder Helfer einer so verderbten, gewissenlosen Bande gewesen sein soll.

Dieser Widerstand stammt aus natürlichen seelischen Wurzeln, aus dem Bedürfnis zur moralischen Selbsterhaltung und der Bewahrung des seelischen Gleichgewichts (nur bei wenigen kommt wohl auch robuste Skrupellosigkeit in Frage). Deswegen kommen manche Bemühungen, die Verbrechen der Nazizeit schonungslos zu demonstrieren (hoffend, die Erschütterung werde nun das Weitere besorgen), einfach nicht an: diese „Seelen-Blindheit und -Taubheit“ findet sich vielleicht sogar bei besonders empfindsamen, labilen, also selbstunsicheren Charakteren. Sie sind auf diesen Schutzpanzer angewiesen, um sich aufrechterhalten zu können. Es besteht — mit anderen Worten — Grund genug zur Annahme, daß es mit der Vermittlung einfacher zeitgeschichtlicher Fakten an die Jugend oft noch lange nicht getan ist. Man läuft Gefahr, den Jugendlichen etwas zuzumuten, das zu „verkraften“ über ihre Seelenkraft geht. Hier bedarf es offenbar psychologischer Hilfen ganz besonderer Art. 14. Wer ist zuständig?

Wenn hier fast ausschließlich von jenem Teil der politischen Erziehung unseres Volkes die Rede ist, die den Lehrern obliegt, so hat das zwei Gründe. Erstens steht die Lehrerschaft jetzt im Brennpunkt des allgemeinen Interesses in diesem Komplex: Teils macht man sie generell verantwortlich für das jetzt Geschehene, teils revoltiert sie schon öffentlich gegen diese „Sündenbockrolle“.

Aber was an demokratischer Erziehung realiter zu erhoffen ist, das konzentriert sich nun einmal auf die neu heranwachsende Generation, die das Dritte Reich selbst nicht bewußt und aktiv miterlebt hat und schon deswegen in besonderer Weise für unvoreingenommene Beurteilungen zugänglich ist. Die Lehrerschaft steht nun einmal in der Schlüsselposition für das, was sich in den nächsten Jahrzehnten in unserem Vaterland entwickeln wird.

Zweitens würde es hier viel zu weit führen, nun auch noch alle anderen „Erziehungsmächte“ auf die Rolle hin zu analysieren, die selbstverständlich auch sie in diesem Selbstreinigungsprozeß zu spielen haben. Vielleicht könnte das Gegenstand einer besonderen Untersuchung sein. Besondere Beachtung gebührt dabei der Rolle der Eltern, — schon weil sie so häufig als Widerpart der Lehrer in Erscheinung treten, sobald von Politik die Rede ist. 15. Was kann man tun?

Es erscheint nötig, sich angesichts der Konfliktssituation, ja teilweisen Verkrampfung, in der sich manche Lehrer befinden, wenn sie die „Zeitgeschichte" behandeln sollen, — sich ganz genau zu überlegen, mit welchen Mitteln man diese Konfliktsituation und diese Verkrampfung vielleicht doch auflösen und zum Guten wenden könnte Hier nur einige erste Gedanken:

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Von „Schulung", von verordneten Aufklärungs-und Belehrungsaktionen von oben herab ist begreiflicherweise nichts zu halten. Es geht m. E. nur auf der bewährten Ebene von Diskussionstagungen. Diese Diskussionstagungen müßten aber eine ganz besondere Natur erhalten.

Auf ihnen muß jeder ältere Teilnehmer, also der, der das Dritte Reich bewußt miterlebt hat, in geschickter Weise dazu gebracht werden, rückblickende Motivforschung bei sich selbst vorzunehmen ohne moralisierenden Druck von der Tagungsleitung her. Den jüngeren Lehrkräften muß jene Zeit so lebendig nahegebracht werden, daß sie in die Lage versetzt werden, sich ganz in sie ein-zu f ü h 1 e n und die Motivationskonflikte der älteren Kollegen nachzuerleben. Geeignete unterstützende Literatur ist — wenn auch nur sehr sporadisch — vorhanden Beiden Alterskategorien ist außerdem erlebnismäßig nahezulegen, wie auch heute selbst auf der „freien Wildbahn" der demokratischen Meinungsbildung V e r -führungsprozesse politischer Art wirkungsvoll vor sich gehen und w i e wenig man ihnen gegenüber im allgemeinen gefeit i s t ... infolge noch vorhandener Lücken in der Persönlichkeitsbildung und infolge Unkenntnis der Wirkung von Demagogie und Konformismus auf die vermeintlich „eigene" Urteilsbildung. Die Autonomie der politischen Urteilsbildung ist also ein zusätzliches, noch unbewältigtes Bildungsproblem.

Wahr ist freilich, daß es im ganzen Bundesgebiet nur ganz wenige sozial-psychologisch ausgebildete Persönlichkeiten gibt, die für diese zugleich pädagogische und politische wie auch tiefenpsychologische Aufarbeitungsarbeit geeignet sind. Den großen Stab für die Feldarbeit muß man also erst noch schaffen. Deswegen dürfte am Anfang dieser Aktion die Ausbildung von Tagungsleitem stehen.

Die technischen und Zuständigkeitsvoraussetzungen für das Ingangbringen einer solchen psychologisch-fundierten zusätzlichen Bildungsarbeit sind in der Bundesrepublik gegeben.

Zu den Erkenntnisinh alten auf diesen Diskussionstagungen würde z. B. gehören, daß das deutsche Volk zwischen den beiden Weltkriegen durch gewisse Ursachen in abnormer Weise politisch verführbar, suggestibel, geworden ist und daß diese Leichtverführbarkeit, diese allgemeine Anfälligkeit und Desorientiertheit, dieser Hunger nach neuen Erlösungsrezepten in jener Not damals, diese Aufgeschlossenheit ohne geschulte Kritik dann auch in sehr geschickter Weise von radikalistischen Demagogen ausgenutzt werden konnte. Es wäre aufzuzeigen, in welcher Form dies geschah, welche alten bürgerlichen Ideale, welche Traditionen, welche Wertvorstellungen usw. mit besonderem Erfolg damals angesprochen werden konnten, um Gefolgschaft zu erreichen, — und es dann einmal sehr eingehend gemeinsam zu durchdenken.

Schon bei der Zusammensetzung solcher Diskussionsgruppen sollte man freilich dafür sorgen, daß überzeugte „Nonkonformisten", die mutig genug sind, um lautstark gegen den Strom zu schwimmen, nicht fehlen. Auf Tagungen, die politische Bildung zum Ziel hatten, konnte man gelegentlich erleben, wie aufwühlend und schließlich auch reinigend eine Diskussion werden kann, wenn ein Teilnehmer zum Beispiel, wie vorgekommen, mit dem Ausruf: „Meine Weltanschauung heißt Gehorsam!" eine große Akklamation auslöste oder ein anderer noch mehr durch den Satz: „Es gibt für mich nur e i n Gesetz und das heißt Deutschland!" — Dann liegt es an dem pädagogischen Geschick des Diskussionsleiters, wie er der Absolutheit und Einseitigkeit solcher suggerierenden Thesen die gefährliche demagogische Spitze abzubiegen versteht. Auch könnte man dann allgemein auf die „Naturgeschichte" der politischen Verführung und auf das Fascinosum mancher Phrasen zu sprechen kommen und auf diese Weise bestimmte Forschungsresultate pädagogisch verwerten. 16. Sachverständige Einige Soziologen und Psychologen haben sich diesem ganzen Problemkomplex zugewandt und es erschiene mir äußerst wertvoll, wenn man noch einige mehr anregen könnte, einschlägige Forschungen vorzu-nehmen und ihre Erfahrungen aus diesem Zweige der Motiv-und Sozialforschung dann auf solchen Diskussionstagungen — zunächst auf Bundesebene — zur Verfügung zu stellen. Vier Modell-tagungen dieser Art konnten unlängst in Bergneustadt, Ingelheim und Neuhaus a. Schliersee stattfinden.

Auf Studientagungen unter Soziologen, Psychologen, Ethnologen, Historikern und Politikern mit Praktikern aus der Pädagogik sollten dann aber auch noch weitergehende „brennende" Probleme angegangen werden. Immer wieder behauptet zum Beispiel das Ausland, — und niemand vermag es zu widerlegen, — daß die Deutschen anders seien als andere Menschen, daß sie Eigenschaften besäßen, vor denen sich die übrige Welt hüten müsse, daß es einen guten Grund habe, wenn man Deutschland — trotz seiner zuverlässigen demokratischen Verfassung und Regierung —mißtraue. Die peinlichen Vorkommnisse jetzt werden als eindeutige Symptome gewertet, dagegen hilft keine Bagatellisierung, kein „good will" der Regierenden, auch keine polizeiliche Exekutive.

Wenn wir wirklich glaubhaft machen wollen, daß es sich bei diesem Bild, das man sich von „dem Deutschen" macht, um ein affektives Vorurteil oder auch nur um ein aufgepfropftes Denkklischee handelt . .. oder um letzte ungefährliche Residuen, dann kommen wir nicht darum herum, jetzt einmal ganze Forschungsarbeit zu leisten und deren Ergebnisse dann behutsam, aber rasch in die politische Erziehung einzubauen. Deren Schwergewicht würde sich dann spürbar verschieben: von der bloßen Kenntnisvermittlung geschichtlicher Vorgänge auf die E r kenntnisvermittlung sozial-psychologischer Prozesse und charakterologischer Grundvoraussetzungen.

Im Berufsverband deutscher Psychologen hat sich vor zwei Jahren eine Sektion „Politische Psychologie" gebildet, die dann auch schon einen kleinen Katalog von politisch-psychologischen Forschungsthemen aufgestellt hat, die der Bearbeitung harren. Hier wären Ermutigungen dringend nötig, praktisch: Zurverfügungstellung von Mitteln für Forschungsaufträge und Tagungen. Hier nur einige Stichworte zur politisch-psychologischen Thematik: Was hat es mit dem „Mitläufereffekt" auf sich?, mit der Massenansteckung?, mit der Suggestionskraft von politischen Slogans, von Parolen?, mit der Anfälligkeit für Kollektivvorurteile?, mit dem Ohne-mich-Komplex?, mit dem allgemeinen Mangel an Zivilcourage?, mit der Neigung zu autoritaristischem Verhalten (siehe Literatur Horkheimer/Adorno mit dem problematischen Wert gewisser Meinungsforschungsmethoden?, mit dem sogenannten Klassenbewußtsein heute? und schließlich: was ist wahr an den Thesen von Packard und Dr. Dichter von der „Manipulierbarkeit" des Menschen durch moderne unterschwellige Werbereize?

E) Zusammenfassung

Doch zurück zu dem aktuellen Anlaß dieser Überlegungen. Die unzusammenhängende antisemitische Manifestation bald hier, bald dort, sind die bequemsten und zugleich wirksamsten Methoden für radikal-oppositionell eingestellte Kraftmeier, die ihrem Geltungsbedürfnis Befriedigung verschaffen möchten; sie stecken deswegen auch besonders leicht an. Echter, klar bewußter Judenhaß steckt im allgemeinen bei den Jätern selbst nicht dahinter. Der zutage tretende Affekt gegen den Begriff „Jude" ist künstlich aufgepfropft (wenn es ihn nicht gäbe, hätte man ihn erfinden müssen, sagte Tucholsky), die Rationalisierung des Judenhasses desgleichen. Sie ist im allgemeinen also nur eingebildet, nachgeplappert, ohne eigene Erfahrung und meist auch ohne persönliches Haßobjekt. Echt dagegen ist zweifellos der noch keineswegs im deutschen Volk restlos überwundene Autoritarismus und Nationalismus, der „Hitler in uns", die Opposition gegen den Mitschuldvorwurf. ,

Wieviel echte, d. h. innerlich überzeugte, an die Weltverschwörung und ähnliches glaubende Antisemiten es gibt, das ist schwer zu sagen, sie sind aber bestimmt nicht sehr zahlreich.

Im großen ganzen will das deutsche Volk jetzt seine Ruhe, will seinen Wohlstand genießen und ist schon deswegen über diese neue Unruhe in seiner großen Mehrheit empört. Das deutlich hörbare Abrücken aller meinungsbildenden Stellen von den Störenfrieden wirkt in jedem Falle luftreinigend. Die unreifen Täter sollten dabei vielleicht noch mehr der Lächerlichkeit und der Blamage preisgegeben werden, indem man auf ihre steckengebliebene Pubertät verweist. Es darf nur nicht mit dieser allgemeinen Aufregung, die ja vorübergeht, sein Bewenden haben. Letzte „braune" Vorbehalte müssen noch abgebaut werden. Es handelt sich um besonders „tief“ sitzende, zum Teil unbewußte Vorbehalte. Gerade darum bedarf es besonderer Methoden, um an sie heranzukommen. Diese sollten vier Grundsätze im Auge behalten: Freisein vom Vorgestrigen — Aufrichtigkeit zum Gestern — Verantwortung zum Heute und Mut für ein geläutertes Morgen. Sollte das Kölner Attentat in diesem Sinne Gegenmaßnahmen auslösen, dann hätte sich einmal wieder die Wahrheit des Goetheworts erwiesen: „Idi bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will, dodi stets das Gute sdtafft“.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Man muß eigentlich auch noch zwischen irrationalen Vorurteilen, die sich bei Bewußtwerden von selbst in ein Nichts auflösen, und sog. „Denkklischees", Stereotypen, unterscheiden, die nicht einmal affektgeladen sein müssen.

  2. Das wird durch die Statistik bestätigt: Von je hundert Schmierereien in der letzten Zeit in der Bundesrepublik beschränkten sich nur 17°/auf rein antisemitische Parolen, weitere 31 °/o enthielten gemischt antisemitische und nazistische und der große Teil von 52 ’/o wies rein nationalsozialistische Parolen auf. Die nationalsozialistische Reaktion liegt der Gemütslage der Schmierfinken also doch weit näher als die Abneigung gegen den kleinen Restbestand von deutschen Juden.

  3. Das Nicht-wahr-haben-wollen, („weil nicht sein kann, was nicht sein darf"), lehnt sich aus verletztem Nationalstolz gegen eine unbeschönigte Geschichtsdarstellung auf, die Selbst rechtfertigungstendenz gegen die Annahme einer persönlichen Mitschuld durch Vorsatz; so verdichtet sich das Tabu aus sowohl einer kollektiven als auch einer individuellen Interessenwurzel.

  4. Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, über die vielfältigen Anstrengungen zu berichten oder sogar sie zu bewerten, die die freien und staatlichen Bildungsträger bereits unternommen haben, um den Antisemitismus und den Rechtsradikalismus zu bekämpfen. Ich befasse mich hier nur mit zusätzlichen, ja etwas . irregulären“ Maßnahmen, die mir jetzt unvermeidlicher denn je geworden zu sein scheinen.

  5. Z. B. Wanda von Baeyer-Katte, «Das Zerstörende in der Politik", Quelle & Meyer 1958. — H. Wiesbrock in Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1957: . Uber Ethnocharakterologie", derselbe in Soziale Welt 1951: „Schlagwort . Vermassung', zugleich ein Beitrag zur Charakterologie unseres Zeitalters". — W. Metzger in Psychologische Rundschau 1957: »Erziehung zum selbständigen Denken". — K. Sacherl im Kongreßbericht Psychologie 1957: »Zur Pathologie des politischen Denkens". Walter Ehrenstein, „Dämon Masse“, W. Kramer-Verlag, Frankfurt/M. 1952. — Schriftenreihe der Friedrich-Ebert-Stiftung: „Überwindung von Vorurteilen“, Verlag für Literatur und Zeitgeschehen, Hannover 1960, — daselbst in Vorbereitung: „Politische Urteilsbildung in der Demokratie" (Tagungsprotokolle) — in Vorbereitung ferner . Autoritarismus und Nationalismus", Tagungsprotokoll des Instituts für staatsbürgerliche Bildung in Rheinland-Pfalz.

  6. Unter anderem: . Das Gruppenexperiment", Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/Main — »Die autoritäre Persönlichkeit", Institut für Sozialforschung, Frankfurt/Main. — „Frustration und Autoritarismus“, Dissertation bei der Universität Köln, von E. A. Saarbourg.

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