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Hugo Preuß Vater der Weimarer Verfassung | APuZ 43/1960 | bpb.de

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APuZ 43/1960 Hugo Preuß Vater der Weimarer Verfassung

Hugo Preuß Vater der Weimarer Verfassung

ERNST MASTE

Zur 100. Wiederkehr des Geburtstages von Hugo Preuß am 28. Oktober veröffentlichen wir nachstehende Würdigung.

I. Ein Markstein deutscher Verfassungsgeschichte

Abbildung 1

Am 14. November 1918, fünf Tage nach dem Ende der Monarchie, war die deutsche innerpolitische Lage noch völlig ungeklärt. Feststehende Tatsache war eigentlich nur die seltsame Enthauptung des Staates oder der Staaten, die durch den geräuschlosen Abgang des Kaisers und aller Bundesfürsten vollzogen worden war. Sie hatte den Behördenapparat kaum berührt, der in Funktion geblieben war, soweit nicht die lokalen Arbeiter-und Soldatenräte gewisse Befugnisse an sich gezogen hatten. Die Stelle der Reichsregierung nahm, als vorläufige oberste Instanz, ein sechsköpfiger Rat der Volksbeauftragten ein, dem Friedrich Ebert präsidierte. Im Volke zeigten sich gewisse politische Energien nur in den sozialistischen Lagern. Das Bürgertum war wie gelähmt; es stand abseits und verharrte in völligem Schweigen. Hatte eine wirkliche Revolution nicht stattgefunden, so war sie durchaus noch möglich. Zumal von den Großstädten und Industriezentren konnte eine Radikalisierung der Massen ausgehen, für die es an Anzeichen nicht fehlte. Ein Jahr zuvor hatte der Marxismus bolschewistischer Prägung in Rußland triumphiert; nun mochte für Deutschland seine Stunde schlagen.

An diesem 14. November 1918 erschien im „Berliner Tageblatt“ ein Artikel „Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat?" Verfasser war Professor Dr. Hugo Preuß, der an der Handelshochschule Berlin Öffentliches Recht lehrte. Er warf dem Bürgertum, das am Zusammenbruch „ein gerüttelt Maß der Schuld" trage, dessen „politische Unterlassungssünden, Schlappheit und Servilität“ im vergangenen Obrigkeitsstaat vor. Aber dieser sei noch keineswegs durch einen Volksstaat ersetzt, denn man lebe zunächst in einem „unigedrehten Obrigkeitssystem“. Die Diktatur der Arbeiterklasse als der etwaige „Versudt, den deutschen Staat unter Zurückdrängung seines Bürgertums zu konstituieren“, sei zu verwerfen; „hier scheiden sich die Wege sofort und unbedingt“. Eine „starke und energische Strömung innerhalb des deutschen Bürgertums“ müsse, reaktionären Bestrebungen entsagend, zu ehrlicher Mitarbeit im neuen Staate bereit sein, und diese Mitarbeit — „nicht als Handlanger, sondern als gleichberechtigter Genosse“ — dürfe nicht zurückgewiesen werden. Eine „aus völlig demokratischen Wahlen hervorgellende deutsche Nationalversammlung“ habe den deutschen Volksstaat, den Staat aller Deutschen, zu errichten. Das in sozialpolitischer Hinsicht Erforderliche solle im Rahmen der kommenden Verfassung, nicht aber im Wege des revolutionären Klassenkampfes, verwirklicht werden.

Dieser mutige und klärende Aufsatz ist in die deutsche Verfassungsgeschichte eingegangen. Noch am gleichen Tage entschloß sich Friedrich Ebert, Preuß als Staatssekretär des Innern, mit dem Auftrage einen Verfassungsentwurf zu erarbeiten, in die Regierung zu berufen. Preuß stellte die Bedingung, daß die verfassunggebende Nationalversammlung so bald wie möglich gewählt und einberufen werde, was mit Eberts eigener Absicht übereinstimmte und somit zugesagt wurde.

II. Lebensdaten und Schriften

Hugo Preuß ist am 28. Oktober 1860 als Sohn eines Kaufmanns in Berlin geboren. Seit 1889 Privatdozent für Öffentliches Recht an der Universität Berlin, die ihm — einem Juden und Linksliberalen — einen ordentlichen Lehrstuhl nicht einräumte, wurde er 1906 Professor an der Handelshochschule seiner Vaterstadt. Im Kaiserreich hat er in der Berliner Kommunalpolitik eine Rolle gespielt. Nach dem Zusammenbruch von 1918 der Deutschen Demokratischen Partei beigetreten, hat er, in Fortsetzung der Tätigkeit als Staatssekretär, der Regierung Scheide-mann, die vom Februar bis zum Juni 1919 amtierte, als Reichsminister des Innern angehört, ist als solcher für das Verfassungswerk federführend gewesen und hat dieses nach dem Streit um den Versailler Friedensvertrag, den er mit seinen Parteifreunden ablehnte, in kommissarischem Auftrag zu Ende geführt. In der Folgezeit ist er nicht in den Reichstag gewählt worden, wohl aber Mitglied des Preußischen Landtages gewesen. Er ist am 9. Oktober 1925 verstorben; ein gütiges Geschick hat es ihm erspart, die Zerstörung des Werkes von Weimar und die Diktatur Hitlers noch zu erleben.

Von seinen vor 1914 erschienenen Schriften sind bedeutsam: „Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften“ (1889), „Die Entwicklung des deutschen Städtewesens" (1906) und „Selbstverwaltung, Ge-meinde, Staat, Souveränität“ (in der Laband-Festschrift von 1908).

Während des Krieges ist das Buch „Das deutsche Volk und die Politik“ erschienen, das Eugen Diederichs verlegt hat und das einem etwas weiteren Leserkreis zugedacht war. Von den Nachkriegsschriften ist ein Kommentar zur Weimarer Verfassung unvollendet geblieben und 1928 als Fragment veröffentlicht worden. Ein anderes Nachlaßwerk ist betitelt „Verfassungspolitische Entwicklungen in Deutschland und Westeuropa“ (1927). Ansehnlich ist die Liste der in Zeitschriften und Zeitungen publizierten Aufsätze. Theodor Heuss hat 1926 35 Aufsätze, Reden und Denkschriften von Preuß — aus der Zeitspanne von 1886 bis 1925 — zu einem Sammelbande unter dem Titel „Staat, Recht und Freiheit“ zusammengefaßt der gewesene Reichsgerichtspräsident Simons 1930 eine kleinere Preuß-Anthologie herausgegeben in diesen beiden Büchern sind die Einleitungen bedeutsam. Als Preuß-Biograph hat sich Ernst Feder betätigt (1926). Nicht zuletzt im Blick auf den Verfasser interessant ist eine kleine Schrift von Carl Schmitt über Preuß, dessen Staatsbegriff und Stellung in der deutschen Staatslehre Von den Doktoranden der deutschen Universitäten nach 1945 hat Günther Gillessen das Thema „Hugo Preuß, Studien zur Ideen-und Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik" gewählt doch ist diese Freiburger Dissertation von 1955 nicht im Druck erschienen. Als Autoren von nach 1945 erschienenen Büchern, in denen man Preuß auf je einigen Seiten gewürdigt findet, sind Heinrich H e f f t e r Thomas Ellweins), Joachim H. K n o 8a) und Ulrich Häfelin 8b) zu nennen. Eine „Geschichte der Weimarer Verfassung" hat Willibalt Apelt, ein seinerzeitiger Mitarbeiter von Preuß, geschrieben Im ganzen kann nicht gesagt werden, daß die Preuß betreffenden bisherigen Leistungen unserer Publizisten, Herausgeber und Verleger seiner bleibenden Bedeutung angemessen sind.

III. Ruf nach dem Volksstaat

Preuß steht in der Nachfolge des Freiherrn vom Stein, der Männer der Paulskirche sowie der Rechtslehrer Rudolf v. Gneist und Otto v. Gierke. Mit Gierke hat er sich zur Vorstellung vom Staate als Organismus bekannt, um hier indessen die extreme Position, nämlich die einfache Gleichsetzung von menschlichem und sozialem Organismus, nachdrücklich zu verwerfen. Weder bei Stein noch bei Gierke ist er stehengeblieben. Über Stein, der durch seine Reformen die Kluft zwischen Volk und Staat hatte schließen wollen, ist er hinausgegangen, indem er die vollkommene Einheit von Volk und Staat ersehnte und erstrebte. Gierkes richtungweisenden Ansatz hat der temperamentvolle Gierke-Schüler dadurch hinter sich gelassen, daß er die demokratischen Konsequenzen zog, die der Meister im ersten Bande des Monumentalwerkes „Das deutsche Genossenschaftsrecht" nahegelegt hatte, um dann auf einen Widerspruch gegen den Obrigkeitsstaat doch zu verzichten.

Fast durchweg besteht bei Preuß ein Zusammenhang zwischen den Begriffsbestimmungen, die er vornimmt, und seinen höchst ausgeprägten politischen Meinungen und Absichten. Wer der Staatsrechts-lehre lediglich die Aufgabe der Darstellung und Interpretation der verfassungsrechtlich fixierten Normen und Formen zuschreibt, wird sich mit diesem Verfasser nicht befreunden. Preuß hat nicht nur, durch die Einbeziehung auch der extrajuristischen Komponenten des realen Verfassungslebens, besonders des soziologischen und des historischen Elementes, die Blickweise der seinerzeit in Deutschland wenig respektierten wissenschaftlichen Politik vorweggenommen; er ist nicht nur, um einen neuesten Ausdruck zu verwenden, Politologe sondern darüber hinaus Politiker, genauer gesagt Verfassungspolitiker. Aber das Werturteil oder die Forderung steht bei ihm unverschleiert da und kann somit von einem andersmeinenden Leser ohne weiteres ausgeschieden oder abgeändert werden. Der Politiker Preuß hüllt sich nicht in den Mantel der Wertneutralität; wo es sich um seine Ziele oder sein Ziel handelt, gebärdet er sich nicht als innerlich unbeteiligter Interpret. Er hat immer, auch oder gerade als Opponent in der ausgehenden Kaiserzeit, die offene Sprache vorgezogen. Man wußte bei ihm, der die ausgesprochene Polemik nicht scheute, woran man war, und man sieht sich heute, in der Rückschau auf sein Werk, durch soviel Klarheit und Zielsicherheit nicht nur dort beeindruckt, wo wir Lebenden uns noch angesprochen fühlen müssen.

Wie allgemein im deutschen Linksliberalismus seiner Zeit, so ist auch bei diesem Denker und Politiker die liberale mit der demokratischen Linie verbunden. Klar erkennbar wird diese Verbindung auf den Seiten des Buches „Das deutsche Volk und die Politik“, auf denen Preuß an das von Schiller dem Marquis Posa in den Mund gelegte Verlangen anknüpft, Gedankenfreiheit zu geben Dieses „geben Sie“, als — vielfach gewiß sehr berechtigte — Bitte oder Forderung an den Monarchen oder die Obrigkeit gerichtet, gehört dem Liberalismus an. Der Staat soll beschränkt, soll zurückgedrängt werden, damit das Individuum Luft bekomme. Es handelt sich um die Freiheit — oder eine Freiheit — vom Staate, nicht aber die Freiheit i m Staat. Dieser Liberalismus, der „Rechte“ fordert oder fixiert, genügt Preuß nicht. Zu ihm tritt für den geistigen Schöpfer der 'Weimarer Verfassung das demo-kratische Verlangen hinzu, den Obrigkeitsstaat, den dem Volke entgegengesetzten oder übergeordneten Staat, ganz abzubauen, ihn zu ersetzen durch den vom Volke aus gestalteten und mit Leben erfüllten Staat, das Gemeinwesen im eigentlichen Wortsinne.

In diesem Ruf nach dem Volksstaat stimmt Preuß, wie in anderen Punkten, mit dem gleichaltrigen und geistesverwandten Friedrich Naumann überein. Des Volksstaates „LebeHspriHzip“, so schreibt er noch im Kaiserreich, ist „die Einheit, die vollkoMwene Identität des Staates und des politisch organisierten Volkes; jene fordernde Erwartung dagegen wurzelt im Dualismus, im vollkommenen Gegensatz von Fürst und Untertan, regierender Obrigkeit und ihren Objekten“ AIs Volksstaat steht also der Staat nicht mehr für sich da, senkt er sich auch nicht mehr von oben auf das Volk herab, sondern ist nichts als die „politische Organisation einer sich ihrer Einheit und Zusammengehörigkeit bewußten Volksgesamtheit“ Die „genossenschaftliche Gemeinschaft des Volkes“ das „korporative Staatsvolk“ hat gewiß Repräsentanten zu bestellen, Organe auszubilden, Ämter zu besetzen, aber es wird damit nicht ein vom Volke abgetrennter, ihm begrifflich oder tatsächlich zu konfrontierender Staat errichtet. Der Dualismus des Obrigkeitssystems entfällt. Was dieser Anschauung oder vielmehr Zielrichtung zugrundeliegt, ist der „Glaube an die Kraft des genossenschaftlichen Gedankens im Nachbarschaftsverband“ (Theodor Heuss) Preuß wird nicht müde, auf Genossenschaftsidee und Obrigkeitsprinzip als auf zwei heterogene Ordnungsgrundsätze hinzuweisen, die im Grunde nicht miteinander zu vereinen seien. „Es ist der genossenschaftliche Gedanke der Organisation von unten nach oben“, so sagt er noch in seinem letzten Lebensjahr vor Gewerkschaftern, „auf dessen Grund die Republik und das demokratische Prinzip ruhen. Sie leiten die Autorität nicht von oben her ab, sondern aus der Gemeinschaft der Genossen, der Bürger, aufsteigend von den engeren zu den weiteren Verbänden ... Der genossenschaftlichen Staatsbildung steht gegenüber die obrigkeitliche, herrschaftliche Staatsbildung von oben nach unten, die eine a priori gegebene Autorität für sich in Anspruch nimmt“ „Selbstverwaltung" — im preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat geradezu ein Fremdkörper und von ihrem Urheber Stein ja auch nur als erster Ansatz gedacht gewesen — ist im durchgehend genossenschaftlich gestalteten Gemeinwesen nicht nur eine Angelegenheit der kommunalen Stufe. Demokratischer Staatsverfassung und kommunaler Selbstverwaltung liegt die „einzige und eine Uridee der Genossenschaft“ zugrunde, und aus dieser ergibt sich die,, Leitung der korporativen politischen Gemeinwesen durch den ihnen immanenten Gemeinwillen statt durch einen außer und über ihnen waltenden Obrigkeitswillen“ Was England, für Preuß „in allen politischen Dingen das klassische Musterland“ betrifft, so hat Gneist zutreffend festgestellt, daß dort der Parlamentarismus „der glänzende Kuppelbau“ ist, der „den soliden Unterbau des Selfgouvernment, der örtlichen Selbstverwaltung, krönend absdtließt“ Bezeichnend ist, „daß die englische Rechtssprache das Wort Selfgovernment in dem bei uns üblichen Sinne überhaupt nicht kennt; vielmehr unterscheidet man dort lediglich local government und national government. Das eine wie das andere ist ganz in gleicher Weise Selfgovernment: Selbstregierung der lokalen Genossenschaften in Stadt und Grafschaft, und Selbstregierung der großen communa communarum, der nationalen Genossenschaft, in der parlamentarischen Staatsverfassung“

Ausgeräumt werden muß natürlich das „Dogma, daß die von oben bestimmte Obrigkeit das gemeine Wohl besser zu wahren wisse, als die von unten bestimmten Selbstverwaltungsorgane", denn wäre dies richtig, so wäre gewiß die Selbstverwaltung, gleich welcher Stufe, „eine Verirrung“

In der konkreten Situation des Kaiserreiches ist die Obrigkeitsregierung indessen ganz einfach Lückenbüßer. Sie ist „unentbehrlich, solange es an einer regierungsfähigen und regierungswilligen Potenz fehlt, die aus dem politischen Gemeinwillen hervorgeht“ Erst durch einen „stark entwidtelten Gemeinwillen“ findet die Gesamtheit „fast instinktiv den Weg zum gemeinsamen Handeln ohne Kommando“ Dieser Gemeinwille bewirkt oder bedeutet die Überbrückung von Gegensätzen, aber „beim Fehlen eines gemeinsamen aktiven Staatsbürgerbewußtseins bietet sidi den sozialen Gegensätzen die Obrigkeit als der vermeintlidt allein unparteiisdie Dritte“

Von dieser „höheren Orts" gegebenen Überparteilichkeit ist unser kritischer Autor so wenig überzeugt wie Gustav Radbruch, der in der diesbezüglichen Behauptung bekanntlich die „Lebenslüge des Obrigkeitsstaates" gesehen hat. Offenbar zutreffend sagt Preuß, daß auch die Obrigkeitsregierung nicht „in einem sozial luftleeren Raume“ schwebe, vielmehr von einer „Parteiriditung“ und „hinter ihr stehenden sozialen Schichten“ abhängig sei, deren „Anschauungen und Interessen“ auf die Erhaltung dieses Systems hindrängen Wenn er in seinen Anfängen einmal die „egoistisdte Organisation der Gesellschaft“ von dem „altruistischen Gegenorganismus“ des Staates — und übrigens der Kirche — abhebt so beweist diese wenigstens in begrifflicher Hinsicht vorgenommene Konfrontation von Gesellschaft und Staat die Stärke des liberalen Erbes. Als Demokrat aber ist er nicht bereit, den Staat aus eigener, außervolklicher und angeblich außergesellschaftlicher Wurzel hervorgehen zu lassen. Notwendig ist einmal die „parlamentarisdte Körpersdtaft, in welcher die Fülle der Interessengegensätze im Extrakt zusammenstößt“, damit sich aus ihrem Kampf eine „Diagonale der Kräfte“ ergibt Aber natürlich darf das Volk nicht nur „Interessentenhaufen“ sein, um das in der Weimarer Zeit von Minister Hermann Dietrich geprägte Wort zu verwenden. Das Volk als „Genossenschaft“, das zum „korporativen Staatsvolk" geworden ist, zeichnet sich aus durch den interessenüberwindenden „politischen Gemeinwillen“, durch das „aktive Staatsbürgerbewußtsein“ als eine unablässig von unten nach oben wirkende Kraft, die den Zusammenhalt des Ganzen herstellt und erhält. Erst von daher erhalten die Institutionen der Selbstverwaltung, von der Gemeinde bis hinauf zum Reich, ihren Sinn und Inhalt, und nun erst bedarf es nicht mehr der von oben oder außen angesetzten Klammer, die das Merkmal des Obrigkeitssystems ist.

IV. Deutsche Gegebenheiten

Bei aller Entschiedenheit seiner Grundforderung verliert sich Preuß nicht ins Utopische, sondern bleibt, als ein durch die historische Schule beeinflußter Beobachter, dicht an den Tatsachen. Die besonderen deutschen Gegebenheiten sind mitsamt ihrer historischen Bedingtheit durch ihn voll berücksichtigt; der verfassungsgeschichtliche Rückblick, der in fast keiner seiner Arbeiten gänzlich fehlt, nimmt in einigen von ihnen den weitaus breitesten Raum ein. Gelegentlich greift er sogar recht weit in die Geschichte zurück, so etwa, wenn er — wahrscheinlich durch einen ähnlichen Hinweis in Gierkes „Genossenschaftsrecht“ angeregt — betont, daß im mittelalterlichen Städtewesen das Prinzip der „freien genossenschaftlichen Einung" maßgebend gewesen sei und damals auch das Wesen der Städtebünde bestimmt habe. Im großen rheinischen Städtebund sei es zur Zeit des Interregnums sogar zu der Vorstellung gekommen, daß er den Kern bilden könne für „eine genossensdtaftlidtbündische Neusdtöpfung des Reichs von unten herauf, die in einem Kaisertum neuer Gestalt gipfeln mochte“. Es sei dies „einer der gar nidtt seltenen Fälle, daß politisdte Gedanken zunächst blitzartig auf- leuchten und wieder verschwinden, um erst nach Jahrhunderten wirklich lebenskräftig wieder zu erscheinen“ „Genossenschaftlich-hündische Neuschöpfung des Reichs von unten herauf“: hier hat Preuß sein eigenes bleibendes Ideal vor Augen. Aber muß man nicht — diese Frage klingt mehrfach an — am deutschen Volke verzweifeln? Werden die Deutschen jemals „eine elementare Volksstimwung für politische Freiheits-und Machtfragen“ aufbringen? Ziehen sie nicht die Autokraten vor, die zwar „Ruhm“ hinterlassen, aber „nicht das kostbare Gut dauernder, in der Volksseele selbst wurzelnder Institutionen“ Und hat man nicht in Deutschland mit einem „verblüffenden Mangel an politischen Führern großen Stils“ zu rechnen?

Preuß, der weder sich noch anderen etwas vormachen will, hat voreilige Antworten auf diese und ähnliche Fragen nicht geben. Er weiß, daß in Deutschland „durch die unvordenkliche Herrschaft des Obrigkeitssystews sein Gegensatz von Obrigkeit und Untertanen gewohnheitsmäßig im Volksbewußtsein festgewurzelt ist" Daß das deutsche Volk „wirklich mit Unfruchtbarkeit zur Erzeugung politischer Führernaturen geschlagen“ sei, könne man nicht mit Bestimmtheit sagen, „weil die Eigenart seiner historisch-politischen Entwicklung das deutsche Volk als Ganzes bisher stets von allen Voraussetzungen ausgeschlossen hat, unter denen sich politische Führernaturen aus dem Volke herausheben und im praktischen Staatsleben bewähren können“ Einmal ist freilich die Rede von einer „Unfähigkeit unseres Volkes, sich spontan von Männern führen zu lassen, die nicht von Obrigkeits und Amts wegen dazu bestellt, sondern vom Gemeinwillen dazu berufen werden“

Diese Unfähigkeit entspreche dem „Mangel politischen Gemeinwillens überhaupt“; ganz allgemein zeige sich die politische Begabung eines Volkes darin, daß es „die rechten Männer mit elementarer Kraft emporhebt“

Im Hintergrund steht bei alledem die Frage, ob vielleicht zunächst die freiheitlich-demokratischen Institutionen zu schaffen seien in der Erwartung, daß sich danach der sie erfüllende und verlebendigende Geist einstelle. Die zustimmende Hervorhebung der durch Stein ausgesprochenen Absicht, „durch die Reform eine Nation zu bilden“, läßt vermuten, daß Preuß die Möglichkeit einer Auslösung des fehlenden Staatsbürgergeistes durch vorgängig zu errichtende äußere Formen in Rechnung gestellt und insoweit vielleicht einer Art von Soziologis-mus zugeneigt hat. Andererseits hat er auch immer wieder danach gerufen, den Staatsbürgergeist spontan aufzubringen, und zwar hat er diesen Ruf besonders an das politisch weithin desinteressierte deutsche Bürgertum gerichtet. Nach Gneists Tod fordert er dieses auf, im Sinne des Verblichenen „als die moderne Aristokratie die Herrschaft zu erwerben durch die Läuterung des Klasseninteresses im Staatsgedanken“ also, so darf man auslegen, den zu erhebenden Führungsanspruch auf die Voranstellung des Gemeinwohls zu gründen. Indessen ist offenbar das gleiche Bürgertum gemeint, wenn er in einer nachgelassenen Schrift beklagt, daß „in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs alles Interesse vom Erwerbsleben in Anspruch genommen" sei, so daß es dann an „Sinn und Kraft für nachhaltige und ernsthafte politische Arbeit" fehle — worüber nachzudenken in der Gegenwart wohl einiger Anlaß besteht.

Das nachdrückliche Interesse, das Preuß den Institutionen zuwendet, hängt mit seiner — für den Liberalen selbstverständlichen — entschiedenen Bejahung des Rechtsstaates zusammen, in dem der Vorrang des Gesetzes gilt und man „das Heil nicht von dem Belieben der leitenden Männer, sondern zunächst von der Kraft und Güte der staatlichen Institutionen ... erwartet“ Der wahre Liberale „weiß, daß der Staat die Bedingungen seiner Existenz in sich selbst, in seinen dauernden Institutionen tragen muß, und nicht abhängig sein kann von einem kurzlebigen Menschengeschöpf“ Wahre Liberale, dabei aber „liberale Revolutionäre“, sind für Preuß übrigens Washington und Cavour die er dem in seinen überragenden Fähigkeiten anerkannten, aber bezüglich seiner Verfassungs-und Innenpolitik scharf kritisierten Bismarck schon 1888, also vor dem Sturz des Reichsgründers, vorzieht.

V. Stufenreihe der Gemeinwesen

Ein im Rahmen dieser Lehre bedeutsamer Begriff ist der der „Gebietskörperschaft“. Als Art der Gattung „Körperschaft", so hat Preuß ausgeführt, kann die Gebietskörperschaft „Genossenschaft“ und „Anstalt" zugleich sein, also das genossenschaftliche mit dem anstaltlichen Element verbinden Dies bedeutet die wünschenswerte Fähigkeit, zugleich ein Organismus für sich und Glied eines höheren Organismus zu sein. Gebietskörperschaften dieses Begriffes sind für Preuß Gemeinde, Staat und Reich. Sie sind damit für ihn im Grunde wesensgleich; er sieht hier eine „Stufenreihe der Gemeinwesen" vor sich, wobei er keineswegs die Einfügung der engeren in die umfassenderen Gebilde bestreitet, wohl aber den nicht allen Stufen gleichmäßig zugutekommenden Souveränitätsbegriff, den seinerzeit besonders L a b a n d und J e 11 i n e k herausgearbeitet hatten, deutlicher Kritik unterzieht. Für Preuß ist die Bindung an den Staat nicht von grundsätzlich anderer Art als die Bindung an die Gemeinde oder eine andere genossenschaftliche Gesamtperson. Carl Schmitt stellte, von seinem Standpunkt aus mißbilligend, fest, daß damit „der Staat aus einer spezifisch politischen Einheit zu einer sozialen Verbindung geworden“ sei Preuß selbst hat das auch gesehen, nämlich „die eminent soziale Natur der konstitutionellen Leitgedanken“ hervorgehoben Wahrscheinlich ist, tritt man in seine Blick-und Willensrichtung ein, die Grenzziehung zwischen einem oberen „politischen“ und einem unteren „sozialen“ Bereich nicht zu halten. Bemerkenswerterweise hat es diese Unterscheidung, die noch durch neuere Autoren mit einem Schein von Heiligkeit umkleidet worden ist, für Johannes A 11 h u s i u s nicht gegeben. Dieser durch Gierke unverdienter Vergessenheit entrissene Bodin-Gegner und frühe Vorläufer aller deutschen „Nationaldemokraten"

des 19. und des 20. Jahrhunderts hat die Politik noch ganz unbefangen die „Lehre vom Zusammenleben der Menschen" genannt

Im Staate nur eine Stufe in einer Stufenfolge zu sehen, deckt sich übrigens mit der Anschauung von Constantin Frantz, dem Klassiker des Föderalismus. Offenbar hat man es hier mit einem Beitrag zu der gewiß notwendigen „Entmythologisierung des Staates" (Thomas Ellwein)

zu tun. Er weist in die Richtung des Bundesstaates, und zwar eines nicht auf seine Souveränität erpichten, sondern nach „oben" hin, also gegen die Zone des bisherigen sogenannten Völkerrechtes, offenen Bundesstaates. Preuß hat den Bundesstaat, den „aus Selbstverwaltungsbezirken stufenweise aufsteigenden Staatsorganismus", in dem „Mannigfaltigkeit in der Einheit“ und „freie Bewegung der Glieder ohne Zerreißung des Ganzen“ gegeben sind, ausdrücklich als das „Ideal" be-zeichnet Er will hier sogar „das Urbild des modernen Staates, dem alle Staaten unserer Kulturwelt auf verschiedenen Wegen und in verschiedener Form ... zustreben“, sehen

Gewiß kann man ihn also nicht, wie es geschehen ist, ohne Einschränkung einen Verfechter des Unitarismus nennen. Es sei möglich, so schreibt er, daß „nadt Lage der Dinge unser Vaterland zunächst durch den Einheitsstaat hindurchgehen muß“; es werde aber „dann auf dem Wege der Dezentralisation und Selbstverwaltung zur endlichen Gestaltung gelangen“ Er hat das unitarische französische Präfektursystem ausdrücklich abgelehnt, „eine möglichst jede freie Tätigkeit entfesselnde Dezentralisierung“ gepriesen und, in bester liberaler Tradition, eine „Mehrzahl von Machtzentren“ gefordert Man darf ohne weiteres annehmen, daß er dem Subsidiaritätsprinzip in der Fassung des päpstlichen Rundschreibens von 1931 zugestimmt hätte, entspricht es doch seiner Absicht, den Schwerpunkt möglichst weit nach unten zu legen. Bezeichnenderweise hat er sich mit Nachdruck gegen die Anschauung gewandt, daß an die unteren Stufen, speziell die Gemeinde, Funktionen vom Staate „delegiert" seien; was durch den Staat „normiert“ sei — dies gelte ja auch für die Rechte des Individuums —, sei damit noch nicht von ihm „delegiert“, könne vielmehr eigener Wurzel entstammen Für seine positive Einstellung zum Föderalismus spricht auch seine Kritik am Bismarckreich, an dem er nicht nur die das Staatsvolk negierende Trägerschaft der „verbündeten Regierungen“ bemängelt hat. Ist für ihn dieses Reich insgesamt eine unorganische und gekünstelte Konstruktion, so tadelt er besonders den durch das entschiedene Übergewicht des Großstaates Preußen, der „vier Siebentel des Ganzen“ gegebenen unwahren, nämlich „hegemonialen" Föderalismus.

Die supranationalen Zusammenschlüsse, die heute zur Debatte stehen oder angebahnt werden, liegen in der Linie des bundesstaatlichen Ideals, das Preuß bejaht hat. Er selbst betont 1918, noch vor dem Kriegsende, in einer Ansprache, in der er die „atavistische Kampfform“ des zwischen Nationalstaaten ausgefochtenen Krieges brandmarkt, daß „der Souveränitätsgedanke mit jeder wirksamen Organisation der internationalen Gemeinschaft in absolutem Gegensatz“ steht Im Grunde hat er offenbar die erst gegenwärtig allmählich sich durchsetzende Einsicht vorweggenommen, daß die Souveränität des überkommenen Begriffes den Staat aus der „Stufenreihe der Gemeinwesen" über Gebühr heraushebt und damit einerseits die Rechte und Freiheiten der engeren Gemeinwesen, andererseits die auf die Dauer unbedingt erforderliche Eingliederung in einen weiteren Rahmen, den einer übernationalen Gemeinschaft, in Frage stellt.

Mit der Verkürzung, die die bisherige Würde des Staates durch Preuß erfährt, zugleich aber seinem Ruf nach der Einheit von Volk und Staat, hängt seine Einstellung zur Verwaltung zusammen. Stein habe „von der Reorganisation der Verwaltung aus zur Erneuerung der Verfassung gelangen“ wollen später habe man leider „die konstitutionelle Verfassung auf die absolutistische Verwaltung gesetzt“ Kaum anders hat sich ein gegenwärtiger Gegner aller „absolutistischen Verwaltung", der Baseler Verfassungshistoriker Adolf Gasser geäußert, mit dem Preuß in der Forderung nach weitgehender Gemeindefreiheit übereinstimmt Die in Deutschland eingebürgerte Unterscheidung von Staatsverwaltung und Selbstverwaltung entfällt für Preuß, weil er auf allen Stufen „Selfgovernment" zu sehen wünscht. Für ihn ist die Verwaltung der höchsten Stufe mitsamt der politischen Selbstregierung der Gesamtnation ebenso Ausfluß des ausnahmslos gültigen Genossenschaftsprinzips, wie die Selbstverwaltung eines nachgeordneten Bezirkes oder der kleinsten Ortsgemeinde. Fraglos ist seine Lehre von eindrucksvoller innerer Konsequenz und Geschlossenheit.

VI. Liberale Forderungen

Daß Preuß den Sozialismus rein sachlich und nicht — wie gewisse Streiter der Rechtsparteien — aus einem Ressentiment heraus beurteilt, überrascht wohl kaum. Der deutschen Sozialdemokratie rechnet er es hoch an, daß sie nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches „es vorzog, als Klassenkampfpartei höchst unlogisdt zu handeln“, nämlich sich zur Demokratie des Gesamtvolkes zu bekennen, wodurch „Deutschland und Europa vor der Überflutung durch die nihilistische Sturzwelle gerettet“ wurden Wenn er unter dem unmittelbaren Eindruck des Systemwechsels von 1918 — ähnlich unbefangen wie damals Max Weber— eine „fortschreitende Sozialisierung“ in Rechnung stellt hat er vielleicht eher Maßnahmen der fürsorgenden Sozialpolitik als die direkte „Vergesellschaftung der Produktionsmittel" im Auge. Der eigentliche Marxismus ist mit seinem Liberalismus nicht vereinbar. Die „Konzentrierung aller politischen und wirtschaftlichen Machtbefugnisse in den Händen der Beamtenhierarchie des sozialistischen Staates“ muß absolute Unfreiheit bedeuten; „im sozialistischen Staate kann und wird mit den Arbeitern nicht verhandelt werden“ Auch der von Anton Menger in der „Neuen Staatslehre“ (1903) projektierte „volkstümliche Arbeitsstaat“ muß in der Praxis zum Polizeistaat werden Den Anblick „des aus überspanntem Individualismus in den Sozialismus übergeschnappten ersten deutschen Kathedersozialisten" bietet Fichte als Verfechter des „geschlossenen Handelsstaates“ Was die Klassengegensätze betrifft, so sei weder ihre Vertiefung noch auch nur ihr unveränderter Fortbestand zu erwarten; die Klassen „nivellieren sich in dem Maße, wie sich die Individuen differenzieren, wie die Individuen geistig verschiedener werden“ Preuß selbst propagiert keineswegs das altliberale laissez-faire; die heutige neoliberale Ordnungsvorstellung hätte wahrscheinlich seine Zustimmung gefunden. Auf Adam Smith, so sagt er, kann sich nicht das Manchestertum berufen; der Klassiker des Wirtschaftsliberalismus sei, nach nunmehrigen Begriffen, „sozialliberal" eingestellt gewesen Ein Unglück sei der — von Alfred Weber so betitelte — „Umschlag des Konkurrenzkapitalismus in den Monopolkapitalismus", denn der Monopolkapitalismus „ist, was der Konkurrenzkapitalismus, solange er gesund und frisch ist, nicht ist, notwendigerweise antidemokratisch und antisozial“ Der nicht auf ein Dogma schwörende, wohl aber jederzeit wachsame Liberale Preuß macht sich natürlich auch über die Beziehung, in der Freiheit und Gleichheit zueinander stehen, seine Gedanken. Er weiß, daß „zum Sturm wider die politische Freiheit ... das lockende Freiheitsbanner die beste Sturmfahne" ist Die Gleichheitsforderung ist nicht bis zur letzten Konsequenz zu realisieren; zur Sicherung der Freiheit muß „ein Opfer an Gleichheit“ gebracht werden, denn „der Gleichheits-Fanatismus tötet die Freiheit“ Dabei ist umgekehrt der „absolute Individualismus“, also die totale Freiheit, „unverträglich mit dem Staate“ Die Aufgabe ist, „die Individuen organisch zusammenzufügen, zwischen dem Staat und dem Einzelnen den festen Bau engerer und weiterer Selbstverwaltungskörper zu errichten und dadurch wahres politisches Leben zu erwedten und zu gestalten“ Preuß will seine Lehre nicht dem Individualismus hinzugerechnet sehen; in einer gewissen Überspitzung, aber doch dank seiner Korporationsidee nicht ganz unberechtigt, hat er sie einmal als „durdiaus antiindividualistisdt“ bezeichnet

Als entschiedener Anhänger des Rechtsstaates befürwortet er selbstverständlich die Gewaltentrennung, so einmal in guter Formulierung „die Differenzierung der parlamentarischen Gesetzgebung von der Verordnungsgewalt, die Trennung der Justiz von der Verwaltung wie die Bindung der Verwaltung an das Gesetz und ihre Kontrolle durch unabhängige Gerichte“

Auch hat in dieser Lehre der liberal-repräsentative Parlamentarismus der Art, die in unserer Zeit Gerhard Leibholz als durch den Parteienstaat effektiv abgelöst ansieht seinen Platz; einem — offenen oder verdeckten — imperativen Mandat hätte Preuß, dem die Tätigkeit von „Fraktionsobrigkeiten“

verdächtig gewesen ist, nicht zugestimmt.

Eine erschöpfende Wiedergabe und Deutung der Ansichten und Ab-

sichten des „Vaters der Weimarer Verfassung“ ist im begrenzten Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, aber interessant ist vielleicht noch die Äußerung zu einer bedeutsamen Teilfrage der städtischen Ordnung. Preuß, der verdienstvolle Historiker der städtischen Verfassungsent-

wicklung, hat das Problem der bezirklichen Dezentralisierung der städtischen Selbstverwaltung mit besonderem Bezug auf die „heutigen großstädtischen Agglomerationen“ angeleuchtet Wenn er „die Bildung von Sondergemeinden im Rahmen der Großgemeinde nach den Prinzipien kommunaler Selbstverwaltung" empfiehlt so ist an seinen Lehrer Gierke zu denken, der der früheren „Gliederung der Bürgerschaften in Spezialgemeinden“ einen Abschnitt seines Hauptwerkes gewidmet hat, um hier besonders die „Bauerschaften oder Nachbargemeinden (viciniae, parochiae, burscap, heimschaft)“ zu erwähnen Inzwischen steht der auf Artur M ah raun zurückgehende Vorschlag zur Diskussion, nicht nur die großstädtischen Bevölkerungen, sondern das Gesamt-volk in „Nacltbarsd-taften“ aufzugliedern und diesen der Kopfzahl nach überschaubaren „Ortsgruppen der Staatsbürgersdtaft“ auch politische Funktionen, die über die Kommunalebene hinaus wirksam wären, zuzuweisen Mahraun, als Soziologe und Staatsdenker ein keiner Schule oder Lehrmeinung verpflichteter Einzelgänger, stimmt übrigens in seiner Staatsauffassung mit Preuß vollkommen überein.

VII. Ein Entwurf von 1917

Daß der Professor Preuß in Berlin nach dem Zusammenbruch von 1918 nur in eine Schublade seines Schreibtisches habe zu greifen brauchen, um den ausgearbeiteten Entwurf einer republikanischen Reichs-Verfassung vorzulegen, ist in der Weimarer Zeit erzählt und auch geglaubt worden Tatsächlich hat zu dem Zeitpunkt, in dem er zum Staatssekretär berufen wurde, ein solcher Entwurf aus seiner Feder nicht existiert Auch sind die allerdings höchst konkreten Vorstellungen, mit denen der streitbare Liberale in die Verfassungsberatung hineingegangen ist, nicht bis ins Letzte realisiert worden, und die Weimarer Verfassung ist — mag auch immer Preuß unter ihren Urhebern an weitaus erster Stelle zu nennen sein — in ihrer endgültigen Gestalt natürlich nicht das Werk eines einzelnen Verfassers.

Der Verfassungsentwurf, der tatsächlich im Herbst 1918 im Schreib-tisch des damaligen Rektors der Berliner Handelshochschule gelegen hat, ist im Sommer 1917 niedergeschrieben und 1926 durch Frau Else Preuß und Theodor Heuss erstmals veröffentlicht worden Er war durch die Ereignisse überholt, weil er, für das Reich wie für Preußen, den Fortbestand der Monarchie voraussetzte, an deren Abschaffung im liberalen Lager wohl niemand und bei den Sozialdemokraten mindestens Friedrich Ebert zunächst nicht gedacht hat. Das monarchische System sollte nach diesem Entwurf von 1917 freilich eine einschneidende Abwandlung im Sinne der Parlamentarisierung erfahren; „der Reidtskanzler und jeder Reichsminister“, so heißt es in der vorgesehenen völligen Neufassung des Artikels 11 der Reichsverfassung von 1871, „muß seine Entlassung nehmen, wenn der Reichstag durch einen gegen ihn gerichteten Mehrheitsbeschluß ihm sein Mißtrauen ausspricht“. Den Bundesrat hatte Preuß durch einen Reichsrat zu ersetzen gedacht, dessen Mitglieder — unter Beibehaltung der für den Bundesrat gültigen Stimmenverteilung auf die Staaten — „von der Regierung des Einzel-staates aus je drei von seiner Volksvertretung vorgeschlagenen Kandidaten auf zehn Jahre ernannt“ und „an Aufträge und Instruktionen nidtt gebunden“ sein sollten. Es hätte sich hier um den Von Preuß auch in seiner gateren Denkschrift vom 3. Januar 1919 propagierten Über-gang vom Bundesratssystem zum Staatenhaussystem gehandelt; an die Stelle des Bundesrates, in dem an Weisungen gebundene Vertreter der einzelstaatlichen Regierungen saßen, wäre ein aus Vertretern der einzelstaatlichen Bevölkerungen zusammengesetztes Staatenhaus getreten, dem womöglich „das öffentlidie Ansehen eines Senates“ zuwachsen sollte.

Aus den Einzelheiten des Entwurfs von 1917 mag noch der interessante Vorschlag herausgegriffen werden, für die Reichstagswahlen auf eine Wahlkreiseinteilung ganz zu verzichten und es dem einzelnen Kandidaten zu ermöglichen, im gesamten Reichsgebiet Stimmen zu sammeln Für Preußen findet man die Beseitigung des Dreiklassenwahlrechtes, eine neuartige Zusammensetzung der Ersten Kammer und — wie für das Reih — das parlamentarische Mißtrauensvotum gegen die Minister vorgesehen. In der „Vorbemerkung“, die Preuß unter dem Datum des 1. September 1917 diesen „Vorschlägen zur Abänderung der Reichsverfassung und der Preußischen Verfassung nebst Begründung“ vorangestellt hat, ist das Problem angerührt, das ihn während des Krieges anscheinend unablässig beschäftigt hat, nämlich die tatsächliche Isolierung Deutschlands durch dessen „politisches Anderssein gegenüber allen feindlichen und allen neutralen Ländern“. Nachdrücklich zurückgewiesen ist dabei einmal der „Vorwand, jetzt wäre eine volksstaatliche Umgestaltung Deutschlands die Unterwerfung unter das Gebot des feindlidten Auslandes“, zum anderen „das Gerede von einer Nadtahmung der . westlidten Demokratien, deren Einrichtungen auf die Eigenart Deutschlands und insonderheit Preußens unanwendbar seien“. In einem gewissen Widerspruch zu anderweitigen Auslassungen oder Andeutungen ist in den ersten Sätzen dieser „Vorbemerkung“ betont, daß letztlich die „im Volke lebendigen politisdten Energien“, nicht also die im Verfassungsrecht niedergelegten Normen und Formen, entscheidend seien.

VIII. Der „Vater der Weimarer Verfassung"

Im Winter 1918/19 setzte die Verfassungsberatung damit ein, daß Preuß in seiner nunmehrigen Eigenschaft als Staatssekretär des Innern Referenten der Ministerien sowie einige Männer seines persönlichen . Vertrauens zu einer Aussprache berief, die in den Tagen vom 9. bis zum 12. Dezember 1918 stattgefunden hat. Auf die Erörterung der Grundsatzfragen in diesem Kreise ist die Ausarbeitung eines ersten Entwurfs gefolgt, der sich auf den allgemeinen Teil der Reichsverfassung beschränkt hat. Während hier Preuß nicht als der Verfasser im eigentlichen Wortsinne anzusehen ist — wohl sind für den Entwurf die von ihm gegebenen Richtlinien bestimmend gewesen —, ist die beigefügte „Denkschrift zum Entwurf des allgemeinen Teils der Reichsverfassung vom 3. Januar 1919“ aus seiner Feder hervorgegangen.

Diese „historisch und staatsredttlidt tief eindringende Denkschrift“ (Erich Eyck) ist „durdt ihren Ernst und ihre Klarheit zu einer der wesentlidisten Staatsschriften der deutsdren Gesdiidtte geworden“ (Theodor Heuss) Sie beginnt mit einer kurzen Kennzeichnung der Bis-marckschen Konstruktion, die „mit virtuoser Kunst die Formen des Föderalismus benutzte, um in ihnen die preußische Hegemonie fest zu verankern“. In der nun zu errichtenden demokratischen Republik gelte es nicht nur „an die Stelle dynastisdier Obrigkeit die gewählten Vertrauensmänner des Volkes zu setzen, vielmehr findet sie ihre feste geistige Grundlage und stärkste moralische Kraft darin, daß als zusammenhaltendes Band des Staatswesens an die Stelle der Untertänigkeit unter eine Dynastie das nationale Selbstbewußtsein eines sich selbst organisierenden Staatsvolkes tritt“. Es ist die gleichbleibende, durch das Gesamtwerk von Preuß wie ein roter Faden sich hindurchziehende Leitidee der eigenständigen und eigenwilligen Korporation, das ist des Sozialorganismus, der nicht erst durch eine von außen ansetzende Maßnahme zur Einheit wird, aus der heraus er nun die deutsche Republik als „die demokratische Selbstorganisation des deutschen Volkes als einer politischen Gesamtheit“ bezeichnet.

Auf die einleitenden Bemerkungen folgt unmittelbar, aber unter ausführlicher Begründung, die Forderung, deren Erfüllung wahrscheinlich „das deutsche Verfassungsproblem durchgreifend und endgültig gelöst hätte“ (Willibalt Apelt) Sie betrifft die Neugliederung des Reichs-gebietes in „Freistaaten von wenigstens annähernd ähnlicher Größe und Macht, bestimmt durdi wirtsdiaftlidte und kulturelle Zusammenhänge wie durch Stammesgemeinsdiaft“. Es handelt sich in erster Linie um die effektive, wenn auch nicht an dieser Stelle so betitelte „Zerschlagung Preußens“. Dem Vorschlag liegt nicht ein spezielles antipreußisches Ressentiment zugrunde — Preuß hat den Obrigkeitsstaat nicht nur in oder für Preußen verworfen und Preußens besonderen „Beruf“ gewürdigt, allerdings als „erfüllt“ angesehen —, sondern die bereits erwähnte Antipathie gegen das Schwergewicht der „vier Siebentel", m. a. W. die Anschauung, daß eine sinnvolle und gerechte Gesamtordnung unmöglich sei, wenn man bei 70 Millionen Einwohnern des Reiches — es ist mit dem Anschluß Deutsch-Österreichs und Deutsch-Böhmens gerechnet — einen preußischen Großstaat mit 40 Millionen Einwohnern bestehen lasse Zutreffend ist darauf hingewiesen, daß Preußens gegebener Gebietsstand auf historische Zufälligkeiten und dynastisches Interesse zurückgehe und „weder wirtschaftlich nodt kulturell nodi nach Stammeszusammenhängen“ motiviert werden könne. Die in den späteren Diskussionen um die sogenannte „Reichsreform so bedeutsam gewordene Vorstellung, daß der norddeutsche Großstaat als „Klammer“ des Reiches unentbehrlich sei, scheidet für Preuß aus, weil in seiner Sicht der Zusammenhalt des Ganzen durch das Selbstbewußtsein des sich als Einheit empfindenden Staatsvolkes zu bewirken und zu sichern ist.

Der auf Preuß zurückgehende Neugliederungsvorschlag, für den Walther Vogel die Miturheberschaft beansprucht hat sieht sechzehn „Freistaaten" vor, und zwar Preußen — hier Ost-und Westpreußen und den Bezirk Bromberg umfassend —, Schlesien, Brandenburg, Niedersachsen, Obersachsen, Thüringen, Hessen, Westfalen, Rheinland, Baden, Württemberg, Bayern und Österreich, sodann — als reichsunmittelbar — Berlin und Wien und — zu einer Einheit zusammengefaßt — die Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck. Diese Einteilung ist indessen als Provisorium deklariert, für die endgültigen Staatenbildungen die Volksabstimmung in den betreffenden Gebietsteilen vorgesehen Den neuen „Freistaaten“ sind durch die Denkschrift die „Funktionen hödrstpotenzierter Selbstverwaltung“ zugedacht; offenbar soll der Schwerpunkt des Ganzen möglichst weit unten liegen. Die scharfe Wendung gegen den Pseudo-Föderalismus des Bismarckreiches geschieht unverhüllt, aber nur sehr bedingt ist von „Unitarismus" und kaum von der „scharf unitarischen Tendenz“ des Entwurfes zu sprechen, die Erich Eyck feststellen zu sollen geglaubt hat Richtig ist doch wohl, daß Preuß „für einen Unitarier bedenklich weit ging, indem er von Frei-staaten statt von Reichsprovinzen oder dergleichen sprach“ (Walther Vogel) Nur wenn man das Ganze seiner Staatsauffassung kennt und vor Augen hat, vermag man ihn hier zu verstehen. Einem Urteil über den Entwurf wie: „den Ländern wird der staatliche Charakter genommen, sie sind nur nodt Selbstverwaltungskörper“ liegt gerade die Unterscheidung von untergeordneter Selbstverwaltung und übergeordnetem Staatshandeln zugrunde, die Preuß konsequent verworfen hat, um auf die Identität abzuzielen; „nur Selbstverwaltungskörper" soll, das ist sein erklärter Wille, auch das Reich sein. Es ist hier an die „Stufenreihe der Gemeinwesen“ zurückzudenken, von der er Jahre zuvor gesprochen hat; schon eine solche Ausdrucksweise und Anschauung verbietet wohl, ihn vorbehaltlos dem Llnitarismus hinzuzurechnen.

Allerdings will er die Kompetenzen des Reiches nicht nur klar fixieren, sondern auch gegenüber dem geltenden Bestände erweitern; er unterscheidet dabei unmittelbare Reichsaufgaben von „allgemeiner Leitung und Normierung durch das Reich“ und weist der zweiten Gruppe übrigens eine maßvolle Rahmengesetzgebung für das Schulwesen zu. „Baut sich das Reich, der Struktur des Volksstaats entspredrend, von unten nach oben auf, und ruht es infolgedessen mit seiner ganzen inneren Lebenstätigkeit auf dem organischen Unterbau seiner kommunalen und einzelstaatlichen Glieder, so ist ein gewisser normierender Einfluß des Gesamtwillens, also der Reichsgesetzgebung, auf die Organisation der Einzelstaaten und ihrer Gemeinden unentbehrlich. Aber er soll sich auch auf das Unentbehrliche beschränken, indem er nur die Homogenität zwischen der Struktur des Reichs und der seiner einzelstaatlidien und kommunalen Glieder sicherstellt. Soweit diese nicht in Frage kommt, ist der Autonomie die Freiheit zum Ausbau ihrer Verfassung und Verwaltung nach der Verschiedenheit der landschaftlichen und örtlichen Verhältnisse zu lassen“ Es gibt wohl keinen Zweifel, daß man es hier mit einer Richtlinie von bleibender Gültigkeit zu tun hat.

Was die Gestaltung der obersten Reichsorgane betrifft, so lehnt die Denkschrift vom 3. Januar 1919 hinsichtlich der Stellung und der Wahl des Präsidenten sowohl das amerikanische als auch das französische System ab. In den USA handele es sich, durch das unverbundene Nebeneinander von Parlament und Präsident, um einen Dualismus, der manche Schäden nach sich ziehe; in Frankreich sei, auf Grund der Präsidentenwahl durch das Parlament, ein „unechter Parlamentarismus gegeben, weil der echte Parlamentarismus zwei einander ungefähr eben-B lainentarisdte Regierung das bewegliche Bindeglied“ bilde „In der parlamentarischen Demokratie . .. erhält der Präsident die ebenbürtige Stellung neben der vom Volke unmittelbar gewählten Volksvertretung nur, wenn er nicht von dieser selbst, sondern unmittelbar vom Volke gewählt wird.“ Dieser Vorschlag der Präsidentenwahl durch das Volk, der bekanntlich zur Annahme gelangt ist, geht nicht unbedingt in erster Linie auf Max Weber zurück, der ihn freilich mit Nachdruck vorgebracht hat

Für die Reichsregierung wünscht die Denkschrift — „im Interesse einer klaren politischen Verantwortlidtkeit — nicht ausdrücklich das Kollegialsystem vorzuschreiben, jedoch sollen die Ressortminister auch nicht unselbständige Kanzlergehilfen wie die Staatssekretäre des Bismarckschen Systems sein, sondern „für ihre Ressortverwaltung als selbständig verantwortliche Staatsmänner dem Parlament gegenüberstehen“. Der Reichstag soll aus „Volkshaus" und „Staatenhaus“ bestehen; „im Staatenhause sitzen die Vertreter der einzelnen Preistaatsvölker als soldte, die als gewählte Vertreter nadt ihrer freien Überzeugung stimmen“. Der Volksentscheid ist für gewisse Fälle vorgesehen, das Volksbegehren -das der Urwählerschaft eingeräumte „Recht der gesetzgeberischen Initiative“ — abgelehnt.

Das Schicksal des Entwurfes, zu dessen Erläuterung und Begründung die Denkschrift gedient hat, ist hier nicht im einzelnen, bis hin zur Verabschiedung der Verfassung, zu verfolgen. Einige erste Einwände und zusätzliche Wünsche führten zu einer vom 20. Januar 1919 datierten Neufassung. Was danach fast sofort preiszugeben war, ist der Gedanke weitgehender Neugliederung des Reichsgebietes, gegen den es auf nahezu allen Seiten — ohne Unterschied von links und rechts oder Nord und Süd — zu erbittertem Widerstand kam. Die endgültige Feststellung des der Nationalversammlung vorzulegenden Entwurfes ist, weil ein durch die Regierungen der Einzelstaaten beschickter Staatenausschuß eingeschaltet wurde, erst am 21. Februar 1919 erfolgt. Diese Fassung liegt der großen einführenden Rede zugrunde, die Preuß, nunmehr Reichsminister des Innern, am 24. Februar vor dem Weimarer Parlament gehalten hat Bei dieser Gelegenheit hat er gesagt, der organisatorische Grundgedanke habe „nicht in klarer Einheitlidrkeit restlos durchgeführt“ werden können, aber wo man im Entwurf „Abbiegungen" oder „Brechungen“ feststelle, seien sie „ohne Ausnahme Erbschaften aus der früheren Verfassung des Kaiserreichs“ — welche nun zu Fremdkörpern gewordenen Reste, so darf man hinzufügen, Preuß selbst gern ausgemerzt gesehen hätte.

Erwähnt sei noch, daß Preuß anfänglich auf die verfassungsmäßige Fixierung von Grundrechten wenig Wert gelegt hat; hier haben ihn die Spuren der Paulskirchenversammlung geschreckt, die mit der Grundrechtsberatung kostbare Zeit vertan und darüber das Organisatorische vernachlässigt hatte. Was das Wahlrecht angeht, so hat sich Preuß — im Gegensatz zu dem ihm sonst nahestehenden Friedrich Naumann — zur Verhältniswahl bekannt. In den ausgedehnten Beratungen, die mit der Annahme der Verfassung durch die Nationalversammlung am 31. Juli 1919 endeten, hat er zwar am entscheidenden Grundsatz, nicht aber am einmal niedergelegten Buchstaben festgehalten. Max Weber, einer der Teilnehmer der ersten Beratung im Dezember 1918, hat ihm die Fähigkeit nachgerühmt, eigene Gedanken ohne „Vaterfreude“ aufzugeben, „feder noch so heterogenen Anregung offen“ zu sein und Verhandlungen „mit glänzender Präzision und Saddichkeit“ zu leiten In der Folgezeit hat Preuß mehrfach zur Feder gegriffen, um die Verfassung oder einzelne Bestimmungen zu erläutern, einen begonnenen größeren Kommentar jedoch, wie bereits gesagt; nicht vollenden können

IX. Wider unsachliche Kritik

Auf die an Preuß geübte Kritik ausführlich einzugehen, ist hier nicht der Raum. Gegen den pauschalen Einwand, seine Lehre sei „undeutsch“, ist sicherlich auf die starken, ja bestimmenden Einflüsse zu verweisen, die er von Stein und von Gierke empfangen hat. Diese Männer sind wohl schwerlich als „undeutsch" zu klassifizieren. Und wenn gesagt worden ist, Preuß habe den „westlichen Parlamentarismus nach Deutschland importiert, so ist der Begriff „Westen“ in dieser, wie in mancher anderen Verbindung, verschwommen und unbrauchbar; nur soviel sei im Vorbeigehen bemerkt, daß die „Mutter der Parlamente , die freilich im geographischen Sinne einem „Westen" angehörende englische Volksvertretung, doch wohl eine Angelegenheit des germanischen Raumes und — wenn es schon einen solchen geben soll — des germanischen Geistes ist. Was das als Fundament, ja gewissermaßen als Urbild anzusehende „Rechtsinstitut lokaler Selbstregierung betrifft, so hatte der Rechts-und Verfassungshistoriker Preuß festzustellen, daß es weit zurückreicht in „jenen alten Redttsboden, der uns einst mit den entfremdeten Vettern jenseits des Kanals und des großen Teiches gemeinsam war“ Im übrigen hat sich die Kritik an Preuß seinerzeit natürlich auch der antisemitischen Note bedient. Aber der Jude Hugo Preuß hat von deutscher Vergangenheit und von den deutschen politischen Erfordernissen, die damals zur Diskussion standen oder hätten stehen sollen, offenbar weit mehr gewußt, als seine antisemitischen und nationalistischen Widersacher, und gewiß hat er Deutschland einen besseren Dienst geleistet, als jene Wegweiser ins Unheil. Deutsches Geistesleben und deutsche Geschichte gaben den Boden ab, aus dem er seine Kraft zog, und es wäre ihm, dem eingewurzelten Berliner, niemals eingefallen, seine Zugehörigkeit zum deutschen Volke in Zweifel zu ziehen. Dieses Volk war und ist ihm nicht nur Dank schuldig, sondern die Verwirklichung seines hohen Ideals, der Einheit von Volk und Staat.

Fussnoten

Fußnoten

  1. S. 365 ff., Simons S. 105 ff.

  2. Erster Band: Entwicklungsgeschichte der deutschen Städteverfassung (ein zweiter Band nicht erschienen).

  3. Staat, Recht und Freiheit, Aus 40 Jahren deutscher Politik und Geschichte, Tübingen 1926 (Vorwort von Else Preuß, Geleitwort von Theodor Heuss). Die Bemühungen des Verfassers, einen Neudruck zu veranlassen, sind erfolglos geblieben.

  4. Hugo Preuß, Berlin 1930 in der Reihe . Meister des Rechts" (als . Lebensbild" bezeichnet, tatsächlich aber, nach kurzer Einführung, Auszüge aus den Schriften).

  5. Tübingen 1930.

  6. Nr. 516 in der Bibliographie „Hochschulschriften zur neueren deutschen Geschichte" (Bonn 1956). Die Arbeit selbst ist vom Verfasser nicht eingesehen.

  7. deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1950,

  8. Das Erbe der Monarchie in der deutschen Staatskrise, München 1954, S. 188 ff.

  9. München 1946.

  10. Die Auffassung von Ernst Fraenkel (Die repräsentative und die plebis-zitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, Tübingen 1958, S. 49), daß Preuß „überhaupt nichts von dem Anliegen einer echten Political Science wußte", ist für den Kenner Preußscher Schriften unverständlich.

  11. Das deutsche Volk und die Politik (1915), S. 89.

  12. a. a. O. S. 110.

  13. Simons S. 58 (aus . Verfassungspolitische Entwicklungen in Deutschland und Westeuropa").

  14. S. 494.

  15. S. 476.

  16. Geleitwort zu „Staat, Recht und Freiheit", S. 21.

  17. S. 489 (1925).

  18. Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften (1889), S. 419.

  19. S. 139/140 (1925).

  20. S. 169 (1891).

  21. S. 512 (1886).

  22. S. 95 (1909).

  23. S. 101 (1909).

  24. S. 337 (1917).

  25. Das deutsche Volk und die Politik (1915), S. 75.

  26. S. 343 (1917).

  27. ebenda.

  28. S. 462 (1922).

  29. S. 513 (1886).

  30. S. 150 (1891).

  31. S. 476.

  32. S. 278.

  33. S. 278/279.

  34. S. 554 (1909).

  35. S. 523 (1888).

  36. S. 551 (1909).

  37. Hier zitiert nach Federici, Der deutsche Liberalismus, Zürich 1946, S. 388 (aus »Deutschlands republikanische Reichsverfassung", 1923).

  38. Das deutsche Volk und die Politik (1915), S. 54.

  39. S. 552 (1909).

  40. ebenda.

  41. Mehrfach, so S. 25 (1908), S. 88 (1909), D. dt. Volk u. d. Pol. S. 92 (1915).

  42. S. 509 (1895).

  43. Simons S. 60 (aus »Verfassungspolitische Entwicklungen in Deutschland und Westeuropa").

  44. S. 521 (1888).

  45. ebenda.

  46. Aufsatz „Liberale und autokratische Revolutionäre“ von 1888, S. 519 ff.

  47. Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften (1889), S. 233 ff., besds. S. 251.

  48. Simons S. 51 (aus „Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveränität").

  49. Verfassungslehre, Neudruck Berlin 1954, S. 272.

  50. S. 251.

  51. S. 11 der Althusius-Auswahl „Grundbegriffe der Politik", Frankfurt/M. o. J.

  52. Das Erbe der Monarchie in der deutschen Staatskrise, München 1954, S. 346.

  53. S. 536 (1887).

  54. ebenda.

  55. ebenda.

  56. S. 168 (1891).

  57. ebenda.

  58. S. 99 (1909).

  59. S. 130.

  60. S. 360.

  61. S. 507/508 (1895).

  62. S. 508 (1895).

  63. Gemeindefreiheit als Rettung Europas, 2. Ausl. Basel 1947. Nicht minder bemerkenswert: Von den Grundlagen des Staates,'Stuttgart 1950.

  64. Der . theoretische Standpunkt“ von Preuß . kam schon einer kommunalen Autonomie nahe“ (Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1950, S. 752).

  65. S. 472.

  66. S. 370 (Denkschrift vom 3. Januar i.

  67. S. 163 (1891).

  68. S. 164 (1891).

  69. S. 235 ff. (1903).

  70. S. 167 (1891).

  71. S. 491 (1925).

  72. S. 492 (1925).

  73. S. 493 (1925).

  74. S 170 (1891).

  75. S. 549 (1888).

  76. ebenda.

  77. ebenda.

  78. Simons S. 51 (aus «Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveräni

  79. S. 250 (1903).

  80. Der Strukturwandel der modernen Demokratie, Karlsruhe 1952. Neuerdings erweiterte Fassung in: Strukturprobleme der modernen Demokratie, Karlsruhe 1958.

  81. S. 364 (1918).

  82. S. 72 (1908).

  83. ebenda.

  84. Das deutsche Genossenschaftsrecht, I, 1868, unveränderter Nachdruck Graz 1954, S. 333.

  85. Gesamtdarstellung durch den Verfasser: Die Republik der Nachbarn, Die Nachbarschaft und der Staatsgedanke Artur Mahrauns, Gießen 1957. Auch: Ein neues Ordnungsbild, im Auftrage der Artur-Mahraun-Gesellschaft herausgegeben von Wolfgang Lohmüller, Gießen 1960.

  86. Eine «vereinfachende Legende” (Theodor Heuss im Geleitwort zu «Staat, Recht und Freiheit”, S. 18).

  87. S. 290 ff. Bei Simons (S. 94 ff.) nur die Einführung.

  88. Diesem Vorschlag galt wohl ein von Preuß 1917 in der «Frankfurter Zeitung", Nr. 228, veröffentlichter Aufsatz „Wahlen ohne Wahlkreise", den der Verfasser nicht einsah. Die Stimmensammlung im gesamten Wahlgebiet, ohne dessen Einteilung in Wahlkreise, hat auch Paul de Lagarde einmal befürwortet] Artur Mahraun schlug sie 1931 für die Wahl einer verfassung-gebenden Nationalversammlung vor. Durchweg liegt die Absicht zugrunde, parteilich nicht gebundenen Persönlichkeiten, die über eine sporadisch verteilte Anhängerschaft verfügen, eine Chance zu geben.

  89. vgl. oben S. 698 („durch die Reform eine Nation bilden").

  90. S. 368 ff. Audi Simons S. 109 ff. (gekürzt).

  91. Geschichte der Weimarer Republik, Erster Band, Erlenbach-Zürich 1957, S. 81.

  92. Geleitwort zu „Staat, Recht und Freiheit", S. 19.

  93. Geschichte der Weimarer Verfassung, München 1946, S. 62.

  94. Die Aufteilung Preußens haben im Winter 1918/19 auch Meinecke, Anschütz, Delbrück und der frühere preußische Innenminister Drews befürwortet (Heffter a. a. O., S. 769).

  95. Deutsche Reichsgliederung und Reichsreform in Vergangenheit und Gegenwart, Leipzig 1932, S. 156.

  96. „Freie Selbstbestimmung der Bevölkerungen“, S. 379.

  97. Geschichte der Weimarer Republik, I, S. 82.

  98. Deutsche Reichsgliederung und Reichsreform, S. 81.

  99. Ellinor v. Puttkamer, Föderative Elemente im deutschen Staatsrecht seit 1648, Göttingen 1955, S. 14.

  100. S. 382 (Denkschrift vom 3. Januar 1919).

  101. Auf den Linfluß von Robert Redslob (Die parlamentarische Regierung In ihrer wahren und in ihrer unechten Form, Tübingen 1918) haben neuerdings hingewiesen Wolfgang J. Mommsen (Max Weber und die deutsche Politik 1890— 1920, Tübingen 1959, S. 342 ff.) und Ernst Fraenkel (Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, Tübingen 1958, S. 51 ff.).

  102. Max Weber, Gesammelte politische Schriften, 2. Ausl. Tübingen 1958, besonders S. 486 ff. (Berliner Börsenzeitung vom 25. Februar 1919). Nach Wolfgang J. Mommsen (a. a. O. S. 347) kann man die „Auffassung, daß sich Hugo Preuß in erster Linie von Max Weber dazu habe bestimmen lassen, die plebiszitäre Wahl des Reichspräsidenten durchzusetzen, nicht uneingeschränkt aufrechterhalten'.

  103. S. 394 ff. Gekürzt in der Wochenzeitung „Das Parlament", Sondernummer . Protokolle der Nationalversammlung", Nr. 33/34 vom 12. August 1959.

  104. Brief an Preuß vom 25. Dezember 1918 (Mommsen S. 366).

  105. Als Fragment 1928 unter dem Titel . Reich und Länder“ veröffentlicht, Vorwort von Gerhard Anschütz.

  106. Das deutsche Volk und die Politik (1915), S. 70.

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