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An Politik nicht interessiert?... | APuZ 48/1960 | bpb.de

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APuZ 48/1960 An Politik nicht interessiert?...

An Politik nicht interessiert?...

Walter Jaide

Mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Studienbüros für Jugendfragen, Bonn, werden nachfolgend die Ergebnisse einer Untersuchung über die politische Einstellung heutiger Jugendlicher in Niedersachsen, Bremen und Hamburg veröffentlicht.

Bevor man ein Bild zeichnet über einen Sachverhalt — wie die politische Einstellung heutiger Jugendlicher — muß man sagen, wie man zu derartigen Ergebnissen gekommen ist, d. h., man muß die wissenschaftliche Methodik erörtern, die man angewandt hat — wenigstens mit Hilfe einiger unerläßlicher Vorbemerkungen: 1. Es wurden keine Fragebogen verschickt, es wurden nicht Schüleraufsätze gesammelt, es wurden keine Formalinterviews im Stile der Meinungsbefragungen durchgeführt. Stattdessen wurden die Jugendlichen exploriert, d. h. einzeln ins Gespräch gezogen, und zwar in ein vor-bedachtes, gelenktes, elastisch geführtes, ausgiebiges und wiederholtes Einzelgespräch, in dem auch für völlig freie Aussprachen Muße blieb. 2. Solche Explorationsgespräche wurden mit den betreffenden Jugendlichen nicht nur über politische Fragen geführt, sondern über alle wesentlichen Lebensfragen, die junge Menschen bewegen mögen: über Religion ebenso ausführlich wie über Freizeitverwendung. Ja, darüber hinaus ist auch ein Gesamtbild über das tatsächliche Verhalten jedes einzelnen Jugendlichen in Schulklasse, Lehrbetrieb, Schule, Familie usw. erarbeitet worden.

Denn es genügt keinesfalls, nur wortwörtliche Äußerungen zu gewinnen, ohne daß sie in einem Gesamtbild erst ihren Aussagewert erhalten. Dafür ein illustratives Beispiel:

Ein recht passiver, farbloser Mittelschüler beklagt sich im Gespräch darüber, daß er eine Klassenfahrt an die Mosel hätte mitmachen müssen; man laufe da wer weiß wohin, erst einen Berg rauf, dann wieder runter, für nichts und wieder nichts — da bleibe er lieber zu Hause. Derselbe schreibt in einem Schulaufsatz: „Ich habe solches Mitleid mit Menschen, die wegen der Freiheit ihr Vaterland verlassen müssen, und ich werde daher mit all meiner Kraft dafür kämpfen und kämpfen, bis Deutschland wieder in Freiheit vereint ist.“

Sofern im folgenden Aussagen der Jugendlichen zitiert werden, sind sie stets auf ihre Glaubwürdigkeit und Ernsthaftigkeit von Seiten des einzelnen Jugendlichen kontrolliert worden.

3. Natürlich kann man mit einer solchen monographischen Methode keine großen Zahlen von Jugendlichen untersuchen: man kann aber die jugendlichen Gesprächspartner sorgfältig auswählen und „streuen“: d. h. in angemessener Zahl aus beiden Geschlechtern, unter Begabten und weniger Begabten, Schüchternen und Redseligen, aus Dörfern, Klein-, Mittel-, Großstädten, aus Volksschulen, Berufs-, Mittel-, Oberschulen aussuchen und man kann sich auf eine nicht zu weite Altersgruppe und eine bestimmte Landschaft beschränken, um innerhalb dieser Grenzen die Variationsbreite der Einstellungen verbindlich zu erfassen.

Das ist geschehen: Etwa 5 50 Jugendliche der Geburtsjahrgänge 1941 bis 1944 (also 15— 18jährige aus Niedersachsen, Bremen und Hamburg sind in der Zeit von Oktober 1958 bis April 1960 — im Auftrage des Deutschen Studienbüros für Jugendfragen, Bonn — zu einer solchen Begegnung herangezogen, d. h. eigentlich herzugebeten worden. Und ich kann sagen, daß diese jungen Menschen die Gespräche und Auskünfte zu ihrer eigenen Sache gemacht und sehr offenherzig und bereitwillig daran teilgenommen, ja, mitgearbeitet haben. 4. Im Rahmen der Explorationen sind den Jugendlichen u. a. Bild-reproduktionen und Stichwörter vorgelegt worden, die den allzu direkten Bezug zwischen Jugendlichem und Untersuchet in der Explorationssituation auflockern und entlasten und den Jugendlichen einen möglichst weiten Projektionsrahmen für ihre Gedanken öffnen sollten, wobei allerdings gewissenhaft eine direkte Beeinflussung vermieden wurde.

Es handelte sich dabei um 14 Bildreproduktionen:

1. Junge mit Bettelsack (Foto: „Family of man“ -Ausstellung)

2. Vertreibung aus dem Warschauer Ghetto (Foto dto.)

3. Käthe Kollwitz „Brot"

4. Werner „Kaiserproklamation in Versailles"

5. Mutter mit weinendem Kind (Foto s. o.)

6. Uhde „Tischgebet"

7. Dieter „Spargroschen"

8. Correggio „Die heilige Familie“

9. Barlach „Kruzifix“

10. Jazz—Keller (Foto s. o.)

11. Wandergruppe (Foto)

12. Thoma „Blick ins Tal“

13. Arbeiterin (Foto s. o.)

14. Monteure bei einer Ölpumpe (Foto: Esso-Archiv) und um 41 Stichwörter in vier Gruppen:

1. Jesus, Bibel, Die zehn Gebote, Rom, Lourdes, Mönch, Luther, Konfirmation.

2. Bismarck, Hitler, Gandhi, Tito, UNO, Rußland, Potsdam, Hiroshima, Berlin, 20. Juli 1944, 17. Juni 1953, Algerien.

3. 1. Mai, Gewerkschaft, Fünf-Tage-Woche, Haus und Auto, Arbeitslosigkeit, Schule, Gleichberechtigung der Geschlechter, Nitrit, Brüssel 1958.

4. Henri Dunan (DRK), Albert Schweitzer, Porsche, Fritz Walter, Grace Kelly, Curd Jürgens, Marina Vlady, Soraya, Hobby, Hollywood, Italienreise, „Mach es Dir bequem".

Angesichts dieser Bilder bzw. Stichwörter wurde der Jugendliche aufgefordert, sich drei der Bilder (dem Thema nach — unangesehen des Darstellungsstils und der Reproduktion) auszuwählen sowie aus jeder Stichwortgruppe ein Stichwort, worüber er sich mit dem Untersucher unterhalten mochte. Dabei haben sich relativ zwanglose, inhaltsreiche Unterhaltungen ergeben, die sich dialogisch ausweiten oder explorativ vertiefen ließen oder einer monologischen Selbstdarstellung von Seiten des Jugendlichen Raum gaben. Es wurde also nicht jeder nach Hitler oder Bismarck abgefragt. Nur wer von sich aus ein solches Stichwort oder Bild wählte, hat sich darüber geäußert. Solche Auskünfte dürften mehr oder minder den Charakter des Ungezwungenen, Unmanipulierten, Ernsthaften, Persönlichen tragen, und darauf kam es in erster Linie an.

Ich muß es mir versagen, Problematik und Handwerk der Exploration hier näher zu erörtern. Jedoch möchte ich die methodologische Bevorzugung mündlicher, direkter Einzelbegegnungen zwischen Jugendlichem und Untersucher mit Hilfe sprachpsychologischer Argumente und Erfahrungen verständlich machen:

Bei jeglicher Meinungsfrage (die also nicht auf bloße Sachverhalte, sondern auf Einstellungen und Beweggründe zielt) spielt die sprachliche Formulierung eine sehr wichtige Rolle. Wenn man z. B.fragen würde (wie geschehen): „Interessieren" Sie sich für „Politik"? Kennen Sie eine „Idee", für die sie sich „begeistern“ können? — so muß man damit rechnen, daß einer solchen Terminologie nicht nur unterschiedliche Bedeutungen und Wertempfindungen, sondern sogar der Beiklang eines unterlegt abgebrauchten, phrasenhaften Sprachtenors wird, was die Beantwortung erheblich und unkontrollierbar beeinträchtigt. Schon das Wort „Politik“ ist natürlich nicht unbelastet und wird von manchen als Parteiengezänk oder als militärische Machtrivalität aufgefaßt und deshalb abgelehnt. „Etwas ändern zu können“, d. h. auf die Politik Einfluß nehmen zu können, wird in so knapper Fragestellung verständlicherweise als eine Manageraufgabe in schwer durchschaubaren Riesenorganisationen jenseits des Radius der persönlichen Einwirkung und Verantwortung gesehen — ähnlich wie ein „Weltverbessern". Die bedachte Abgabe der Wählerstimme allein wird meist nicht als besondere Einwirkungsmöglichkeit aus persönlicher Entscheidung gewertet. Andererseits kann man unbeabsichtigt schülerhafte Allgemeinbildungsansprüche anschneiden („Haben Sie Interesse an ..."?) und damit viele löbliche, aber nicht ernst gemeinte Klischeeaussagen in die Scheuer bringen — oder schülerhafte Ablehnungen ernten, die dem „Jungenfach" Geschichte und gar nicht aktuellen politischen Zusammenhängen gelten. Für Kopfschütteln, Achselzucken oder beflissenes Nicken weist ein Fragebogen keine Symbole auf.

Erst recht, wenn man inhaltsbezogene Termini wie „Reich“ oder „Nation“ oder „Vaterland“ oder „Wir Deutsche“ in der Fragestellung kommentarlos verwendet, bekommt man evtl, daraufhin Stellungnahmen zu hören, die nicht dem erfragten Sachverhalt bzw. Wert an sich, sondern einer zeitbedingten Ausprägung und einem daraus resultierenden Sprachbrauch gelten.

Gar staatsbürgerliche Kenntnisse über die Einflußstellen und Wirkungsweisen, Rechtsgrundlagen und Apparaturen von Gesetzgebung und Verwaltung, Kontrolle und Rechtsprechung werden (natürlich) unzulänglich beantwortet.

Mit alledem gewinnt man noch kein Bild von der tatsächlichen Anteilnahme der Jugendlichen am politischen Geschehen. Stattdessen bot sich in unserer Untersuchung ein wohl etwas fruchtbarerer Ansatz u. a. in den den Jugendlichen zugewiesenen Präferenzen und Kommentaren bezüglich der (erwähnten) Bilder und Stichwörter an.

Zunächst hat die Auswahl von Seiten der Jugendlichen als solche ein merkwürdiges Ergebnis erbracht: Unter den Bildreproduktionen wurden — von harten Altersklasseninteressen (Jazz-Keller, Wandergruppe) abgesehen — gerade diejenigen mit politisch und sozialpolitisch erschütterndem Inhalt bevorzugt:

Junge mit Bettelsack, Käthe Kollwitz „Brot“, Warschauer Ghetto.

Dabei hat die (leider schwer vermeidbare) Unterschiedlichkeit der Bildwirksamkeit sicher nicht den Ausschlag gegeben.

Unter den Stichwörtern politischen Inhalts wurden ebenfalls die am meisten problematischen bevorzugt:

Hitler, 20. Juli 1944, Hiroshima, (ferner noch Algerien und Bismarck).

Auch wenn man in Betracht zieht, daß durch den Untersucher in der Beschränkung auf die vorgelegten Bilder und Stichwörter bereits eine gewisse Vorentscheidung getroffen worden und die Stellungnahme der Jugendlichen nicht völlig spontan geblieben ist, so läßt sich doch nicht leugnen, daß mindestens ein Drittel dieser 5 50 Jugendlichen erregenden, ungelösten, heiklen politischen bzw. sozial-politischen Fragen keineswegs ausgewichen ist. „Nein, warum sollte man sich etwas Bedrüdtendes (Kollwitz Brot) nicht ansehen? Man soll sich das Elend nicht vorn Halse halten. Man kennt soldte Dinge nidit, aber das gibt es. Deshalb berührt es einen so stark.“ (m) ) * „Hitler hat unschuldige Frauen und Kinder unigebracht, ebenso die Juden unschuldig vernidttet. Man kann nicht oft genug darauf hinweisen, und muß mit allen Mitteln verhindern, daß es niemals wieder zu so einer wahnsinnigen Auseinandersetzung kommt!“ (w)

„Ich verstehe diese Ohne-Mich-Typen nicht. Das ist doch grundfalsch. Wenn alle Menschen so denken würden, wäre das ein Machtblock, der sich sehr schlecht auswirken würde. Demokratie ist eben nur für Völker, die reif dafür sind. Das kann man von Deutschland nidit sagen. Auch das Parteiensystem ist in Deutsddand nicht auf dem richtigen Wege. Gesunde Opposition macht die Suppe der Politik erst salzig.“ (m)

Die vielberufene Problemscheu, Befremdung, Gleichgültigkeit oder Bequemlichkeit scheint in dieser nachwachsenden Generation nicht mehr den Ton anzugeben. Man kann sie damit nicht charakterisieren, das Übergewicht der anderen Stimmen ist zu stark. Idi bin in der Tat der Meinung (kann es nur in diesem Zusammenhang nicht weiter begründen), daß mit diesen Siebzehnjährigen eine neue Jahrgangsgruppe von spezifischer Eigenart beginnt, die andere Wesenszüge trägt als die von Schelsky so genannte „Skeptische Generation“.

Freilich könnten auch unverbindliche Kintopprührseligkeit oder schülerhafte Beflissenheit eine politische Anteilnahme vortäuschen. Dem widersprechen jedoch die Aussagen der Jugendlichen zu den erwähnten Gesprächsanlässen wie auch zu den übrigen Themen der Untersuchung. Diese Jugendlichen verfügen über allerlei Informationen und bekunden — von den Desinteressierten und den ganz Naiven abgesehen — sowohl ein gesundes unverschüttetes Mitempfinden mit den dargestellten Nöten und Scheußlichkeiten wie gewisse vernünftige vorpolitische Grundvorstellungen und Maximen und das Bemühen um ein unbefangen abwägendes Urteil.

Das möchte ich nun (anhand der Auskünfte der Jugendlichen) eingehender darstellen, und zwar in bezug auf vier aneinander anschließende Meinungskomplexe:

Rassenfrage, Hitler und Nationalsozialismus, Bismarck und Nationalismus, Demokratie oder Autoritarismus. 1. Das erste Unterthema behandele ich deshalb einleitend, weil gerade das Ghetto-Bild so häufig gewählt und als Gesprächsanstoß sehr ergiebig geworden ist, weil diese Aussagen wichtige Schlüsse auf die politische Mentalität der untersuchten Jugendlichen überhaupt zulassen und weil aus der Judenverfolgung die Verurteilung Hitlers ihre stärksten Argumente und Emotionen bezieht.

Nur verschwindend wenige Jugendliche haben sich vor der Judenfrage in die Indifferenz zurückgezogen — mit Redensarten wie: „ . . . wir gleichgültig, kenne keine Juden . . . verstehe, daß wan das in der Schule verschweigt . . . ist ja auch schon lange her und schon viel zu viel darüber geredet worden . . . man soll es wissen, aber es interessiert wich nicht.“

Die überwiegende Zahl nimmt dazu entschieden und nicht ohne — n. b. monographisch beglaubigte — leidenschaftliche Anteilnahme und Entrüstung Stellung. Sie sprechen von unkontrollierter Diskriminierung, entartetem Haß, blindem Gehorsam, unmenschlichem Mißbrauch der Macht, Grausamkeit an Wehrlosen, ängstlichem Tolerieren des Unrechts sowie von Entsühnung und Wiedergutmachung. „Hat wirklich niewand davon gewußt? Das ist das traurigste Kapitel in der deutschen Geschichte. Nach dew Sklavenhandel hat es nichts Schliwweres gegeben. Solch einen Wahnsinn darf es nie wieder geben. Wir haben uns beschwatzt. Daran werden wir noch lange zu tragen haben, das kann wan nicht nur wit Geld wieder gutwachen.“ (m)

Die großen Leiden und Verbrechen in der Geschichte der Menschheit scheinen — auch bei diesen Jugendlichen wieder — den Platz unvergänglicher Aktualität einzunehmen. „Na, und die Konzentrationslager, das ist das größte Unrecht was sich das deutsche Volk aufgeladen hat. Ich finde es heute noch schrecklich, daß die ältere Generation iwwer sagt, wir haben nichts davon gewußt. Sollten sie doch ihre Schuld anerkennen . . . Wie viele haben einfach witgewacht, nur uw voranzukowwen.“ (w)

„Die K'z's waren schließlich so vervollkowwnet, daß sie Totenwaschinen waren.

So etwas kann es nur in einer Diktatur geben.“ (m)

Diese Jugendlichen haben sich durch Zeitung, Rundfunk, Jugend-forum, Schulunterricht, „Nacht und Nebel", „Anne Frank“ o. a. Eindrücke und Vorstellungen verschafft; sie beklagen, daß sie nicht gründlicher darüber unterrichtet werden, sondern daß viele Erwachsene (Eltern, Lehrer) die Tatsachen (aus Beschämung) vertuschen oder mit Ausreden übergehen.

Viele dieser Jugendlichen — und das ist vielleicht generationstypisch — pflegen die angeregten Sachverhalte spontan in weitere Zusammenhänge einzugliedern, mit ähnlichen Tatbeständen zu vergleichen und durch Rückblicke und Vorausblicke in ihrer allgemeineren Bedeutung und fortdauernden Aktualität zu kommentieren. So verurteilen sie mit vollem Herzen — sei es aus religiösen, moralischen, humanen, politischen Gründen — die Judenverfolgungen in der übrigen Weltgeschichte, und ohne freilich die Problematik im einzelnen überschauen zu können, die Rassendiskriminierung in den LISA, die Algerienpolitik in Frankreich (und neuerdings die Apartheitpolitik der Südafrikanischen Union). Ohne das bittere Ausmaß der Tragödie der deutschen Juden verkleinern zu wollen, wünschen sie das Problem in seiner ganzen Breite — allseitig, ehrlich, ohne taktische Rücksichten — behandelt zu sehen. Das ist ihr gutes Recht als junge Menschen, und darin sind sie gottlob junge Menschen wie eh und je. „Das ist eine tolle Ungerechtigkeit in Awerika. Sie bilden sich so viel ein auf die Verfassung und die Menschenrechte, und dann gibt es da solche Sachen.“ (m)

„Ich finde, es ist die größte Schwäche, die Frankreich gezeigt hat, anderen Ländern geben sie die Freiheit, aber gegen die Algerier wird jahrelang Krieg geführt. Eines Tages müssen sie sowieso nachgeben, wenn sie nicht das Ansehen in der Welt verlieren wollen" (w)

Nur eine kleinere Gruppe gerät aus diesem Hang zu einer vielseitigen Betrachtung des Problems in die Gefahr, sich zu verirren. Ihre Angehörigen akzeptieren etwas rasch, daß die Deutschen unter Hitlers Diktatur von alledem nichts gewußt haben und ohne Verantwortung dafür seien; eine Wiedergutmachung solle man nur in engen Grenzen erbringen. Sie vermuten, daß doch auch bei den Juden eine Mitschuld vorliegen müsse, wenn es immer wieder zu Judenverfolgungen in der Welt komme — bei ihnen macht sich eine „Aufrechnungs“ -Tendenz bemerkbar — und sie reden nach, daß Juden unverhältnismäßig höchste Macht-, Besitz-und Berufspositionen innegehabt hätten. Trotzdem verurteilen sie ihre Ausrottung als unmenschlich, wahnsinnig oder zumindest dumm; für die nazistische biologische Rassenidee zeigen auch sie kein Verständnis. „Ich möchte wich darüber nicht weiter auslassen, weil ich zu verschiedene Dinge darüber gehört habe. Man kann dafür nicht einen Menschen allein verantwortlich wachen. Ich würde nur sagen, wir müssen versuchen, daß alle zusawwen diese Schuld wieder gutwachen. Denn keiner hat das Recht, über einen anderen zu richten." (w)

Nur 4 unter 550 — und es spräche gegen die Glaubwürdigkeit dieser Untersuchung, kämen solche Ausnahmen nicht zum Vorschein — bekennen sich zu einer antisemitischen Einstellung. „Juden sind Parasiten.“ (m)

„Das wit dem Ghetto war richtig, gegen die Leute wußte wan ja vorgehen und einwal richtig aufräumen.“ (m) „Hitler wußte die Juden umbringen, weil sie nicht seiner Meinung waren und iw Krieg alle einig sein müssen. Eine Wiedergutmachung ist gar nicht nötig. Den Juden geht es ja heute auch nidit schlecht.“ (m)

Ich glaube nicht, daß diese vier Jugendlichen nun etwa die lautgebenden Exponenten einer getarnten, schweigsamen Minderheit, gar einer größeren Gruppe oder Masse sind; es sind Ausnahmen und Einzelgänger; und es wäre unnatürlich, wenn es nidit auch solche gäbe. Nicht von ihnen her, nicht von einem unterirdischen, unausgeheilten Infektionsherd droht der politischen Gesinnungsbildung dieser Jugendlichen Gefahr — als viel offenkundiger von den zutage liegenden Ereignissen in den USA, Algerien, Südafrika. Dementsprechend werden auch die Hakenkreuzschmierereien jüngeren Datums von der Mehrzahl der Jugendlichen als nicht politisch gemeinte Torheiten von Einzelgängern beurteilt. „Weil durch Rundfunk und Presse der einzelne Fall so verbreitet wurde, deswegen ist es erst so schlimm geworden.“ (m) 2. Auch gegenüber Hitler und dem Nationalsozialismus überwiegt die entschiedene, glaubhafte, nicht unkundige Ablehnung, die ihr stärkstes Argument der Judenausrottung entnimmt. Dabei habe Hitler — selber krank, maßlos, haßverzehrt, ekstatisch, wahnsinnig — unausgelebte Mörderinstinkte geweckt und für seinen Rassenwahn nutzbar gemacht. Gleich dahinter rangiert als Ablehnungsargument seine dämonische Machtgier, die eine törichte Lebensraum-Außenpolitik und einen unsinnig geführten Krieg zur Folge gehabt habe. Warum, wird (schülerhaft?) gefragt, haben die Deutschen nicht vorher „Mein Kampf“ gelesen, in dem Hitler ja seine Ziele dargelegt und seinen Fanatismus offenbart hat? Unverständlich, wie dieser „Teufel“ im deutschen Volke Wahlstimmen, Beifall, Vertrauen, ja Hingabe habe finden können. „Wie konnte er nur ein ganzes Volk in seinen Bann ziehen? Wie konnte man ihm alles glauben? Ich kann mir gar nicht denken, daß von seinen Taten nichts durchgesickert ist. Daß Menichen verschwinden, muß doch aufgefallen sein." (w)

„Lächerlich, wie sich die Erwachsenen heute stellen. Man sollte sagen, jawohl, wir waren dabei, wir sind betrogen worden.“ (w) „Er befahl weiter zu kämpfen, wenn er auch wußte, daß es unmöglich war. Er nahm sich feige das Leben. Und dieser Mann soll ein Vorbild und Führer gewesen sein. Mich wundert es eigentlich, daß nicht mehr Menschen versucht haben, dem sinnlosen Menschenopfer ein Ende zu bereiten. Sie wußten wohl nicht, wie sie sich als einzelne dagegen wehren sollten.“ (m) „Hitler hatte schuld an dem Kriege ... er war kein Geistesathlet, früher ziemlich faul und hatte verworrene politische Ansiditen . . . doch sdrlimmer als der Krieg war seine Rassenlehre. Sein eigentlidtes Ziel war die Macht als solche. Er zielte auf Abrüstung hin, um Europa zu besetzen und die Weltherrschaft zu erlangen. Seine Machtgier war das Wesentliche an ihm und der Haß gegen die Juden, an dem er sich berauschte. Im normalen Beruf wäre er nicht weit gekommen. Er sprach mitreißend, aber nicht logisch, sondern nur in Bildern und er glaubte selbst bis zum letzten Augenblid^ daran.“ (m)

Diese Jugendlichen zeigen keinen Agnostizismus oder Defaitismus, sondern stellen deutliche Fragen und ziehen ein Fazit gegen Tyrannei, Entrechtung und Massenmord.

Stärker als in der Rassenfrage ist bei diesem Thema nun eine Mittel-gruppe, die die Konzeption Hitlers als alleinschuldigen Verbrecher, als absoluten Bösewicht (vorerst) nicht mitvollziehen mag. Sie glaubt es dem Prinzip der historischen Objektivität zumal bei noch nicht abgeschlossener Forschung schuldig zu sein, einer mehrschichtigen und vielseitigen Deutung der deutschen Katastrophe nachzugehen. Dabei spielt auch jugendlicher Vorbehalt gegenüber der Belehrung durch Erwachsene („alles sagt man uns doch nicht, wir hören nur immer das Negative“) sowie der anerkennenswerte Hang zu einem ausgewogenen, erst allmählich zu erreichenden Urteil eine Rolle. Man sollte es dieser Gruppe zugute halten, daß ja auch für den reifen Menschen der Gedanke des Hereinfalls auf einen einzigen Verbrecher als entscheidend wirksamen Motor einer Geschichtsepoche nicht vollziehbar ist.

Manche dieser Jugendlichen weichen freilich auch nur auf eine Verharmlosung der Geschehnisse aus.

Die Mittelgruppe als ganze sucht also weitere Erklärungen und Schuldige für die Nazizeit und erwägt dabei die politische und wirtschaftliche Notlage Deutschlands vor der Machtergreifung, die „Unfähigkeit“ der vorangehenden Regierungen, die Reparationsforderungen der Alliierten, die Verzweiflung der fünf Millionen Arbeitslosen, die vermeintliche „Macht“ der Juden, die Leichtfertigkeit des reaktionären Bürgertums, der Großindustrie und des Militärs, die auf Hitler gesetzt haben und ihn benutzen wollten, dann aber von ihm mißbraucht worden sind. Diese Jugendlichen bringen auch Hitlers agitatorisches Geschick („er packte die Massen“) und die Anfälligkeit der Masse dafür in Anschlag. „Man soll Hitler nicht zum Sündenbock für alles machen. Die meisten hatten ihn ja gewählt und sind ihm begeistert gefolgt. Sie sahen in ihm den Wundertäter, dem alles gelang, der ihnen die eigene Verantwortung abnahm. Mit seiner Redekunst überzeugte er das Volk von seinen angeblich guten Absichten, bis sie ihm blind folgten ... er hat ja audt gute Sachen gemacht, die Autobahnen gebaut und die Arbeitslosen abgeschafft, sagen meine Eltern. Er ist wohl erst allmählich wahnsinnig geworden, wie Napoleon auch.“ (w)

Etwas derartiges wie eine pseudolegale Machtergreifung, wie Manipulationen der Massenmeinung mit Hilfe moderner Massenmedien liegt wohl noch jenseits ihrer gedanklichen Fassungskraft. „Seine Reden fesselten, er wußte, wie man die Masse in die Gewalt bekommt. In Deutschland waren Fehlschläge der Regierung an der Tagesordnung. Nun kamen Erfolge. Die Jugend war begeistert, wurde vom Kampfgeist mitgerissen. Hitler stieg aus niedersten Schichten empor und mußte von unheimlicher innerer Gewalt bewegt sein, um nach dem Scheitern an der Feldherrnhalle noch weiter zu kämpfen.“ (m) „Alle waren dafür, er konnte ja auch nicht wissen, was das für Folgen haben würde. Der Beifall trieb ihn in den Größenwahn.“ (m)

„Hitler hat in „Mein Kampf“ vor seinem eigenen Dämon warnen wollen.“ (w)

Von dieser Position aus ist es nicht mehr weit zu den Ansätzen einer Legendenbildung, die (auf sehr grobe, märchenhafte Formeln gebracht) lautet: Hitler sei teils gut — teils schlecht, in der Idee gut — in den Mitteln schlecht, zu den Deutschen gut — nur zu den Juden schlecht, erst gut — später schlecht gewesen.

Er habe auch viel Gutes getan: Arbeitslose und Sittlichkeitsverbrecher abgeschafft, Autobahnen und Volksempfänger gebaut, den Arbeitsdienst eingeführt und Deutschland wieder zu Ansehen in der Welt gebracht. Er sei „Idealist“ gewesen und habe zuerst ganz gute Gedanken gehabt, allerdings später Fehler gemacht und sei dann ins Böse umgeschlagen, wahnsinnig und zum Massenmöder geworden. Die zum NS-System gehörende Reziprozität von legal und illegal, moralisch und kriminell ist für diese Siebzehnjährigen noch schwer verständlich.

Nur vereinzelte Stimmen gibt es — und auch das spricht für die vertrauensvolle Offenherzigkeit der Jugendlichen — die Hitler anerkennen und bewundern. „Ich bewundere den Mann, seine Überzeugungskraft und sein Organisationstalent. Das deutsche Volk ist ein Herdentier und muß so geführt werden. Wie großartig hat er alle übertölpelt!“ (m)

„Was die Nazis alles so geleistet haben! Was Hitler fertig gekriegt hat, kriegt heute keiner hin. Wie der Rußland geschlagen hat, kriegen es die Amis nie hin. Er hat gesorgt, daß alle Arbeit hatten. Wenn er das mit den Juden nicht gemacht hätte, sonst war er ganz prima.“ (m)

Auch die Zahl der Indifferenten, völlig Unsicheren oder Ahnungslosen ist gering, wenn auch nicht so gering wie in der Rassenfrage.

„Hitler? Ein Führer wie Adenauer so. Die machen Politik.“ (m) „Na ja, das gehört heute zur Allgemeinbildung, aber es interessiert mich nicht. Man konnte ja doch nichts dran ändern und es ist ja auch vorbei.“ (w)

Die Angehörigen der Mittelgruppe (bei beiden Fragekomplexen), sofern sie nicht einer törichten Legendenbildung zuneigen, haben mit den entschieden Ablehnenden zweierlei gemeinsam: eine im ganzen anerkennenswerte Beschlagenheit über die Tatsachen — und eine recht ausdrückliche Reserve vor einseitigen, eilfertigen, schablonierten Bierbankmeinungen, vor dem Ineinentopfwerfen aller politischen Gegner, vor bloßer Akzeptierung dessen, was man sie lehrt oder was sie sonst zu hören bekommen, und vor opportuner Konformierung damit. Und das ist verheißungsvoll für den Typus und die Genese ihrer politischen Einstellung, welches auch die vorläufigen Inhalte dieser Einstellung bei manchen sein mögen.

Dazu gehört auch die Abneigung gegenüber pathetischen, zerknirschten Unterstreichungen und Übertreibungen sowie gegenüber apodiktischen Scheltereien, die dem Generationsdialekt dieser Jugendlichen, der viel eher das Understatement liebt, völlig zuwider sind. Gerade len, nimmt für sie ein. Ihre politische Emotionalität scheint nicht verflacht, sondern (wohltuend) temperiert zu sein. „Wir wollen ein sachliches Urteil gewinnen, nicht intnter nur Ablehnung hören.“ (m)

„Keine Wallfahrt nach Belsen" (w) „Man sollte unparteiisch sein, weine Eltern können es noch nicht und unseren Lehrern ist manches so peinlich, aber die Jugend könnte es." (m)

Die „Bewältigung der Vergangenheit“ mögen sie nicht im Stile redseliger, herabwürdigender Selbstanklagen vor dem Forum der Weltöffentlichkeit mitvollziehen. Sie sind zwar bereit, so etwas wie Kollektivschuld anzuerkennen, aber entweder so vielseitig, daß jegliche Mitschuld erfaßt wird — oder entre nous, im stillen Kämmerlein des eigenen (sit venia verbo) Vaterlandes!

An solchen Einstellungskomponenten erlebt man, wie empfindlich wir als Deutsche wohl generell uns anstellen, wenn wir uns mit unserem historischen Schicksal als Volk und mit dem politischen Vollzug dieses Schicksals in der Gegenwart identifizieren sollen. Man muß es respektieren, daß diese jungen Menschen sich überhaupt wieder darum mühen, und man muß ihnen mit sehr großer Behutsamkeit dabei zur Seite stehen.

Hier liegt eine der Wurzeln des wohl fälschlich so genannten „NeoNationalismus“ dieser Jahrgänge. Sie sind sich einfach jugendlich schamhaft und unvoreingenommen der Tatsache bewußt, daß wir als Deutsche eine Lebens-, Kultur-, Schicksalsgemeinschaft bilden, innerhalb der wir mit unserer Geschichte fertig werden müssen, innerhalb der auch Hitler kein bloßer Fremdkörper war — und zwar sachlich bescheiden, tolerant, lauter, damit wir zunächst vor uns selber und erst dann auch vor dem Ausland zu dieser Schicksalsbindung ja sagen können.

Es handelt sich also nicht um einen „Nationalismus“, sondern um ein Empfinden dafür, daß es so etwas gibt wie ein Lebensfundament Volk — und zwar als Tatsache wie als Wert. Man mag dieses Lebensfundament einbetten in größere politische Konzeptionen, man mag es auch kritisch betrachten, aber man mag es nicht annullieren oder diffamieren.

Hierbei geht es um ein Problem von größter Tragweite: Mancher Sachverhalt, mancher Wert ist im Lauf der Geschichte und gerade der jüngsten Geschichte verschiedensten Ausprägungen und Benennungen (z. B. Volkstum — Nation — Reich) unterworfen worden und viele Erzieher haben sich angewöhnt, einen derart unterschiedlich ausgemünzten und mißbrauchten Wert unberücksichtigt zu lassen. Darauf geben uns nun diese Jugendlichen die Quittung: sie ahnen, daß auch ein mißbrauchter Wert — ein Wert bleibt, daß eine dutzendmal fehl gehende Erfüllung eines Anliegens —dieses Anliegen als solches nicht außer Kraft setzt. Im Gegenteil, es will in seinem unverlierbaren Kern erkannt, bewahrt und für die Gegenwart neu ausgezeugt werden. Die Schweizer z. B. haben auch heute ein Nationalgefühl, das gar nichts mit Militarismus, Autoritarismus oder Welteroberung zu tun hat. Sicher wird es für die politische Einstellung dieser nachwachsenden Generation von großer Bedeutung sein, das mit lebendigem, aktuellem, fortschrittlichem Inhalt zu füllen, was mit einem gesunden Nationalgefühl gemeint sein könnte, — damit es nicht als unerfülltes Anliegen verwildert, wie man es in den Pamphleten der neonazistischen Jugendgruppen nachlesen kann.

Zweimal hat sich ein großer Teil der deutschen Journalisten an dieser nationalen Schamhaftigkeit versündigt: bei der Publizierung der Halbstarkenkrawalle und der Hakenkreuzschmierereien. 3. Der sogenannte „Neo-Nationalismus“ hat noch eine zweite Wurzel, die ihm nun allerdings evtl, auch chauvinistische Nuancen verleihen könnten. Darauf bin ich gestoßen bei den Kommentaren meiner Gesprächspartner zur Reproduktion der Kaiserproklamation von Versailles sowie zum Stichwort Bismarck. Beide sind nicht selten gewählt worden, und zwar das Bild bemerkenswert häufiger als das Stichwort — von Lehrlingen im ganzen seltener als von Schülern.

Unter den Jugendlichen, die sich freiwillig dazu äußern, gibt es wenige, die Bismarck bzw. die Kaiserproklamation 1871 ablehnen, etwa weil er gegen die Arbeiter, gegen eine Mitregierung des Volkes gewesen sei, weil er die deutsche Einigung ausgerechnet auf französischem Boden zelebriert habe, weil solcher Prunk altmodisch sei. „Ich finde das albern, die ganze Kaiserei, wie Zinnsoldaten stehen sie da, alles ist so ausgeputzt. Idi bin ganz für die Demokratie, nidtt für Kaiserreich usw. Ich mag die ganze Protzerei mit Orden usw. nicht. Ich finde das fürchterlich. Die älteren Leute hängen wohl noch sehr daran, sie haben es ja auch mitgemacht. Wir kennen das nicht. Das ist ja bald Anbeterei. Da müßten wir Mädel ja sogar strammstehen.“ (w) „Es herrscht Begeisterung nach dem gewonnenen Krieg ... es ist ein etwas pompöser Eindruck, damit wird seine Leistung ausgedrückt. Dieser Punkt mutet heute etwas komisch an. Voller Begeisterung für den Kaiser . . . Diese Epoche fand mit dem 1. Weltkrieg ihren Absdduß. Die Verkörperung des Volkes war das Militär, die große Armee . .. Für uns finde ich aber Demokratie besser. Die Monarchie ist altmodisdt.“ (m)

Eine ebenfalls geringe Anzahl bezieht die Mittelpösition der teilweisen Anerkennung, teilweisen Ablehnung. Von diesen Jugendlichen werden der Vollzug der nationalstaatlichen Einigung, Sozialversicherung, standesamtliche Trauung gegenübergestellt — den Kriegen, den Sozialistengesetzen, dem Autoritarismus Bismarcks und die Vorzüge der Demokratie gepriesen; sie sei auch billiger als eine prunkvolle Monarchie.

Mehr als die Hälfte der Bismarck/Versailles-Wähler jedoch ist stark angesprochen, ja fast heilsgeschichtlich begeistert. Für sie ist Bismarck ein charismatischer Führer, der Mann, das Genie, der Retter, der erfolgreiche Könner der deutschen Geschichte, seine Ära der kairos, die erfüllte, erhebende, großartigste, glanzvollste, glücklichste Epoche unserer Geschichte, ja, für sie ist Bismarck ein Barbarossa, der wiederkommen solle und die heutige Lage meistern würde — als eiserner Kanzler besser, und zwar elastischer und zugleich vitaler als Adenauer, geschweige die SPD, der auch die Situationen und Absichten des unfähigen Hitler richtig gemeistert hätte und der auch heute ein persönliches autoritäres Regiment führen dürfte und sollte. „Nie hatten wir bis heute so große Erfolge wie unter Bismarck.“ (w)

„Könnte mir Bismarck gut als Diktator vorstellen, denn er hatte alles richtig durdtdacht.“ (m) „Zurzeit hätte ich lieber einen Bismarck. Er würde Deutsdtland wirtschaftlich und politisch besser führen als die Leute heute. Er konnte so gut Verträge abschließen. Er könnte uns heute sehr gut nützen, zwischen Ost und West pendeln.“ (m) „Für wahres Preußentum schwärme ich, aber für das edtte, nicht das wilhelminische, bürgerliche, sondern für Bismarck.“ (m)

Die Ideologie vom großen Mann, der seine Geschichte macht, weil seine Erfolge ihn dazu stempeln, ist also noch im Schwange. Weitere Komponenten in diesem Bilde sind das „Männliche“ („er wußte, was er wollte und setzte es durch und hatte keine Angst vor Krieg), dem auch Worte wie Haltung, Ehre, Ritterlichkeit, Schliff, Kameradschaft gelten, sowie eine nach Illustrierten schmeckende Freude an repräsentativen Haupt-und Staatsaktionen. „Die Macht zieht midi an, die Uniform, der Rahmen, das Repräsentative, die Stellung des Kaisers. Mehr noch die Ehre, die anzieht, als die reale Macht. Das ist schön, auch als Regierungsform. Idi könnte so etwas unterstützen. Aber die Vernunft sagt, gute Demokratie ist alles.“ (m) „Schade, daß wir so etwas nicht mehr haben, das ist doch eine Augenweide, wie z. B. in England die Garde. So etwas sollte man erhalten nie alle Schlösser and Städte, überhaupt mehr Tradition wahren. Die Politik darf sich aber nicht davon beeinflussen lassen.“ (w)

Man spielt bei dieser Regression auf eine nationalstaatliche Glorie, auf England und de Gaulle an; von manchen wird daher auch die angebliche Laschheit in Fragen der Wiedervereinigung und in der politischen Willensbildung in Deutschland überhaupt angegriffen.

Nun soll man solche Meinungsnuancen nicht überschätzen. Sicherlich ist den Reifenden die vermeintliche Überschaubarkeit und Personifizierbarkeit der damaligen Lage Deutschlands, die in ihr beschlossenen eindeutigen Erfolge und Ergebnisse — kongenialer als eine bürokratische Manager-Demokratie. Dem steht gegenüber die vernünftige Toleranz, insbesondere auch in Tagesfragen. Sicherlich spielt hierbei die pensum-mäßige Abgrenzung des Schulunterrichts eine wesentliche Rolle. Herkömmlich, ausgiebig, „gekonnt", „begeisternd“ beleuchtete Epochen und Gestalten der Geschichte erhalten zumindest als stehenbleibende Unterrichtsreste oder verklärende Rückblicke ein stärkeres Gewicht als die noch nicht abgeschlossenen Probleme der Zeitgeschichte. Dem steht gegenüber das lebhafte Verlangen gerade nach der letzteren. Sicherlich spielt sich in manchen Jugendlichen nur die Reaktion auf eine eifernde (Reedukation-) Konzeption ab, die sowohl Hitler wie auch Wilhelm II. und auch Bismarck als wildes Fleisch aus der deutschen Geschichte herausschneiden wollte. Gegen derartige Übertreibungen zeigt diese Generation ausdrückliche Reserve; sie beweist darin einen anerkennungswerten Sinn für die Unentrinnbarkeit, Eigenart und Würde der National-geschichte; eine Verleugnung der Vergangenheit oder des eigenen Volkstums ist ihr fremd und unverständlich. Das hält den Gedanken der Wiedervereinigung lebendig. Es wird durch die Europaidee ausbalanciert. Diese Jahrgänge leben eben nicht mehr im unmittelbaren Schatten des Zusammenbruchs.

Man soll auch anerkennen, daß sich in solchen Äußerungen mitunter ein berechtigtes Bedürfnis nach politischer Beanspruchung, „Ergriffenheit“ und Bindung bekundet, das u. U. in nicht unbedenklich sentimentale Romantik und Ressentiments entartet, sofern unser allzu abstinent sprödes, farbloses, symbolarmes politisches Leben jenem Bedürfnis nicht allmählich auf angemessene Weise entgegenkommt.

Andererseits darf man sich nicht der Sorge entsagen, ob von solchen Jugendlichen historische Kontinuität nicht bereits im Grundansatz als Fixierung nach rückwärts mißverstanden und pervertiert wird. Man fragt sich, ob sich nicht bei einer qualifizierten Minderheit eine legendäre Betrachtung der deutschen Vergangenheit verfestigt, wobei Bismarcks Rolle entgegen dem deutschen politischen Liberalismus seiner Zeit vergessen wird. Daraus resultiert eine gewisse Voreingenommenheit gegenüber dem Zeitgeschehen und der künftigen politischen Mitverantwortung, die sich ausdrückt in Tendenzen zu einer gelenkten Demokratie, einer gemäßigten Autokratie, einer konstitutionellen Monarchie, die allen Ernstes von jener Gruppe erwogen und erörtert werden. Diese Tendenzen erwachsen also nicht auf dem Boden nazistischer Reminiszenzen, wohl aber auf dem Boden „bismarck-deutscher" Restitutionsträume. Und solche sind in Deutschland nicht völlig harmlos, weil sie u. a. wohl auch einen Teil des Bürgertums nach „Versailles" (1919) zu Hitler getrieben haben als dem möglichen oder ersehnten Wiederhersteller der alten Macht und Herrlichkeit. Gegenüber den jungen Menschen, die dem anhangen, ist offenbar jene Übersetzungsaufgabe am Anliegen des Nationalgefühls versäumt worden: daß auch in einer europäischen oder die ganze Welt umfassenden Völkerfamilie zunächst die eigene volkliche Lebens-und Wesensgemeinschaft eine Realität bleibt und daß man für sie eine angemessene Existenz und ein würdiges Prestige erstreben darf, ist vor ihnen wohl nicht so behutsam ausgesprochen und bekannt worden; daher irren manche von ihnen nach einer anachronistischen, hypertrophierten Ausmünzung dieses Anliegens herum. 4) Die Einstellung zur Demokratie als Staatsform und Rechtsordnung wurde während unserer Explorationen u. a. im Widerspruch zu den ausgewählten Stichwörtern und Bildern des Elends und zu den obligatorischen Anthithesen „Autokratie — Demokratie" deutlich. Die Jugendlichen rühmen rechtliche Ordnung, persönliche Freiheit, Furchtlosigkeit, Privateigentum, materiellen Wohlstand, selbständige Verfügung über die Freizeit, freiwilligen Zutritt zu den Jugendorganisationen, Pressefreiheit sowie die Mitbestimmung des Volkes, das Aushandeln der Beschlüsse und eine unabhängige Opposition gegenüber der Regierung.

Sie apostrophieren die Fehlentscheidungen, den Egoismus, die fragliche Intelligenz, die Übermacht eines Diktators, und sie nehmen in Kauf, daß viele Maßnahmen einer längeren Zeit der Beschlußfassung und Durchführung bedürfen als in der Diktatur sowie die maßvolle Bestrafung von Vergehen und Verbrechen. „Lieber die kleinen Schwächen der Demokratie als die großen Fehler der Diktatur.“ (m)

Der weite, freie Spielraum für Konsumbefriedigung und Berufswahl wird als so selbstverständlich hingenommen, daß er keines Kommentars bedürfe.

Den Trägern dieser Meinungen steht eine beinahe gleich starke Mittelgruppe mit kritisch differenzierenden Meinungen zur Seite. Von ihr wird kritisiert, die Freiheit sei nicht allseitig genug bzw. zu wenig eingeschränkt: KP-Verbot, Abschaffung der Rathausparteien und der unabhängigen Kandidaten, Fraktionszwang („gegen die Juden darf nicht geschrieben werden . . . von den Nazis darf man nichts sagen . . . über die DDR darf nichts Gutes gemeldet werden“) — und andererseits Hetze und Aufbauschung in der Presse, Starrummel, Bloßstellung von Familien-skandalen. Ferner wird kritisiert die Tonart der parteipolitischen Polemik, Langsamkeit von Legislative und Exekutive, die lasche Strafpraxis der Gerichte sowie das protzige, politisch indifferente Wirtschaftswunderleben. Manche bezweifeln auch, ob in der Demokratie wirklich jeder eine eigene Meinung habe und viel dafür gebe. Auch habe die Mehrheit nicht immer recht.

Einen Teil dieser Stimmen könnte man nach der Formel „nicht totalitär — aber autoritär“ interpretieren. Sie stammen von denselben Jugugendlichen, die von der Erörterung des Komplexes Bismarck aus einer „vernünftigen“ Autokratie unter dem richtigen Mann, einem echten Herrscher, unter fester Führung zuneigen, wobei sie Bismarck, Adenauer, Eisenhower und auch Franco und Chruschtschow zur Seite stellen, — sowie von anderen Jugendlichen, die die Vorteile von Demokratie und Autokratie miteinander verbinden und Parteiengezänk, Mißbrauch der Freiheit, „laschen Betrieb" verhindern möchten. Zwar müßte das Volk durch gesetzlich garantierte Neuwahlen Einfluß behalten, aber während der Legislaturperiode solle — etwa im Sinne einer Präsidial-demokratie — der starke Mann das Rad fest in der Hand halten. Er und seine Helfer dürften nicht zu jung sein — so etwa zwischen 40 und 60 Jahren oder älter. „Der Alte (Adenauer) regiert. Er hat es ganz gut hingekriegt. Wer weiß, ob uns ein anderer so aus dem Dreck gezogen hätte." (m) „Für den Staat ist es gut, wenn ein Kaiser da ist, vor allem wegen der Tradition. Er verleiht eine konservative Haltung. Ewige Monarchie — man weiß, was man hat. Anrecht hätten Hohenzollern, Welfen, Hohenstaufen. Die Welfen wären richtig gewesen.“ (m) „Vernünftige Diktatur ist mir lieber als diese Demokratie.“ (m)

„Versailles, das wirkt bis heute nach. Ein Königstreuer, wie ich bin, kann idt mich dafür begeistern. Die Engländer sind ja auch monarchistisch.“ (m)

Nur sehr gering ist wiederum die Zahl der entschiedenen Anhänger einer Diktatur. „Ich finde, ein Mann sollte regieren, der kann sich ja mal anhören, was das Volk meint, aber Mitregierung des Volkes bringt nur ein Durcheinander, jeder blickt nur auf seinen Vorteil. Besser, einer sagt, was zu madten ist.“ (m)

Vor allem wird die Schlagfertigkeit einer Diktatur in Kriegsgefahr (Atomkriegsgefahr) gerühmt. Ebenfalls eine sehr kleine Gruppe bilden bei dieser Frage die Ahnungslosen und Indifferenten. „Was Demokratie, was Diktatur ist, weiß ich nicht richtig. Wir haben jetzt doch Diktatur? Oder ist das Demokratie?“ (w)

„Andere Länder, andere Sitten.“ (m)

„Eigentlich sollte man mehr wissen, wen man wohl wählen muß.) (w)

Wenn ich noch einmal zusammenfassen soll, worin ich Gefährdung, Störung, Verwirrung einer politischen Meinungs-und Gesinnungsbildung der Jugend sehe, so in einer dieser Generation unkongenialen Pathetik bei der Bewältigung der Hitlerjahre, — in einer fahrlässig romancierten Verherrlichung der Bismarck-Ära im Schulunterricht, — in den aktuellen Torheiten der „Anderen" (USA — Algerien — Südafrika) und in den Erfolgen bzw. Mißerfolgen der beiden großen politischen Blöcke und Systeme, die recht wach von dieser Jugend verfolgt werden. Dazu kommt noch die Problematik politischen Einsatzes für junge Menschen in der gegenwärtigen Form der deutschen Demokratie.

Weiterhin muß man der Frage nachgehen, ob diese jungen Menschen bei so viel Interesse, Sensibilität, abwägender, differenzierender Bemühung um ein eigenes Urteil und bei so viel lauterem Wollen auch genügend Information und Orientierung geboten wird. Wie weit wird ihnen das aktuelle politische Geschehen erschlossen? Wie weit ist es den Zeitgenossen, insbesondere den jugendlichen erschließbar? Die meisten scheinen damit nicht recht zufrieden zu sein. Nur manche erwähnen anerkennend Schulunterricht, Rundfunksendungen, Ausstellungen: dabei rangieren unter den erwähnten Quellen Zeitung und Zeitschrift sowie Rundfunk vor dem Schulunterricht. (Ein Lehrer habe gesagt: „Wir gehen nur bis Stresemann, über den Rest erfahrt ihr im Fernsehen genug.") Den Mangel an zeitgeschichtlichem Unterricht muß man auch bei der Bismarckverehrung in Anschlag bringen. „Ich lese gern die politischen Artikel, weil sie mich interessieren. Dann vergleiche ich die versdiiedenen Zeitungen, denn jede schreibt ja anders. Damit erfährt man eine ganze Menge. Das ist dann aber immer noch nicht die Wahrheit. Dazu müßte man auch nodt ausländisdte Zeitungen lesen können. Manchmal muß man sich wundern, was für verschiedene Ansichten die einzelnen Zeitungen über dieselbe Sache haben.“ (15jähriger Volksschüler). „Ich finde es bloß so schade, daß man nicht über die Gründe und Hintergründe orientiert ist. Jetzt z. B. bei der Nahostkrise. Man hört immer so viel über die täglichen Ereignisse. Aber wie sie zustande gekommen sind, was dahinter steckt, das kann, man nur selten erfahren. Und wenn man schließlich soweit ist, ist das Thema nicht mehr aktuell. Wir sind erst bei den Spartanern.“ (Mittelschülerin, 9. Klasse).

Immerhin möchte ich etwa der Hälfte meiner Gesprächspartner zugestehen, daß sie in den einschlägigen Sachverhalten ihrem Lebensalter entsprechend durchaus bewandert sind.

Andere Jugendliche vertreten eine gegenteilige Ansicht: sie bekämen genug Gegenwartskunde zu hören, aber es sei kein rechtes Interesse vorhanden, man sollte und müßte eigentlich mehr Anteil nehmen, lesen, diskutieren, — aber es unterbliebe eben. „In die politische Arbeitsgemeinschaft gehe ich nur wegen der Lehrer. Man kriegt sonst Vorhaltungen. Ich verstehe auch nichts wegen der Fachausdrücke.“ (w)

Das Angebotene wirkt sich gewiß nach Art der Darbietung und dem Typus der Hörer verschieden fruchtbar aus. Den meisten dürfte eher zu wenig als zuviel geboten werden. Auch didaktische Zielsetzungen und methodische Stilformen solcher politischen Bildung und Erziehung scheinen — nach den Aussagen der Jugendlichen — noch im Stadium der Erprobung und Entwicklung zu stehen. Mit ein paar Quellenschriften, Artikeln, Rundfunksendungen mehr, die im Riesenangebot der Publikationen schwimmen, ist es nicht getan. Denn am stärksten werten und — vermissen diese Jugendlichen persönlich gestimmte, offenherzige Aussprachen mit ihren Erziehern, die auf objektive Wahrheitsfindung angelegt sind und nicht als Tagesmode um des guten Scheins willen aufgezogen werden. Freilich darf man die Breitenwirksamkeit zeitgegeschichtlichen Unterrichts auf die politische Meinungs-und Gesinnungsbildung einer Jugendgeneration auch nicht überschätzen — wie die Geschichte zeigt.

Führt nun alles dieses achtbare Argumentieren — über Gefühlsresonanz und Sachinteresse hinaus — auch zu politischer Aktivität, zu tätiger Mitverantwortung und Mitentscheidungsbereitschaft? Diese Frage kann ich nicht quantitativ repräsentativ beantworten, weil ich unter dem Gesetz der von mir geübten Methode nicht große Zahlen quotiert ausgewählter Jugendlicher erfaßt habe. Ich bitte daher ausdrücklich um Nachsicht für meine naiven Schätzeinheiten (Überzahl, Hälfte, Minderheit usf.). Das ist natürlich unbefriedigend und auch durch weitere Erhebungen zu präzisieren, obwohl ich glaube, daß man derartige Komplexe der inneren Einstellung bei Jugendlichen schwerlich auszählen als vielmehr schätzen und wägen kann, — es sei denn, man behält nicht die tatsächlichen Einstellungen in den Händen, sondern nur arg verdünnte Meinungsderivate.

Ich habe daher zu einer anderen Form der Differenzierung meines monographischen Materials Zuflucht genommen, nämlich zu einer Gruppierung bzw. Typisierung der untersuchten Jugendlichen. Ihr zufolge findet man unter ihnen natürlich auch Naive und Desinteressierte, von denen wir schon manche Stimme vernommen haben: „Wir haben in der Schule über Demokratie und solchen Quatsch nie gesprochen, ich weiß mit solchen Sachen gar nicht Bescheid. Ich verstehe meistens gar nicht, was in der Zeitung davon steht.“ (w)

Es gibt auch Skeptische, die der Einwirkung höherer Leitgedanken und Prinzipien sowie der Mitverantwortung des einzelnen in der Politik keine Chance geben. Von ihnen stammt auch Ironie über die Erwachsenen und ihre jämmerliche Politik: „Erst waren sie so sehr begeistert, und nun büßen sie ebenso ausgiebig.“ (w)

Aber diese drei Typen beherrschen —in meinem Material — nicht die Szene; sie geben auch nicht den Ton an oder stellen den Prototyp dieser Jahrgänge; und eine gewisse Anzahl von Wurstigen und Ketzern hat es sicher zu allen Zeiten gegeben. Über sie erhebt sich — im Ausschnitt meiner Untersuchung ist es etwa die Hälfte — eine Gruppe, die (in diesem Alter) durchaus interessiert und informiert ist — sei es in mehr konservativer oder mehr fortschrittlicher Prägung. Lind innerhalb dieser Gruppe schält sich ein enger umschriebener Typus von „Suchenden“ heraus, der (in diesem Alter) bereits das Bewußtsein in sich trägt, allmählich für Politik mitverantwortlich zu werden und sich dem nicht entziehen zu können. Manche darunter sind zutiefst beunruhigt und verwerfen leidenschaftlich Gleichgültigkeit, Sattheit und Skepsis, auch falls sie von den nächsten Erziehern gelebt und gelehrt werden sollten. Sie haben zum Teil ganz bestimmte Anliegen: Freiheit und Selbstbestimmung, Abrüstung und Frieden, Europa, Weltregierung, Hilfe für die Entwicklungsländer. „Das Gefährlichste ist die Gleichgültigkeit, jeder müßte politisch aktiv sein, ich lese täglich, man kann nicht alles nur so an sich vorüber-fliegen lassen. Gerade junge Leute sollten sich mit Politik beschäftigen, damit es auch Nachwuchs gibt. Die Demokratie verlangt das-, denn es sind da fast alles alte Knacker.“ (w) „Es geht nicht ohne Politik, wer Frieden und Ruhe will, muß Politik treiben.“ (w)

Den Eintritt in eine politische Partei lehnen jedoch auch diese Jugendlichen zumeist ab, und zwar aus Kritik am Betrieb der Parteien, am Fraktionszwang, an der Ausschaltung der Rathausparteien und aus Scheu vor einer vorzeitigen standpunktlichen Festlegung. Man darf sie nicht deshalb unpolitisch schelten, nachdem man ihre Vorgänger „konformistisch“ gescholten hat. So bleibt ihnen vorerst nur der „hündische“ Weg: Schulung und Einsatz innerhalb kleiner Gruppen, internationale Jugendarbeitslager, Jugendforum, Schülermitverwaltung, Teilnahme an öffentlichen Diskussionen, Verbindung zu Abgeordneten und Zeitungen. Aber wird sich darin ihre Bewegtheit und Betreffbarkeit erhalten und entfalten lassen? Welche Möglichkeiten bietet ihnen unsere Demokratie sonst? Das will bedacht sein, bevor man über die politische Bereitschaft der Jugend urteilt.

Es liegt also bereits in diesen Altersklassen in bezug auf die politische Einstellung und Mitverantwortung eine recht reichhaltige Variation nach Gruppen und Typen vor. Konformismus oder Skepsis scheinen nicht (mehr) den Ton anzugeben. Man darf politisch Hoffnungen auf diese jungen Menschen setzen.

Fussnoten

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