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Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat | APuZ 3/1961 | bpb.de

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APuZ 3/1961 Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat Preußisch-deutsche Geschichte 1640-1945 Dauer im Wechsel

Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat

Theodor Schieder

Der hier folgende Text hält den Wortlaut eines Vortrags vor der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen und der Katholischen Akademie in Bayern fest. Der Verfasser veröffentlicht demnächst über das gleiche Thema eine Abhandlung in der Veröffentlichungsreihe der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen.

Willens-und Bekenntnisgemeinschaft ?

Das deutsche Kaiserreich von 1871 ist als historische Erscheinung ein sehr kompliziertes Gebilde. Es wurde vom mächtigsten deutschen Einzelstaat geschaffen und in seinem Wesen geprägt. Es nahm die Namen des mittelalterlichen Imperiums und seines Kaisertums auf und war in den Formen eines Bundesstaates von Fürsten und freien Städten organisiert, in denen die moderne Nation nur ein beschränktes Mitwirkungsrecht erhielt. Es umfaßte weder alle Wohngebiete der Deutschen in Mitteleuropa noch den historischen Raum, der einst zum Römischen Reich Deutscher Nation und dann zum Deutschen Bund von 1815 gehört hatte. Es war eine kontinentale Militärmacht, die aber bald zu maritimer und kolonialer Weitpolitik überging und den Reichsgedanken ins Imperiale zu wenden suchte. Und doch glauben wir seine geschichtliche Bedeutung und sein Wesen am treffendsten zu bestimmen, wenn wir es als Nationalstaat bezeichnen. Mit diesem Urteil machen wir uns indessen die Sache nicht leichter Wir treten vielmehr in eine schwierige historische Problematik ein, die nicht nur jede einheitliche historisch-politische Begriffsbildung in den verschiedenen europäischen Nationen erschwert, sondern auch den Ausgangspunkt politischer Konflikte größten Umfanges gebildet hat. So gut wie alle europäischen Staaten, deren Geburtsstunde ins 19. und beginnende 20 Jahrhundert fällt, deklarieren sich als Nationalstaaten. Das heißt, sie rechtfertigen sich aus dem Willen einer Nation, deren staatliche Form zu sein sie beanspruchen. Aber über den Charakter dieser Nation besteht keinerlei Einverständnis. Sie kann als Willens-und Bekenntnisgemeinschaft der in einer Staatsidee vereinten Staatsbürger verstanden werden wie in Frankreich. Sie kann, um ein anderes Extrem zu nennen, die organisierte und politisch geeinte Sprachgemeinschaft sein wollen, wie es die ältere deutsche Nationalbewegung meinte. Einen absoluten Gegensatz zwischen dem, was man den Staatsnationalismus im westlichen politischen Denken und den Volks-und Sprachnationalismus etwa im Sinne Herders nennen kann, gibt es indessen nicht. Der westeuropäische Staatsnationalismus mit der alleinigen Ausnahme der Schweiz ist keineswegs frei von einem sprachlichen und ethnischen Assimilationswillen, wie umgekehrt der von Sprache und Volkstum ausgehende Nationsbegriff in Mittel-und Osteuropa nirgends auf den Staatsgedanken als Ziel und als Mittel nationaler Politik Verzicht leistet. Jeder Versuch rein begrifflicher Unterscheidungen ist gerade auf diesem Felde zum Scheitern verurteilt. Man muß sich vielmehr den realen historischen Erscheinungen zuwenden und aus ihnen die Anschauung des modernen Nationalstaates zu gewinnen suchen. Dies soll hier in den folgenden Überlegungen geschehen und zwar am Beispiel vor allem dreier Fragenkreise. Einmal an Hand der Frage nach den Trägem und den Gegnern national-staatlichen Bewußtseins im kaiserlichen Deutschland, dann der nach den Formen der national-staatlichen Politik im Kaiserreich und schließlich an der Frage nach den Symbolen, den Herrschaftszeichen und dem politischen Stil des Nationalstaats.

Eine Schöpfung der preußischen Staatsmacht

Beginnen wir mit dem ersten. Das Deutsche Reich von 1871 ist eine Schöpfung der preußischen Staatsmacht, die unter Bismarck eine Interessengemeinschaft mit der bürgerlichen Nationalbewegung eingegangen ist. Diese Interessengemeinschaft hat zu keiner Stunde zu einer vollen Harmonie geführt, aber sie war doch mehr als eine reine Vernunftehe, denn sie beruhte auf einem stattlichen Fundament gemeinsamer Überzeugungen. Die von Hegel kommenden Anhänger des gemäßigten Liberalismus hatten schon in Frankfurt ihre Bereit-idee war für sie nur insoweit verbindlich, als starken Staat zu begründen. Die Nationalitätsidee war für sie nur insoweit verbindlich, als sie der Verwirklichung des starken Staates nicht im Wege stand. Darum der Verzicht auf Deutsch-Österreich und das, was dann die klein-deutsche Lösung genannt wurde. Darum aber auch die bundesstaatliche Lösung, die das Tor dazu öffnete, das historische System der Einzelstaaten wenigstens formell mit einer starken, ja überwiegenden Zentralmacht zu vereinigen. Für die repräsentativsten Denker des klein-deutschen Nationalstaates, etwa Johann Gustav Droysen oder Dahlmann, war der Anschluß der Nationalpartei an Preußen nicht ein Akt der Not, sondern der Notwendigkeit. Preußen wurde von ihnen als der idealistische und zugleich der protestantische Staat verstanden, mit dem der geistige und sittliche Fortschritt der Nation verknüpft war. Für die preußische Politik und ihren Macht-willen mußte diese Bewegung der gegebene Verbündete sein, wenn es ihr erst gelang, das Mißtrauen gegen die Revolutionäre von 1848 und gegen die Träger der Opposition im großen Verfassungskonflikt nach 1860 zu überwinden Erst Bismarcks grundsatzfreies Machtdenken bot dazu die Hand. Er schuf den Bund von Preußen und Kleindeutschland, indem er, wie Jacob Burckhardt gesagt hat, die deutsche Revolution von oben abschnitt. Anders aber als in der Zeit der preußischen Reformen und in der Zeit der Revolution von 1848/49 war es jetzt der erstarkte friderizianische Machtstaat, der dem national-deutschen Liberalismus als der überlegene Partner gegenübertrat. So waren schon durch die politischen Machtverhältnisse im Verfassungskompromiß von 1867 bis 1871 dem liberalen Konstitutionalismus, aber im weiteren Sinne auch dem nationalen Idealismus der deutschen Bildungsschichten Grenzen gesetzt. Diese Grenzen wurden noch enger gezogen durch zwei fast gleichzeitige Ereignisse. Einmal durch die Erschütterungen des Sozialgefüges, wie sie sich aus der Industrialisierung ergaben. Nicht nur, daß aus der Industriegesellschaft ein neuer vierter Stand sich ausgliederte, der an der bisherigen nationalen Entwicklung nicht teilgenommen hatte. Auch das Bürgertum selbst verlor seine einheitliche soziale Gestalt und begann sich in der industriellen Arbeitswelt zu differenzieren.

Es verlor dadurch aber auch seinen einheitlichen politischen Willen und weiterhin auch den geistigen Konnex mit den Bildungstraditionen des frühen 19. Jahrhunderts.

Diese Tendenz wurde nun noch durch einen zweiten Vorgang gefördert. Der nationale Staat trat ins Leben, als sich die geistigen Gehalte des nationalen Liberalismus bereits erschöpft hatten und vor allem Hegel seine beherrschende Stellung im deutschen Geistesleben verloren hatte. An seinen Platz rückten zwei Bewegungen, der philosophische Pessimismus und der von den Naturwissenschaften herkommende Mo-vismus und mit ihm der philosophische Positivismus. Während dieser . Positivismus vor allem die Rechtswissenschaften unter seinen Einfluß brachte und damit auch dem Staats-denken den idealistischen Boden entzog, auf dem es bis dahin gestanden hatte, ging der Pessimismus in der Mitte der 70er Jahre zum Generalangriff auf jede Staatsgesinnung über. Friedrich Nietzsche sprach in der ersten seiner unzeitgemäßen Betrachtungen das bittere Wort von „der Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des deutschen Reiches“, und Richard Wagner, dessen Werk an sich manches zu den geistigen Grundlagen des neuen Reiches beigetragen hatte, war es in der Umwelt des deutschen Nationalstaates „bald sonderbar zumute“.

In der Tat war es eine eigentümliche Konstellation, daß unmittelbar nach der Reichsgründung der politische Staat, die gesellschaftliche Bewegung und der Kulturgeist auseinandertraten. Seither ist die Frage nach dem ideellen Gehalt der Reichsgründung von 1871 nicht verstummt. Helmut Plessner hat ihr jüngst schlechthin die Rechtfertigung im Zeichen einer Idee aberkannt und ihr nur das Recht historischen Schicksals zuerkennen wollen. Wenn mir auch hier übersehen zu sein scheint, daß eben daraus ein geistiges Selbstverständnis der deutschen Lage sich hätte entfalten können, so trifft es sicher zu, daß diese Möglichkeiten nur von einzelnen gesehen wurden. Der Nationalstaat wurde zwar die beherrschende Macht auf dem politischen und sozialen Feld auch für die, die ihm widerstrebten, aber er war doch nur mit einigen Teilgebieten des Geisteslebens enger verknüpft, etwa mit den Rechts-und Sozial-wissenschaften, vor allem aber mit der Geschichte, von der indessen Friedrich Meinecke im Jahre 1908 einmal sagen konnte, daß für sie der Bund mit dem Nationalleben kein reiner Segen gewesen sei.

Träger und Gegner des neuen Staates

Nun wird freilich eine lediglich geistesgeschichtliche Betrachtung nicht genügen, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Man muß auch von der Sozialgeschichte her die Frage nach den Trägern des Nationalstaates stellen. Es ist bezeichnend, daß dafür der Boden noch nicht überall genügend gesichert ist, um zu eindeutigen Ergebnissen zu gelangen. Am ehesten lassen sich Schlüsse aus der Stärke der Parteien im Reichstage und ihrem jeweiligen Verhältnis zur Reichspolitik ziehen. Daraus wird nun vor allem die Verschiebung deutlich, die sich vom nationalen Liberalismus, als dem wichtigsten Partner Bismarcks in den Jahren der Reichs-gründung hinüber zu konservativen Gruppen vollzieht. Dazu hat Bismarck mit der Zerschlagung der national-liberalen Partei am Ende der 70er Jahre selber Erhebliches beigetragen, aber die Wurzeln lagen noch tiefer. Einer der bemerkenswertesten Vorgänge der nationalen Geschichte zwischen 1871 und 1914 ist das Einschwenken der konservativen Führungsschichten Preußens, namentlich in Ostelbien, in die Gefolgschaft der nationalen Reichspolitik. Es beginnt schon mit der Gründung der Deutsch-konservativen Partei im Jahre 1876 und endet schließlich mit der noch 1870 undenkbaren Gleichsetzung der Begriffe national und konservativ, wie sie namentlich nach dem Zusammenbruch von 1918 üblich wird. Diese Wendung hat eine Reihe von Gründen: so die zeitweise starke Interessengemeinschaft der agrarischen und schwerindustriellen Kreise, wie sie schon beim Übergang zur Schutzzollpolitik am Ende der 70er Jahre hervortritt. Dann aber auch die gemeinsame Förderung der imperialistischen Weltpolitik der nachbismarckischen Ära, in der der Machtstaatsgedanke preußisch-konservativer Herkunft und der bürgerlich-ökonomische Expansionswille eine unauflösliche Ehe eingingen.

Auf der anderen Seite aber entsprach der Einschmelzung des preußischen Konservativismus in die Reichspolitik eine allmähliche nähere Heranführung derjenigen Gruppen, die in den ersten Jahrzehnten abseits vom Reiche oder geradezu im Gegensatz zu ihm gestanden haben. So der politisch im Zentrum organisierten katholischen Volksteile und zum Teil auch schon der sozialistischen Arbeiterschaft, so sehr hier alles in den Grenzen faktischer Lösungen von Fall zu Fall und niemals grundsätzlicher Entscheidungen geblieben ist. Beim Zentrum war dies schon beim Abbau des Kulturkampfes erkennbar, bei der Sozialdemokratie etwa bei der Jahrhundertwende und eigentlich ganz deutlich erst seit dem August 1914.

Aber um diese Entwicklung richtig zu würdigen, bedarf es noch einiger Worte über die Ausgangslage-von 1871. Das heißt, wir müssen der Frage nach den Trägern die nach den Gegnern des preußisch-kleindeutschen Nationalstaates folgen lassen. Hier stoßen wir auf drei Kreise: Erstens auf alle die Gruppen, die zu den Besiegten von 1866 bis 1871 gehörten und in irgendeiner Form die große deutsche Vergangenheit und alle ihre Traditionen gegen die neuen Gewalten und Ordnungen verteidigten. So die mit Österreich unterlegenen Vertreter großdeutsch-universalistischer Reichspolitik, mit denen sich die Anhänger des partikularen, dynastischen Patriotismus verbanden, wie die Welfen oder die bayerische Patriotenpartei. Sie alle wären vielleicht kaum mehr zum Zuge gekommen, hätten sie nicht einen Anhalt an derjenigen geistigen Macht gefunden, die sich als Trägerin eines universellen Widerstandes gegen die Zeitideen des Liberalismus und Nationalismus wußte, am Katholizismus. Er stellte den Widerstand der teilstaatlichen Traditionen gegen den neuen nationalen Machtstaat und die Entrüstung über den Verlust des europäisch-universalen Erbes, der durch den Ausschluß Österreichs eingetreten war, in einen großen geistigen und politischen Zusammenhang und gab ihm die Kraft, die sie allein aus sich nicht mehr besessen hätte.

Der zweite Kreis der Gegner wurde aus der revolutionären gesellschaftlichen Umformung geboren, in die das junge Deutsche Reich gleich nach seiner Gründung sich gestürzt sah. Der vierte Stand, ohne jeden Anteil an den Bildungstraditionen der bürgerlichen Schichten, sah den jungen Nationalstaat mit den Augen des Ausgeschlossenen. Er erwachte zum selbständigen Bewußtsein als Schicht, als Klasse in einer bürgerlich-feudal eingerichteten Umwelt. In seiner Verlassenheit griff er nach einer Lehre, die aus dem Klassenbewußtsein einer Minderheit die Idee des Klassenkampfes entwickelte. Tra-ten die großdeutsch-katholischen Gegner dem kleindeutschen Nationalstaat mit ihrem Erbe übernationaler Reichsideen entgegen, so bekämpften ihn die Sozialisten mit ihrem Programm der Klassen-Internationalität. Es ist kein Zweifel, daß von dieser Seite der Totalitätsanspruch des Nationalstaates von 1871 für längere Zeit am wirkungsvollsten bestritten wurde. Es bedurfte fast dreier Jahrzehnte, bis im bürgerlichen Liberalismus die Unüberwindlichkeit der sozialistischen Partei von einzelnen wie Naumann erkannt wurde, und damit die Notwendigkeit, den politisch organisierten vierten Stand als eine Realität der national-staatlichen Politik zu sehen. Seit den ersten Vorstößen des sogenannten Revisionismus und seit dem Erstarken der gewerkschaftlichen Organisationen war es aber andererseits auch erwiesen, daß die deutsche Sozialdemokratie nicht entschlossen war, den Nationalstaat mit revolutionären Mitteln zu überwinden, sondern ihn höchstens von innen her umzuformen. Dies ist ein nicht weniger bedeutsames sozialgeschichtliches und politisches Ereignis als die Verschmelzung der konservativ-preußischen Führungsschicht mit der nationalen Reichspolitik.

Das Nationalitätenproblem im Deutschen Reich

Bei dem dritten Kreis der Gegner der Reichs-gründung von 1871, den fremdnationalen, nichtdeutschen Gruppen, möchte ich etwas länger verweilen. Läßt sich auch ihr Widerstand nicht mit der Wirkung messen, die der Angriff der Sozialdemokratie gehabt hat, so steht er doch mit der Hauptwurzel des Nationalstaatsgedankens, dem Nationalitätsprinzip, in engerem Zusammenhang als dieser. Seit dem Ausscheiden Österreichs aus dem politischen Verband des von Preußen organisierten Kleindeutschlands gehörte das Verhältnis eines national-deutschen Staates zu Nationalitäten anderer Sprache und zum Teil auch anderen politischen Willens nicht mehr zu den zentralen Problemen der nationalen Politik, wje etwa noch in der Frankfurter Paulskirche. Aber immerhin sah sich der deutsche Nationalstaat im Norden, Westen und Osten, in Nordschleswig und Elsaß-Lothringen und in den preußischen Ostprovinzen Nationalitäten im sprachlich-ethnischen oder im politischen Sinne gegenüber. An keiner Stelle waren diese Nationalitätenprobleme des Kaiserreiches Relikte der übernationalen Vergangenheit vor 1806. sondern überall das Ergebnis des natio-nalstaa: liehen Prozesses selbst. Im Osten Preußens war die polnische Frage aus der Macht-und Gleichgewichtspolitik des Wiener Kongresses entstanden und schließlich seit der Aufnahme der preußischen Ostprovinzen in den Norddeutschen Bund zu einem Problem der nationalstaatlichen Politik geworden. Im Westen stammte die elsaß-lothringische Frage aus dem Nationalkrieg von 1870/71 und im Norden die schleswigsche aus dem Dänischen Krieg von 1864 und dem Prager Frieden von 1866 zwischen Preußen und Österreich. Im Artikel V dieses Prager Friedens war den Bevölkerungen der nördlichen Distrikte von Schleswig die in ihren rechtlichen Konsequenzen umstrittene Aussicht gemacht worden, daß sie, wenn sie durch freie Abstimmung den Wunsch zu erkennen geben, mit Dänemark vereinigt zu werden, an Dänemark abgetreten werden sollten. Diese zwischen Preußen und Österreich vereinbarte Bestimmung wurde vom Deutschen Reich und Österreich-Ungarn 1878 durch Vertrag aufgehoben, wodurch der Inhalt dieses Artikels vertragsrechtlich, aber noch nicht politisch beseitigt war.

Stand schon also die nordschleswigsche Frage in einem eigentümlichen Kontrast zu der im Zeichen der nationalstaatlichen Idee vollzogenen Angliederung der Herzogtümer, so war dieser Kontrast noch auffälliger in Elsaß-Lothringen. Seine Rückkehr zum Reich wurde in der deutschen Öffentlichkeit als Siegel auf die Verbindung von Nationalstaat und Reichsidee gefeiert, die 1870/71 hergestellt wurde. Der Anspruch auf die Abtretung dieser Gebiete wurde historisch als die Heimkehr der avulsa imperii begründet und gleichzeitig aus dem Prinzip der Nationalität und zwar der ethnisch-sprachlichen Nationalität hergeleitet. Nirgends in der europäischen Geschichte sind die beiden Grundformen des Nationalbegriffs so unvermittelt aufeinander gestoßen wie hier; auf den deutschen, aufgrund der Nationalität erhobenen Anspruch antwortete die französische Nationsidee auch der deutschsprachigen Elsässer mit dem Protest in der Französischen Nationalversammlung von Bordeaux. Dieser Protest wurde im Jahre 1874 beim Eintritt der ersten Abgeordneten aus Elsaß-Lothringen in den Reichstag durch den Elsässer Teutsch wiederholt. Er brachte damals unter dem Tumult des Hauses einen Antrag vor, die Bevölkerung von Elsaß-Lothringen sich über die ohne ihr Befragen vollzogene Einverleibung in das Deutsche Reich aussprechen zu lassen, d. h. ihr das vorenthaltene Recht der Selbstbestimmung zu geben. Mehrfach Protest erhoben auch die Abgeordneten polnischer Nationalitäten aus den preußischen Ostprovinzen, und sie forderten sogar den Ausschluß der unter preußischer Herrschaft stehenden polnischen Landesteile aus dem Gebiet des neuen Nationalstaates. In der darüber geführten großen Reichstagsdebatte vom 1. April 1871 traten sich die prinzipiellen Standpunkte scharf gegenüber. Bismarck versuchte dem Poleicum eben das staats-nationale Prinzip entgegenzuhalten, das die Elsässer an Frankreich band. „Die Herren“, sagte er „gehören zu keinem anderen Staat und zu keinem anderen Volke als zu dem der Preußen, zu dem ich mich selbst zähle.“ Aber damit konnte er nicht vergessen machen, daß es sich jetzt um die Einverleibung in ein Deutsches Reich handelte. „Wir wollen“, so erwiderte ihm ein polnischer Abgeordneter,'„bis Gott anders über uns bestimmt hat, unter preußischer Herrschaft bleiben, aber dem Deutschen Reidt wollen wir nidtt einverleibt sein“. Ein anderer polnischer Vertreter berief sich zur Verteidigung des historischen und ethnischen Nationalitätsbegriffs auf das elsässische Beispiel und begrüßte den Sieg des Nationalitätsprinzips in Elsaß und in Deutsch-Lothringen freudigst. So schlug der gleiche Grundsatz an der einen Stelle gegen die andere aus, und der Nationalstaat stieß an mehreren seiner Grenzen auf eine Verneinung, die nicht eine Verneinung des Prinzips sein wollte wie bei den Verfechtern übernationaler oder internationaler Politik, sondern nur seine konsequente Anwendung verlangte. Die Dänen, die Elsässer und auch die Polen wollten eben einem anderen Nationalstaat angehören als dem deutschen.

Bismarcks Zurückhaltung in der Assimilationspolitik

Gerade dies hat nun der deutschen Politik Schranken gesetzt und von vornherein in ihr vorhandene Richtungen bis zur äußersten Schroffheit verstärkt. Die Nationalismen steigerten sich gegenseitig in ihrer Vehemenz. Es ist zu fragen, ob dies seit den Anfängen der Reichspolitik unabänderlich gewesen ist und ob sich niemals Alternativen einer anderen Politik gezeigt haben. An zwei Möglichkeiten muß hier erinnert werden. Die erste lag in der eigentümlichen Distanz, in der der Reichsgründer selbst zum Nationalstaat stand. Er war ihm nur ein Mittel, um einen historischen Staatsgedanken, den preußischen, zu stärken und nach innen und außen zum Siege zu führen. Ein endgültiges Ziel war es für ihn nicht. Eben darum konnte er die national-deutsche Reform da abschneiden, wo die Ausstrahlungskraft dieses preußi-schen Staatsgedankens aufhörte, nicht da, wo das Nationalitätsprinzip es erfordert hätte. Der Reichsbau war daher nach dem Maße der preu-Bischen Staatsmacht geschaffen, auch da, wo er« wie bei den süddeutschen Staaten, hinter dem national-deutschen Einheitswillen zurückblieb. Neben den norddeutschen Annexionen von 1866 stehen so die süddeutschen Reservatrechte von 1870. In der äußersten Randzone des neuen Reichsbaues kommt dazu die unangetastete Souveränität der österreichischen Monarchie und die vor allem von dem alten Bismarck immer wieder ausgesprochene Verweisung der Deutschen in der Monarchie, aber auch in den baltischen Ländern, an ihren Staat.

Hans Rothfels hat vor 25 Jahren in seiner Studie über „Bismarck und der Osten" darauf aufmerksam gemacht, daß Bismarcks Werk in seinem Wesen nicht zu erfassen sei, wenn es als Nationalstaat, wenngleich unvollkommener Art, vorgestellt wird. Es gehöre zu seinem Grundcharakter, daß der Reichsbaumeister mit allen Kräften darum rang, den Lebenszusammenhang zwischen Mittel-und Osteuropa auf seine Weise in Form zu bringen, durch Mittel und Ziele, die abwichen von der Gedankenwelt der westlichen Nationen und die doch mehr und anderes bedeuten als bloß opportunistische oder realpolitische Anpassungen an eine Lage, . die das Vollkommenere eben nicht zuließ. Diese Thesen haben immer noch etwas von ihrer Aktualität behalten. Nur lassen sie sich, wie ich glaube, eher an der außenpolitisch-europäischen Seite der Bismarck’schen Politik, als an ihrer innenpolitischen, preußisch-deutschen nachweisen. Gewiß unterscheidet sich auch die innere Nationalitätenpolitik Bismarcks von dem späteren nationalliberalen Nationalstaatsprogramm. Zurückhaltung in der Sprachassimilationspolitik, die schon in den 70er Jahren beginnt, war für die Bismarck’sche Ära noch in mancher Weise charakteristisch, ebenso die Beschränkung der Ansiedelungspolitik im Osten auf defensive Ziele.

Und überall in Elsaß-Lothringen, in Posen und Westpreußen der Vorrang der strategisch-militärischen Sicherung vor der Unterstützung dessen, was Bismarck „Professorenideen", wie die der Nationalität, genannt hat.

Dies hat alles zweifelsohne wenig reale Konsequenzen für die Ostmarkpolitik gehabt, aber es unterscheidet sich doch im Gehalt von den späteren Phasen der Reichspolitik namentlich unter Bülow. Diese hat sich das national-deutsche Programm des militanten Nationalstaates ganz zu eigen gemacht. Nach außen aber ist die Vorstellung vom Funktionszusammenhang, in dem die Deutschen in den anderen europäischen Staaten als Bürger ihres Landes und Vermittler zum Reiche stehen, zu einer formal verstandenen Nicht-Interventionspolitik gegenüber Volks-genossen, die von uns völkerrechtlich getrennt sind, wie Fürst Bülow einmal im Reichstag sagte, verblaßt. Hinter dieser Politik beginnt sich mancher nationale Zündstoff anzusammeln, wie noch zu zeigen sein wird.

Die zweite Möglichkeit einer grundsätzlich anderen Nationalitätenpolitik muß der -in gei stigen Überlieferung des deutschen Liberalismus gesucht werden. Der liberale Nationalitätsgedanke hatte eine doppelte Wurzel: eine Her-der’sche und eine Hegel’sche. D. h., Nationalität konnte im Geiste Herders als ein geistig-kulturelles Prinzip aufgefaßt werden, das sich vor allem in der Sprache realisierte, die die gemeinsame geistige Grundform der gesellschaftlichen Einheit des Volkes bildet, wie dies der preußische Statistiker Richard Böckh, ein später Schüler Herders, noch im Jahre 1869 ausgesprochen hat. Unterdrückung der Sprache wird dann mit Entgeistung der Bevölkerung gleichgestellt. Eben darum verbieten sich Sprachzwang und nationale Assimilation als widernatürliches Prinzip. Dem Nationalitätsprinzip werde voll Genüge getan, meint Böckh, wenn ohne Veränderung der Staatsgrenze Sprachfreiheit hergestellt, Achtung der geistigen Selbständigkeit jeder Bevölkerung in ihrer Volkssprache, auch innerhalb des Machtgebiets der Staaten zur Anwendung gebracht würde. So fordert Böckh gegenseitige Zusicherungen der Achtung der dänischen und deutschen Nationalität in Nordschleswig unter dem Schutz all derjenigen Mächte, die sich für ihr Gebiet zum Gleichen verpflichten. Das nationale Recht der Polen sieht er in die Gewissenstreue einer deutschen Regierung gestellt.

Das Ende national

kultureller Toleranz

Diese Idee national-kultureller Toleranz, die schon früher ihren Niederschlag im Artikel 188 der Frankfurter Nationalversammlung von 1849 gefunden hatte, ist nun aber im national-liberalen Staatsgedanken kaum mehr verankert. Der Staat wird hier, mindestens auf dem nationalen Felde, nicht mehr als Ausgleichsmacht verstanden, sondern er ist der Schöpfer der einheitlichen Nation, überall da, wo es notwendig ist, auch mit den Mitteln der Gewalt. Er ist der Schöpfer auch der einheitlichen Nationalsprache. Dies ist die Rolle, die er in den 60er Jahren bereits in Ungarn und in Rußland erhält, jetzt auch in Preußen-Deutschland. So geht auch die Theorie des Liberalismus dazu über, die Entnationalisierung zu begründen, ja zu fordern, wie das vor allem der liberale Publizist Konstantin Rössler tat und wie wir es auch bei Heinrich von Treitschke lesen können. Die Sprach-und Nationalitätenpolitik im preußisch-deutschen Nationalstaat ist dieser Aufforderung gefolgt, wie sich in seiner Gesetzgebung und Praxis seit den 70er Jahren verfolgen läßt. Der Grundtenor der vom Liberalismus und der von den Konservativen getragenen Sprachpolitik in Preußen-Deutschland ist der Anspruch des Nationalstaates, die deutsche Sprache als die Sprache des Staates in der Öffentlichkeit zu verankern und neben ihr den Sprachen der nicht deutsch sprechenden Bevölkerung höchstens zeitlich befristete und lokal begrenzte Ausnahmegenehmigungen, niemals aber Gleichberechtigung zu erteilen, oder sie höchstens in der nichtamtlichen Sphäre als Volkssprachen zu dulden. Dahinter standen der Glaube und Wille, die Staatssprache schließlich zur, allein herrschenden machen zu können. „Jedes gesunde Staatsvolk“, so lesen wir in einer der Sprachpolitik der Zeit gewidmeten Schrift, „jeder gesunde Volksstaat muß wollen, daß seine Volkssprache die Staats-sprache und seine Staatssprache die Volksspradte ist." Dieses System lief im letzten darauf hinaus, die Staatsnation schließlich zur Sprach-nation umzuschaffen und ging damit weit über die noch in der Bismarckzeit lebendige Idee hinaus, das Polentum in eine preußische Staatsnation einzuschmelzen. Es sollte durch sprachliche Germanisierung in die deutsche Nation einverleibt werden.

Diese Politik nun, so offensiv sie sich gab, wurde doch aus einer im letzten defensiven Haltung heraus geführt. Die Überlegenheit der Polen in der gesellschaftspolitischen Sphäre beim Ausbau ihres „Gemeinwesens im preußischen Staat“, wie man es einmal genannt hat, war offenkundig. Sie und die offenkundige Unmöglichkeit, die Polen innerlich für die deutsche Staatsidee zu gewinnen, führte die deutsche Ge-gegenaktion immer weiter auf die Bahn einer militanten Nationalpolitik. Zu der Germanisierung der Menschen trat der Versuch der Germanisierung des Bodens in der Ansiedlungsgesetzgebung seit 18 86. Und doch, so einheitlich die Sprach-politik im preußisch-deutschen Nationalstaat auf den ersten Blick erscheint, so sehr ist sie doch von verschiedenen Tendenzen bestimmt; untergründig ging die Auseinandersetzung zwischen der von Böckh geführten Richtung des national-toleranten Liberalismus und den Anhängern der strikten Assimilation im Geiste von Rössler und Treitschke weiter. Die von einem Sohn Schellings verfaßten Motive zu dem einzigen deutschen Gesetz, das sich ausschließlich mit der Sprachenfrage befaßt, nämlich dem preußischen Geschäftssprachengesetz von 1876, sprechen von der Nationalsprache als einem Wahrzeichen der Einheit eines Staates, der auf das nationale Gepräge Gewicht legt. Sie lehnen es aber nur ab, die Sprache einer andersredenden Bevölkerung als gleichberechtigte Staats spräche anzuerkennen und wollen ihr ihre Geltung als Volkssprache nicht nehmen. Gegen den leidenschaftlichen und übrigens auch höchst geschickten und intelligenten Widerstand der Polen wird in der Debatte unter anderem auch vom preußischen Innenminister Grafen Eulenburg die Böckh’sche Trennung von Volkssprache und Staatssprache als das Ziel dieses Gesetzes bezeichnet, das die deutsche Sprache als die ausschließliche Geschäftssprache aller Behörden, Beamten und politischen Körperschaften des Staates festlegt, den nicht-öffentlichen Gebrauch der Volkssprachen aber unangetastet läßt.

Nach der Jahrhundertwende hatte sich die Lage dann erheblich verschärft. Jetzt wurde die Diskussion über die ausschließliche Geltung der deutschen Sprache im Nationalstaat mit weit radikaleren Parolen fortgeführt. Der amtliche Bereich, in dem die Nationalsprache ein Monopol besitzen sollte, wurde mehr und mehr ausgedehnt, unter anderem auch gefordert, Versammlungen, die in anderen Sprachen abgehalten würden, aus diesem Grunde aufzulösen. Diese Forderung wurde mit dem eben erwähnten Geschäftssprachengesetz von 1876 begründet, da nur bei einer Versammlungsführung in deutscher Sprache das polizeiliche Aufsichtsrecht in jedem Falle wahrgenommen werden könne. So untergeordnet dieser Anlaß gewesen sein mag, so sehr hat er nun in die Mitte der national-staatlichen Politik. hineingeführt. Führende Juristen dieser Zeit benutzten jetzt den Anlaß, um den Nationalstaat „als Rechtsbegriff" mit allen seinen Konsequenzen zu konstituieren. Der Bonner Staatsrechtler und preußische Kronsyndikus Philipp Zorn gab in einem Aufsatz von 1902 über die deutsche Staatssprache dieser Theorie Ausdruck und entwickelte aus ihr das Sprachenrecht des Nationalstaates. Er ging aus von dem allgemeinen Rechtsgrundsatz, das Schweigen der deutschen und preußischen Verfassungsurkunden über die Sprachenfrage beruhe auf der Voraussetzung, daß im preußischen und deutschen Staate die deutsche Sprache allein die Staatssprache sei. Werde auch die Sprache des Privatlebens vom Staat freigelassen, so stehe doch alles, was in die Sphäre des öffentlichen Lebens, in Staat und politische Gemeinde reiche, unter der Herrschaft der deutschen Sprache. Damit wird die totale Geltung der Nationalsprache im Nationalstaat gefordert, die Sprachpolitik wird geradezu zur Selbstbestätigung des Nationalstaates und zu einem seiner wirksamsten Kampfinstrumente, um die politische Tätigkeit anderssprachiger Gruppen zu unterdrücken. Lediglich, und das muß man hier ausdrücklich hinzusetzen, die tolerante Rechtsprechung des preußischen Oberverwaltungsgerichts hat es verhindert, daß daraus die letzten Konsequenzen gezogen werden konnten.

Wir fassen einige Ergebnisse zusammen: Die Sprachpolitik des deutschen Nationalstaates und in ihm Preußen als seines politischen Kerns, war, wie sich in vielen einzelnen Aktionen nachweisen ließe, durch den Willen bestimmt, der deutschen Sprache volle Geltung im ganzen öffentlichen Bereich zu verschaffen. Dieser Wille reichte bei den radikalsten Verfechtern national-deutscher Politik bis zur vollen Durchsetzung der Staatssprache auch als einziger Volkssprache im Deutschen Reich, also bis zur vollen sprachlichen Assimilation, der vor allem die Schule zu dienen hatte. Hans Delbrück hat schon im Jahre 1894 darauf hingewiesen, daß diese Politik verfehlt war. Der Eifer, den Polen die deutsche Sprache beizubringen und die Deutschen vom Polnischen abzuhalten, habe, so meinte er, nur dazu geführt, die Polen zweisprachig zu machen und ihnen dadurch wirtschaftlich vor den Deutschen einen Vorsprung zu geben. Dies war sozusagen das Dilemma der nationalstaatlichen Politik, die ausgezogen war, sich zu vollenden und sich nun einem kräftigeren Gegner gegenüber sah. Ihre strukturelle Schwäche lag darin, daß sie diesen Gegner in der Hauptsache mit staatlichen Waffen zu bekämpfen suchte und ihm auf dem gesellschaftspolitischen Boden in keiner Weise gewachsen war. Das polnische Gemeinwesen im preußischen Staat wurde sozusagen ein Anti-Körper im Nationalstaat, Symptom einer Störung, die durch das Eindringen eines Fremdstoffes hervorgerufen war. Nun hat die deutsche Innenpolitik im deutschen Kaiserreich immer etwas vom Bewußtsein des unvollendeten Nationalstaates in sich getragen, und zweifellos ergaben sich daraus manche ihrer Übereilungen und Überspannungen. Es war nun nicht die Nationalitätenfrage allein, die dieses Bewußtsein erzeugte, sondern vielmehr ihr ständiges Ineinandergreifen mit den anderen inneren Krisen, mit dem Kultur-kampf, der sozialen Frage und der Auseinandersetzung mit dem ostelbischen Agrariertum.

Wandlungen des deutschen Nationaldenkens

Es muß hier noch die Frage angefügt werden, wieweit sich dieses Bewußtsein des unvollendeten Nationalstaats auch nach außen gerichtet hat. Mit anderen Worten: kann man in der Zeit des Kaiserreiches von einer Fortsetzung groß-deutscher Politik oder von Irredentismus in irgendeiner Form sprechen? In der westeuropäischen und teilweise auch amerikanischen Literatur wird eine ungebrochene Linie völkischer, d. h. großdeutscher, auf Sprache und Volkstum gegründeter Politik von Herder, mindestens aber auch von der Frankfurter Nationalversammlung bis zu Hitlers großdeutscher und national-imperialistischer Politik seit 1938 gezogen. Das Deutsche Reich von 1871 in seinem Charakter als begrenzter, ja sagen wir ruhig als amputierter Nationalstaat, die Entstehung einer vom Staate geprägten reichsdeutschen Nationsidee, die Bismarck’sche Politik des Eindämmens der Nationalbewegung auf das Reichsgebiet von 1871, all das fällt bei dieser Deutung unter den Tisch. Vielmehr erscheint die Kontinuität eines grenzenlosen Nationalismus im Lichte der Zeugnisse deutscher Publizistik, etwa eines Paul de Lagarde, manchmal eines mißverstandenen Konstantin Franz, in erster Linie aber des Alldeutschen Verbandes. Es ist zuzugeben, daß die deutsche Geschichtsforschung sich der Wandlungen des deutschen Nationaldenkens von der Bismarck’schen zur Wilhelminischen Epoche noch keineswegs mit dem nötigen Nachdruck angenommen hat, so daß seine verschlungenen Wege noch nicht endgültig abgeschritten werden können. Die Methoden der reinen Geistesgeschichte scheinen hier zu versagen. Es ist unmöglich, Bewußtseinsinhalte großer Gruppen und ganzer Nationen nach einzelnen literarischen Zitaten zu bestimmen. Man muß auch in untere Schichten eindringen, um die Tiefenströme in den Massen freizulegen: so müssen uns die Bedeutungsgehalte der politischen Gebrauchssprache interessieren und in ihr die Wandlungen von Worten wie deutsch, national, Nation und Nationalstaat.

Einiges davon läßt sich heute schon bestimmen. So bleibt der Untergang, das Verschwinden des alten Großdeutschtums nach 1866 und 1871 ein erstaunlicher Vorgang, zumal da das Echo der Reichsgründung unter den Deutschen außerhalb der Reichsgrenzen, namentlich in Österreich eben noch überwältigend gewesen war. Nach den großen Entscheidungen der beiden Nationalkriege erheben sich nur noch wenige Stimmen für den Gedanken, daß der deutsche Nationalstaat etwas Vorläufiges sei und in naher oder fernerer Zukunft durch den Zutritt der Deutsch-Österreicher abgerundet werden könnte. Treitschke hat dieser Stimmung in einem Aufsatz der Preußischen Jahrbücher über „Österreich und das Deutsche Reich“ vom Dezember 1871 Ausdruck gegeben. „Wir Deutschen“ schreibt er hier, „haben das Nationalitätenprinzip niemals in dem rohen und übertreibenden Sinne verstanden, als ob alle Europäer deutscher Zunge unserem Staate angehören müßten. Wir betrachten es als ein Glüch für den friedlichen Verkehr des Weltteils, daß die Grenzen der Nationen nicht gleichsam mit dem Messer in die Erdrinne eingegraben sind, daß noch Millionen Franzosen außerhalb Frankreich, Millionen Deutsche außerhalb des Deutschen Reiches leben, Wenn die heutige Lage in Mitteleuropa sich befestigt, wenn in der Mitte des Weltteils zwei große Kaiserreiche bestehen, das eine paritätisch und rein deutsch, das andere katholisch und vielsprachig, doch von deutscher Gesittung befruchtet, wer darf behaupten, daß ein solcher Zustand für den deutschen Nationalstolz demütigend sei?“ „Eine Zerstörung Österreichs“ — fährt er fort — „wäre ein Unglück auch für Deutschland, bräche sie herein, dann allerdings und nur dann müsse das Reich bereit und fertig sein, das Deutschtum an der Donau aus den Trümmern zu erretten.“ Diese Theorie der beiden mitteleuropäischen Reiche war die fast logische Folge der Ereignisse von 1866 bis 1871, also des Sieges der Idee vom starken Nationalstaat, der, weil er stark und weil er Macht sein will, auf die Vollendung des Nationalitäten-prinzips verzichtet. Sie war weder großdeutsch, noch kleindeutsch im älteren Sinne, sondern will das Miteinander und das Gegeneinander der beiden großen Führungsmächte in ein bloßes Nebeneinander auflösen. Jeder großdeutsche Irredentismus soll gewissermaßen durch die Staatsräson der beiden Reiche eingedämmt und gebändigt werden. Darin lag der gleichgewichts-politische Sinn der kleindeutschen Reichsgründung Bismarcks.

Aber konnte das nationale Bewußtsein in Deutschland auf die Dauer auf diesem Stande festgehalten werden? Seit den 80er, vollends seit den 90er Jahren stößt man auf neuartige dynamische, ja, aggressive Nationalbewegungen, die neben einem sich konsolidierenden reichsdeutschen Staatsbewußtsein hergehen. Sie haben mit dem alten Großdeutschtum und seiner Nationalidee nur wenig mehr gemein. Die Vorstellung vom unvollendeten Nationalstaat vertreten sie nicht mehr im Sinne des alten Nationalitätenprinzips, sondern im Sinne eines neueren, im Zeichen des Imperialismus gewachsenen nationalen Prestigegedankens. Das zu spät gekommene Deutschland müßte, so heißt es jetzt, den Vorsprung der anderen Weltvölker aufholen. Nur so könne es seine nationale Existenz erhalten.

Vermischung völkisch-nationaler und imperialistischer Ziele

Die eigenartige Vermischung völkisch-natio-naler und imperialistischer Ziele, die darin steckt und die Hannah Arendt überhaupt als Kennzeichen für diese Epoche nachgewiesen hat, fand ihren sprechendsten Ausdruck im Alldeutschen Verband. Schon in seinem Gründungsaufruf von 1891 ist von der Pflege und Unterstützung deutsch-nationaler Bestrebungen in allen Ländern die Rede, wo Angehörige unseres Volkes um die Behauptung ihrer Eigenart zu kämpfen haben, und von der Zusammenfassung aller deutschen Elemente auf der Erde für diese Ziele. Der deutsche Imperialismus dieser Epoche ist nicht bloß die politische Außenseite einer ungeheuren wirtschaftlichen und industriellen Expansion, er hat vor allem auch eine nationale Wurzel. Die Vollendung des Nationalstaats wird nicht mehr im kontinentalen deutschen Volks-raum gesucht, sondern in einer nationalen Prestigepolitik auf der ganzen Erde analog den Stimmungen in den meisten anderen europäischen Nationen. Es war zweifellos eine große geschichtliche Leistung der deutschen Nationalstaatsschöpfung von 1871 gewesen, daß sie den Deutschen ein selbst heute noch wirksames und zwar begrenztes Raumbild für ihr nationales Dasein gegeben hat. Im Nationalismus des Alldeutschtums ging dies jetzt verloren. Er überschreitet, wie es ebenfalls Hannah Arendt von den Panbewegungen dieser Zeit insgesamt gesagt hat, in seiner Expansionsschwärmerei alle geographischen Schranken einer bestimmten nationalen Gemeinschaft und wird gleichsam raum-los. Am ehesten bei den österreichischen All-deutschen sind seine großdeutschen Wurzeln noch erkennbar. Damit ist die beschränkende, mäßigende Funktion der Bismarck’schen Reichs-gründung um ihren historischen Sinn gebracht worden, ohne daß wir damit die Frage schon beantwortet haben, wieweit hier geschichtlicher Zwang oder freie Entscheidung im Spiele waren» In einer Art Pseudomorphose wird der Reichs-begriff jetzt dazu mißbraucht, einen weltpolitischen Anspruch in der Ära des Imperialismus zu legitimieren.

Sicherlich ist die amtliche deutsche Politik der sich wandelnden Haltung in Kreisen der Nation nicht immer unmittelbar gefolgt. Aber sie steht doch auf dem schwankenden Untergrund unklarer nationaler Stimmungen, unsicher, manchmal hilflos, meist unstet in ihren Entscheidungen. Nur aus einer inneren Gebrochenheit des deutschen Nationalstaatsdenkens in der Phase des Imperialismus kann man es sich erklären, daß im Jahre 1914, nach dem Ausbruch des Krieges, die weltpolitischen Ziele der bisherigen Politik ohne sichtbare Bedenken aufgegeben wurden und an Stelle nun einer ihre Ziele kontinentalen Expansion traten, die mit der Stabilisierung deutscher Sicherheit begründet wurden. Die erschreckende Unsicherheit in der Erkenntnis der Lebensgesetze des deutschen Nationalstaates setzt sich dann fort in der Diskussion der deutschen Kriegsziele, mit der als neues Element nun allerdings zum ersten Male auch ein übernationales Reichsdenken erscheint.

Nationale Symbole und politischer Stil

Als letzte Aufgabe bleibt uns noch der Versuch, die nationalstaatliche Politik des Reiches an Hand ihrer Symbole und ihres politischen Stils zu analysieren. Percy Ernst Schramm hat für die mittelalterliche Geschichte die Lehre von den Herrschaftszeichen zu einem eigenen Zweig der Geschichtswissenschaft entwickelt. Für die neueste europäische Geschichte, für die Epoche, die wir allgemein als die der National-demokratie bezeichnen können, fehlen zu diesem Thema noch fast alle systematischen Untersuchungen. Und doch ist uns allen gegenwärtig, in welch hohem Grade der moderne Nationalstaat einen politischen Stil mit einer eigenen Symbolik geschaffen hat. Dieser Stil ist durch die große Französische Revolution und in einigen Punkten schon durch die Amerikanische geprägt worden. In den USA wird die Verfassung z. B. nicht nur als ein Kodex von politischen Normen und Werten, sondern als ein Symbol verehrt. Ihre Integrität wird bis zum heutigen Tage nicht nur wegen ihrer manchmal problematisch werdenden praktischen Brauchbarkeit, sondern eben auch wegen ihrer nationalen Integrationskraft bewahrt. Die Französische Revolution ist es dann, die die Symbole der nationalen Demokratie im einzelnen hervorbringt: die Nationalhymne z. B., die Nationalfeiertage, von denen im Art. 12 der Verfassung von 1791 ausdrücklich die Rede ist als von einem Mittel, die Erinnerung an die Französische Revolution zu erhalten und die Anhänglichkeit der Bürger an die Verfassung, das Vaterland und die Gesetze zu erzeugen, („les attadier ä la Constitution, ä la patrie et au loi“): Dann die nationale Flagge, die Tricolore, die auf alle heraldischen Zeichen verzichtet, schließlich die nationalen Denkmäler, mit denen uns das 19. Jahrhundert in so reicher Fülle gesegnet hat. Diese Symbole sind und sollen sein ständige Stimulantia, um das nationale Bewußtsein zu erregen, ja geradezu zu erzeugen, während die höfische Symbolik des monarchischen Fürstenstaates entweder wie im Barock große Selbstdarstellung, oder wie in militärischen Monarchien ä la Preußen Machtdemonstration sein will.

Treten wir mit solchen Maßstäben an das Deutsche Reich von 1871 heran, so tut sich wieder ein tiefer Zwiespalt auf. Idi will die Problematik der Flagge und auch des Nationalfeiertags nur kurz im Vorbeigehen berühren. Das neue Reich schafft sich eine Tricolore, aber es ist nicht die Tricolore der deutschen Revolution von 1848, sondern eine künstlich geschaffene, in der die Farben des Hegemonialstaates Preußen dominieren. Während die Farben Schwarz-Rot-Gold zuerst weniger als Farben der deutschen Demokratie als vielmehr der großdeutschen Bewegung außerhalb der Reichsgrenzen fortleben, wächst die Integrationskraft der neuen Flagge sichtbar erst mit dem Entstehen der deutschen Flotte. Erst durch einen kaiserlichen Erlaß von 1892 wurde sie in aller Form zur Nationalflagge erklärt. Ihre Einfügung in die Reichsverfassung von 1871 stand noch ganz im Zeichen nüchterner Zweckbestimmtheit. Sie wird im Art. 5 5 des Abschnitts „Marine und Schiffahrt“ ausgesprochen mit ausdrücklicher Begrenzung auf die Kriegs-und Handelsmarine. Das sticht ab von den Verfassungen der meisten im 19. Jahrhundert entstandenen Nationalstaaten, in denen der Flaggenartikel in der Regel unter den allgemeinen Bestimmungen oder in einem eigenen Abschnitt über die politischen Symbole erscheint. Für Bismarck indessen kam es darauf an, die neue Flagge nur in dem Rahmen erscheinen zu lassen, in dem sie als juristisch unerläßlicher Ausdruck der Staatlichkeit des neuen Bundes dienen mußte, d. h. also im Seerecht. Die Symbole der Einzelstaaten, vor allem Preußens konnte er nicht verdrängen wollen. Ähnliche Rücksichten haben wohl auch die Zurückhaltung der offiziellen Reichspolitik in der Frage eines Nationalfeiertags bestimmt. Die Feier des Sedan-Tags wurde zuerst durch eine spontane Aktion nationaler Kreise unter Führung des Pastors von Bodelschwingh gegenüber dem Widerspruch vieler Männer, unter anderen auch des Bischofs Ketteier z. B., schon im Jahre 1871 eingeführt und ist dann später immer wieder zu einer Kraftprobe zwischen soge-nannten Reichsfreunden und Reichsfeinden geworden, weswegen z. B. Theodor Mommsen für seine Abschaffung eintrat. Sie hatte ihre Bedeutung für das nationalstaatliche Bewußtsein, konnte aber den Riß in der Nation, der sich seit dem Kulturkampf und dem Sozialistengesetz aufgetan hatte, nicht überwinden. Eine Nationalhymne hat das Kaiserreich nicht besessen. Das Deutschlandlied Hoffmanns von Fallersleben ist erst im Jahre 1922 durch den Reichspräsidenten Ebert dazu bestimmt worden.

Der Name von Kaiser und Reich

Dies alles ist für die Erkundung des deut-, sehen Nationalstaatsproblems beachtlich. Gleichwohl führt uns aber erst die Frage nach dem Namen von Kaiser und Reich in den Kem der Sache. Die Wiederaufnahme der Begriffe des mittelalterlichen Imperiums in die Gedanken-weitund den Wortschatz der deutschen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts ist ein Erbe des älteren deutschen Nationaldenkens zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Von hier aus sind sie in die Verfassungsberatungen der Frankfurter Nationalversammlung und deren Ver-fassungsentwurf von 1849 gelangt. Schon hier war nach dem Sieg der Erbkaiseridee und damit der Entscheidung für Preußen die Universalität des alten Kaisergedankens und Reichsgedankens verblaßt zur Benennung der Zentralgewalt in einem bundesstaatlichen Gefüge von Monarchien. Eben daran hat Bismarck anknüpfen wollen. Nicht nur, daß er stärker als viele Anhänger der liberalen Nationalpolitik die Faszination erkannte, die von dem Kaisertitel namentlich auf Süddeutschland, als werbendes Element für Einheit und Zentralisation, wie er einmal sagte, ausging. Für ihn war dieser Titel ein geeignetes Mittel, die preußische Hegemonie im monarchischen Bundesstaat für die widerstrebenden Fürsten im Süden erträglich zu machen. So lesen wir noch in den „Gedanken und Erinnerungen": Preußische Autorität innerhalb der Grenze ausgeübt, sei neu und werde die bayerischen Empfindungen verletzen. Ein deutscher Kaiser aber sei nicht der im Stamme verschiedene Nachbar Bayerns, sondern der Landsmann. Der König von Bayern könne die der Autorität des Präsidiums zu gewährenden Konzessionen schicklicher Weise nur einem deutschen Kaiser, nicht einem König von Preußen, machen. Aus dem gleichen Grunde setzte Bismarck schließlich bei seinem widerstrebenden König den Namen Deutscher Kaiser statt Kaiser von Deutschland durch, weil mit diesem letzten der Anspruch auf eine unmittelbare Gebietsherrschaft verbunden gewesen wäre.

Es ist hinreichend bekannt, wie sehr nicht nur der altpreußische Sinn König Wilhelms sondern auch weiter Kreise mit preußisch-konservativer Gesinnung dem Kaisertitel abgeneigt waren. Weniger bekannt ist die Abneigung, die aus den Reihen des nationalen Liberalismus kam. Sie wird verständlich, wenn man sich der großen wissenschaftlichen und zugleich politischen Auseinandersetzungen erinnert, die ein Jahrzehnt vor der Reichsgründung um die mittelalterliche Kaiserpolitik zwischen Heinrich von Sybel und Julius Ficker, unter Anteilnahme der Bildungsschichten der ganzen Nation, geführt worden waren. Es mußte wie geschichtliche Ironie wirken, daß die gleichen Männer, die der mittelalterlichen Kaiser-und Reichspolitik jeden Sinn absprachen, nun mitwirkten, ein neues Reich mit einem neuen Kaisertum aus der Taufe zu heben. Namentlich Gustav Freytag hat sich zum Sprecher solcher Empfindungen gemacht und ist deshalb für den Namen König der Deutschen eingetreten. Aber auch andere liberale Historiker — Sybel, Treitschke, Droysen — verhehlten nicht ihr tiefes Unbehagen. Es bedurfte nicht erst der beißenden Kritik großdeutscher Organe, z. B.der Historisch-Politischen Blätter in München, an dem unaufhebbaren Widerspruch von liberalem Nationalismus und Reich, das sich höchstens als deutscher Kaiser-staat bezeichnen dürfe. Die National-Liberalen selbst waren sich bewußt, hier Stück groß-ein deutscher universaler Tradition zu übernehmen. „Idt fürdtte“, so schrieb der Historiker Max Duncker „den Prunk und das Zeremoniell, das sich daran hängen wird, ich fürdtte das Crofldeutschtum, das darin liegt, und möchte sehr gerne das Kaiserwesen und das Kaiserlich-Königliche den Österreichern überlassen. Der Titel ruft alle Irrwege unserer Nation ins Gedächtnis und nimmt den preußischen Bauern unseren König." Es ist übrigens sehr merkwürdig, daß man in Wien im Winter 1870/71 auf das neue Kaisertum überhaupt nicht reagiert hat. Es läßt sich nicht der geringste Anhaltspunkt dafür finden, daß die österreichische Politik überhaupt den Gedanken erwog, gegen die neue Kaiser-würde Einwendungen zu erheben. Als die Namen Kaiser und Reich schließlich in der Verfassung verankert waren, bemühten sich die National-Liberalen in der überwiegenden Mehrzahl, die Kontinuität mit dem Heiligen Römischen Reich zu leugnen und die alt-neuen Namen in rein national-staatlichem Sinne zu in+ terpretieren. Kaum eine Darlegung der staatsrechtlichen Stellung des Kaisertums, in der nicht nachdrücklich die Verbindung in der Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 selbst angeklun-gen war. „Dieser angeblidte gesdiichtliche Zusammenhang“, meinte der bekannte Jurist Karl Binding, „zwischen dem neuen und dem alten Reiche ist mir gerade so unheimlich wie der angebliche Zusammenhang zwischen dem mittelalterlichen Kaisertum und den Caesaren des römischen Weltreiches. Das alte Reich und der alte Kaiser sind tot, und Gott gebe ihnen keine gnädige Auferstehung, denn sie verdienen sie nicht, und uns brächte sie Unheil.“

Nur Treitschke suchte die Problematik dieses unhistorischen Historismus zu überwinden und trotz allem die geschichtlichen Anknüpfungen verständlich zu machen. Er brachte diese auf die sehr vereinfachende Formel: „Das alte Reich war die zerfallende, das neue Reich ist die werdende nationale Monarchie“.

Das neue Reich und die christlichen Konfessionen

Im hochpolitischen Zusammenhang ist nun die geschichtliche Stellung des neuen Reiches zum alten bereits in der ersten Adressdebatte des neuen deutschen Reichstages im Frühjahr 1871 leidenschaftlich diskutiert worden. In dieser Debatte, die geradezu wie eine Fortsetzung der wissenschaftlichen Fehde zwischen den Historikern Sybel und Ficker wirkte, versuchten die Abgeordneten des Zentrums, der Adresse des Reichstages an den Kaiser eine Form zu geben, die eine Intervention des Reiches zugunsten des Papsttums nach der Annexion des Kirchenstaates durch den neuen italienischen Nationalstaat nicht völlig ausschloß. Die National-Liberalen antworteten mit einer aus dem Wesen des sich selbst beschränkenden Nationalstaats gefolgerten strikten Nicht-Interventionstheorie und beschworen die mit dem Namen von Kaiser und Reich, wie Bennigsen sagte, auftauchende Erinnerung an die alten Kämpfe und furchtbaren Gegensätze zwischen Kaiser und Papst, die fortdauernden verwüstenden Einfälle, die eine ungemessene Folge blühender Geschlechter deutscher Jugend gezwungen hat, ihr Leben zu lassen in italienischen Gefilden mit allem Verderben, welches dadurch für das äußere und innere Leben des italienischen wie des deutschen Volkes entstanden ist.

Doch verbarg sich in diesen historischen Reminiszenzen ein höchst aktueller Bezug, der bereits auf den heraufziehenden Kulturkampf verweist. Es ging um die Frage, wie das neue Reich sich zu den christlichen Konfessionen verhalten werde, nachdem der Protestantismus zur Mehrheit, der Katholizismus zur Minderheit in Kleindeutschland geworden war. Wenn im nationalen Liberalismus das Wort vom evangelischen Kaisertum gesprochen wurde, so sollte damit unzweifelhaft auch sein innerer Charakter bestimmt werden. Extreme Richtungen gingen bis zur Forderung eines idealistischen Staatsprotestantismus, einer Staatskirche über den Konfessionen, wie sie etwa bei Konstantin Rössler oder Paul de Lagarde erscheinen. Es kam gerade an dieser Stelle alles darauf an, ob für die Zukunft aus der Tradition des alten Reiches seit 1648 nicht wenigstens der Gedanke der Parität gerettet werden konnte.

Bundespräsident oder souveräner Monarch ?

Was hat nun schließlich, so müssen wir zuletzt noch fragen, der Kaiser im deutschen Nationalstaat bedeutet? Was ist aus der Wiederaufnahme des alten Namens unter den neuen politischen, sozialen und internationalen Verhältnissen nun tatsächlich geworden? Die rechtliche Stellung des Kaisers im Reiche ließ der staatsrechtlichen Interpretation manchen Spielraum und war jedenfalls nicht einfach mit dem normalen Maß des konstitutionellen Verfassungsrechtes des 19. Jahrhunderts zu messen. Es bestand Übereinstimmung darüber, daß der Kaiser weder souveräner Monarch des Reiches noch sein Präsident war. „Er kann nicht Beamter sein wie der Präsident einer Republik, weil er Mitsouverän ist, und er kann nicht Mo narch sein, weil er nicht alleiniger Souverän ist.“ So hat es der führende Staatsrechtler des Reichs-rechtes, Paul Laband, formuliert. Auf der anderen Seite kann der Kaiser auch nicht einfach als einer unter den vielen Gliedern des Kollektiv-Souveräns der Fürsten und freien Städte bezeichnet werden, dessen Organ der Bundesrat gewesen ist. Er hat vielmehr besondere Rechte, die zum Teil aus seiner Stellung als Inhaber des Bundespräsidiums, zum anderen aber, was oft übersehen wird, aus der des Bun-desfeldherm fließen und ihm eine Machtfülle ähnlich der eines Monarchen verliehen. So ernennt der Kaiser den Reichskanzler wie ein Souverän und entläßt ihn, wennschon er dies im Namen des Reichs und in Ausübung seiner Rechte als Inhaber des Bundespräsidiums tut.

Kein bleibender Einklang zwischen Nation und Kaisertum

Dieses komplizierte System des monarchischen

Bundesstaates ist im Kreise der Reichs-juristen im einzelnen umstritten gewesen. In der politischen Öffentlichkeit Deutschlands und gar noch des Auslands wurde es nicht verstanden. Wohl gerade wegen seiner Verwickeltheit verleitete es dazu, alle staatsrechtlichen Hürden zu überspringen und im Kaiser einfach den Reichsmonarch, „das siditbare Symbol der nationalen Einheit der politischen Machtstellung Deutschlands zu sehen." So schrieb es Paul La-band in einem Aufsatz von 1907 über die geschichtliche Entwicklung der Reichsverfassung und fügte hinzu, für die naive Auffassung des Volkes gebe es kein Deutsches Reich ohne Deutschen Kaiser und keine Klausel der Verfassung, keine staatsrechtliche Beweisführung sei imstande, dem Volke den Glauben zu nehmen, daß ein Reich ohne Kaiser ein politischer Rumpf ohne Haupt wäre. „Alles, was int Herzen der Nation an heiligen Gefühlen der Vaterlandsliebe glüht, was das Volk an patriotischer Hingebung und Opferbereitschaft, an nationalem Stolz und zuversichtlichem Vertrauen zu seiner staatlichen Ordnung besitzt, das erhebt sich von dem Boden objektiver juristischer Betrachtung und gewinnt den Charakter tief empfundener Liebe und Ehrfurcht gegen den Kaiser als das Oberhaupt und den Führer des Volkes. Das Volk jubelt und jauchzt dem Kaiser zu, dem Bundespräsidium würde es keine Ehrenpforten bauen.“ Diese Sätze, geschrieben in der Ära des sogenannten persönlichen Regiments Wilhelm II. im Jahre vor dessen Krise in der „Daily Telegraph‘‘-Affaire wirken fast wie eine Selbstabdankung des Staatsrechts vor der Macht populärer Stimmungen. Sie zeigen die Gefährlichkeit einer Verfassungsordnung, die mindestens die Schranken nicht deutlich genug bezeichnet, die zwischen dem Kaiser als nationalstaatlichem Symbol und dem Kaiser als unbeschränktem Führungsorgan des Reiches bestanden. Gerade dies mußte für einen Monarchen wie Wilhelm II. verhängnisvoll werden, der sich über die recht-, liehen Grundlagen seiner Macht nie Gedanken machte und sich gerühmt haben soll, daß er die Verfassung nicht kenne und sie nie gelesen habe. So wenig wie im Begriff des persönlichen Regiments die politische Wirklichkeit der Ära Wilhelms II. ganz getroffen wird, so sicher ist es doch, daß selbst die Fiktion einer persönlichen Herrschaft nur in einem im letzten nicht ausgeglichenen Verfassungssystem gedeihen konnte. Wilhelm II. ging offensichtlich von der Unmöglichkeit aus, das Kaisertum lediglich als traditionales Symbol des Nationalstaats aufrecht erhalten zu können. So schien er es in seinen Anfängen durch die Verbindung mit dem vierten Stand zu einem sozialen Kaisertum umformen zu wollen, wie er später den Reichsbegriff zur Weltreichsidee erweiterte. Dies alles geschah jedoch ohne letzten Ernst und mit einem erschreckenden Dilletantismus, aber auch mindestens seit 1908, seit den Erschütterungen der „Daily Telegraph“ -Krise mit einem unheilvollen Schwanken zwischen maßloser Selbstüberschätzung und tiefem Unglauben an sich selbst.

Die Nation stand dieser Selbsterhöhung des Kaisertums, der ein Beitrag ihrer Selbstzerstörung werden sollte, trotz vieler Äußerungen byzantinischer Bewunderung im ganzen doch mit wachsender Kritik, z. T. mit Bestürzung und Empörung gegenüber, wie sich in den kritischen Wochen des Jahres 1908 zeigen sollte. Aber selbst damals ist der Wille, das Steuer der Verfassungspolitik herumzureißen, vorzeitig erlahmt. Weder verfassungsrechtlich noch politisch-soziologisch ist der Einklang zwischen der Nation und dem Kaisertum, der unter Wilhelm I. bestanden hatte, wiederhergestellt worden. Darüber kann auch der kurze Moment des August 1914 nicht hinwegtäuschen.

Die tiefsten Gründe dafür liegen nun allerdings nicht nur in der Person des letzten Kaisers, sondern in der Auseinanderentwicklung der politischen und gesellschaftlichen Verfassung. Diesen verhängnisvollen Prozeß hatte Friedrich Naumann vor Augen, als er im Jahre 1900 seine Schrift „Demokratie und Kaisertum" veröffentlichte, wohl den bedeutendsten geistigen Versuch, das Kaisertum für den sich wandelnden Nationalstaat zu retten. Er knüpfte an das plebiszitäre Element des deutschen Kaisertums an, an das, was man unter Napoleon II. Caesarismus genannt hatte und wollte den Kaiser zum Führer aus einer alten, agrarisch-feudal bestimmten in eine neue industriell-soziale Zeit machen. Es ist bezeichnend, daß diese große Zeitanalyse bei den sozialen Problemen des Nationalstaates endete und diese in einen großen Zusammenhang mit Weltmachtpolitik, industrieller Expansion und caesaristischer Diktatur stellte. Darin mußte vieles, fast alles wie eine grandiose Utopie wirken. Unleugbar waren aber die entscheidenden Probleme in den Blick gerückt, das Kaisertum nicht mehr als Symbol sondern als Träger der politischen Macht des Nationalstaats und die industrielle Revolution als die stärkste wirtschaftlich-soziale Macht sollten einander zugeordnet werden.

Gab es Symptome einer allmählichen Gesundung?

Diese Zuordnung ist im Ganzen nicht geglückt. Vor allem sind die notwendigen verfassungsrechtlichen Konsequenzen in der Frage der Parlamentarisierung der Reichsverfassung oder des preußischen Wahlrechts nicht gezogen worden. Immerhin wurde das Reich als Nationalstaat in den Jahren, bevor die große Lebenskrise des Krieges ausbrach, sicherlich von breiteren Schichten innerlich getragen als zuvor. Die sozialistische Arbeitnehmerschaft wuchs fast unmerklich in die Reichsnation hinein, die durch das Zentrum politisch vertretenen katholischen Volksteile wirkten längst am inneren und äußeren Ausbau des Reiches mit, soweit sie in Preußen lebten, fanden sie im Reichsgedanken sogar einen Anhalt, um Preußen durch ihn zu überwinden. In einem großartigen Überblick über Reich und Nation seit 1871, der in den Jahren des Krieges erschien, glaubte Friedrich Meinecke sogar von Symptomen einer Gesundung sprechen zu können, die sich unter der Decke der offiziellen Politik zeige. „Das Revidieren alter Programme, das Um-und Neulernen war überall im Gange und während die Parteien in ihrem Handel sich oft ganz hart und unbiegsam zeigten, spannen sielt in ihrem Denken mannigfache neue Fäden von einer zur anderen." Aber immer noch fehlte der Nation das innere Gleichgewicht. Ihr Nationalbewußtsein schwankte zwischen der Beschränkung auf den Nationalstaat und auf die inzwischen zur Selbstverständlichkeit gewordene Staats-und Reichsnation und auf der anderen Seite einem ziellosen, in die Ferne schweifenden Nationaldenken, das die Begleitmusik zur Weltpolitik des Reiches bildete.

Es hingen also weiterhin tiefe Wolken über dem nationalen Reich der Deutschen. Aber wen wie uns die Bilder der jüngsten Vergangenheit bedrängen, der ist gegen die Gefahr gefeit, nur auf die Wolken und ihre Schatten zu starren. Erst vom Ende des Reiches her hat sich dieser Blick auf das, was in ihm an geschichtlicher Lebenskraft steckte, geöffnet. So war die Staats-gesinnung derer, die zuvor als Reichsfeinde denunziert worden waren, beim Neuanfang von 1918/19 ein Stück des aus dem Kaiserreich überkommenen Erbes. Ob der Untergang des Kaisertums als Symbol der nationalen Einheit, als ein reiner Segen angesehen werden darf, haben schon westeuropäische Staatsmänner wie Churchill unter dem Eindruck der Ereignisse nach 1933 bezweifelt. Fraglich bleibt auch, ob die im Jahre 1919 geschaffene Lösung der Nationalitätenprobleme, nicht zuletzt auch der deutschen, auf die europäische Ordnung stabilisierend gewirkt hat. Mit den nach 1918 auftretenden sozialen Problemen ist die Republik keineswegs in jeder Hinsicht besser fertig geworden als das Kaiserreich mit den seinigen, was einiges zu ihrem Untergang beigetragen hat. Wir sollten, alles in allem genommen, einem so schicksalsträchtigen Abschnitt unserer Geschichte gegenüber, wie dem von 1871 bis 1918, die wahre Kunst der Historie erlernen, den politischen Sinn durch kritisch geprüfte Anschauung der historischen Wirklichkeit zu bilden. Darin liegt auch heute noch der tiefste Bildungswert der Geschichte.

Fussnoten

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