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Leben in Workuta Fünfzehn Jahre Entbehrungen und Hoffnungslosigkeit | APuZ 6/1961 | bpb.de

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APuZ 6/1961 Leben in Workuta Fünfzehn Jahre Entbehrungen und Hoffnungslosigkeit

Leben in Workuta Fünfzehn Jahre Entbehrungen und Hoffnungslosigkeit

Albertine Honig

Eine deutsche Lehrerin aus Siebenbürgen wird im Mai 1945 in Rumänien von der Geheimpolizei verhaftet — erst im September 1959 ist sie wieder ein freier Mensch. Dazwischen liegen Jahre der Entbehrungen und der Hoffnungslosigkeit, Jahre der Zwangsarbeit in den Lagern Workutas, in denen unzählige ihrer Leidensgenossen ihr Leben verloren.

Uber Workuta sind in der Beilage schon mehrere Berichte erschienen, so u. a. „Die Toten kehren zurück* (13., 20. und 27. April 1955) und „Entstehung der subarktischen Großstadt Workuta“ (19. Febr. 1958). In den nachfolgenden Aufzeichnungen wird nun zum ersten Male auch über die Zeit nach der „Auflösung“ der Lager und die seit 1956 allmählich eingetretene Verbesserung der äußeren Lebensbedingungen berichtet. Daß auch eine moderne Sklavenhaltergesellschaft durch den rücksichtslosen Einsatz menschlicher Arbeitskraft Erfolge erzielen kann, davon zeugt die hier veröffentlichte Schilderung der „Errungenschaften" von Workuta.

1. Aus Bukarest in die Arktis

Sie lesen heute:

1. Aus Bukarest in die Arktis In den nächsten Beilagen:

5. Spaten und Gefangene, Maschinen und Facharbeiter 6. Ärztliche Betreuung im Wandel der Jahre S. Kulturelles Leben einst und jetzt Sowjetarktis 10. Kriminalität von heute

12. Das Volk der Komi und seine 13. Eine Iljuschin fliegt von Workuta Inhalt 2. Vom Nenzenzelt zum Kultur-palast 3. Von „Balanda" und Brot zum „Menü“ von heute 4. Vom Lumpenhabit zum „Univermag“ 7. Das Schulwesen unter der Devise „Lernen, lernen, lernen!“ 9. Erster Femsehturm in der 11. Begegnungen mit Sowjet-deutschen Republik nach Südwest

In Bukarest läßt die Augustsonne im Sommer 1945 die Quecksilbersäule auf 50 Grad im Schatten steigen. Die Schuhsohlen der Passanten und die Stiefel der Rotarmisten hinterlassen tiefe Spuren im Asphalt der Gehsteige. Gedämpft klingt der sonst aufreizende Lärm dieser schillernd bunten Balkanstadt, in der schon seit einem Jahre Moskau tonangebend ist.

Das Haus in der Juliu Maniu Straße, einer stillen Nebenstraße im Zentrum, unterscheidet sich äußerlich nicht von den andern; es ist die vornehme Villa eines wohlhabenden Bürgers, tief im Baumgrün des Gartens versteckt. Doch vor dem Tore steht ein Wachposten. Offiziere der Roten Armee gehen allzu oft aus und ein und die Fenster bleiben trotz der drückenden Hitze immer geschlossen. Man munkelt, daß in den Kellern Gefangene verschiedener Nationalitäten beiderlei Geschlechtes auf ihre Verurteilung und ihren Abtransport in die Sowjetunion warten.

In einem der verdunkelten Kellerräume hokken auf nassem Zementboden seit Monaten drei Frauen. Helga stammt von der Nordsee-küste, Marioara ist Rumänin und ich bin eine deutsche Lehrerin aus Siebenbürgen, das bis 1918 südöstlicher Zipfel der Monarchie Österreich-Ungarn war und durch den Vertrag von Versailles zu Rumänien kam.

% Wir sind keine Sowjetbürgerinnen, wie die vielen anderen, die heute kommen und morgen schon wieder verschwinden. Für uns ist alles doppelt fremd und unheimlich. Wir wissen, daß in den Nachbarzellen Männer unserer Heimat gefangen sind. Manchmal „morst" man Zeichen, manchmal hört man ein kaum verständliches Wort, das doch irgendwie Mut macht, i Manchmal summen die Frauenstimmen ein leises Lied und das große Schweigen der Vielen ringsum nimmt die Melodie in sich auf als kostbaren Besitz. Noch steht die verlorene Freiheit ganz nahe, noch ist unser bisheriges persönliches Leben nicht verschüttet und vernichtet. Doch die Not und das Elend dieser furchtbaren Zeit haben unseren Charakter schon mitgeformt, unser Schicksal mitbestimmt. Aus unserem innersten Wesen heraus suchen wir einen Weg, unseren Weg für die nächste Zukunft.

Helga, die jüngste von uns dreien, glaubt den kürzesten-gefunden zu haben. Ihr Mann ist verschollen. Von ihren beiden noch kleinen Kindern wurde sie in einer kalten Januarnacht weggeholt. Dann hatte sie monatelang in einer siebenbürgischen Stadt in stinkenden Kellerlöchern mit vielen anderen auf faulendem, verwanztem Stroh gelegen, ungewaschen, fast verhungert, von einströmendem Erdgas beinahe vergiftet. Die ehemals schöne Frau war nur noch ein bleicher Schatten, als sie in das Bukarester Gefängnis des N. K. G. B. (sowjetisches Volkskommissariat für Staatssicherheit) eingeliefert wurde. Lind dort begriff sie, daß man bestimmte Aufschlüsse von ihr haben wollte. Sie sollte an Hand einiger Lichtbilder die Identität bestimmter Menschen feststellen und noch einiges mehr. Dann dürfe sie zurück zu ihren Kindern, sagt man. Sie ringt mit sich. Soll sie zur ehrlosen Opportunistin werden? Und zuletzt sind doch die Bande, die sie an ihre Familie und an das Leben in den gewohnten Bahnen knüpfen, stärker. Sie sagt laut, und es klingt wie eine Rechtfertigung: Viel Neues sagen kann ich ja doch nicht. Andere haben schon vor mir ausgesagt. Doch wenn es mir gelingt, zu meinen Kindern zurüdezukommen, vielleicht meinen Mann wieder zu finden, so könnte eine gesunde Familie zu einem neuen Anfang mit beitragen. — Die psychologisch folgerichtig vorgehenden, kühl jeden Gefangenen nach seinem größten Nützlichkeitswert einschätzenden sowjetischen Untersuchungsrichter hatten ihr Ziel erreicht.

Einmal nach Mitternacht rüttelt der Wachposten an der Tür. Später kommt Helga toten-bleich vom Verhör zurück. Sie hatte ihre letzten Aussagen gemacht und Anweisungen erhalten. Was für Aussagen? Welche Anweisungen? Ich weiß es nicht. In einem kaum erhellten Raum war sie cerpflichtet worden; der sowjetische Oberst hatte dabei mit dem vor ihm auf dem Tisch liegenden Revolver gespielt. Tags darauf wird Helga abgeführt. Triumphierend erzählt der Posten uns beiden Zurückgebliebenen: Der Hauptmann bringt sie im Auto zu ihren Kindern. Sie ist gut und ihr seid böse Verbrecher. — Nach vielen Jahren erfahre ich, daß Helga mit ihrer Familie in Sicherheit und Freiheit lebt und ihre Kinder zu tüchtigen Menschen erzogen hat. Wer will einen Stein auf sie werfen? Marioara ist trotz ihrer 26 Jahre und beendetem Hochschulstudium ein Kind noch, furchtsam und trotzig. Eines Abends hatte sie der Posten in die Zelle geschoben. Mehrere Tage sitzt sie, verstört, stumm, reglos in einem Winkel, ohne Essen, ohne Schlaf. Wenn sich die Klappe des Guckloches hebt, zittert sie, wenn irgendwoher aus dem Haus ein Stöhnen hörbar wird, laufen Tränen aus ihren Augen. Später, als der erste Schreck überwunden ist, und der liebe fröhliche Junge, der eigentlich in ihr steckt, zum Vorschein kommt, erzählt sie: Ich bin die jüngste von sechs Geschwistern und von allen verwöhnt und geliebt. Meine Eltern sind alt und ich fürchte, daß sie mein plötzliches Verschwinden arg mit-nimmt. Als ich eines Abends nach Hause gehen wollte, kamen drei unbekannte Männer grüßend und winkend auf mich zu, nahmen mich in ihre Mitte wie gute Freunde, doch einer flüsterte drohend: Steigen Sie sofort mit uns in das Auto und wehren Sie sich nicht, sonst wird alles viel schlimmer. Und jetzt bin ich hier, ohne Zahnbürste, ohne Wäsche, ohne Strümpfe. — Und immer noch ohne Strümpfe mußte sie später bis in die sowjetische Arktis wandern.

Zwei Dinge trug sie in ihrem Herzen, die ihr über manches hinweghalfen in all den folgenden Jahren bitteren Leides: eine tiefe Frömmigkeit und Gebundenheit an die orthodoxe Kirche ihres Landes und eine heiße Liebe zu ihrem rumänischen Volke. Sie war stolz darauf, daß sie trotz ihrer leichten Schreckhaftigkeit während all der Verhöre den Mut und die Kraft aufgebracht hatte, niemanden zu belasten. Körperlich zart und schwach ging sie den Weg durch Gefängnisse und Lager der Sowjetunion, manchmal beinahe mit einer heiteren Fröhlichkeit. Charme, Wendigkeit und Anpassungsfähigkeit ihres Volkes halfen ihr, den für sie leichtesten und vorteilhaftesten Weg zu wählen, auch ohne allzu große Zugeständnisse an Moral und Ehre machen zu müssen. Als spätere Frau eines Mannes, dessen Mutter Emigrantin aus dem Kaukasus war, lernte sie über die engen Grenzen ihres Volkstums hinauszusehen. Ein Vorfall erschütterte dann beinahe ihren immer noch kindlichen Glauben. Als sie nach zehn Jahren erstmalig Briefe in die Heimat schreiben durfte, erhielt sie weder von den geliebten Eltern, noch den Geschwistern Antwort. Ein weit entfernter Anverwandter aber schrieb: Marioara wurde vor vielen Jahren von den Russen verschleppt. Alle heiligen Seelenmessen sind in der Kirche für sie gelesen worden. Wie ist es möglich, daß eine so dem Tode Überantwortete noch lebt? — Und erst als sie nach 11jähriger Abwesenheit mit Mann und Kind in das Elternhaus zurückkehrte, nahm man sie auf und umarmte sie als auferstandene Tote.

Verhaftung in Rumänien

Die dritte der Frauen bin ich, die unauffälligste, schon in reiferem Alter. Fünfundzwanzig Jahre Erzieherarbeit liegen hinter mir, an deutschen Schulen in Siebenbürgen. Die deutschen Schulen Siebenbürgens waren zu dieser Zeit ein Kulturfaktor und vermittelten allen dort lebenden Nationalitäten Kenntnis der deutschen Sprache und deutsches Bildungsgut. Beim Vormarsch der sowjetischen Armeen durch Rumänien nahm dies ein jähes Ende.

Die Linden blühten in der Ebene zwischen Donau und Theiß, als ich zusammen mit anderen versucht hatte, versprengte, zurückgebliebene Angehörige der Wehrmacht mit Kleidern und Lebensmitteln zu versehen und durch die Fronten nach Westen zu schleusen. Der jüdische Kommissar der rumänischen Geheimpolizei, der mich verhaftet hatte, fragt: Was wissen Sie von Maidanek? — Ich wußte nichts, hatte den Namen zum ersten Male gehört. Ohrfeigen knallen rechts und links. Und wieder eine Frage: Was wissen Sie von Auschwitz? — Wieder Schweigen, wieder Ohrfeigen. Dann tanzten Sterne vor meinen Augen und eine Stimme, schon ganz ferne, sagt furchtbare Dinge. Alles weitere ist nun so gleichgültig: die Übergabe an die sowjetische N. K. G. B. im Dunkel der Nacht, die „Begrüßung" durch den sowjetischen Major, der ständig von zwei zähnefletschenden Wolfshunden begleitet wird und beim ersten Verhör meine goldene Füllfeder in seine Tasche steckt, die Fahrt unter Bewachung durch das Eiserne Tor an der Donau entlang nach Osten. Eines nur bleibt: Wenn all dies Furchtbare wirklich geschehen ist, so müssen alle, die aus dem gleichen Volke kommen, wie die Verbrecher, versuchen, es wieder gut zu machen, auch wenn sie es persönlich nicht verschuldet haben, auch wenn sie selbst nichts davon wußten.

Schon lange sind wir nun zu zweit in der Zelle. An einem Abend im Oktober bringt uns Mischa, ein Rotarmist aus der Bewachung, einige köstliche reife Trauben und lächelt dabei verlegen und gutmütig. Als später der Wächter mir noch einen runden kleinen Brotlaib zuschiebt, wissen wir, daß eine Änderung bevorsteht. Im Anschluß an längere Verhöre hatten wir beide ja „freiwillig" seitenlange Protokolle unterzeichnet. Immer wird hier in der Nacht gearbeitet. Zwei Offiziere erscheinen und sagen etwas in der fremden Sprache, die man mehr erahnt als versteht. Fertigmachen! — Wohin? -Wozu? — Die Worte vom Weggesell Tod gehen mir durch den Sinn. Marioara bindet ihre zerschlissenen Sommerpantöffelchen mit Streifen fest, die sie von ihrem abgetragenen Kleide reißt, der Wärter wirft ihr noch einen langen Offiziersmantel der Wehrmacht zu. Im Korridor drängen sich schon die Männer, Bekannte und Unbekannte, Nichtsowjetbürger wie wir. Die Monate in der Untersuchungshaft haben allen ihren Stempel aufgedrückt. Planenverdeckte Lastwagen nehmen die armselige Menschen-fracht auf und es geht in rasendem Tempo durch die noch stillen Straßen der rumänischen Hauptstadt. Die Autos halten, irgendwo ... auf dem Flugplatz von Bäneasa. Die sowjetische Rata ist schon startbereit. Der Sowjetmajor gibt sich jovial und ist doch irgendwie unruhig. Ob der Abtransport gelingt? Der silberne Vogel nimmt Kurs Nordost.

Auf dem Wege nach Odessa

Der polnische Wirtschaftsattadre sagt: Wer einmal nach Rußland kommt, kehrt nie wieder zurück. Die Gedanken aller sind fast greifbar: Nun ist es also so weit. Kommunistische Propagandathesen kennen wir einige, aber wie sieht die sowjetische Wirklichkeit aus? Marioara in ihrer kindlichen Frömmigkeit sitzt mit gefalteten Händen. Eines bleibt übrig für sie, wenn es zu Ende geht: Dann streckt der Gott die Hände aus, und öffnet selbst das dunkle Tor, und führt uns in die Herrlichkeit seines Reiches empor. Ich wünsche mir: Durchhalten, wenigstens den Versuch machen durchzuhalten. Horst, der jüngste unter den Männern murmelt leise: Einmal noch möchte ich Deutschland sehen, und wenn auch viele Jahre darüber vergehen!

Die Grenze ist überflogen. Einer der Soldaten aus der Begleitmannschaft stellt einen Sack mit Brot auf den Boden in die Mitte des Flugzeuges. Erleichtert aufatmend — der Menschenraub ist wieder einmal geglückt, — fordert der Major mit einer Geste seine eigenartigen Passagiere zum Zugreifen auf; Begrüßung auf russischem Boden. So sind sie, Befehle durchführend mit eiserner Konsequenz und strengster Disziplin und dabei wunderbare Schauspieler, die berechnendes grausames Handeln täuschend natürlich als menschliches Fühlen und Verstehen darstellen. Unten liegt das Schwarze Meer, weit dehnt sich der Flughafen. Der „Schwarze Rabe" (das geschlossene Auto der sowjetischen Geheimpolizei) ist eng und dunkel, enger und dunkler sind die Zellen in den Felsenkellern von Odessa. Die Türen schließen sich hinter den Ankömmlingen für beinahe zwei Jahre. In den Felsenkellern von Odessa hört man nichts von dem Lärm der großen Hafenstadt, weiß man nichts von dem Ende des furchtbaren Krieges, vom anschließenden Gericht und von der großen Not. Dort regiert der Hunger und die trostlose Einsamkeit. Dort verändern sich gesunde, normaldenkende Menschen zu hysterischen Nervenkrüppeln.

Das Urteil: Acht Jahre Strafarbeitslager

In einer kalten Januarnacht im Jahre 1947 wird mir im kleinen Vorraum des Gefängnisses von Odessa das Fernurteil der „Sonderabteilung" (OSSO) des Polizeigerichtes (KGB) aus Moskau mitgeteilt. Acht Jahre Strafarbeitslager lautet es. Ohne Prozeß, ohne Verteidigungsmöglichkeit, ohne Gerichtsverhandlungen! Ein Urteil, gegen das es keine Berufung gibt! Dann beginnt die große „Etappe“, der weite Weg. Wohin, fragen wir uns? „Norlag“ sagt spöttisch einmal ein gutgelaunter Posten. Wir tragen weder Wattekleidung noch Filzstiefel, die einzig mögliche Ausrüstung für einen solchen Transport im russischen Winter. Kilometerlang geht es durch knirschenden Schnee, immer von Wachsoldaten mit schußbereiten Gewehren und Bluthunden begleitet. Die einheimische Bevölkerung weicht diesem Elendszug aus und betrachtet ihn nur von Ferne mit Grauen. Einmal werden alle in vergitterte Packwagen geworfen, ein andermal mit Rippenstößen in Lastautos befördert. Die Verpflegung ist noch schlechter als im Gefängnis, die Brotration fällt oft ganz aus. Besser aber ist es beinahe nicht zu essen. Austreten ist nur zweimal am Tage erlaubt. Ein Kranker, der seine Notdurft im Abteil in seine Galoschen verrichtet, wird dabei vom Posten ertappt, muß sich auf freiem Felde entkleiden und wird jämmerlich verprügelt. Manchmal wird unterwegs in einem Übergangsgefängnis Halt gemacht. Dann gibt es warme Suppe, Entlausung, vielleicht auch Untersuchung durch einen Arzt. Doch der stellt gleich anfangs fest: Politischen kann ich nicht helfen.

Auf die Frage, was „Norlag“ sei, sagt einmal bei einer Leibesdurchsuchung die mit den Dokumenten beschäftigte Schreibkraft: Du kommst nach Workuta. Ob das in Sibirien sei, möchte ich wissen. Sie schüttelt den Kopf: Es ist schlimmer als Sibirien. Warum kenne ich als Lehrerin die Geographie der Sowjetunion nicht besser, denke ich. Damals wußte ich noch nicht, daß Workuta noch vor Ausbruch des Krieges ein weißer Fleck auf der russischen Landkarte war.

Im Übergangslager Kirow wird die „Etappe" für die Polarzone zusammengestellt. In einem engen Raume, von sieben mal sieben Meter, warten 150 Frauen. Unter anderen weilt dort auf der Durchreise eine Gruppe von ehemaligen „Kulakenfrauen" (Frauen vermögender Bauern), die nach fünfzehnjährigem Aufenthalt in Strafarbeitslagern des Nordens nun irgendwohin in eine Zwangssiedlung geführt werden. Sie sind aufgedunsen wie Wasserleichen, apathisch, halb idiotisch. Die Stiefmutter des russischen Generals Wlassow ist auf dem Wege nach Sibirien, der Weg vieler Mütter mit Kindern aus den baltischen Ländern geht ebenfalls dorthin.

Anfang April 1947 fährt ein Eisenbahnzug mit fünfzig Güterwagen und zwei bis drei Tausend Stück Menschenfracht in Richtung Norden. Die beinahe zweitausend Kilometer lange Strecke wird in zwei Wochen zurückgelegt. Die Nächte werden immer heller. Einmal bleiben einige Wagen zurück. Die haben es besser, heißt es. Sie werden in Uchta Erdöl bohren und Gas. Dort gibt es noch Wald und wärmere Sonne. Andere steigen später in Inta ab. Auch südlicher, sagen die mit der Gegend Vertrauten. Aber die Kohle in Inta enthält Radium, das ist gefährlich. Die Nächte sind nun ganz weiß, der Schnee hoch, die Kälte sehr groß. Der Polarkreis liegt schon südlich, vom Eismeer trennen uns nur 200 Kilometer. In östlicher Richtung ist der Polarural etwa 50 Kilometer entfernt und dahinter dehnen sich die Weiten Sibiriens.

Als die restlichen tausend Menschen in Workuta aus den Wagen steigen, braust einer der furchtbaren Schneestürme, Purga genannt, über die Tundra, die Ebene am Eismeer. Weißer Nebel hüllt alles ein. An von Hütte zu Hütte aufgespannten Seilen ziehen sich ausgemergelte Menschenwracks einem unbekannten Ziele zu. Die Stadt Workuta bestand damals aus einer Hauptstraße und einigen Bergwerken ringsum. Stalins „Gulag“ (Hauptverwaltung der Straflager) brauchte neue Arbeitssklaven. Wieder einmal ist ein Transport von Nummern zur Stelle.

2. Vom Zelt der Nenzen zum Kulturpalast

Nenzen ist die russische Bezeichnung für Samojeden. In einer Spanne von rund dreißig Jahren ist der Sprung vom Zelt der Nomaden bis zum Kulturpalast einer Großstadt erreicht; im äußersten nordöstlichen Zipfel Europas, der eigentlich schon zu Asien gehörte, wenn er nicht durch den nach Osten sich ausweitenden Bogen des Polarurals von Sibirien getrennt würde.

In einer fast tausendjährigen Geschichte war im russischen Raum zuerst das Reich von Kiew und die Republik Nowgorod entstanden, die dann dem Großfürstentum Moskau weichen mußten, das sich zum Zarentum und allslawischen Imperium entwickelte. Seit tausend Jahren wurden als Bewohner der nördlichen Ebene, vom Weißen Meere bis zur Tajmyrhalbinsel, die Samojeden genannt. Und trotzdem ist die Geschichte dieses Gebietes erst dreißig Jahre alt.

Was früher geschah, war ein Dahinvegetieren, um in menschenmordendem Klima primitivste Bedürfnisse zu befriedigen. Was kümmerte die mit ihrer Renntierherde von Weideplatz zu Weideplatz wandernde Horde, was Forscherund Wissenschaftler schon im 19. Jahrhundert festzustellen begannen, daß unter der meterhohen Schneedecke der „Vielerdigen Tundra" und in ihrem ewigen Eise verborgen hochwertige Kohlenflöze lagern? Die Nenzen waren ja nur armselige Analphabeten und kannten bloß die Sorge von Stunde zu Stunde. Väterchen Zar, der Herrscher aller Reußen, aber war ein gewaltiger Mann und auch den kümmerte es nicht. Als dann gegen Ende des ersten Weltkrieges englische Schiffe durch die Barentssee die Petschora aufwärts fuhren, um so zu bekräftigen, daß die Engländer Schürfrechte in diesen Gebieten erworben hätten, wurde dies in den Wirren des russischen Bürgerkrieges kaum bemerkt und bald vergessen.

Am Anfang der dreißiger Jahre, während des ersten Fünfjahresplanes, begann die Kolonisierung des Petschorabeckens.

Wie überall beim Aufbau in der Sowjetunion war es auch hier. Alle Mittel waren und sind zur Erreichung eines gesteckten Zieles recht und erlaubt. Um in den Augen der einheimischen Bevölkerung aber nicht nur als ein fordernder, die vorwärtstreibende Knute schwingender „Nat.

schalnik" (Chef) zu gelten, sondern auch als die Fortschrittspalme schwingender Wohltäter, mußte manches gefühlsmäßig unterbaut werden. So entstand die Legende von Lenin und dem Jäger Popow. Beide haben tatsächlich gelebt, der große Lenin im fernen Moskau und der Jäger Anton Jakowlewitsch Popow, aus dem Volke der Komi, irgendwo in einer Holzhütte an der Ussa (einem Nebenfluß der Petschora). Es wird erzählt, daß Anton Jakowlewitsch auf der Jagd nach Pelztieren, die Workuta (das heißt die Windungsreiche) aufwärts kommt, hoch in den Norden. Um sein glimmendes Holzfeuerchen gegen den Sturm zu schützen, bedeckt er es mit der rundum liegenden schwarzen Erde. Und siehe da, diese Erde brennt heller und besser als sein Holzfeuerchen. Besser noch brennen die glänzenden schwarzen Steine, die er auf den Hügeln ringsum findet. Er denkt, wenn die schwarze Erde brennt, kann viel Feuer gemacht werden, dann können auch hier im Norden mehr Menschen wohnen. Er hat von dem großen Manne in Moskau gehört, der alles kann und allen hilft, der muß auch dieses wissen. Ob sich die Geschichte so abspielte, ist fraglich. Tatsache aber ist, daß Popow noch in den fünfziger Jahren in Workuta lebte, Leninordensträger war und als Ehrengast an verschiedenen Veranstaltungen teilnahm. In einem Kurzfilm spielte er die Hauptrolle: Er entdeckt die Kohle. Eine Stafette von Frauen und Männern aus seinem Volke, in die kleidsamen Pelzmäntel der Nationaltracht gekleidet, ist bemüht, die glänzenden schwarzen Steine auf Rentierschlitten schnellstens weiter zu befördern, bis sie Lenin in den Händen hält. Dann sieht man Popow auch in seinem schmucken Holzhäuschen im Kreise seiner Kinder und vieler Enkel, sieht ihn in ein Flugzeug steigen und als Ehrengast des Kombinats „Petschor-schachtostroi" (Petschoraer Bergwerks-und Baugesellschaft) an einer Tagung in Syktywkar, der Provinzhauptstadt, teilnehmen.

Man ist sehr realistisch in der Sowjetunion; erdichtete Legenden müssen glaubhaft unterbaut werden. Was vor dem Jahre 1, das heißt vor 1918 geschah, gewußt und entdeckt wurde, besonders wenn Ausländer daran beteiligt waren, ist nicht so wichtig. Entscheidend ist das Jahr 1, in dem die Geschichte der Sowjetunion beginnt.

Kolonistenschicksal

Als ich im Frühjahr 1947 nach Workuta kam, hatte das Petschorabecken fünfzehn Jahre russischer Kolonisation hinter sich. Kolonisten hatten auch mein Heimatland Siebenbürgen erschlossen, vor nun mehr als achthundert Jahren. Es waren die Siebenbürger Sachsen, eine der ältesten deutschen Volksgruppen in Südosteuropa. Der Name „Sachsen" bezeichnete zuerst einen Rechtstand und wurde später zum Volks-namen. Oft in den dreizehn Jahren meines Aufenthaltes im Norden drängte sich mir ein Vergleich zwischen diesen so grundverschiedenen Kolonisationen auf. Für beide gilt das alte Kolonistenwort: Der erste hat den Tod, der zweite die Not und der dritte das Brot. Sonst aber gibt es nichts Gemeinsames.

In Siebenbürgen war es einst so gewesen: Aus vielen Teilen des damaligen Römischen Reiches deutscher Nation, von Mitteldeutschland bis zum Rhein, vom Elsaß bis Flandern, waren deutsche Bauern, die Freiheit aus ihrer damaligen Gebundenheit an die adligen Herren und bedrückt von der Enge der heimatlichen Grenzen weites Siedlungsland suchten, die Donau abwärts gezogen, nach Transylvanien, in das Land jenseits der Wälder. Sie waren dem Ruf des ungarischen Königs Geisa gefolgt, fanden unerschlossenen Urwald und weites Sumpfland vor, rodeten und pflügten, und verteidigten mit dem Schwert ihre wachsenden Siedlungen gegen die eindringenden Mongolen und Tatarenvölker Asiens. Im sogenannten „Goldenen Freibrief" sicherte ihnen, den Sachsen, später die ungarische Krone territoriale, politische und kirchliche Autonomie. Sie lebten als Gleichberechtigte mit den übrigen Volksstämmen ihres Landes zusammen, entrichteten „dem König, was des Königs war" und schufen ein eigenständiges deutsches Gemeinwesen auf beachtlicher Höhe. Der sächsische Bauer lebte als freier Mann auf seinem Hofe, sich bewußt gegen alles ihm Wesenfremde abschließend. Mittelpunkt seines stattlichen Dorfes war die aus eigener Kraft erbaute Kirche und Schule. Die Ruinen der alten Bauern-und Wehrburgen auf den Hügeln zeigten noch bis in die jüngste Vergangenheit den starken Willen dieser Menschen, ihr Eigentum, ihre durch Arbeit erworbene Heimat zu beschützen. In den Städten wohnte der freie Bürger zusammen mit den andern Nationalitäten seines Landes; er war ein tüchtiger Handwerker, weitblickender Handelsmann, anerkannter Wirtschaftler und Industrieller. Die vielen in intellektuellen Berufen Tätigen, hatten ihre Ausbildung an Hochschulen in Deutschland erhalten.

Als einmal ein Hochschüler auf seinen Ferienwanderungen nach Luxemburg kommt, liest er an einem Bauernhause den Spruch: „Mer wälle bleewen, wat mer sänj.“ (Wir wollen bleiben, was wir sind). Es ist ein Luxemburger Volkswort, das in der siebenbürgisch-sächsischen Mundart genau so klingt und gebraucht wird. Der Student macht sich mit den Hausbewohnern bekannt, unterhält sich mit dem Bauern in siebenbürgisch-sächsischer Mundart, dieser antwortet ihm auf Luxemburgisch und sie verstehen sich glänzend. Am Schluß fragt der Ankömmling, was der Bauer wohl denke, woher er stamme? Aus der Nachbargemeinde, sagt der. Bauer. Dort haben meine Ahnen vielleicht vor achthundert Jahren gelebt, meint der Student. Darauf sieht man ihn forschend an, ob er wohl alle fünf Sinne beieinander habe? — Über alle Wechselfälle der Jahrhunderte hinweg verstanden es die Siebenbürger Sachsen ihre historischen Rechte zu behaupten. Als ihnen im 19. Jahrhundert die politische Selbstverwaltung genommen wurde, entstand, gestützt auf ihre seit 1550 evangelische Landeskirche, eine deutsch-evangelische Volkskirche. Diese war nun für alle völkischen und religiösen Belange zuständig, erhält Kulturautonomie, und deckte die dafür notwendigen Ausgaben aus eigenen Mitteln und den freiwilligen Beiträgen der Volks-und Glaubensgenossen. Ihre Pfarrer waren zugleich Leiter von tatkräftig sich für das Gemeinwohl einsetzenden demokratischen Gemeinden.

Im arktischen Niemandsland

Aus einem geschlossenen Gemeinwesen (das heute freilich ganz anders aussieht) kam ich in das arktische Niemandsland, das fünfzehn Jahre Kolonisation hinter sich hatte. Etwa die Hälfte der nenzischen Nomadenbevölkerung war inzwischen seßhaft geworden und betreute auf den neuerrichteten Staatsgütern Rentier-und Elchherden.

Auf der weiten Tundra, wo wir Gefangene entlang der Bahngleise Schneegitter aufstellen, damit der Abtransport der Kohle auch im Schneesturm sachergestellt wird, lassen sie ihre Herden weiden, dort finden scharrende Hufe an schneefreien Stellen noch Moose und Flechten. Mit einer Art Lasso bringt der Nenzenhirte ein sich von der Herde zu weit enfernendes Tier wieder zurück. Am Ruhetag kommt er mit der Familie in die Stadt Workuta. Ein niedriger Schlitten, sechs Rentiere davorgespannt, fliegt dann durch stäubenden Schnee. Die Familie ist fast zwerghaft klein, mit breiten Gesichtern, stark hervortretenden Backenknochen, mongolisch-schiefen Augen, der Ausdruck mehr verschlagen als gutmütig, noch sprechen sie kaum einige russische Worte. Alle tragen „Pimi", die selbstgenähten, mit schönen bunten Mustern verzierten Pelzstiefel aus Rentierfellen; ihr Gehen darin ist ein lautloses Pirschen. Der russische „Walenka" (Filzstiefel) ist schwerer, solider, gibt seinem Träger das Patschen eines Bären, eignet sich aber für Schwerarbeiter besser. Der „Herr“ der Nenzenfamilie geht voran in Pelzhosen und kurzem, gegürtetem Pelzmantel, im Gürtel ein dolchartiges Messer. Die Familie dahinter trägt eigenartige lange, nach unten sich krinolinenartig erweiternde Pelzmäntel mit Kapuze und noch seltsameren Über-würfen, die vor Wind und Nässe schützen. Der Säugling baumelt in einem Fellsack auf dem Rüchen oder dem Bauche der Mutter. Auf dem Bazar, dem Markte, verkaufen sie Rentierfleisch und weiche Hausschuhe aus Fellen. Die Männer tauschen dafür Wodka und Machorka (eine Art Tabak), die Frauen Nähgarn und Lebensmittel ein. Ihre zahmen Rentiere lassen sich zwischendurch von uns streicheln und füttern.

Wenn wir Gefangenen im Sommer auf dem Staatsgut am Fluß Workuta die in den Gewächshäusern und Mistbeeten vorgezüchteten Kohlpflanzen auf viele Hektar urbargemachten Tundraboden aussetzen, begegnen wir den noch als Nomaden lebenden Nenzen. Ihre spitzen Zelte liegen auf halber Hügelhöhe. Die Sommerzelte sind einfacher und primitiver als die wohnlicheren und warmen Winterjurten. In den ersten Jahren nach der Gründung Workutas kamen diese Nomaden den Gefangenen noch freundlich entgegen, bewirteten sie manchmal in den Hütten, wenn ein gutmütiger Posten es erlaubte, mit Rentierfleisch, getrocknetem Fisch oder sogar mit dem kostbaren „Wintergemüse des Nordens“, das aus dem Mageninhalt eines geschlachteten Tieres besteht. Und wenn irgend jemand von den Ankömmlingen einige Brocken ihrer oder einige der russischen Sprache verstand, erzählten sie, daß es ein schweres Leben sei im langen Winter, aber im Sommer blühe die Tundra in leuchtender Pracht, die Sonne scheine Tag und Nacht und der ganze Sommer sei ein großes Fest. Drüben im Sibirischen sei es schlimmer. Dort vernichte der „kleine schwarze Teufel" manchmal ganze Siedlungen. Ein flohähnliches Insekt übertrage durch seine Stiche eine Art Pest, die unweigerlich zum Tode führe. Die Siedlungen würden bei seinem Auftreten fluchtartig von den Bewohnern geräumt, Hab und Gut im Stich gelassen, um wenigstens das nackte Leben zu retten.

Doch später hörte jede Verbindung zwischen den Nomaden und den Gefangenen auf. Manche von ihnen waren enttäuscht durch die an ihnen verübten Diebstähle, viele zogen noch weiter nördlich, um sich solange wie möglich dem Eingliedern in die Staatsfarm zu entziehen. Alle hatten sie wohl von den militärischen Aufsehern die Weisung erhalten, sich von den „Verrätern der Heimat", wie wir Gefangene, einerlei ob Sowjetbürger oder nicht, genannt wurden, fernzuhalten.

Zwangsverschickung der politisch Entrechteten

Die Kolonisation, die der Sowjetstaat plante, konnte er auf keinen Fall mit diesen Nomaden durchführen, auch nicht mit den finnisch-ugrischen Komi, die den Südwesten des Komi-Landes geschlossen bewohnten und in den Norden bloß Jäger und Fischer schickten.

So begann in den dreißiger Jahren die Zwangswanderung der politisch Entrechteten. In Gruppen wandern sie, begleitet von militärischen Wächtern, Hunderte von Kilometern zu Fuß, entweder von Narjan-Mar an der Barentssee nach Süden oder von Kotlas nordöstlich. Wenn das zweite, im Bündel mitgebrachte Paar Walenki an den müden wundgescheuerten Beinen in Fetzen geht, stößt der Leiter des Zuges einen Spaten in eine Schneewehe: Dies wird das Bergwerk Nr. 1 in Workuta. Die Eisenöfen in den kleinen Rundzelten, wo zur Nacht geschlafen wird, wärmen nur die Füße der Männer und verkohlen ihre Filzstiefel beinahe, der Oberkörper aber liegt schon draußen im Schnee. Der Schwache, der sich keinen Platz im Zelte erkämpfen kann, muß elend erfrieren.

Um das Bergwerk Nr. 4 entsteht später eine Siedlung von Sowjetdeutschen. Dreihundert Kilometer südlicher gründen 500 Wolgadeutsche Inta. Anfang der vierziger Jahre werden Sibiriendeutsche zum Bau des Wärmekraftwerkes Nr. 1 und der Schleuse zwangsverschickt. Es entsteht die Siedlung Schleuse, die die Ärmsten der Armen beherbergt. Denn lieber noch arbeitet man in den Anfangsjahren, trotz unvorstellbar primitiver Einrichtung der Bergwerke, unter Tage als im Freien, wo man Schneestürmen und Kälte schutzlos preisgegeben ist. Besonders die Intellektuellen unter den Ankömmlingen sterben rasch dahin. Am besten sind die medizinischen Facharbeiter dran. Weil Ärztemangel herrscht, dürfen sich auch Gefangene in diesem Fache betätigen und sind bemüht, viel Not zu lindern.

Als später die Rundzelte Erdhütten und Holzbaracken weichen, erhalten je zwei bis drei Gefangene, schichtweise wechselnd, je einen halben Meter Schlafplatz auf einer Holzpritsche. Während die klammnassen Filzstiefel und Watte-jacken in der anschließenden „Suschilka" trocknen, erklingen manchmal sehnsüchtige Heimat-lieder. Der flachgesichtige Usbeke singt von seinem sonnigen Taschkent, ein anderer von seiner „wunderschönen, heißgeliebten Ukraine“, die Tatarin tanzt unter aufreizendem Hände-klatschen einen wilden Tanz. Ein Feldscherer (mittlerer medizinischer Facharbeiter) trägt in seinem Ranzen, sorgsam gehütet vor Kontrollen, einen Goetheband, liest daraus den anderen manch tröstendes Wort in der furchtbaren Einsamkeit vor, und schämt sich später seiner Tränen nicht, als die Blätter des Buches in den „Machorkazigarren" verbrennen. Im Sägemehl meines Strohsackes versteckt, finde ich einmal ein kleines handgeschriebenes Büchlein. „Worte der Besinnung" steht darauf in deutscher Sprache. Es enthält Zitate und Gedichte deutscher Dichter, aus dem Gedächtnis ausgezeichnet, dazu eigene Gedichte von Heimat und Liebe, Fremde, Sehnsucht und Leid. Ein deutscher Kriegsgefangener hatte in der Eile seines Aufbruches aus dem zweiten Ziegeleilager seinen kostbaren Schatz vergessen. Wir Frauen, die wir darnach hier wohnten und in der Ziegel-fabrik arbeiteten, haben ihn in Ehren gehalten.

Vom Sklaven zum Halbfreien

Als Workuta im Jahre 1959 sein fünfundzwanzigjähriges Bestehen feiert, berichtet ein „Rabkorow“ (Arbeiterkorrespondent) in der „Zapolarje" über die Gründung und Entstehung Workutas. Er war selbst Kumpel, ist begabt, Parteimitglied. Die Partei hat ihn zum Journalisten ausbilden lassen. Nun ist es seine Aufgabe, in von der Partei gestellten Themen und bewußt abgegrenztem Rahmen die Interessen der Partei und der Arbeiter gegenüber den Wirtschaftsfunktionären und den Managern zu vertreten. In seiner „Geschichte Workutas“ nennt er viele der ehemaligen und heutigen „Natschalniks“, leitenden Männern aus Partei-, Wirtschafts-und Staatsführung, an erster Stelle, er gesteht dem arbeitenden Kumpel zu, am Aufbau Workutas beteiligt gewesen zu sein, doch er erwähnt mit keinem Wort, daß dieser Arbeiter ein Sklave war, aus dem heute ein Halbfreier oder bedingt Freier geworden ist.

Darum sei hier hervorgehoben: In den ersten zwanzig Jahren nach der Gründung lebten in Workuta in 60— 80 Strafarbeitslagem 80 000 bis 150 000 Gefangene, zu einer Zeit, als die freie Bevölkerung (mit Ausnahme des militärischen Wachpersonals) höchstens 20 000 zählte. Nach Stalins Tod wurde der ehemalige Innenminister und Chef der Polizei Berija erschossen, man fand einen Sündenbock, den man für alles furchtbare in den Lagern verantwortlich machen konnte. Doch alles war ja mit Wissen der gesamten Jowjetführung geschehen und bewußt geduldet worden.

Strafgefangene sind die erste Stufe der Kolonisation gegangen, die Stufe Tod. Dann stand das Industriegebiet am Fuße des Polarurals mit rund dreißig kohlefördernden Bergwerken in Workuta und Inta, mit Bohrtürmen und Gas-quellenin Uchta, mit etwa einer halben Million Menschen. Wirklich frei waren damals, im Jahre 1954, vielleicht Hunderttausend, fast ebenso viele lagen in Schnee und Eis begraben. Auf ihren Knochen ruht der Sowjetaufbau.

Als im Jahre 1954 die zweite Stufe, die Stufe Not begann, war man an einem entscheidenden Wendepunkt angelangt.

Ein Aufbau stand, im Groben hingehauen. Vieles, noch unvorstellbar primitiv, mußte vervollkommnet, den Fortschritten in der Technik angepaßt werden. Einige Maschinen waren da, sie ersetzten Sklavenhände, ja sie waren sogar billiger als diese. Die Sklaven begannen zu streiken, doch man brauchte ihre Arbeitskraft noch, konnte noch nicht auf sie verzichten, weil die Maschinen nicht ausreichten. Es gilt also, die Sklaven arbeitswilliger zu machen. Dann brauchte man mittlere Fachkräfte, Handwerker, Meister. Der von oben gelenkte Kurs wechselte wieder einmal die Richtung, nicht aus Menschlichkeit, nicht aus Achtung vor Menschenwürde, alles nur zweckbedingt. Ein Großteil der ausländischen Gefangenen wurde in Sammeltransporten in die Heimat geschickt. Für viele Strafgefangene Sowjetbürger gab es eine Amnestie. Man lockerte den disziplineilen Zwang, um arbeitsmäßig aus den Menschen mehr herauszuholen zu können. Die Gefangenen lebten in den Jahren 1954— 56 wie in einem Rausche. Schrittweise dürfen sie mehr Freiheit genießen. Für gute Arbeit erhalten sie einige Wochen oder Monate ihrer Strafzeit geschenkt. Es gibt Frauen, die sich nun buchstäblich in die Lehmgruben hineinfressen, um 200, ja 300 Prozent ihres Solls zu erreichen. Die Frauenbrigaden der Ziegelfabrik stehen miteinander im Wettbewerb. Täglich werden neue Belobigungen in großer Aufmachung in den Wandzeitungen veröffentlicht und die beste Arbeitsbrigade mit Musik aus der Fabrik ins Lager zu einem besonders guten Essen geholt. Die Arbeitsleistungen dieser Übergangszeit sind später, nach durchgeführter Amnestie, nicht mehr erreicht worden.

Viele Jahre hatte man die Angehörigen nicht gesehen, stand kaum mit ihnen in brieflicher Verbindung. Und nun darf bei guter Führung und besonderer Bewilligung sogar Besuch ins Lager kommen! Auf der Wache ist ein Gästezimmer eingerichtet. Da bringt die Großmutter aus Leningrad den 10jährigen Jungen zur Mutter, den diese als Säugling zum letzten Male gesehen hat. Und der immer noch schönen Frau gelingt es, in den wenigen Tagen ihres Beisammenseins, die anfängliche Fremdheit des Kindes zu überwinden. Beim Abschied winkt der Junge unter Tränen und winken hinter dem Stacheldraht die Frauen des Lagers, tränenüberströmt, an ihre eigenen Kinder denkend. Als ihren höchsten Wunsch schildert schluchzend eine von ihnen: Es müßte wieder Sonntag geben. Dann möchte ich mich in das bunte Treiben des Bazars einmischen, an einer Seite den Mann, mit dem wir uns gemeinsam ein Lehmhäuschen bauen wollen, an der anderen mein Kind, das ich aus dem Kinderheim zurückgeholt habe. — Jahrelang lebte man in getrennten Männer-und Frauen-lagern. Und nun darf man im Gästezimmer den Besuch des Gatten oder des Verlobten empfangen und mit ihm galante Nächte verbringen!

Später werden viele bisherige Lagerangehörigen zu Lagerzugehörigen. Sie wohnen nun in einem bestimmten Umkreis außerhalb des Lagers, dürfen ihre Familie zu sich kommen lassen oder eine neue gründen, müssen nur ihrer Mel-depflicht im Lager nachkommen und ihr Arbeitssoll erfüllen.

Doch das Leben im allgemeinen, und für den kleinen Mann im besonderen, bleibt noch immer unvorstellbar schwer. Wenn ich später lese, daß der „große Hunger" in Workuta im Jahre 1948 und der „kleine Hunger" im Jahre 1952 aufgehört haben soll, bleibt es für mich eine schöne Formulierung, denn die Wirklichkeit sah anders aus.

Als angeblich der große Hunger ein Ende nahm, schlugen sich noch Männer um ein Stüde Brot blutig und fast tot, wurden um einen Löffel Brei richtige Saalschlachten geliefert, war der sehnsüchtigste Wunsch eines Sterbenden, noch einmal Brei essen zu dürfen, die „Schüssel voll, bis zum Rande“. In den Jahren des kleinen Hungers aber geschah noch folgendes: Als Dienstmädchen arbeitete ich damals in einem Haushalt und wartete schon seit Wochen auf den Ofensetzer. Der gemauerte russiche Ofen raucht, der Ofensetzer erscheint nicht. — Er wird nie mehr kommen, sagen die Bewohner seiner Baracke, bei denen ich dann Erkundigung einhole. Bei der letzten Kartoffelausgabe, auf der Straße hinter dem Staatsgefängnis, wartete eine Menschenschlange eine ganze Naht, und stürmte bei der Verkauferöffnung vorwärts, er glitt unglücklicherweise aus und wurde von den wild Nah-drängenden zu Tode getreten. Und er war ein junger, kräftiger Mann . —

Das Leben der „Freien"

z Auch als Freier hungerte man damals noch. Die Lebensmittel fehlten in den Staatsgeschäften, die Wucherpreise auf dem Markte konnte man nicht bezahlen. Am größten war das Wohnungselend. Die aus den Lagern Entlassenen schliefen oft wochenlang in Müllkästen und unter den überdeckten Rohrleitungen der ferngesteuerten Heizungen. Unser damaliger Hausschuster wohnte in einem der zehn Räumen einer Baracke. Drei Familien hausten in diesem einen Raum; neun Personen, davon drei Kinder. Tagsüber türmten sich Strohsäcke bis zur Decke. Beim einzigen Fenster schneiderte eine der Frauen,, abends hämmerte der Schuster, wenn er seine Arbeit in der Kollektivwerkstätte beendet hatte, „privat" weiter, um für seine Familie nun zu Brot und Suppe auch den Brei zu verdienen. Doch all das konnte man den Menschen zumuten, sie waren ja nun „frei"! Sie lebten in einem Rausche von Liebe und Wodka, und sie arbeiteten!

Und sie bauten. Zuerst die für die allgemeinen Belange notwendigen Gebäude: Schulen, Verwaltungsgebäude, Krankenhäuser, Kühlhäuser, Klubs, Kinos. Langsam tauchen einige Raupen-schlepper, einige Schneepflüge auf, ein Greif-bagger erregt noch sehr viel Aufsehen, der erste Baukran die größte Bewunderung. Man versucht beim Bauen die bisherigen Erfahrungen auszunutzen. Die ewige Gefrornis des Bodens ist veränderlich, unter den Häusern taut das Erdreich auf und es verschieben sich die Fundamente, die Wände erhalten Risse und Sprünge, die Dächer biegen sich wellenförmig, kleinere Häuser brechen sogar ganz auseinander. In jedem Jahr muß ein Haus gründlich überholt werden, nach etwa fünf Jahren ist es alt und kaum noch bewohnbar. Wenn die Kälte unter — 40 Grad fällt, ist es nicht mehr zu heizen.

Durch Anlegen einer Isolierschicht versucht man nun das Tauen des Bodens zu verhindern. Eine Lage von Baumstämmen wird mit Schlacke und Ziegelbruch ausgefüllt, darüber Zement gegossen. Es entsteht ein „Institut für Dauerfrostbodenkunde W. A. Obrutschew"; die Inspektoren des Hochbauamtes überwachen die thermische Isolierung der Neubauten. Das Kombinat Petschor-schachto-stroi wird vergrößert. Direktor und Abteilungsleiter sind Ingenieure, die aus verschiedenen Teilen der Russischen Föderation kommen; fast alle Parteileute. Die diesem Kom binat angeshlossenen Ziegelfabriken müssen ihre Produktion erhöhen, vor allem die Zement-fabrik wird vergrößert. Von den bisherigen Holzhäusern will man allmählich zu Ziegelbau\ten und solhen aus Betonplatten übergehen. Im Sägewerk arbeitet auh eine Abteilung für Möbelherstellung. Eine Sondermontageabteilung ist für die Anlage von ferngesteuerten Heizungen, Wasserleitungen und Kanalisationen verantwortlih. Das Wärmekraftwerk Nr. 1, mit seinen fünf Turbinen und seinen 60 000 Kilowatt Stromerzeugung, genügt nicht mehr. Sein neugebauter.

120 Meter hoher Shlot befreit wenigstens das Zentrum der Stadt von den lästigen Abgasen. Im Winter 1956/57 beginnt das Wärmekraftwerk Nr. 2 im Norden der Kohlenmulde, in der Nähe des 7. Shahtes, zu arbeiten, mit fünf Turbinen und rund 100 000 Kilowatt Stromerzeugung.

Workuta ist nun in einen Strom von Liht getauht, man liebt es zu prunken, mehr zu zeigen, als da ist. Denn oft noh gibt es stundenlange Unterbrehungen, weil das Stromnetz überfordert ist. Die Bergwerke sind elektrifiziert, in einigen arbeiten moderne elektrishe Entlüftungsanlagen. Die Mashinenfabrik mit ihrer Lokomotiverzeugung ist ein großer Stromabnehmer. Auh die Haushalte verbrauhen immer mehr Wirtshaftsstrom; die Kohlen imindustriegebiet sind zwar niht allzu teuer, aber rationalisiert, darum und der schnelleren Handhabung wegen finden elektrishe Koh-und Haushaltsgeräte steigende Verwendung. Das Gas aus Uhta floß im Jahre 1959 noh niht bis Workuta.

Auf dem Moskauer Platz begann im Winter 1955/56 der Bau des Verwaltungsgebäudes für das Kombinat „Workuta-LIgol“ (Workut-Kohle). Es sollte bis zum „Tage der Kumpel“, im August, feriggestellt werden. Mashinen fanden damals in den Kohlenbergwerken erste Verwendung, im Bauwesen fehlten sie noh vollständig. Die Arbeiter waren Strafgefangene. Drei Bauleiter wurden abgesetzt, weil sie den Plan niht erfüllen konnten, nah halbjähriger Verspätung war es dann doh so weit. Ein zweistöckiges Ziegelgebäude stand, im Halbrund nah drei Seiten sich ausdehnend, mit großen Fenstern, etwa hundert hellen Räumen, die, kaum fertiggestellt, shon niht genügten und ein zweites Verwaltungsgebäude notwendig mähten.

Im Innern gab es für Direktor und Abteilungsleiter gut eingerihtete Räume, große komfortable Sitzungssäle und ein täglihes „Bufett“ für die Angestellten, wo man sih für wenig Geld gut verpflegen konnte, wenn auh sonst in den Geshäften der Stadt Shmalhans als Kühern meister herrshte. Die Vorderseite des Gebäudes zierte eine Reliefkarte, die den Ring der etwa 30 kohlefördernden Bergwerke zeigte, durch bunte Glühbirnen erleuhtet, das Wappen der Kohlenmulde Workutas.

Neue Wohnviertel ab 1956

Inzwishen ging auh der Bau von Wohnhäusern vorwärts. Planmäßig sollten in einem Jahre rund 200 000 qm Wohnfläche entstehen; fertig-gestellt wurden anfangs kaum mehr als die Hälfte. Die Feldmesser arbeiteten sommers wie winters, ihnen folgten shwere Raupentraktoren, und dann begann die Arbeit der Strafgefangenen und der Lagerzugehörigen, sofern sie nicht Faharbeiter waren. Erdarbeiten für den Wohnungsbauwurden lieber im Winter durchgeführt, denn bei beginnendem Tauwetter verwandelte sih der Tundraboden in Moorgelände. Die ältesten Wohnviertel bestimmte bloße Zweckmäßigkeit. Wärme war die erste Forderung. Nah Shönheit fragte niemand. Dicke Bohlen bildeten die Wände, die Fugen dihteten Moose und Flehten. Die kleinen Fenster waren hermetish vershlossen, nur durh ein winziges Luftloh entwih der stickige Brodern aus den übervölkerten Stuben in die klirrend kalte Winterluft.

Um schneller vorwärts zu kommen und auh um Baumaterial einzusparen, verwendete man später Bretter statt der Bohlen. Zwishen zwei im Abstand von 20— 30 cm aufgestellte Bretter-wändewurden Schlacke und Ziegelbruh gefüllt, innen ein Verputz durhgeführt. Hohe Fenster, deren Flügel nun geöffnet werden konnten, brahten etwas mehr Shönheit und Helligkeit, aber auh etwas mehr Kälte in die Stuben. Ab 1958 erhielten diese alten und ältesten Wohnhäuser eine äußere Vershalung von Kunststeinplatten und sahen dann in ihrem neuen Kleide reht schmuck aus.

Ab 1956 entstanden in jedem Jahr einige neue Wohnviertel. Im Zentrum der Stadt Ziegel-häuser mit je 12— 20 Quartieren, in einem dreistöckigen Riesenhaus in der Leninstraße gibt es sogar deren 60, alle angeshlossen an Wasserleitung, Kanalisation, Fernheizung. Noh repräsentabler wirken die aus Eisenbetonplatten errihteten Prunkgebäude: der Kulturpalast, der Sportsaal, das Internatsgebäude des Bergtechnikums und andere.

Am Rande des Zentrums und in den eingemeindeten Siedlungen shießen die kleineren Blockhäuser wie Pilze aus dem Boden. Das Wasser muß hier noh von weither geholt werden, die Bewohner steigen nah dem Schneesturm zur Dachluke hinaus, um den Türausgang freizuschaufeln. Wenn der gemauerte Ofen nachts nicht geheizt wird, sinkt die Temperatur in den Räumen tief unter Null. Die Wege zu den meisten dieser Neubauten sind noch einige Jahre so unzugänglich, daß man nur von einem Hubschrauber aus trockenen Fußes durchs Fenster in die Wohnung dringen könnte. Aber überall gibt es elektrisches Licht, und man ist dankbar für ein auch noch so bescheidenes Dach über dem Kopfe.

Im Jahre 1959 steht für rund 90 Prozent der Bewohner je Familie je ein Zimmer zur Verfügung. Die Gemeinschaftsküche für 2— 4 Familien ist ein ständiges Ärgernis. Die „höher Eingestuften“ aber wohnen schon in Drei-bis Vierzimmerwohnungen, mit fließendem warmen und kalten Wasser und Bad. Viele Haushalte besitzen elektrische Waschmaschinen, diese stehen in den Gemeinschaftsküchen, dort oder im Korridor wird gewaschen und auch die Wäsche getrocknet. An Waschtagen nehmen alle Bewohner zusätzlich ein ungewolltes Dampfbad. Seit 1957 sind Kühlschränke zu haben, Marke S II, Moskau, Preis 2 000 Rubel. Doch gibt man vorhandenes Geld zuerst für den Kauf eines Fernsehapparates aus. Eine Einzimmerwohnung kostet monatlich 50— 60 Rubel, eine Dreizimmer-wohnung 150— 200 Rubel, einschließlich Wasser und Beheizung. Wer das Glück hat, eine Wohnung zu bekommen, ist „ein gemachter Mann", denn die Wohnung gehört ihm für die ganze Dauer seines Aufenthaltes in Workuta, sie kann auf die Kinder überschrieben werden und wird wie eine eigene betrachtet. Die Kosten für jegliche Instandhaltung und besseren Ausbau trägt der Mieter aus eigener Tasche. Die Stadtviertel mit den Holzbauten im Blockhausstil fügen sich gut in die Tundralandschaft ein. Der ganze Stolz der Workutjaner aber gilt dem neuen Zentrum, das durch die Leninstraße über den Lenin-platz zur „Uliza Mira“ (Friedensstraße) führt und nur zwei-bis sechsstockhohe Häuser aufweisen soll.

Gosbank und Kulturpalast

Noch im Winter 195 5/56 war das gesamte Gelände des heutigen neuen Zentrums weite, sturmdurchtobte Tundra. Damals machte ich midi eines Tages auf, um die „Gosbank" (Staats-bank) zu suchen. „Irgendwo am Ende der Lenin-straße befindet sie sich“, sagte man mir. Es war ein Betrag von DM 150. — an mich überwiesen worden. Nach zehnjährigem Aufenthalt in der Sowjetunion hatte ich Erlaubnis erhalten, mit meinen in der Bundesrepublik wohnenden Anverwandten Briefverbindung herzustellen. Unterwegs überlegte ich: Sie meinen es gut und wollen mir helfen, und doch werde ich sie bitten, weitere Geldsendungen einzustellen. Für DM 150. — erhalte ich hier 142. — Rubel. In Deutschland könnte ich für diesen Betrag einen Mantel oder ein Kostüm und vielleicht auch noch ein Paar Schuhe kaufen, hier genügt es nicht einmal für einen Schuh, geschweige denn für ein Paar.

Aus diesen Gedanken schireckte ich auf, als ich bis zum Halse in einer Schneewehe versank. Das Gebäude der Gosbank befand sich damals am Ende der Stadt, und weder Weg noch Steg führten dahin. Doch der Plan im Projektionsbüro sagt: In drei Jahren soll hier das neue Zentrum stehen mit dem Workutaer Kulturpalast, dem größten in der ganzen Komirepublik.

Bis Sommer 1959 ist der Leninplatz auch tatsächlich rundherum ausgebaut. Das dreistockhohe Gebäude der Gosbank verschwindet jetzt beinahe zwischen den neuen, größeren. LInter ihnen fällt besonders ein großes Restaurant auf, in seiner prunktvollen Eleganz. Bei dessen Einweihung gab es ein besonderes Saufgelage für die Prominenten. Alle Diäten sind erhältlich und Verpflegungsabonnements für Familien, aber nur für Neureiche erschwinglich, denn ein Mittagessen kostet 50— 100 Rubel, im Speisehaus aber nur 6— 10 Rubel.

Am Sportsaal und am Kulturpalast wird mit Hochdruck gearbeitet. Es könnte alles schon weiter sein, doch die Zementfabrik kann den Anforderungen nicht nachkommen. Dort arbeiten noch Strafgefangene, und erst kürzlich ist das Dach eines großen Schuppens eingestürzt und hat mehr als 50 von ihnen erschlagen. Fünf Stockwerke hoch ist der Kulturpalast und nimmt eine ganze Breitseite des Leninplatzes ein. Das hohe Säulenportal schmücken Mormorplatten. Es gibt gesonderte Säle für Theater und Kino und verschiedene Klubräume. Beinahe verhindert ein Rohrbruch kurz vor der Eröffnung die Arbeit der aus Moskau herbeigeeilten Künstler, die Wände und Decken mit Ölgemälden verzieren sollen.

Drei Tage vor der Feier zum 25jährigen Bestehen Workutas ist die äußere Front des Kulturpalastes im Groben fertiggestellt. Die noch stehenden Seitengerüste sind verdeckt. Im Innern wenigstens ist der Saal für die Feiern bereit, aber rundum herrscht noch ein wüstes Durcheinander. Die Ingenieure, die Meister und Handwerker haben ihre Arbeit getan, das andere, was bisher Sträflinge taten, steht noch aus. Dann wird ein „Subbotnik“ angesagt, ein „freiwilliger“ Großeinsatz für Parteimitglieder und Beamte. Im Drei-Tage-und Nächteeinsatz wird nun von ihnen der Bauschutt entfernt, das Terrain planiert, gekiest, mit rotem Ziegelstaub bestreut, Rasenflächen werden mit aus der Tundra gestochenen Rasenplatten angelegt, eine breite Allee mit aus Sibirien stammenden Bäumchen entsteht, und ein Springbrunnen beginnt zu plätschern, geschmückt mit den ersten Nackt-skulpturen Workutas.

In den Dämmerstunden des Festmorgens taumeln vollkommen erschöpfte Arbeiter nach Hause, sinken die am Großeinsatz Beteiligten in ihre Betten, manche von ihnen sind noch wochenlang ernstlich krank. Doch wer fragt danach? Das Ziel ist erreicht. Zur angegebenen Zeit hat man wieder einmal den Plan, wenigstens in den gröbsten Umrissen, erfüllt.

3. Von „Balanda" und Brot zum „Menü” von heute

Wer hier die Beschreibung von besonderen kulinarischen Genüssen erwartet oder gerne Rezepte von verschiedenen russischen, ukrainischen und anderen Nationalgerichten zur Bereicherung seines Speisezettels kennenlernen möchte, wird enttäuscht sein. Diese Dinge liegen nur am Rande und können nur vereinzelt am Ende der geschilderten Zeitspanne von 15 Jahren erwähnt werden.

In den ersten Jahren hieß mein Menü „Balanda (Wassersuppe) und Brot. Es war zugleich das von vielen, vielen Millionen Sowjetbürgern. Später wurde es reichhaltiger, ja zuletzt beinahe üppig. Zwei Gründe sind dafür maßgebend: Einmal die im Wandel der Jahre sich allgemein bessernde Lebenshaltung und dann meine sich allmählich verändernde Rechtsstellung, die mir später erlaubte, unter den für mich in Frage kommenden physisdien Arbeiten eine meinen Körperkräften besser entsprechende auszusuchen.

In der UdSSR, die angeblich den Sozialismus vollkommen durchgeführt hat und sich auf dem Wege zur kommunistischen Lebenshaltung befindet, besteht auch heute noch eine strenge Rangabstufung. Die Menschen werden nach Rechtsstellung und Nützlichkeitswert in verschiedene Kategorien eingeteilt und dementsprechend der ihnen gebührende Anteil an Wohnung, Kleidung und Verpflegung bestimmt. So ist die Änderung des Menüs hier, wo alles von oben gelenkt wird, besonders aufschlußreich. Sie zeigt, in dem sich langsam erhöhenden, immer staatlich mehr oder weniger gedrosselten Lebensstandard, ein Bild der allgemeinen, stets von politischen Aspekten bedingten Wirtschaftslage, zugleich aber auch die unterschiedliche Beteiligung der angeblich gleichen Mitglieder an den Konsumgütern.

Zu Anfang ständig quälender Hunger

Zuerst sind da die Jahre von 1945— 1947 in den Felsenkellern von Odessa.

Morgens öffnet sich die Klappe der Gefängnistür und ein Stüde schwarzes, klebriges Brot wird hereingeschoben. Es ist die Tagesration, 400 Gramm. — Soviel Brot habe ich bisher in einer Woche nicht verzehrt, denkt man entsetzt, und es ist völlig ungenießbar. — Doch schnell lernt man diese Zuteilung als das Wertvollste und Beste der ganzen Verpflegung schätzen. Der Teller mit „Balanda" morgens und mittags, löscht ja nur den Durst. Die täglichen 10 Gramm Zucker, oft mit Salz untermischt, der wöchentlich ein-bis zweimal zugeteilte Salz-fisch steigert diesen Durst, der durch den Mangel an Vitaminen mitbedingt ist, ins Ungeheuerliche. Beine und Leib sind ohnehin vom Hungerödem unförmig angeschwollen.

Manchmal öffnet sich die Klappe morgens nicht. Es ist kein Mehl da, und das Brot ist nicht gebacken. Dann geht der Tag in wirren Hunger-träumen hin: man kocht in Gedanken die schönsten „Gerichte“, man wünscht sehnlichst wenigstens zu der bevorzugten Gruppe der Gesänge, nen zu gehören, die auf sogenannte Offiziers-verpflegung gesetzt sind und täglich auch einige Löffel voll „Kascha“ (Brei) erhalten, bis endlich so gegen Mitternacht dann doch das dampfend-heiße Schwarzbrot verschlungen werden kann.

Größer aber als der ständig quälende Hunger ist die tatenlose Einsamkeit. Täglich zerdrücke ich etwas von der kostbaren Brotkrume zwischen den Fingern und knete allmählich die Figuren eines Schachspieles daraus. Nachts muß ich sie gegen gierige Ratten und Mäuse verteidigen. Marioara, meine rumänische Zellengenossin, fertigt aus den Brotkrumen mit viel Geduld und Liebe Amulette, ihr schönstes hat die Form eines Herzens und trägt Miniaturverzierungen aus Strohhalmstückchen.

Dann sind da die Jahre 1947— 1954 in den Strafarbeitslagcrn von Workuta. Aus dem ganz großen Hunger wird ab 1950 ein etwas kleinerer. Diese Änderung wird freilich nur von den Gefangenen, die aus der Sowjetunion stammen, dankbar vermerkt, weil fast alle von ihnen nie etwas Besseres kannten.

Die Tagesration eines Gefangenen in den ersten Jahren ist rasch aufgezählt. Zwei Mahlzeiten, je 300— 500 Gramm Suppe und je 100 bis 200 Gramm Brei. Die Suppe hat laut Vorschrift ein bis zwei Gramm Einlage, es schwimmen also einige Graupen darin oder einige Erbsenkörner. Der Brei genügt kaum, um eine Katze satt zu kriegen. Wenn Öl auf ihm schwimmt, ist es dunkel und dick wie Wagenschmiere und schmeckt auch danach. Amerikanische Fleisch-konserven, die während des Krieges reichlich eingeführt wurden, sind aufgezehrt, die eigene Konservenproduktion ist nicht spürbar. Eingesalzenes und getrocknetes Hammelfleisch sind kostbarste Leckerbissen für in Krankenhäuser und Erholungen Untergebrachte. Auf der eingleisigen Bahnstrecke, die überbelastet ist, verzögert sich der Transport der Lebensmittel. Woher sollten sie auch gebracht werden? Sie fehlen ja noch im ganzen Lande. An manchen Tagen erhalten wir nur Suppe, die Graupen-säcke für den Brei sind irgendwo liegen geblieben. An andern gibt es nur Brei, im furchtbaren Schneesturm kann das für die Suppe benötigte Wasser nicht herangeschafft werden. Brot ist das einzige, was an jedem Tag da sein muß. Wir sind nun Arbeiter, die zum mindesten Brot verdienen!

Zu spät herangeholte Kartoffeln und Zwiebeln erfrieren vor dem Einlagern. Der Verfäulnisgeruch der aus erfrorenen Kartoffeln zubereiteten Gerichte verfolgt uns in den Schlaf. Steinhart gefrorene Kohlköpfe werden in Schneewächten eingewintert. Aus ihnen zubereitete Kohlsuppe veranlaßt entsetzliches Bauchgrimmen. Die Zuckerzuteilung beträgt 20 Gramm je Tag und verwandelt, wenn sie wirklich ausgeteilt und nicht unterschlagen wird, einige Abende des Monats in den Frauenlagern zu wahren Festen. Dann duftet die Baracke nach Zucker, der in kleinen Blechstückchen auf dem Ofen bräunt, dann werden die letzten aufgesparten Brotscheiben geröstet, mit Knoblauchzehen bestrichen und dazu „Kipjatok“ (abgekochtes heißes Wasser) getrunken. Kipjatok ist nicht nur der Tee der Gefangenen, sondern auch der eines Großteils der Sowjetbürger.

Versteht sich, daß bei einer solchen Ernährung die zu leistende Arbeit nicht bewältigt werden kann, noch dazu in dem mörderischen Klima. Auf verschiedene Art sucht man sich zu helfen. Die einen werden zu Dieben, ja Mördern um ein Stück Brot, andere zu Angebern und Verrätern. Auf dem Wege zum Arbeitsplatz späht man morgens nach irgend etwas Eßbarem und kaut die dünnen grünen Halme der Nord-zwiebel, die spitzen Blätter des Sauerampfers. Doch immer gibt es auch solche, die mehr haben, für die irgend eine heimliche Quelle fließt. Ganz wenige erhalten Pakete von zu Hause. Sie können sich mit deren wertvollem Inhalte vor allem von der härtesten Arbeit freikaufen oder ihre Aufnahme ins Krankenhaus ermöglichen-, Sterben sie dort, erhalten die Angehörigen keine Benachrichtigung, und die weiter einlaufenden Sendungen werden von der Lager-oder Krankenhausleitung für eigene Verwendung beschlagnahmt.

Da wird irgendwo versteckt von Wohlhabenden der verbotene „Bragi“ angesetzt. Aus Zukker, Beeren, Brot und Wasser entsteht ein metähnliches Getränk, dessen Genuß auch tatsächlich einen Alkoholrausch erzeugt. Wer außer Blau-oder Schwarzbeeren noch etwas Zucker und Mehl besitzt, kocht eine Art süß-saure Grütze, „Kissell" genannt. Wer es nicht versteht, irgend eine Sonderzulage zu „organisieren“, kommt, früher oder später in das Krankenhaus. Hier wird man mit einigen Spritzen und etwas besserer Kost wieder arbeitsreif gemacht oder einmal nachts hinausgetragen und verscharrt.

Im Lagerkrankenhaus

Nach der dreimonatigen „Etappe" von Odessa nach Workuta komme ich als dem Tode Überantwortete in das Krankenhaus eines Lagers. Der japanische Direktor aus Charbin ist gleich mir todgeweiht. Hungertyphus, Skorbut, Dystrophie schwersten Grades, heißt es von uns beiden. Der Japaner ist sehr klug, er spricht zwölf Sprachen und erzählt mir in der Sprache meiner Heimat von seiner Heimat. Von ihm höre ich, wie der japanische Krieg mit Hiroshima und Nagasaki ein Ende nahm. Der sowjetdeutsche Feldscher, der die Leitung des Krankenhauses hat, und die russische Ärztin tun ihr Bestes, um uns zu helfen. Der Feldscher steckt mir heimlich einige Kostbarkeiten aus seinen sibirischen Heimatpaketen zu: etwas Butter, Honig und Weißbrot. Die russische Ärztin läßt mich nicht zur Ruhe kommen, bewahrt mich vor dem sich-hoffnungslos-Aufgeben. Mit kleinen Handlangerdiensten muß ich anfangen, Ich helfe beim Hausputz, obwohl ich mich noch kaum auf den Beinen halte, ich arbeite im Gärtchen, später in der Apotheke. Mit ungeheurer Anstrengung raffe ich mich auf. Man darf nicht grübeln, man darf die Sehnsucht nicht Herr werden lassen, — und es gelingt mir tatsächlich wieder einmal, nun zum zweiten Male, Hungertyphus und Skorbut zu überwinden, die Dystrophie freilich verschwindet nie mehr ganz. Der Japaner aber ist nicht vom Bette hochzu-bringen, er verfällt zusehends, und als ich an einem selten warmen Sommertage zur Radieschenernte hinausgehe, ziehe ich ein Laken über sein Lager. Ich weiß, er wird tot sein, wenn ich wiederkomme. Die Apotheke halte ich peinlich sauber, dann muß ich sterilisiertes Wasser herstellen, Hagebutten zu Tee zerschroten, einige Arzneien zubereiten, Pulver wiegen und verpakken. Die Apothekerin ist sehr jung, sie hat nach sieben Jahren Volksschule einen dreijährigen Fachkurs besucht. Dann hat sie sich unvorsichtig über die auch nach dem Kriege ständig steigende Not geäußert und mußte darum für fünf Jahre in den Zwangsaufenthalt nach Workuta. In der kleinen Apothekerküche bereite ic für sie die Mahlzeiten. Sie sind etwas besser als unser Lageressen, doch sehr, sehr kläglich. Lebertran, für die Kranken bestimmt, muß zum Braten ihres Fisches herhalten. Erstmalig sehe und esse ich Rentierfleisch.

Ende der vierziger Jahre munkelt man wieder einmal von einer Umwälzung in den Lagern. Man will die Katorga, die schlimmste Art der Straflager, deren Namen noch allzu sehr an die Zarenherrschaft erinnert, verschwinden lassen; natürlich ohne die darin befindlichen Zuchthäusler zu befreien, denn Sklavenarbeit wird noch dringend gebraucht. Es sollen nun zwei andere Gruppen aufgestellt werden. Erstens die allgeSeite litische Gefangene mit kleineren Strafzeiten und weniger schwerwiegenden Strafparagraphen und -punkten. Zweitens die Sonder-oder Regimelager für die ehemaligen Katorgane, gleich ob kriminell oder politisch, für politische Ge-fangene mit hohen Strafen (darunter gab es wenig Russen, meistens andere Nationalitäten aus der UdSSR, vor allem viele Juden und Sowjetdeutsche), und drittens schließlich für alle Ausländer.

Zeitweilige Erleichterungen

im Jahre 1950 soll diese Änderung praktisch in den Frauenlagern Workutas durchgeführt werden. Ob dieses Jahr für das Lager, in dem ich mich damals befand, arbeitsmäßig so gut verlaufen war, daß es mit einer Prämie ausgezeichnet wurde, oder ob man von der Hauptverwaltung der Lager beschlossen hatte, den Strafgefangenen noch eine „Henkersmahlzeit“ zu geben — die meisten von uns waren zu einfachen Strafarbeitslagern verurteilt und erhielten durch die neue Einteilung verschärftes Regimelager —, wer will es ergründen? Tatsache aber war, daß wir für zwei Wochen eine erhöhte Verpflegungszulage erhielten.

Damals war ich wieder einmal an einem physischen Tiefpunkt angelangt und darum vorübergehend zu Hilfsarbeiten in der Küche eingesetzt. Wenn Russen beschlossen haben, freigebig zu sein, dann sind sie großzügig. Aus den Vorratserdhütten des Lagers schleppen wir Säcke mit Mehl und Kartoffeln, Hunderte von Fleischkonserven, die ersten sowjetischen Erzeugnisse, öffnen wir täglich an einem in einen Holzbalken eingeschlagenen krummen Nagel. Die meiste Zeit stehe ich mit Frau Hanna zusammen in der Fischküsche. Kabeljau und Schollen mußten im kurzen heißen Sommer schnell gereinigt und zubereitet werden, sonst zerfielen sie uns unter den Händen und im Kochtopfe zu einem übelriechenden Brei.

Frau Hanna stammte aus Bayern, sie hatte ihre bayerische Robustheit, Urwüchsigkeit und auch ihren Humor durch all die Jahre gerettet. Bei einem Bombenangriff hatte sie seinerzeit die Sehkraft eines Auges eingebüßt und sich so in unsere schwächste Arbeitskategorie „verirrt". Viel Gemeinsames verband uns beide persönlieh. Ihre Heimatstadt war aus einem gesunden mittelalterlichen Patriziertum heraus gewachsen, meine Heimat Siebenbürgen war bis in jüngste Zeit ein vom Mittelalter her geprägtes Bauernland. Frau Hanna war unser aller Stütze. Wenn wir beim Graben von Entwässerungsrinnen auch im Sommer noch auf den ewigen Eisgrund stießen, stellte sie sich freiwillig an die härtesten Stellen. Schleppten wir Masten für die elektrischen Fernleitungen, trugen ihre breiten Schultern am schwersten, reinigten wir im Winter die gewaltigen Eisberge der Aborte mit Spitzhacke und Brechstange, waren ihre Brocken die dicksten. Vielen von uns hat sie mit ihrer physischen Kraft, mehr aber noch mit ihrer Fröhlichkeit geholfen. Aus ihrer Wohnung hatte angeblich ein Sowjetsoldat im Jahre 1945 das Fläschchen Menthylalkohol erhalten, das ihm den Tod brachte. Wegen Terror wurde sie darum zu acht Jahren Strafarbeitslager in die UdSSR geschleppt. Ihr kaum ein Jahr alter Säugling war ganz allein in der Wohnung zurückgeblieben, und neun Jahre wußte sie nicht, ob das Kind noch lebte. Trotzdem gab sie uns viel von ihrer inneren Stärke und Fröhlichkeit, und hat sich dabei fast verzehrt! Als ich nach vielen Jahren nach Deutschland kam, war das Zusammentreffen mit Frau Hanna eines meiner erschütterndsten Erlebnisse. Sie ist heute, trotzdem daß sie fünf Jahre vor mir heimkehrte, ein kranker Mensch und ein Nervenwrack. Heimlich trage ich nun den Vorwurf einer Schuld mit mir, vielleicht hatten wir damals alle zu sehr von einer bloß vermeintlichen Stärke gezehrt.

Doch noch ist Sommer 1950 in Workuta, und es gibt zwei Wochen lang Festmenü: Suppen mit selbstgemachten Nudeln, Gulasch aus Fleisch-konservenund Kartoffeln, Hirsebrei mit gutem Öl, gebratenen Kabeljau und sogar einige Radieschen und etwas Milch. Natürlich sind die einzelnen Portionen knapp, sehr knapp. Sie könnten bestimmt aud größer sein, wenn nicht so viel unter der Hand verschwände. Die außerhalb des Lagers in Sondersiedlung Wohnenden leiden beinahe den gleichen Hunger wie wir, und nun ist gute Gelegenheit zum Aufholen. Oft können wir durch den Stacheldraht hindurch beobachten, wie die Einkaufstaschen der „Freien" von den militärischen Wächtern auf das genaueste kontrolliert werden, ob darin aus den staatlichen Vorratshäusern auch nicht mehr davongetragen wird, als die „Pajok“ (Zuteilung) es erlaubt.

Schnell nehmen die fetten Wochen ein Ende. Während dieser Zeit treffen mehrere Transporte von Ausländern ein, meistens deutschen Frauen. Wir anderen, die schon jahrelangunterden Sowjetmenschen leben, haben inzwischen vieles von ihrer Primitivität angenommen. Nun haben wir alle Gelegenheit, die so viel gerühmte häusliche Tüchtigkeit der deutschen Frauen zu bewundern. Die wieder auf schmale Ration herabgesetzten Sowjetfrauen sind mürrisch und verdrießlich, die deutschen Frauen aber richten das bescheidene „Menü" so sorgsam, ja appetitlich zurecht, daß alle staunen. Der Salzhering wird entwässert, entgrätet, die dünnen Brot-scheiben damit belegt, mit fein gewiegter Nord-zwiebel verziert, die „organisierten" Radieschen als Salat zubereitet, das Schwarzbrot mit Zucker und Eichelkaffeesud als „Torte" gegessen. Die Einheimischen staunen, aber sie möchten sich doch lieber an ihre Fettöpfe halten. Und von den Leistungen der deutschen Frauen bei der allgemeinen Arbeit ist niemand entzückt, diese kommen nur in wenigen Ausnahmen an diejenigen der sowjetischen Riesendamen heran. Der deutsche Mann hat in den sowjetischen Strafarbeitslagern sehr viel und gute Arbeit geleistet, wertvollste Facharbeit, unbezahlbare, sorgsam verschwiegene Pionierarbeit. Der Großteil der deutschen Frauen war aber für die Lagerleitung diesbezüglich ein Versager.

Einkauf mit fünfzehn Rubel Wirtschaftsgeld

Dann sind da die Jahre von 1954— 1959 in der Zwangssiedlung. Fünfzehn Rubel je Person und Tag drückt mir meine Hausfrau im Jahre 1955 als Wirtschaftsgeld in die Hand. Das ist viel und doch wenig! Eine solche Ausgabe konnten sich nur die sehr hoch bezahlten Arbeitskräfte leisten. Meine Hausfrau ist Doppelverdienerin. Sie ist über fünfzig Jahre, also schon pensionsberechtigt und erhält nach 15 in der Polarzone verbrachten Dienstjahren eine hohe Pension: monatlich 1200 Rubel. Sie ist vollausgebildete Ingenieurin für Bauwesen und arbeitet als solche weiter, da Fachkräfte noch sehr gesucht sind. Ihr monatliches Bruttoeinkommen beträgt einschließlich Pension 6000 Rubel. Das ist sehr viel! Denn die kleinsten Einkommen bewegen sich zwischen 200— 300 Rubel, und auch ein guter Facharbeiter im Bergwerk erhält mit lOOprozentiger Polarzulage höchstens 2000 bis 3000 Rubel. Und doch ist es wenig! Meine Hausfrau hat als amnestierte ehemalige Strafgefangene keinerlei Sonderzuteilungen an Lebensrnitteln noch Vorrechte bei deren Beschaffung. Das Einholen ist also nur aus den Staats-geschälten oder auf dem freien Markte möglich. Da in den Staatsgeschäften bis 1958 mit einem normalen Einkauf fast nie gerechnet werden konnte, mußten die Wucherpreise auf dem „Bazar“ gezahlt werden, und so leerte sich auch der dickste Geldbeutel sehr rasch.

Ein ganz gewöhnlicher Wintertag beginnt, weder Schneesturm, noch übermäßige Kälte, bloß klirrender Frost von etwas über 30 Grad Minus. Morgens sechs Uhr — es ist stockdunkel — mache ich mich mit der Einkaufstasche auf den Weg. Meine Barschaft beträgt 150 Rubel. — Davon muß ich fünf Menschen zwei Tage lang verpflegen. In den Geschäften herrscht augenblicklich Flautezeit, das heißt, daß Mehl, Zucker, Butter, Fleisch und Fisch überhaupt nicht vorhanden sind. Ich überlege unterwegs: Welchen Laden wähle ich? — Fünf liegen auf meinem Wege. Vier davon sind niedrige Baracken-räume, halbe Erdhütten, ohne Schaufenster. Ein Fremder würde dort nie ein Geschäft vermuten. Zwei von ihnen öffnen erst um 11 Uhr, kommen demnach nicht in Frage, der dritte hat heute seinen freien Tag, der vierte ist geschlossen, weil „Revision" durchgeführt wird. So bleibt nur noch das größte Geschäft Workutas übrig, das Gastronom. Es nimmt die untere Etage eines in der Moskowskaja gelegenen dreistockhohen Gebäudes ein und hat vier große Schaufenster. Was dahinter steht sind jämmerliche Attrappen, die jedoch von dem zentimeterdicken Frostbelag der zersprungenen Scheiben verdeckt werden. In drei Abteilungen sind etwa 20 Verkäuferinnen und Kassiererinnen beschäftigt. So dick wie diese Damen ist nur noch das weibliche medizinische Fachpersonal in Workuta.

Die beiden Eingänge sind schon von Menschenschlangen flankiert. Man überlegt: an welcher Tür wird zuerst der Riegel fallen, wo ist es lohnender, sich anzustellen? — Mir ist es gleich. Beim Start entscheiden nur die stärksten Ellenbogen, und die habe ich nicht. Noch eine Stunde bis zur Öffnung. Man vertritt die kalten Beine, langsam kommen einige Gespräche in Gang. Viele der Wartenden wohnen in den Randsiedlungen und haben einen weiten Weg hinter sich.

Bei uns in Mulda (einer Randsiedlung), sagt eine Frau, der vor Müdigkeit die Augen beinahe zufallen, ist die Versorgung noch unzureichender.

— Ja, meint eine andere, darum ist auch hier im Zentrum an Sonntagen der Andrang so stark, man sieht dann vor Menschen die Waren überhaupt nicht und wird beinahe erdrückt. — Der große Andrang hat noch einen andern Grund, mischt sich eine dritte in das Gespräch. In Rußland, (so werden in Workuta die andern Teile der Russischen Föderation genannt) steht es mit der Versorgung viel schlimmer. Viele kaufen nun hier für ihre dortigen Verwandten Zucker, Butter, Mehl und sonstige Lebensmittel. Darum reicht es für uns trotz der Mehrzufuhr in die Polarzone auch nicht. — Eine Frau wünscht sich Saisonzeiten. — Wie das sei, möchte ich wissen? — Oh, dann öffnen sich plötzlich die Vorratskammern, und es ist alle „Mangelware“ da. Doch geschieht das immer nur zur besonderen Belohnung und auf kurze Zeit: Am Wahltage, um die Wähler in gute Stimmung zu versetzen, vor den Staats-feiertagenund am Tage der Kumpel. — Eine Frau trägt in der Einkaufstasche auch eine Milchkanne. Die andern lachen beinahe: Das wird wohl nicht klappen. Vor dem Milchgeschäft stellt man sich schon um drei Uhr morgens an, manchmal bringt das Auto vom Staatsgut nur leere Kannen, manchmal genügt die Milch nur für die ersten Hundert. Eine auffallend gut gekleidete Frau weiß Rat: Im Kühlhause wird Speiseeis hergestellt. Wenn du davon ein Stückchen für einen Rubel kaufst und es zerfließen läßt, erhältst du etwa ein halbes Glas Milch. — Die andere rechnet nach: Dann kostet ein Liter Milch acht Rubel. Soviel kann ich nicht bezahlen. Auch der offizielle Preis von 3, 60 Rubel je Liter ist schon teuer. — Plötzlich schreit eine Frau hysterisch: Haltet den Dieb! Meine letzten hundert Rubel sind mir gestohlen worden! —

Sturm aut das Lebensmittelgeschäft

Endlich knarrt der Riegel. Sturm! Mäntel werden zerrissen, Mützen verloren, Tücher rutschen über die Gesichter, Einkaufstaschen liegen auf dem Boden. Dann steht die Schlange in der Fleischabteilung ... vor leeren Vitrinen! — Man hat doch gestern einige Autos mit Baranina (Schaffleisch) abgeladen. „Wo ist das Fleisch?“, wagen einige mutige Männer zu fragen. — Fast höhnisch lächeln die Angestellten. Bis zum Jahre 1959 sind sie noch große Herren. Das Publikum wird nur grob angeschnauzt, ist gleichsam Bittsteller und muß froh sein, überhaupt etwas zu erhalten. Wer aber mit gleicher Grobheit heimzahlt, erhält die minderwertigste Ware. Das Fleisch ist angeblich noch Steinhart gefroren und kann nicht zerlegt werden. Wann die Austeilung beginnt, bleibt offen: nachmittags. morgen, übermorgen. — Ihr könnt ja warten, bis es so weit ist, spotten die Verkäufer. — Man schiebt sich weiter.

Um neun Uhr verstaue ich in meine Tasche folgendes: 2 kg Schwarzbrot (Rubel 3, —), 2 kg Graupen (Rubel 16, —), 1/2 kg Knochenfett (Rubel 10, —) und 1 kg Salzheringe (Rubel 14, —, zusammen Rubel 43, —).

Als einzige Rettung bleibt nun der Bazar, der freie Markt. Kolchosenbauern und Wiederverkäufer aus verschiedenen Teilen der UdSSR bieten hier zu hohen Preisen ihre Waren an. Manchmal beschlagnahmt die Polizei alles und verkauft billiger. Dann wird wochenlang aus Furcht fast nicht gehandelt. Manchmal gibt es Krankheiten unter dem Vieh, dann verschwindet auch hier das letzte Stückchen Fleisch. Was kann ich nun heute kaufen?

Rote Moosbeeren gibt es. Sie wachsen auch in der Polarzone, können unter dem Schnee geerntet werden, sind hart gefroren, wie Glas-körner, vitaminhaltig und ergeben einen süßsauren Kissell.

Eier liegen auch auf, doch ihr Kauf ist nicht anzuraten. Kontrollmöglichkeiten sind nicht vorhanden, der kurze Wintertag ist inzwischen graue Dämmerung geworden, die elektrische Beleuchtung in der Markthalle düster, und erst zu Hause angelangt, merkt man, daß über 80 Prozent der Eier verdorben sind. Übrigens kosten 10 Stück 125 Rubel. Zwiebeln und Kartoffeln brauche ich unbedingt. Der Kolchosenbauer nimmt sie aus dampfenden Säcken. Darin liegende heiße Steine bewahren sie vor dem Erfrieren. Bei den Fleischlauben flüstert mir eine Stimme ins Ohr: Hefe, Leningrader Hefe! Das ist eine Seltenheit und ihr Verkauf durch Wiederverkäufer streng verboten! Mein Einkaufskorb hat sich inzwischen gefüllt. Es kamen noch hinzu: 1 kg Schweinefleisch (Rubel 40, —), 4 kg Kartoffeln (Rubel 30, —), 1/2 kg Zwiebeln (Rubel 12, —), 1/2 kg Sauerkohl (Rubel 10, —), 2 Gläser Moosbeeren (Rubel 10, —) und Hefe (Rubel 5, —); zusammen für 107, — Rubel + 43 Rubel macht 150 Rubel.

Meine Barschaft ist. bis auf die letzte Kopeke ausgegeben. Für ein Frühstück reicht es wieder mal nicht, ich muß hoffen, an folgenden Tagen etwas einzusparen. Als ich gegen 11 Uhr zu Hause ankomme, beginnt schon die Polarnacht. Das war einer der vielen Vormittage bis 1956/1957. Seither ist manches anders geworden. Früher war eine Entwicklung von Jahrfünft zu Jahrfünft spürbar. Seit 1956 tritt diese im Handel und Geschäftsleben Workutas von Jahr zu Jahr in Erscheinung.

„Kulturelles Benehmen"

Folgender Vorfall spielte sich im Jahre 1959 ab. Das Gastronom mußte renoviert werden und war volle zwei Monate geschlossen. Der Ausfall des größten Geschäfts für so lange Zeit machte sich natürlich unangenehm bemerkbar. Es soll nun alles sehr schön werden! Nach sowjetischem Geschmack: an den Decken Stuck, an den Wänden rote Plüschdrapierungen, viele bronzierte Gipsfiguren rundum. Aber es wird auch ein elektrischer Aufzug eingerichtet, der die Waren aus den Kellervorratsräumen schneller nach oben befördert, und mehrere Kühlschränke werden in den Geschäftsräumen eingebaut. Erstmals soll eine Gruppe von geschulten Verkäuferinnen auftreten, die mit höflichem Umgangston überraschen wird. Große Plakate fordern beide, den Käufer und den Verkäufer zu einem „kulturvollen Benehmen" auf! Es wird auch Einschlage-papier geben! Bisher mußte jeder Säcklein und

Zeitungspapier zum Verpacken selbst mitbringen. Das im Plan vorgesehene Papier reicht kaum zur Herstellung der Zeitungen. Der Eröffnungstag nach der Renovierung soll ein großes Fest werden, an dem in allen Abteilungen alles in bester Qualität vorliegt.

Man höre und staune: Drei Fleisch-, zwei Fisch-, zwei Wurst-und drei Mehlsorten, dazu Milch, Obstkonserven und Marmeladen. Sogar eine Konditoreiabteilung ist eingerichtet, beliefert von dem Speisehaus nebenan, dem ehemaligen Restaurant Sewer. Die neue Brotfabrik, die elektrisch bäckt und halb automatisch arbeitet, hat ihr Bestes getan. Sechserlei Sorten Schwarz-und Weißbrot, letzteres mit und ohne Rosinen, dazu verschiedene Brötchen, Hörnchen und Wecken stellte sie zur Eröffnung. Alles ist schön aufgebaut!

Dann stürzt die Menge herein. Man will vom Besten schnell die größtmöglichste Menge erhalten! Wer weiß, wie lange es zu bekommen ist! Man ist gewohnt zu stürmen! Glas splittert, Kinder weinen, Frauen schelten, Männer gebrauchen Ellbogen. Unerwartet platzt ein Leitungsrohr, von der Decke fließt und tropft es. Verkäufer versuchen mit hochroten Köpfen und fliegenden Händen ihre neue Höflichkeit zu wahren. Nach drei-bis vierstündiger Wartezeit kehrt jeder Käufer ermüdet, verschwitzt und doch zufrieden mit seinen Einkäufen heim. Am Abend geht der Bevorzugte durch die Hintertür und erhält in ganz kurzer Zeit viel mehr und schönere Ware. Der zweite Tag ist dann wieder ein gewöhnlicher, die besten Dinge sind ausverkauft, die Decke ist verunziert vom tropfenden Wasser, die beschädigten Vitrinen werden wieder repariert, das Einschlagepapier fehltischon. geblieben aber ist etwas von der neuen Höflichkeit!

Zum besseren Verständnis der genannten Preise, einiges über den sowjetischen Rubel und dessen Kaufkraft: Der vollkommenen Entwertung nach dem zweiten Weltkriege folgte im Jahre 1948 eine Einwechslung im Verhältnis 10: 1, ungefähr in diesem Verhältnis eine Herabsetzung der Preise. Aber auch der seither (für 1960 ist eine zweite Einwechslung geplant) gültige Rubel bleibt in seiner Kaufkraft weit hinter den westlichen Währungen zurück. Sein Kurswert wird nur künstlich hochgehalten, und ist viel geringer, als es dem Touristenkurs von DM 1, — gleich Rubel 2, 38 entspricht. Die tatsächliche Kaufkraft zeigt noch im Jahre 1959 etwa das Verhältnis: 1 Rubel soviel wie 0, 25 bis 0, 10 DM.

Drei Tagesmenüs

Es seien nun drei Tagesmenüs aufgezählt, die am besten die Entwicklung der letzten fünf Jahre aufzeigen: 1. Menü. (1954— 1957)

Morgens: Tee, Brot, Margarine.

Mittags: Kohlsuppe (Schi) mit Knochen, Brei, Kissell aus Moosbeeren. Sonntags zusätzlich Fleisch und Kuchen.

Abends: Pellkartoffeln, Salzheringe. 2. Menü. (1957-1958).

Morgens: Tee oder Kaffee, Weißbrot, Butter, Wurst.

Mittags: Kohl-oder Gemüsesuppe mit Fleisch (Schi, Borschtsch oder Rassolnik), Kartoffeln, Soße, Kissell oder Kompott aus Dörrobst.

Sonntags zusätzlich: Braten, Kuchen.

Abends: Fisch mit Kartoffeln oder Makkaroni mit Wurst. 3. Menü. (1958— 1959)

Morgens: Kaffee, Weißbrot, Butter, Eier oder Fisch.

Mittags: Borschtsch, Schi, Rassolnik oder Uscha (Fischsuppe), zum Fleisch oder Fisch Beilage, Kissell oder Kompott aus Dörrobst.

Sonntags zusätzlich: Geflügel, Pelmen oder Bilischi, Kuchen, Obst.

Abends: Tee oder Milch, kalte Platte, Bratkartoffeln. Jedes dieser Menüs kostet Rubel 15, — je Person und Tag. Beim ersten nahm das Einholen täglich etwa 6, beim zweiten 4 und beim dritten 2 Stunden in Anspruch. Nur äußerste Sparsamkeit und Überlegung führte zu diesem Ergebnis. Einfachere Wochentage mußten natürlich die üppigeren Sonn-und Festtage wettmachen. Von der berufstätigen Hausfrau, die auch noch für die Erziehung der Kinder Zeit aufbringen muß, kann diese Wirtschaftlichkeit nicht aufgebracht werden. Wer es sich geldlich leisten kann, bevorzugt darum eine Hausangestellte. „Dienstmädchen" sind auch im kommunistischen Staate sehr gefragt. Der heutige Lebensmittelmarkt in der Sowjetunion erlaubt die Herstellung des dritten Menü; doch auch in der Polarzone, in der höhere Gehälter und Löhne als in anderen Gebieten der UdSSR gezahlt werden, ist es nur für Neureiche, höhere Partei-und Wirtschaftsbeamte und bestbezahlte Fachkräfte erschwinglich.

Borschtsch ist eine ukrainische Fleischsuppe mit Kohl und verschiedenem Gemüse, durch Zusatz von Rote Beete erhält sie die charakteristische rote Farbe; Schi eine russische Fleisch-suppe mit Kohl und Kartoffeln; Rassolnik eine Fleischsuppe mit Gemüse und Essig-gurken; Ucha eine Fischsuppe mit Kartoffeln, Zwiebeln und Lorbeerblättern; Pelmen sind sibirische Fleischtäschchen; Bilischi ein National-gericht aus dem Ural, mit Fleisch gefüllte und in Fett ausgebackene Pasteten aus Hefeteig.

Vieles ist in den letzten fünf Jahren geschehen, vieles bleibt noch zu tun.

Manche Geschäfte sind neu entstanden, alte vergrößert und renoviert. Im Haushaltsgeschäft fehlte es noch vor drei Jahren am Nötigsten. In Flautezeiten gab es weder Waschsoda noch Seife, weder Küchengeschirr noch Besen, selbst elektrische Glühbirnen wurden im dunklen Polarwinkel vergebens gesucht. Jetzt liegen elektrische Geräte aller Art auf, und allerlei Küchengeschirr, eine Möbel-, eine Sportabteilung ist vorhanden. Aber wenn plötzlich eine Sendung der so begehrten und so spärlich vertretenen Motorräder eintrifft, reißt man sich noch beinahe in Stücke.

Die Flautezeiten von einst, wo es überhaupt nichts gab, sind zwar nicht vollkommen verschwunden, beschränken sich aber größtenteils auf das zeitweilige Fehlen von Fisch-, Fleisch-und Fleischwaren. Die Qualität der Lebensmittel läßt noch Vieles zu wünschen übrig. Manche in Workuta angebotenen Fleischsorten würde eine deutsche Hausfrau mit heimlichem Grauen betrachten. Die Aufbewahrung ist noch nicht entsprechend, frische Milch ist in den wärmeren Monaten kaum zu haben, sie wird rasch sauer. Die Quantität der Lebensmittel ist sowohl im Stadtzentrum als auch in den eingemeindeten Siedlungen größer als früher. Das „Hamstern“ ist etwas geringer geworden. Die Unterschiede aber zwischen einfachem Mann, und Gutsituierten, zwischen Arm und Reich treten mit wachsendem Lebensstandard immer deutlicher in Erscheinung: beim Einkauf und bei der Herstellung des täglichen Menü, auf allen Gebieten.

Bessere Versorgung seit 1959

In der Obst-und Gemüseversorgung der Polarstadt Workuta konnte im Jahre 1959 eine sprunghafte Besserung verzeichnet werden. Wie ist es dazu gekommen?

Es gibt heute im Kreise Workuta einige Staatsgüter, so Pobeda, Polarje, Sewerne, Sewerne Mjas u. a. Sie haben Farmen für Rentier-zucht, Milchwirtschaft und landwirtschaftlichen Anbau. Im Freien werden Kohl, Kohlrabi, Salat, Spinat und Radieschen angepflanzt und geerntet. Als Viehfutter (Grünfutter) kommen Hafer und Gerste zur Verwendung. Außerdem hat jedes Bergwerk seine Gewächshäuser, in denen Tomaten, Gurken, Champignon und Kartoffeln gezüchtet werden.

Als mir vor zehn Jahren auf dem Staatsgut am Flusse Workuta der Agronom entgegentrat, sah er äußerlich wie der kleinste unserer Stall-burschen aus. Er konnte aber allerlei, hatte eine mittlere landwirtschaftliche Ausbildung abgeschlossen und war eifrig bemüht, durch Anlegen von Kulturen und Gewächshäusern erste Voraussetzungen für das Entstehen einer Landwirt-schaft in der Polarzone zu schaffen. Von den Angestellten des Laboratoriums wurde er dabei tatkräftig unterstützt.

Bis Anfang Juni schaufelten wir Gefangene draußen nur Schnee und hackten Entwässerungsrinnen in das Eis, trugen vorbereitete Erde in die Mistbeete, verkitteten zerbrochene Fensterscheiben, schleppten Kohlen und versahen damit die Öfen in den Gewächshäusern und die Heizanlagen auf den Feldern, welche das Auftauen der Erde und das Wachstum in den Mist-beeten durch Fernsteuerung förderten. In den Gewächshäusern wurde gesät, Pflanzen pikiert und versetzt. In einem Raume verfertigten Frauenhände aus Dünger kleine Töpfchen; 2000 Stück am Tage ist die Norm. Jede Kohlpflanze aus dem Gewächshaus wurde in ein Düngertöpfchen gesetzt, zuerst in die Mistbeete und dann auf die Felder verpflanzt. Der Anbau mußte bis 5. Juli beendet sein. Alles, außerdem Pflügen des viele Hektar großen Ackers, war damals noch Handarbeit. Manchmal brauste Anfang Juli ein Schneesturm über uns her und die grünen Pflänzchen verschwanden fast unter der rasch sich bildenden Schneeschicht. Unsere Hände waren klamm, aber am nächsten Morgen standen die Pflänzchen, etwas gelb und arg mitgenommen.

Doch alle aufgebrachte Sorgfalt und Mühe genügte nicht und genügt auch heute nicht, um die Armut des Bodens wett zu machen und um die nicht ausreichende Sonnenwärme zu ersetzen; denn auch an den vierundzwangstündigen Sömmertagen hüllt sich die Sonne zu oft in Wolken und Nebel ein.

Heute übernehmen auf den Workutaer Staats-gütern Maschinen die Arbeit vieler Menschen-bände, sind die Erträgnisse durch fortschreitende Erfahrung vervielfältigt worden. Von den Versuchsfeldern bei Obdorsk, dem ehemaligen Salechard, das etwa hundert Kilometer östlich von Workuta am Ob -in Sibirien liegt, wird mitgeteilt: „Im Jahre 1957 betrug die Ernte an Kohl 245 Zentner je Hektar, die von Kohlrüben 5 20 Zentner. Das ist mehr als die berühmte Poljarnistation am unteren Jenissei erzielte." Wie weit sich die Versuchsfelder Workutas damit messen können, ist mir nicht bekannt. Eines jedoch steht fest. Wenn Anton Zischka in seinem Buche „Asiens wilder Westen“ schreibt: „Die Behauptung Moskaus, daß die Sowjetarktis heute bereits ihren Lebensbedarf selber deckt, während Alaska fast seinen gesamten Bedarf über Seattle aus den USA einführt, scheint also zu stimmen", ist, wenigstens vorläufig reine Utopie. Die hohen, sehr teuren Erträgnisse, von einigen wenigen hochgezüchteten Versuchsfeldern, können nicht verallgemeinert als für das ganze Gebiet der Arktis geltend gemacht werden, auch genügen sie noch lange den Gesamtanforderungen nicht.

Von sichtbarem Fortschritt für die Verpflegung der Workutaer Bevölkerung, sind nur die Lieferungen der Milch-und Rentierfarmen, deren Vergrößerung sich stark auf eine immer intensivere Heubeschaffung aus der Tundra stützt.

Noch vor fünf Jahren gehörte Milch zu den größten Kostbarkeiten. Es war kaum möglich, sie für Kranke und Kleinkinder zu beschaffen. Bei Kälte von 40— 50 Grad Minus standen Hunderte drei bis vier Stunden auf der Straße an, um ein bis zwei Liter Milch zu erstehen. 1959 wird Milch in zwei Milchläden und verschiedenen Abteilungen der Staatsgeschäfte verkauft, sogar verschiedene Milchprodukte (Sahne und Quark) sind erstmalig erhältlich. Aus der Kinderküche können Säuglinge mit Milch, Milch

Produkten und Milchspeisen verpflegt werden. Wenn die Viehherden in der sommerlichen Tundra grasen und das zusätzliche Kraftfutter des Winters nicht erhalten, kann die Milch nicht auf den vollen Fettgehalt gebracht werden. Darum beträgt der Sommerpreis auch „nur“ 2, 90 Rubel im Vergleich zum Winterpreis von 3, 60 Rubel. Doch ist Milch für sowjetische Begriffe ein sehr billiges Nahrungsmittel.

Im allgemeinen muß von den Erzeugnissen der Workutaer Staatsbürger gesagt werden, daß bis heute zwei große Nachteile nicht überwunden werden konnten: 1. Die Qualität der in der Polarzone gezüchteten Gemüsesorten ist viel geringer als die solcher aus südlicheren Gegenden. Wenn Hausfrauen heute in Workuta Gemüse einkaufen, fragen sie zuerst, wo es gewachsen sei. 2. Die großen Gestehungskosten fordern zu hohe Preise. Tomaten und Gurken aus den Gewächshäusern wurden je Kilogramm für 25, — bis 30, — Rubel verkauft, auf dem Bazar kosteten sie sogar 40, — bis 50, — Rubel. Solche Preise können sich nur wenige, die kapitalkräftigsten Neureichen leisten.

Wie ist nun die sprunghafte Wandlung auf dem Obst-und Gemüsemarkt Workutas im Jahre 1959 zu erklären? Durch die Auslands-importeaus den Volksdemokratien Rumänien und Bulgarien!

Im Sommer 1959 rollten erstmalig 500 Waggon bulgarische Tomaten nach Workuta, ihnen folgten Paprika, Zwiebel, Gurken. Aus Rumänien Beeren-, Stein-und Kernobst. Verkaufs-kioske schossen aus dem Boden. Die Preise waren niedrig, wie nie zuvor: Zwiebel 1 kg 4 bis 6 Rubel, Tomaten und Gurken 1 kg 7 bis 10 Rubel, Äpfel 1 kg 10 bis 12 Rubel. So viel, so gutes und so billiges Obst und Gemüse hatte man in Workuta noch nie gegessen! Der Bazar wurde gezwungen, seine Preise herabzusetzen. Die sowjetischen Wiederverkäufer aus Armenien und dem Kaukasus hätten ihre teuren sowjetischen Erzeugnisse sonst nicht verkaufen können.

Die billigen Importe aus den Volksdemokratien hatten ein dreifaches Ergebnis:

Sie erhöhten das eigene ungenügende Ange-• bot, sie unterboten die hohen Preise der eigenen Produktion und trugen zur Hebung des eigenen Lebensstandards wesentlich bei. Ein weiter Weg führte von „Balanda und Brot“, dem Menü von einst, zum reichhaltigen Menü von heute, für dessen Zusammenstellung Staatsgeschäfte, Staatsgüter und billige Preise aus den Volksdemokratien beitragen.

4. Vom Lumpenhabit zum „Univermag"

Kleider machen Leute, sagt ein altes Volks-wort. Es ist eines aus der westlichen Welt. Im Osten fand ich kein ähnliches.

Ob nun Kleider Leute oder Leute Kleider machen, sei dahingestellt. Jedenfalls ist ein gepflegter, gutangezogener Mensch ein erfreulicher Anblick. Zu leicht aber verfällt man bei uns ins Extrem, gerade was das äußere Erscheinungsbild anbetrifft. Der rasch prüfende Blick, die schnelle Einschätzung des Gegenüber, aus der sich dann die Anrede Frau oder gnädige Frau, Herr oder Herr Doktor ergibt, mag hingenommen werden, wenn diese Entscheidung wirklich aus einer richtigen Menschenbeurteilung entspringt. Beruht sie aber nur auf einer oberflächlichen Bewertung des äußeren „Habitus“, wirkt sie oft hochmütig, kränkend, arrogant.

Menschen des Osten reagieren sehr empfindlich auf diese Gepflogenheiten des westlichen Menschen. Letzterer ist gewohnt, von der Höhe seines Lebensstandards, der sich in Jahrhunderten entwickelt hat, bestimmte Formen des Auftretens, der Haltung, der Kleidung und der körperlichen Hygiene als unerläßliche Forderungen für einen Kulturmenschen anzusehen. Wenn diese seiner Auffassung nach fehlen, ist er schnell geneigt, dem anderen jegliche Kultur abzusprechen. Hier trifft er im Osten auf Widerspruch. Sowjetmenschen, besonders die Russen unter ihnen, sind sehr selbstbewußt, sie wollen führen, herrschen, möglichst auf allen Gebieten. Sie sind, — trotz aller Verurteilung des Despotismus der Zarenzeit, stolz auf die damaligen kulturellen Leistungen und auf alles Wertvolle, das auf künstlerischem und wissenschaftlichem Gebiete geleistet worden ist. Man besitzt also eine Kultur. Warum muß man sie anzweifeln lassen? Weil die Maßstäbe, mit denen hüben und drüben gemessen wird, ungleich sind? Weil man im äußeren Erscheinungsbild noch nachhinkt?

Lange genug mußte man dies schweigend hinnehmen. Das sowjetische Staatsregime stellte andere Forderungen an erste Stelle als die, sich den Kulturmaßstäben des Westens anzugleichen. Man mußte zuerst einige Spitzenleistungen aufweisen, um die Welt aufhorchen zu lassen! Man mußte vieles nachholen und darum lernen, lernen, lernen! Es war notwendig in einem Lande, in dem bis vor kurzem ein Großteil der freien Bevölkerung hungerte, in dem heute noch 90 Prozent der Familien bloß ein Zimmer bewohnen, diese Klippen zu umschiffen. Heute ist endlich der Weg frei, dem Westen auch in Kleidung und äußerer Lebenshaltung nachzueifern. Ergebnisse dieses Bemühens seien im Folgenden geschildert.

Das Lumpenhabit der Nachkriegsjahre, die damalige entsetzliche Primitivität der breiten Masse soll nur gestreift werden. Merkwürdige Zustände herrschten zu dieser Zeit auch anderwärts. Daß aber in der UdSSR die mangelnde Produktion, das allzu geringe Einkommen der Arbeitenden, verbunden mit der fast vollständigen Entwertung des Rubels vor seiner ersten Umwechslung im Jahre 1948 besondere Blüten trieb, ist selbstverständlich.

Gefängnisdirektor und -arzt suchten aus dem Handgepäck des Gefangenen selbst aus, was sie für sich und ihre Familie dringend benötigten. Sie benötigten viel, und nicht nur sie. Es fehlte an Kleidern und Schuhen, Wäsche und Strümpfe gab es überhaupt nicht, der kleinste Knopf war eine Kostbarkeit. Nicht Qualität, nicht ein harmonisches Abstimmen der einzelnen Kleidungsstücke, nicht ihr Anpassen an die Figur des Trägers waren maßgebend. Die Kleidung sollte vor den Unbilden der Witterung schützen und warm sein, alles andere war Nebensache. Plumpheit und Unschönheit störten nicht im geringsten.

Damals fiel das andersartige Fremde noch auf und wurde oft belächelt. Die Hüte der Gefangenen fand man lächerlich, die eigenen Schildmützen und Ohrenklappen aber waren etwas wert, sowie die handgestrickten großen Wolltücher und die weißen Spitzenschals der Frauen. Dieser Spott entsprang wohl einerseits dem Neid der Besitzlosen, andererseits vielleicht aus einer unbewußten gesunden Abwehr gegen etwas, was den dortigen Witterungs-und Arbeitsverhältnissen nicht angepaßt war.

Wiederum war man aber auch so naiv und kindlich, alles schön zu empfinden, was glänzte. Stolz trugen damals die Sowjetfrauen Seidenschlafhemden der Ausländerinnen als prunkvolle Abendkleider.

Kaum Gedanken an Kleidung

Vom Lumpenhabit der Strafgefangenen soll auch nicht viel gesagt werden. Alles andere, das unfreie jämmerliche Vegetieren hinter Stacheldraht in überfüllten Baracken, die Zwangsarbeit und der Hunger waren so entsetzlich, daß den Gedanken an Kleidung kaum Raum gegeben wurde. Was da ist, soll warm sein, war auch hier die Forderung der ersten Jahre. Der Wunsch nach Sauberkeit konnte nur viel später erfüllt werden, als Wäsche da war und es die Möglichkeit des regelmäßigen Waschens gab. Noch im Jahre 1950 geschah es — größere Transporte deutscher Frauen aus der Ostzone und Berlin wurden in Workutaer Straflager gebracht und mußten vor den Lagertoren auf ihren Einlaß warten —, daß die Neuankömmlinge vor Grauen beinahe erstarrten, als hinter dem Stacheldraht „räuberhaft anmutende schmutzige Gestalten auftauchten, von denen man auf den ersten Blick nicht sagen konnte, ob es Mensch oder Tier, Mann oder Frau war". Doch tatsächlich waren dies Frauen, die schon fünf oder mehr Jahre in den Straflagern der Sowjetunion gelebt hatten.

Die Kleidung der Gefangenen bestand aus einem wattierten, bis zu den Knien reichenden Mantel, dem „Buschlat", einer kürzeren Jacke, Hose, Ohrenklappen und Handschuhen, die ebenfalls wattiert waren. An den Beinen trug man Filzstiefel (Walenki) mit Fußlappen oder Watte-strümpfe mit Gummischuhen (Burki). In den ersten Jahren zog man dies alles auf die nackte Haut an. Die ganze wattierte Garderobe kam einmal wöchentlich in den Entlausungsofen, der Träger ins Bad. Bad nannte man anfangs drei Schöpfkellen warmes Wasser und fünf Gramm Seife. Ein Waschkleid, etwas Wäsche und ein Paar Strümpfe je Jahr kam viel später dazu. Die Wattekleidung war aber nur bei der besten Kategorie der Arbeiter und den Protektionskindern neu, in zweiter und dritter Ausgabe verdreckt, geflickt, zerrissen. Schlimm war, daß die Kleidung nur leihweise ausgegeben wurde. Was nützte es schon, sie zu flicken und zu pflegen? Beim Umtausch, jeweils im Herbst und Frühling, erhielt man womöglich viel schlechtere.

Kein äußerlicher Unterschied zwischen Gefangenen und Entlassenen

Jie Kleidung der Lagerentlassenen und Zwangssiedler unterschied sich in ihrer Primitivität im Anfang der fünfziger Jahre wenig von der der Gefangenen. Nur zwei Kleidungsstücke waren ihnen als für Sträflinge typisch verpönt: der Buschlat und die Wattehose. Man trug nun einen mit Wattelin gefütterten Stoff-mantel oder einen mit dem Fell nach innen gekehrten Schafpelz. Die Frauen vertauschten die Ohrenkappe mit einem Wolltuch. Doch es gehörte viel Geld und manches Geschick dazu, um diese Kleidungsstücke damals zu erwerben. Die Staatsgeschäfte waren leer, der Trödlermarkt aberblühte. Wer verdiente dort? Die ganz Freien, die im Urlaub aus Workuta wegfahren durften. Sie hielten sich auf der Durchreise tagelang in Moskau oder Leningrad auf, wanderten von Ge-

schäft zu Geschäft, standen Schlange und harnSterten, was nur möglich war. So erstand einst ein Ehepaar, nach stundenlangem Warten in einem Leningrader Geschäft, je zwei Männertaghemden. Auf die Mahnung der Verkäuferin, daß Spekulanten sich straffällig machten, erwiderten sie, sie seien doch aus dem Norden und kämen nur einmal in drei Jahren hierher. Worauf die Verkäuferin voll Neid bemerkte: Ja, die aus dem Norden haben eben das Geld! Bei uns fehlt es. — Solche Glücklichen kleideten sich damals Jahr für Jahr im Urlaub neu ein. Ihre älteren und ältesten Kleidungsstücke ließen sie um den zwei, bis dreifachen Preis durch Wiederverkäufer auf dem Bazar an den Mann bringen. So hatten sie einen kostenlosen Urlaub und dazu noch Gewinn. Das stand einem auch zu! Man war ja Partei-, Staats-oder Wirtschaftsbeamter und batte nie zum „Lagerauswurf" gehört! Einmal, als dieser Handel dann allzu schwunghaft wurde, griff die Polizei ein und beschlagnahmte ein ganzes Lager an Mäntel und Konfektionswaren, das Lehrer und Beamte auf Urlaubsreisen zusammengetragen hatten und in Workuta nun teuer losschlagen wollten. Wir waren drei Frauen, die im Jahre 1954 aus dem Lager kommen sollten und stellten uns oft die Frage, was wir dann anziehen sollten.

Die junge Ukrainerin hatte es am leichtesten. Ihre Mutter lebte noch, verdiente als Lehrerin irgendwo in einer ukrainischen Kolchose kümmerlich ihr Brot. Sie hatte schon seit Jahren alle Ersparnisse beiseite gelegt, um der Tochter für den Wiedereintritt in die „Freiheit" einen Wintermantel zu schenken. Es war ein einfacher schwarzer Stoffmantel mit kleinem Pelzkragen und natürlich dickem Wattelinfutter und kostete 3 000 Rubel. — So ging die Tochter, für damalige Verhältnisse sehr gut gekleidet aus dem Lager, fand auch schnell eine Stelle als Buchhalterin mit einem Monatseinkommen von 300 Rubel, noch schneller einen Schweden als Schlafgefährten, und ... vergaß der alten Mutter zu danken.

Die zweite der Frauen war eine junge Polin. In ihrer Heimat lebten weder Verwandte noch Freunde. Sie war jung und schön und sehr national. Sie wollte nur mit einem Manne aus ihrem Volke zusammen leben. Zugehörigkeit zum polnischen Volke galt ihr mehr als reiches Einkommen. Der Mann den sie wählte, war etwas reicher als sie, denn er besaß schon einen Wintermantel. Zwar war dessen Futter schon zerschlissen und brüchig, denn die einzige Decke war dünn, und in kalten Winternächten mußte der Mantel herhalten. Aber was tat es? Gemeinsam kauften sie dann auf dem Bazar für 400 Rubel einen alten getragenen Wintermantel für die junge Frau. Sie saß nachher eine Woche lang und flickte und stopfte ihn zurecht. Die Nachbarin meinte, daß es ein selten billiger und guter Kauf gewesen sei. Die junge Frau aber dachte: Er kostete zwei Drittel unseres Monatseinkommens; wovon sollen wir in der zweiten Hälfte des Monates leben?

Die dritte der Frauen war ich. Zwei Winter noch lief ich in der Wattejacke des Lagers, dann erstand ich einen sowjetischen Standardmantel: schwarz, plump, häßlich und so schwer, daß er mich beinahe zu Boden drückte, aber warm, mit einem fünf Zentimeter dicken Wattelinfutter und einem Pelzkragen, der hochgeschlagen, den ganzen Kopf einhüllte. Er hatte auf dem Trödlermarkt das Doppelte des Einkaufspreises, nämlich 1400 Rubel gekostet, das war mehr als mein Einkommen in einem halben Jahre betrug.

Wenn es ein Farbfoto von Workuta des Jahres 195 5 gäbe, könnte dieses dennoch nur die Farben Schwarz-Weiß aufweisen: das Weiß des Schnees und das Schwarz der im äußeren Erscheinungsbild noch immer denkbar einfachsten Straßenpassanten.

Schildmützen und Ohrenklappen

Die Männer, konservativer in der Kleidung als die Frauen, halten noch an ihren Schildmützen und Ohrenklappen fest, während die städtischen Frauen schon etwas verächtlich den russischen Spitzenschal als nur für „Kolchosniki“ (Bauern) passend abtun und Hüte und Pelzmützchen vorziehen. Der Standardanzug der Männer ist schwarz, eine Stiefelhose, ein uniformähnlicher Rock, dazu Lederstiefel im Sommer, Filz-stiefel im Winter. In der ganz großen Winterkälte zieht, wer das nötige Geld hat, die „ledroyj Unti" (Eisstiefel) an, die durch ihren hohen Pelzschaft besonders originell wirken. und eine drei bis vier cm dicke Filz-Ledersohle haben. Leute mit Beziehungen oder von Urlaubsreisen Heimkehrende zeigen Pelz-und Ledermäntel. Die Arbeiter tragen auch weiterhin Wattejacken und tragen sie als Arbeitsanzug auch heute noch, trotzdem sich sogar Chruschtschow in einer seiner vielen Reden dafür eingesetzt hatte, dieses doch etwas zu primitive und unschöne Kleidungsstück mit einem wohl praktischen aber immerhin repräsentabjeren zu vertauschen.

Die Frauen versuchen natürlich dem Standard-mantel oder -kostüm eine etwas gelockerte Form zu geben. Zu ihrem großen Bedauern muß der Hut oder das Pelzmützchen mit einem Tuch oder Schal unter dem Kinn fetsgebunden werden, da es in Workuta innerhalb eines Jahres höchstens 20 bis 30 windstille, besser gesagt, sturmfreie Tage gibt. Statt der Filzstiefel trägt man lieber die leichteren „Pimi“ der Nenzen. Sie geben mit ihren bunten Volkskunstmustern, lustigen Troddeln und Schnüren eine eigene Note. So warm und praktisch wie die russischen Wale-i sind sie aber nicht, und darum zieht man über den Strumpf noch eine Strumpfhose, die „Rytjuse“ (deutsch Reithose).

Im Sommer bestimmt der Regenmantel das Straßenbild. Die wirklich eleganten Damen und Herren sind auf Urlaub, die „Festsitzenden" zeign billige Baumwollfähnchen, mit mehr oder weniger Geschick und Geschmack. Manch hoher Hacken bleibt im holperigen Straßenpflaster stecken und bricht.

Werfen wir nun einen Blick auf einen Kleiderschrank dieser Jahre!

In 80 bis 90 Prozent der Wohnungen gibt es ihn überhaupt noch nicht. Ein hölzerner Wand-rahmen in einer Zimmerecke vertritt ihn, darüber ist ein weißes Laken gespannt, wenn es hoch kommt ein bunter Vorhang und darunter verbirgt sich die Garderobe der Familie. Ein bis zwei Koffer unter dem Bett nehmen die Wäsche auf. Die Arbeitskleidung hat jeder auf dem Leibe. Wenn man gut eingerichtet ist, hat man noch ein etwas besseres saubereres Kostüm für den Ruhe-und Festtag, Halate (Kittelschürzen) für Frauen und Mädchen. Männer und Knaben tragen den Pyjama auch als Hausanzug. Am wichtigsten für daheim sind die im Flur in langer Reihe ausgerichteten Hausschuhe, daß Straßenschuhzeug muß trocknen, auch kann nur durch Schuhwechsel in der räumlichen Enge der Wohnung einigermaßen Ordnung gehalten werden.

Volkstrachten in Workuta

Welche Überreste von Volkstrachten erblickt man im Völkergemisch Workutas? Der Ukrainer zieht an Festtagen sein mit bunter Bordüre besticktes Hemd an, die Ukrainerin noch zu besonderen Gelegenheiten Teile ihrer Nationaltracht. Die Tatarin bindet ihr Kopftuch nach alter Stammesgepflogenheit, vom Usbeken übernehmen Männer und Knaben gerne im Sommer das buntgestickte „sibeteku“ (rundes Käppchen). Die Frauen auf den Staatsgütern haben sich von den ukrainischen und russischen Wolltüchern und Spitzenschals noch nicht getrennt, und die Männer nicht von den teils noch mit Volkskunstmustern verzierten Schafpelzen.

Sonst ist alles schwarz und Standard, einheitlich genormt, in Qualität und Farbe, in Schnitt und Preis. Eines fällt ins Auge, die Sauberkeit nimmt zu. Die Sowjetfrauen legen darauf großes Gewicht und leisten darin, trotz der Enge der Wohnungen und der Inanspruchnahme durch den Beruf, wirklich Anerkennenswertes.

Erst die Lockerung des Eisernen Vorhanges brachte ab 1956/57 mit ihren Folgen eine wirklich große Wandlung im äußeren Erscheinungsbild, in den Umgangs-und Lebensformen auch der breiten Massen, und war mit ihren Auswirkungen bis in die ferne Polarstadt sichtbar und spürbar.

Ausländer kamen, zuerst freilich nur nach Moskau und Leningrad, aber die Urlauber sahen sie und erzählten davon. Eine französische Schauspielertruppe traf aus Paris ein und es passierte folgendes: Eine schlanke Frau ging durch die Gorkijstraße in Moskau, verliert ihren Handschuh, ein Vorübergehender reicht ihr das Verlorene mit den Worten: Poshaluista, dewuschka! (Bitte sehr, Fräulein!) und erhält zur Antwort: Die 62jährige Großmutter bedankt sich! -Diese Frau war tatsächlich 62 Jahre alt und spielte in Henry Stendals Drama „Rot und Schwarz" eine junge schöne Adlige. Wie ist das möglich, fragten sich die russischen Frauen. In Workuta ist eine Frau mit 50 Jahren alt, mit 55 erreicht sie die Pensionsgrenze, mit 60 ist sie eine Greisin, auch in der übrigen UdSSR ist es nicht viel besser. Schlimmer aber, die Frauen verlieren ganz früh ihre Figur, werden dick und unförmig. Hier muß abgeholfen werden, wenn es auch auf Kosten der Gesundheit geht! — Es kam wie es dann kommen mußte. Man ging auf Erholung, um schlanker zu werden und es war noch gut, wenn dabei der Arzt zu Rate gezogen wurde. Doch manche Entfettungs-und Abmagerungskur, auf eigene Faust durchgeführt, rächte sich bitter: einmal, weil der Norden das Herz auch ohne solche Extratouren überaus belastet und dann, weil die arbeitsmäßigen Anforderungen von einem so geschwächten Organismus nicht durchgehalten werden konnten.

Die jugendlichen Teilnehmer aus aller Welt kamen zum Festival 1957 nach Moskau. Moskau sang und tanzte und blühte, sagten die Alten. Die Jungen aber sahen auf die Moden und Sitten und Umgangsformen, welche die: Fremden mitbrachten. Wieder diese schlanke: Linie! Westlicher Charme in der Mode, besonders in der französischen, entzückte. Unsere so. wjetischen Modeschöpfer haben keine Phantasie, hieß es nun: Eine französische Spitzenbluse: ist einzigartig, die unsrigen schlechtsitzend und geschmacklos. — Schon stelzten die Studentinnen in langen Hosen einher und bedauerten, daß die kurzen Shorts polizeilich verboten bleiben. Die Hemden der männlichen Jugend wurden immer bunter, die Hosen immer enger, zu den Niethosen fehlte nur noch weniges.

Touristen kommen! Man sieht und lernt. Der Hut, früher verächtlich als typisches Merkmal des „burshui", des „Kapitalisten" abgetan, verdrängt die „Furaschka“ (Schildkappe) der Männer. Man trägt zum Wintermantel einen bunten Wollschal. Modischere Konfektionsanzüge, natürlich von der Stange, ersetzen die Stiefelhosen. In den Städten trennt man sich von dem altbewährten Walenki, dem plumpen, aber treuen Begleiter durch den russischen Winter. Der Lederschuh, im Norden mit hohem, gefütterten Schaft, gilt nun als vornehm und für die Ranghöheren als standesgemäß. Man muß dabei tief in die Tasche greifen, denn ein Paar Leder-schuhe kosten 300 bis 800 Rubel. Pelzmäntel werden von den Frauen häufiger getragen: einfache Hasen-oder Fohlenmäntel im Preise von 2000 bis 3000 Rubel und kostspielige Feh-, Maulwurfs-und Persianermäntel ab 10 000 bis 20 000 Rubel; letztere sind natürlich nur für Neureiche erschwinglich.

Mode aus Moskau

Mode wird in Moskau gemacht. Sie hat ihre eigene Note: will Praktisches mit wirklich Modischem verbinden, will manche Motive aus der reichen Volkskunst der UdSSR mithineinbeziehen und künstlerisch verwerten, will starke und schlanke Figuren zu ihrem Recht kommen lassen, und noch einiges mehr. Man kann sich im allgemeinen nicht so sehr damit anfreunden, bezieht lieber Modeblätter aus der lettischen Republik, aus Riga. Früher zog man deutsche Modeblätter vor, besonders beliebt waren deutsche Handarbeitszeitungen. Heute gibt Ostberlin eine in großer Aufmachung erscheinende, für die Länder des Ostblocks bestimmte Modezeitung „Sybille“ heraus. Sie soll schlechthin für die gesamte Berliner und deutsche Mode zeichnen und werben, doch findet sie in der UdSSR kaum Anklang.

Schnell wächst das Verständnis auch für schöne Wäsche, nicht nur bei Frauen. Männer stellen fest, daß ein guter Anzug unschön und plump wirkt, wenn man darunter die derben Erzeugnisse der eigenen Wäschefabrikation trägt und bevorzugen ausländische Wäsche von feinerer Qualität und besserem Schnitt. Als im Sommer 1959 die große amerikanische nationale Ausstellung in Moskau eröffnet wird, sind alle, die das Glück haben, einen zum Besuch berechtigenden Sonderausweis beschaffen zu können, von der dort aufliegenden Wäsche begeistert. Zu einer aus Moskau heimgekehrten Besucherin sage ich: Sie haben recht. Noch nie sah ich hier Wäschestücke in der von Ihnen geschilderten prunkvollen Ausstattung. Doch lese ich in den sowjetischen Zeitungen schon lange von der viel-gerühmten Gesundheitswäsche, die aus besonderen Kunstfasern hergestellt wird und vor allem bei rheumatischen Erkrankungen eine heilende Wirkung ausüben soll. Das wäre wohl hier im Norden das Gegebenere und einer nur prunkvollen Ausführung vorzuziehen. — Da sieht mich die Sowjetsrau verwundert an: Ja, wissen Sie denn nicht, daß in den Zeitungen viel geschrieben wird, was bloß Zukunftsmusik ist? Diese Gesundheitswäsche ist heute auch im größten Moskauer Geschäft nicht vorrätig. Doch schlimmer als das. Versuchen Sie bei uns in Workuta Damenschlüpfer oder -hosen zu kaufen. Sie können nicht ein Stück auftreiben! Doch auch im ganzen Lande, einschließlich Moskau suchen Sie vergebens! Man hat wieder einmal das Angebot mit der Nachfrage nicht in Einklang gebracht. Was wollen wir dann von Prunk-oder Gesundheitswäsche reden? — Die Ansprüche sind gewachsen, auch bei der breiten Masse. Man will mehr, man wünscht einen höheren Lebensstandard. Was tun die leir tenden Stellen, um diese Wünsche einigermaßen zu befriedigen und sich doch nicht durch allzu erhöhte Konsumgüterproduktion von der Erfüllung „wichtigerer Staatsziele" abbringen zu lassen?

Bis 1957 gab es in der Großstadt Workuta außer einem kleinen Bekleidungsgeschäft nur Abteilungen für Schnittwaren in den Lebensmittelgeschäften. Im Winter 1957/58 soll das erste Warenhaus für Bekleidung — Univermag — eröffnet werden. Gegenüber dem Gastronom steht in einem dreistöckigem Gebäude dafür die untere Etage zur Verfügung, in Größe etwa dem Drittel einer Etage eines mittleren Kaufhauses des Westens entsprechend. Mit seinen 10 Schaufenstern, in denen erstmalig wirklich, wenn auch nur „Unverkäufliches", ausgestellt wird, macht es für Workutaer Begriffe einen richtig großstädtischen Eindruck. Jede der 10 Abteilungen wird durch Ladentische und Pfeiler in kleine Kabinen von 2X 3 m eingeteilt, bloß die Konfektionsabteilung nimmt mehr Raum ein, weil dort das Vorhandene jetzt nicht nur unter den Ladentischen oder auf den Regalen liegt, sondern an Stangen hängend betrachtet und hinter Vorhängen sogar angeprobt werden kann. Woll-, Seiden-und Baumwollstoffe sollen zu gleicher Zeit vorrätig sein, nur die Schuhabteilung ist noch das ausgesprochene Stiefkind.

In schwarzem Seidendress mit weißem Kragen und Make-up warten die Verkäuferinnen auf die feierliche Eröffnung. Das ist natürlich die übliche Sensation, mit verschiedenen wirklich guten und preiswerten Stücken. Der gewöhnliche Sterbliche nimmt — sage und schreibe — 48 Stunden vor der Eröffnung auf der Straße „Reihe“ an. Natürlich kann dies — da Arbeit und Haushalt mindestens 16 von 24 Stunden erfordern — nur getan werden, wenn alle Familienmitglieder sich reihweise abwechseln. Doch wird die „Reihe“ hauptsächlich von Wiederverkäufern gestellt. Tatsächlich sind kurz nach der Eröffnung die wenigen preiswerten „Schlagerstücke“ (einige Pelze und schöne Wintermäntel, sowie Filzstiefel und Lederschuhe) unter der Hand mit lOOprozentigem Aufschlag käuflich.

Noch bis 1959 herrschen im Univermag oft Flautezeiten, man reißt sich um gute und preiswerte Sachen. Es gibt beim Eintreffen von neuer Ware in den Schuhabteilungen viel Lärm und Diebstahl und vollkommen unwirtschaftlichen Einkauf. Man kauft, was da ist, wenn auch die Größe nicht paßt, die Modelle veraltet, unschön und unpraktisch sind. Trotz allem ist der jährliche Umsatz im Univermag besser als in den Lebensmittelgeschäften und überschreitet bei weitem das Soll des Planes. Es gibt ständig Belobigungen und Auszeichnungen für die Verkäuferinnen.

Erhöhte Importe

Der sprunghafte und schwungvolle Aufstieg des Jahres 1959 ist aber auch hier durch die erhöhten Auslandsimporte bedingt. Man stürzt sich auf diese Auslandsware, anerkennt die bessere Qualität, die Eleganz und geschmackvollere Ausstattung. Chinesische Seiden, auch zu Herren-hemden und Damenmäntel verarbeitet, sind große Mode. Möbel-und Gardinenstoffe, Damenwäsche und feines Porzellangeschirr aus der Ostzone sind spottbillig. Man bedauert nur, daß die dortige Produktion von Kunstfaserstoffen nicht genügt, um die sowjetischen Bedürfnisse zu befriedigen, weil die eigene Produktion erst im Anfangsstadium ist.

Kapron nennt sich ein einheimischer Kunstfaserstoff; ein Paar Strümpfe daraus kosten 20 bis 25 Rubel. Zu gern möchte man doch mehr von der bezaubernden Wäsche und den hauchdünnen Blusen besitzen, die auch aus diesem Stoff hergestellt werden. Die ersten ansprechenden Fassungen von Brillen werden als tschechoslowakisches Fabrikat verkauft. Aber auf einer dieser Brillen fand ich als Herstellungsort „Pforzheim“ eingetragen. Ebenso sind „polnische“ Lederwaren in der Bundesrepublik hergestellt. Die bisher von der Sowjetunion getätigten Importe genügen den Anforderungen noch lange nicht. Überglücklich sind daher alle diejenigen, die, trotz Schwierigkeiten in der Devisenzuteilung, irgendwie aus dem Ausland ein Mehr beschaffen können. '

Manche Fragen beschäftigen heute die Workutjaner, die man sich früher nicht stellte. Wie kleide ich mich passend? Wie benehme ich mich richtig? Welche Tischsitten muß ich beachten? Von der Kleidung verlangt man nun nicht nur Qualität, sondern eine saubere und geschmackvolle Ausführung, Harmonie in der Farbenzusammenstellung.

Bei den Neureichen bis zu den mittleren Beamten in Wirtschaft und Partei (Staatsbeamte und Offiziere hinken etwas nach), gibt es heute schon einen bestimmten Luxus.

Da steht der reich gefüllte Kleiderschrank in der Wohnung des Partei-oder Wirtschaftsbeamten. Die Dame des Hauses sucht unter 10— 12 Kleidern, 3 Kostümen, 2 Pelzen, 4 weiteren Mänteln und einem Dutzend Paar Schuhen das jeweils Passende aus. Wenn Geld genügend da ist, hamstert man gerne, weil man der Konjunktur und vor allem der Stabilität des Rubels nicht so recht traut. Das meiste ist Konfektionsware, aus Moskau oder Leningrad erstanden. Zwar liegen auch verschiedene Stoffe im Uni-vermag auf, doch die Gestehungskosten sind viel teurer und die Schneiderwerkstätten überbelastet. Der einzige Schneidersalon in Workuta erledigt einen Auftrag auf normalem Wege in einem halben bis einem Jahre. Die 10 Kollektiv-werkstätten arbeiten etwas billiger, aber kaum rascher.

Dem Ehemann fällt es noch etwas schwerer, sich geschmackvoll zu kleiden. Einen Hut besitzt er, doch dieser will nicht zu jedem Kostüm passen. Drei bis vier An« züge hängen in seinem Schrank und 2 bis 3 Mäntel. Mit den Krawatten ist er nicht ganz zufrieden. Fehlender Geschmack vergrößert seine Unsicherheit. Und ob es wohl schicklich ist, die neuen durchlöcherten Sommerschuhe am Abend zu einem dunklen Anzug zu tragen? Dann kommt die Tochter auf Ferien nach Hause, behauptet, daß der Wintermantel des Vaters wirklich zu abgetragen sei, daß sie aber in ihrer Universitätsstadt bestimmt einen neuen vorteilhaft hausen könne, dort habe der Arbeiter ja kein Geld, um solche Großanschaffungen zu machen.

Für den Arbeiter ist die Frage, was ziehe ich an, viel einfacher zu lösen. Besitzt er außer der verpönten und doch bisher durch nichts Besseres ersetzten wattierten Jacke noch einen waschbaren Arbeitsanzug, einen Mantel und einen Anzug zum Feinmachen, so ist er eingedeckt. Seine Frau, mit ihren zwei Mäntel, ihrem Kostüm und einigen leichten bunten Fähnchen, kommt sich reich vor gegenüber der Kolchosen-frau, die oft nicht einmal einen Mantel ihr eigen nennt.

Je größer die Unterschiede im Einkommen der Sowjetbürger sind, desto unterschiedlicher ist auch ihr äußeres Erscheinungsbild. Ein Unbekannter wird heute schon nur nach letzterem eingeschätzt und beurteilt. Wie ist er angezogen, lautet eine sehr entscheidende Frage.

Der holprig beschwerliche Weg vom Lumpenhabit zum Univermag weckte in der Sowjetbevölkerung das Bestreben nach weiterer Erhöhung ihres Lebensstandardes, und durch Vergleichsmöglichkeiten mit den Höhergestellten wächst der Wunsch nach Luxus für alle. Demgegenüber steht die Forderung von oben, eine gewisse einfache Linie nicht zu überschreiten, in krassem Gegensatze.

(wird fortgesetzt)

Politik und Zeitgeschichte

AUS DEM INHALT DER NÄCHSTEN BEILAGEN:

Heinrich Bodensieck: „Nationalsozialismus in revisionistischer Sicht"

Klaus Hornung: „Die Etappen der politischen Pädagogik von Bismarck bis heute"

Boris Meißner: „Der ideologische Konflikt zwischen Moskau und Peking"

Walther E. Schmitt: „Lenin und Clausewitz"

Karl C. Thalheim: „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft"

Walter Wehe: „Die wirtschaftspolitische Entwicklung Europas seit dem Marshallplan"

Fussnoten

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