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Von den alten Werten zur Philosophie der Despotie | APuZ 13/1961 | bpb.de

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APuZ 13/1961 Von den alten Werten zur Philosophie der Despotie Nationalsozialismus in revisionistischer Sicht

Von den alten Werten zur Philosophie der Despotie

ERNST DAVIS

Der Volksschullehrer, mit dem ich während der langen Bahnfahrt ins Gespräch komme, äußert im Laufe der Unterhaltung seine Ansicht über die Weltlage und die Position der beiden Machtblöcke im Kalten Kriege. „Das Bedrüceende ist“, so meint er, „daß wir dein Osten nichts entgegensetzen können. V/ir haben zwar unser Wirtschaftswunder, aber der Osten hat seine Idee. Das ist der wichtige Unterschied, auf die Dauer der entscheidende. Denn aus unseren , Wiwnkis‘, unseren Wirtschaftswunderkindern, mit ihrem bloßen Streben nach persönlichem Wohlstand und immer bequemerem Leben, läßt sich keine Phalanx gegen das Vorwärtsdrängen kalter Fanatiker bilden. Dazu braucht man Menschen, die selbst eine Idee haben.“

Der junge Mann sagt auf seine Weise, was man in geistig interessierten Kreisen, manchmal besorgt, mandimal bitter oder bissig vorge-

oft genug zu hören bekommt. Es ist das bracht, Ergebnis eines bekannten psychologischen Vorgangs: Das Ungewöhnliche, das sich in unserem Lebenslauf ereignet, wird zum Beherrscher unseres Bewußtseins und verdrängt das selbstverständlich Gewordene in einen vergessenen Winkel. So ein Ungewöhnliches war die überraschende Verwandlung Westdeutschlands aus einem Elendssumpf in ein blühendes Wirtschaftsgebiet. Die Veränderung war so unerwartet, so spektakulär und so umwälzend für das Schicksal der Menschen, die auf diesem Stück Erde wohnen, daß sie als einzigartiges Ereignis alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Unser Bewußtsein wird bis heute derart davon beschäftigt, daß es die althergebrachten Züge im Charakterbilde des Westens mit seinen überkommenen ethischen Begriffen nicht mehr wahrnimmt. Daher erscheint in vielen Köpfen als Wesen der freien Welt die Meisterung einer Technik zur Umwandlung von Mangel in Fülle, verbunden mit dem erfolgreichen Streben nach Wohlstand und stetem Suchen nach Mitteln zu immer vollkommenerer Befriedigung der materiellen Bedürfnisse, die dauernd wachsen. Kurz und nur wenig übertreiben: Westen = Wirtschaftswunder.

im Westen keine tragende Idee?

Die Situation erinnert an die letzten drei Jahre vor der Machtergreifung des Nationalsozialismus. Auch damals wurden die Gemüter ganz von einem wirtschaftlichen Phänomen beherrscht, der Krise, die 1930 mit ungeahnter Gewalt über die Welt diesseits des eisernen Vorhangs hereinbrach und sie vom Gipfel ihrer „Prosperity“ jäh in ein Jammertal der Armut und des Hungers hinabstieß. Es war der polare Gegensatz zu dem, was jetzt nach dem Zusammenbruch von 1945 geschah, aber es war ebenso einmalig und von fast allen ebensowenig er-wartet. Während die Fachleute darüber diskuterten, ob man in Amerika nicht das Mittel entdeckt hatte, eine gute Konjunktur für im-mer ohne Rückschläge aufrechtzuerhalten, wur-den plötzlich große Unternehmen zahlungsunfähig, brachen Mittelstandsexistenzen eine nach der anderen zusammen und verloren tagtäglich tausende von Menschen ihren Arbeitsplatz, bis schließlich ein Drittel aller Arbeiter im ganzen Reichsgebiet brotlos war.

Damals entstand in Deutschland, wo, vielleicht mit Ausnahme der Vereinigten Staaten, die Heimsuchung am schwersten, die freiheitliche Staatsform dagegen eine von vielen weder geliebte noch verstandene Neuerung war, die umgekehrte Vorstellung: Demokratie gleich Not und Elend. Diese Formel klingt zwar wie das Gegenteil der Gleichung, die heute verbreitet ist, aber sie sieht das Wesen der westlichen Lebensordnung ebenfalls in Vorgängen, die sich in der Sphäre der Wirtschaft abspielen. Sie sieht im Westen keine Idee. Sie half, den Kern der Dinge verschleiern und Hitler zur Macht zu bringen.

Was in dem Verzweiflungskampf der Weimarer Republik mit ihren Gegnern in Wirklichkeit auf dem Spiele stand, hatte in jenen Tagen Ferdinand Tönnies, der Altmeister der Soziologie, in einem Leitartikel der „Vossischen Zeitung" mit den Worten ausgedrückt: „Der Nationalsozialismus will unsere alten Werttafeln zerbrechen und neue an ihre Stelle setzen.“

Liest man „Kommunismus" statt „Nationalsozialismus“, dann beschreibt dieser Satz genau, worum es heute zwischen West und Ost geht. Jetzt wie damals sind „die alten Werttafeln“ das Objekt des Kampfes. Was auf ihnen steht, wurde aber vor so langer Zeit in sie eingegraben und ist der Menschheit im Laufe der Jahrtausende so selbstverständlich geworden, daß sein Vorhandensein und seine Bedeutung kaum noch von unserem Bewußtsein registriert werden, besonders wenn es von ungewöhnlichen Ereignissen in Anspruch genommen ist: Es sind die elementaren Grundsätze unserer überkommenen Ethik, die den großen Weltreligionen und den klassischen Philosophien des Morgen-und des Abendlandes gemeinsam sind: „Du sollst nicht morden“, „Du sollst nicht lügen“, „Du sollst nicht stehlen“, „Du sollst deinen Nächsten lieben, wie Dich selbst“ und die Weisungen, die ihnen verwandt sind, die absolute Gültigkeit dieser Satzungen für alle, zu allen Zeiten und in allen Lebensordnungen und als Ausgangspunkt die Erkenntnis, daß jeder Mensch ein selbständiger Organismus, eine eigene Persönlichkeit ist, die zu ihrer Würde und ihrem Glück die Freiheit braucht und nach ihr streben soll.

Diese Grundsätze wurden zwar immer durchbrochen, jedoch nie geleugnet, um den Satz zu variieren, den H. G. Wells in seiner Weltgeschichte vom Verhältnis der Christenheit zur Lehre Jesu sagt: „Wir können (sie) weder außer acht lassen, noch können wir uns dazu bringen (ihr) zu gehorchen.“ Es gab Zeiten, sogar oft, in denen ihre Verletzung die Regel war, und es mag sein, daß es auch in der Gegenwart so ist. Aber angezweifelt wurden sie nie. Sie sind in ihrer Gesamtheit bis heute der Wertmaßstab, nach dem wir beurteilen, was gut und was böse ist. Wenn sie übertreten werden, wissen wir, daß das unrecht ist, und der Übertreter weiß es selbst. Wenn sie befolgt werden, wissen wir, daß recht gehandelt wird. Sie sind ein ewiger Kompaß für alle Menschen, nach dem sie sich richten sollen, auch wenn sie es nicht tun.

„Alles ist erlaubt! ”

Der Kommunismus erkennt diese Werttafeln nicht an. Aus seiner spezifischen Interpretation des historischen Materialismus heraus bestreitet er das Bestehen einer absoluten, die Menschheit als Ganzes zu allen Zeiten und unter allen Umständen verpflichtenden Ethik. Karl Marx schrieb in der Einleitung zu seiner „Kritik der politischen Ökonomie“ den bekannten Satz: „Es ist nicht das Bewußtsein des Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellsdtaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestiuunt.“ Daraus folgert die kommunistische Theorie, das es für jede der beiden Klassen, in die sie die Menschheit teilt, andere ethische Regeln gibt, die ihre besonderen Interessen widerspiegeln.

„Die Bourgeoisie hat eine andere Moral als das Proletariat“, heißt es in einem Artikel, der vor zehn Jahren in einer Zeitschrift der Sowjetzone erschien (Hermann Matern, „Was verstehen wir unter Parteimoral?“, „Neuer Weg" 1/1951). An diese bürgerliche Moral hält sich der Kommunist nicht gebunden. Für ihn gilt nur die proletarische. Worin besteht diese nun?

Sie hat, bewußt oder unbewußt, die Entdekkung zur Grundlage, die Dostojewski den philosophischen Nihilisten Iwan Karamasoff seinem jüngsten Bruder Aljoscha anvertrauen ließ:

„Alles ist erlaubt!" Versieht man diesen lapidaren Satz mit einer Einschränkung und einer Erweiterung, dann bekommt man eine kurze, aber erschöpfende Formel für das Wesen dieser Moral: „Alles ist erlaubt, das dem Klassenkampf zur Errichtung der kommunistischen Gesellschaft und der Diktatur des Proletariats dient, und alles das ist zugleidt geboten.“

Lenin legte es so dar: „Wir sagen, daß unsere Sittlichkeit völlig den Interessen des proletarisdien Klassenkampfes untergeordnet ist. Unsere Sittlichkeit entspringt den Interessetc des proletarischen Klassenkampfes.“ Ihren Inhalt definiert er folgendermaßen: „Sittlidtkeit ist, was der Zerstörung der alten Ausbeutergesellschaft dient und dem Zusammensdtluß aller Werktätigen um das Proletariat, das die kommuHistische Gesellschaft errichtet.“ (Lenin, Ausgewählte Werke, Berlin 195 3, Band II, S. 788 und 790.) , Damit wollte Lenin die Nützlichkeit einer Handlung für den Klassenkampf und den Sieg des Kommunismus nicht etwa als zusätzlichen Maßstab, neben den überkommenen ethischen Begriffen, sondern als alleiniges Kriterium ihrer Sittlichkeit hinstellen. Denn daß er kein Gebot anerkennt, außer dem einen: „Du sollst dem Kommunismus dienen“, zeigte schon seine einst viel zitierte Anweisung zur Eroberung der Gewerkschaften: „Man ... muß ... sogar — wenn es sein muß — zu allen möglichen Kniffen, Listen, ille galeit Methoden, zur Verschweigung, Verheimlichung der Wahrheit bereit sein, um nur in die Gewerkschaften hineinzukommen, in ihnen zu bleiben und in ihnen kommunistische Arbeit zu leisten.“ (Ausgewählte Werke, Bd. II, S. 701).

Das ist die logische Anwendung des lenin-sehen Sittlichkeitsbegriffs auf einen konkreten Einzelfall. Die Herrschaft über die Gewerkschaften bringt dem Kommunismus Nutzen. Also ist alles sittlich, was ihrer Eroberung dient: Lüge, Betrug und was sonst zum Ziele führt. Es gibt neben den Interessen des Klassenkampfes kein „Du sollst“ oder „Du sollst nicht“, das das Verhalten des Menschen, der auf diese Ethik verpflichtet ist, bestimmt oder mitbestimmt. Der Kommunismus ist in diesem Moralsystem der einzige, absolute Wert, neben dem es keine anderen Werte gibt. „Die revolutionäre Diktatur des Proletariats ist eine Macht, die durch die Gewalt des Proletariats gegenüber der Bourgeoisie erobert wurde und behauptet wird, eine Macht, die an keinerlei Gesetze gebunden ist“, schrieb Lenin in seiner Polemik gegen den sozialistischen Theoretiker Kautsky. (Lenin, die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky — Unterstreichung vom Verfasser dieses Artikels). Wenn eine solche Macht sittlich sein soll, dann muß sie den einzigen, absoluten ethischen Wert darstellen. Wie könnte sie sonst an keine Gesetze gebunden sein?

Führungsanspruch des Proletariats

Es heißt hier zwar „Diktatur des Proletariats", nicht „des Kommunismus", aber im Leben sind beide Begriffe identisch. Denn der Kommunismus wirkt durch seine Partei, und diese ist „die führende Kraft im System der Diktatur des Proletariats, lenkt die Tätigkeit des sowfetisdien Staats“, der die Form dieser Diktatur ist, „und leitet die Arbeit aller seiner Organe.“ (Sowjestskoje Gosudarstwo i Prawo, Nr. 8, 1957, übersetzt in „Ostprobleme" vom 8. 11. 1957 unter dem-Titel „Vor, über und neben dem Staat".) Das Recht auf diese Machtstellung wird von der Theorie hergenommen, daß in ihr, der Partei, das Bewußtsein des Proletariats lebendig geworden und gereift ist. Daher drückt sich in ihrer Herrschaft und in ihrer Moral die des Proletariats aus.

Die Begründung dieser Moral stützt sich auf die Auffassung des Kommunismus vom Menschen und von der menschlichen Gesellschaft, über die er die letzten Wahrheiten zu wissen glaubt. Der anarchistische Antimarxist Gustav Landauer, der nach der Revolution vom 9. November 1918 beim Sturze der bayerischen Räte-regierung ums Leben kam, spottete einst in seinem „Aufruf zum Sozialismus“: Alte Weiber prophezeien aus dem Kaffeesatz, Karl Marx prophezeite aus dem Damnf." Er wollte damit — zu Recht oder zu Unrecht — sagen, daß Marx bei seiner Voraussage der gesellschaftlichen Entwicklung von einem Wirtschaftssystem ausging, das auf der Dampfkraft beruhte, während diese schon im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts mehr und mehr von der Elektrizität verdrängt wurde. Die Kommunisten sind aber davon überzeugt, den historischen Materialismus, den sie von Marx übernahmen, so gemeistert zu haben, daß sie mit diesem Erkenntnismittel, zum erstenmal in der Weltgeschichte, die Grundgesetze der menschlichen Entwicklug entdeckten und daraus ihren Lauf errechnen können.

„Wir arbeiteten im anonvmen Urgestein der Gesch'chre. während die anderen ihre Oberfläche pflügen," läßt der Exkommunist Arthur Koestler den Helden seines Romans Sonnenfinsternis, den Altkommunisten Rubaschow sprechen. „Was wußten sie von der Geschichte? Oberflächengekräusel, kleine Wirbel, Wellenschläge. Sie wunderten sich über den Wedtsel der Formen und wußten sie nicht zu deuten. Wir aber waren in die Tiefen hinabgestiegen, in die formlose anonyme Masse, die zu allen Zeiten die Substanz der Geschichte darstellt, und wir hatten als erste ihre Bewegungen erforscht. Das Gesetz ihrer Trägheit, ihrer langsamen Molekularumschichtungen, ihrer plötzlichen Eruptionen. Das war die große Erkenntnis, die unsere Doktrin enthielt. Die Jakobiner waren Moralisten, wir waren Empiriker. Wir wühlten uns in den Urschlamm der Geschichte hinein, und dort fanden wir das Gesetz ihrer Struktur.“

Das Ergebnis dieser Forschung in den Tiefen der Geschichte ist dies: Die Gesellschaft ist im Bereiche der Menschheit der einzige in sich geschlossene Organismus, der ein selbständiges Eigendasein führt. Der Mensch ist nichts als ein Bestandteil dieses Ganzen, wie ein Zweig ein Teil des Baumes ist. Er ist kein Wesen, das eine Eigenexistenz für sich allein hat. Daher hat er auch kein angeborenes Recht auf Freiheit und auf Handeln nach eigenem Gewissen, aus eigener Erkenntnis. Es ist die Gesellschaft, die ihm Freiheit zuteilt und wieder nimmt, ihm erlaubt, nach seinem Ermessen zu handeln, und es ihm wieder verbietet, je nachdem ihr gerade das eine oder das andere nützt. Denn da sie innerhalb des Menschenreiches der einzige Organismus ist, der ein selbständiges Eigendasein hat, ist ihr Nutzen der einzige Wertmaßstab.

Der Nutzen der Gesellschaft deckt sich aber mit dem des Kommunismus. Denn er allein ist zu ihrer Führung berufen, weil nur er die Gesetze beherrscht und anwendet, nach denen sie besteht und sich entwickelt. Sein Wissen darum ist in der Partei konzentriert. Infolge dieser Er kenntnise faßt sie in jeder Situation mit unfehlbarer Sicherheit die historisch richtigen Beschlüsse:

Fussnoten

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