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Preußisch-deutsche Geschichte als politisch-pädagogisches Problem | APuZ 23/1961 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 23/1961 Mythen und Realitäten Preußisch-deutsche Geschichte als politisch-pädagogisches Problem

Preußisch-deutsche Geschichte als politisch-pädagogisches Problem

WOLFGANG SCHLEGEL

Schließlich — die Ausweitung der Erziehung auf breite Volksschichten mag störende Besorgnisse über die ideologische Reinheit der jungen Generation ausgelöst haben, ohne jedoch da-durch die Stabilität des Regimes oder die Befähigung in Frage zu stellen, das von den Führern dem Volk gesetzte Ziel im Innern und Äußern zu erreichen.

Um so größer die Herausforderung des Westens

Es wäre nun zweifellos beruhigend, wenn die Analyse der gegenwärtigen und der kommenden Entwicklung in dem Sowjetsystem uns zu der vertrauensvollen Schlußfolgerung veranlassen könnte, daß der Samen eines unvermeidbaren Wandels im Sinne unserer Wünsche gelegt sei und wir nur unsere Hände zu falten, unsere Steuern zu senken, einen dritten Wagen zu kaufen und die weitere Entwicklung abzuwarten haben, die nun eines Tages in der Fülle der vom Herrgott gegebenen Zeit eintreten werde. Bedauerlicherweise ist das nun keineswegs die sich uns heute bietende Aussicht der weiteren Entwicklung. Im Laufe des jetzt angebrochenen Jahrzehnts der sechziger Jahre werden wir es nach der gegenwärtigen Perspektive mit einem Sowjetsystem zu tun haben, das schnell an wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und militärischer Macht zunehmen wird und das eher weniger als mehr Schwierigkeiten in der Erhaltung der politischen Stabilität und des notwendigen Ausmaßes an ideologischer Uniformität zeigen wird. Diese wachsende Machtzunahme, die durch keine entsprechenden Zeichen von Schwäche einen Ausgleich findet, wird den Sowjetführern die Möglichkeit geben, mehr als bisher die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel und ihre politische Entschlußkraft für die Erreichung der weltweiten Ziele einzusetzen, die von Lenin und Stalin bis zu Chruschtschow in fortgesetzten, sich breit entfaltenden Interpretationen proklamiert worden sind.

Geschichtswissenschaft und Geschichtspädagogik

Theodor Schieder und Ludwig Dehio müssen wir dankbar sein für ihre rücksichtslose und ehrliche Darstellung der geschichtlich-politischen Hintergründe in der neueren preußisch-deutschen Geschichte Daß überhaupt in der Katholischen Akademie in Würzburg solch eine Tagung über das Thema des deutschen Geschichtsbildes stattfand, ist ein Zeichen dafür, wie notwendig trotz aller Gegenstimmen die Beschäftigung unserer Zeit mit der deutschen Geschichte ist — auch wenn nicht immer endgültige Antworten gegeben werden können. Jedoch die wissenschaft-liehen Historiker der Universitäten haben es gut: sie haben das Glück, wenngleich auch die Aufgabe mühsamer Arbeit, in Einzelforschungen bestimmten Problemen nachzugehen und durchaus bei einer offenen Problematik stehenzubleiben. So kann in echter wissenschaftlicher Zurückhaltung Schieder damit enden, daß er den Ausgang deutscher Geschichte 1919 als fragwürdig hingestellt, und so endet auch Dehio mit der Frageform „Könnten wir nicht. . . .?“

Damit sind dem Leser wertvolle Denkanstöße gegeben worden, die Geschichtsbetrachtung wird aus dogmatischer Erstarrung gelöst, und neue Aspekte werden aufgewiesen.

Das kommt auch dem Pädagogen zugute, der nun, mit neuen Gesichtspunkten versorgt, an seine schöne aber schwere Aufgabe des Geschichtsunterrichts herangeht. Dennoch liegt hier ein eigener Bereich, auf den hinzuweisen ich in den letzten Jahren nicht müde geworden bin.

Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht mögen sich in der Oberstufe des Gymnasiums nach vierjähriger Vorbereitung in den Mittelklassen in eine sehr enge Beziehung bringen lassen, der Lehrer der Geschichte ist dort mit Recht hervorgegangen aus dem wissenschaftlichen Historischen Seminar der Universität und bestreitet von daher seinen Unterricht vor Schülern, die in der Lage sind, kritisch und philologisch zu arbeiten und Zusammenhänge von Problemen zu sehen.

Wie steht es aber mit der Volks-und mit-leren Bildung in unserer heranwachsenden Generation?

Man sehe sich einmal die Richtlinien der Kultusminister für den Geschichtsunterricht an Volkschulen und die neuesten Erlasse zur politischen Bildung an!

Die Empfehlungen und Beschlüsse der „Ständigen Konferenz der Kultusminister“ von 1953 verlangen, „der Geschichtsunterricht soll dem jungen Menschen helfen, ein eigenes Welt-und Menschenbild (!) zu gewinnen sowie seinen Standort und seine Aufgabe im Geschehen zu erkennen.“ In der Erläuterung werden vier Elemente solchen Geschichtsunterrichts aufgezeigt: 1. Vielschichtigkeit und Motive menschlichen Handelns; 2. politisches Geschehen als Resultierende aus Widerstreit und Ausgleich wirkender Kräfte; 3. Einsicht in geschichtliche Zusammenhänge als Voraussetzung für Verantwortlichkeit gegenüber Gesellschaft, Staat, Volk und Menschheit und 4. Einsicht in Sinnzusammenhänge als Vorstufe für Anerkennung von Rechts-und Wertgrundsätzen, von Würde und Freiheit des Menschen.

In den methodischen Hinweisen heißt es dann: „Schon in den Unterklassen darf der Lehrer nicht bei der Darbietung bildhaft gestalteter Stoffe Stehenbleiben. — Durch Vergleich mit ähnlichen Ereignissen oder mit Verhältnissen der Gegenwart soll die Jugend schon auf dieser Stufe zu ersten geschichtlichen Begriffen und Erkenntnissen gelangen.“ Zum Schluß heißt es ausdrücklich: „Diese Grundsätze gelten von der Volksschule bis zur höheren Schule für alle Klassenstufen gleichermaßen."

Diesen Satz sollte man vor aller. -, im Zusammenhang mit den o. a. Gesichtspunkten zur Aufgabe des Geschichtsunterrichts lesen und sich fragen, wie der Volksschulunterricht in 2 Jahren (7. -8., nur gelegentlich erst 9. Schuljahr!) dem Schüler verhelfen soll zum eigenen (!) Welt-und Menschenbild, zur Einsicht in die Vielschichtigkeit des Geschehens, im Zusammenhang und zur Achtung der Würde und Freiheit des Menschen in Verantwortlichkeit.

Nun — angesichts der uns seit den letzten Jahren bedrängenden aktuellen politischen Erziehungsaufgaben zur Anknüpfung an jüngste Vergangenheiten, die nicht „Vergangenheit“ werden sollen, — stehen insbesondere die Lehrer an Volks-und Realschulen, die den Schüler nur bis zum 14. oder 16. Lebensjahre haben, vor der Aufgabe, wie sie als verantwortungsbewußte Pädagogen das „bewältigen“ sollen, ohne in bloß formal-verbale Bildung oder — wie man gern heute empfiehlt — in Lückenhaftigkeit beliebiger Auswahl zu verfallen. Das ist der Grund, warum immer wieder Wünsche von Lehrerkonferenzen und Lehrerverbänden kommen, etwas zu hören über „Die letzten 100 Jahre deutscher Geschichte“, „Geschichtsunterricht nach den Empfehlungen der Kultusminister" oder noch über „Die jüngste Vergangenheit“. Wer diese Not der Lehrerschaft aus wirklicher Verantwortung vor der politischen Aufgabe nicht kennt, kann nicht voll nachempfinden, warum ich mit betonter Absicht in meinem letzten Aufsatz (Beilage vom 13. 4. 60) den Zusatz „in volkspädagogischer Absicht“ gewählt habe.

Das große Problem und zugleich die Chance liegen darin, wie weit wir es jetzt — gerade noch jetzt — fertigbringen, bei den breiten Schichten unserer Volks-und Mittelschüler, d. h. bei den zukünftigen großen Massen der Wähler in un-serem Staate „den politischen Sinn durch kritisch geprüfte Anschauung der historischen Wirklichkeit“ besonders an diesem „schicksalsträchtigen Abschnitt unserer Geschichte" seit 1871 zu bilden (Schieder).

Nach den großartigen Leistungen der Volksschulpädagogik auf dem Gebiete der Unterrichtsmethode in der Zeit nach dem ersten und auch nach dem zweiten Weltkriege, treten wir nun ein in die Zeit der Didaktik als dem Denken über Bildungswert, Bildungsziel, Bildungsmacht oder -mächtigkeit der Geschichte und zwar durchsichtig und wirksam gemacht durch Klang und Auswahl des Stoffes und durch Entscheidung für einen Standort. Auch der Lehrer in der Volksschule kommt heute nicht mehr aus ohne eine innere Entscheidung über sein persönliches Verhältnis zu Volk, Gesellschaft, Staat und — wenn wir wollen — Menschheit, besser Menschlichkeit — als den wirksamen Mächten der Geschichte! Schon darin aber zeigt sich, welches Bild er sich von der Geschichte macht, wie er sie beurteilt.

Die letzten 100 Jahre der Geschichte

Jedem leuchtet ein, daß gerade die unmittelbare Vergangenheit, die wir noch in einigen Generationen rückwärts erfassen können, für unsere politische Orientierung am wichtigsten ist. Das ist der Grund, warum immer wieder bei amtlichen Lehrerkonferenzen und bei Versammlungen von Lehrerverbänden Vorträge über die letzten 100 Jahre deutscher Geschichte verlangt werden.

Wir können, wenn wir wollen, in den Jahren zwischen 1960 und 1962 eine Säkularbetrachtung anstellen: 1861 stand der preußische Verfassungskonflikt in seiner stärksten Krise. Im Februar 1860 hatte die preußische Regierung durch den neuen Kriegsminister Albrecht von Roon das „Gesetz betreffend die Verpflichtung zum Kriegsdienst“ dem Abgeordnetenhause vorgelegt. Wenn auch zunächst das Hauptgewicht auf die Auffüllung der Regimenter gelegt wurde, so war doch den Abgeordneten bald deutlich geworden, daß es darum ging, nun den zweiten Schlag gegen das Scharnhorst-Boyensche demokratische Wehrgesetz zu führen, nachdem schon 1819 durch den Sturz Boyens und Humboldts als Reform-Minister der erste Schlag geführt worden war 1a).

Nun gaben zwar sogar die Liberalen zu, daß zur Erhöhung der Schlagkraft eine Durchdringung von Linie und Landwehr notwendig sei, jedoch wollten sie auf keinen Fall die 3-jährige Dienstzeit bewilligen. Als die Regierung daher die Vorlage zurückzog und sich als „Proviso-* rium“ die Mehrkosten bewilligen ließ (1860), war der erste Schritt zu einer Selbstentmannung des erst seit 1848 bestehenden Parlaments getan. Im kritischen Jahre 1861 wurden wiederum die Kosten für die Mehraufstellungen bewilligt, ohne daß sich das Parlament das Mitsprache-recht in der Umstellung vorbehielt. König Wilhelm, beraten durch den General von Manteuffel, zog daraus die Konsequenz und stellte nun die gesamte Reorganisation des Heeres in sein monarchisches Ermessen. G. Ritter zitiert Manteuffel, der an Roon schrieb, werden diese Bewilligungen „nur als Provisorium“ aufgefaßt, daß „die Armee auf die Tribüne, nicht mehr auf den Kriegsherren blicken würde; ad oculus wäre ihr demonstriert, daß nicht diese die Regimenter formieren und die Zukunft seiner Offiziere sichern könnte, sondern daß Formation und Schicksal der Offiziere von Kammerbeschlüssen abhängig sei . . . Die Armee ist aus einer Königlichen eine Parlamentsarmee geworden.“

Das aber sollte auf jeden Fall verhindert werden.

Hermann Wagener, Redakteur der „Kreuzzeitung“, schrieb damals — wie Ritter anführt—, für die Konservativen stünden die neuen Regimenter längst fest und seien kein Provisorium, die ganze Sadie sei längst eine politische geworden!

Das war in der Tat damals deutlich erkannt: der Kampf des sich erst allzu spät durchsetzenden deutschen Parlamentarismus stieß bereits in seinen Anfängen auf eine politische Kompetenz-frage, deren Tragweite erst später deutlich wurde. Kein geringerer als Bismarck selbst hat, obwohl er ab 1862 die Heeresvorlage durch-kämpfte, darunter leiden müssen: Die militärische Führung emanzipierte sich von der politischen, weil ja der Monarch selbst in erster Linie Militär und nicht Politiker war. Diese Loslösung und Verselbständigung fand aber nicht nur gegenüber dem Parlament, sondern auch von der politischen Regierung, der Exekutive statt: die Spannungen zwischen Moltke und Bismarck deuteten sich 1866 an, steigerten sich bekanntlich 1870/71 zur schärfsten Spannung! In diesem Artikel der Kreuzzeitung wurde ganz klar ausgesprochen, daß das Parlament nur finanz-politisch-budgetrechtliche Kompetenzen, aber keine politischen habe. Die Aufstellung neuer und anderer organisierter Regimenter sei nur durch die königliche Machtvollkommenheit ohne das Parlament, und zwar zu Recht, vollzogen.

Im Frühjahr 1861 entschloß sich Roon, seine liberalen Ministerkollegen zu stürzen. Die Wahlen im Winter brachten nach dem Tauziehen zwischen Konservativen und Liberalen — da zumal der König, der weder einer konservativen Camarilla verfallen noch die Verfassung brechen wollte — eine Radikalisierung der Opposition. Die „Fortschrittspartei“ hatte sich als kompromißloser Flügel der Liberalen neu gebildet. Es entstand förmliche Bürgerkriegsstimmung. Man bereitete alles für Einsatz militärischer Kräfte gegen die erwartete Revolution vor. Aber der neue Landtag wurde ohne Bürgerkrieg aufgelöst und die liberalen Minister traten zurück — däs Ende der liberalen Ära!

Mitten hinein in diese Situation ist dann als der einzige, der es zu übernehmen wagte, mit dem König gegen und ohne das Parlament zu regieren, Bismarck in die preußische Politik eingetreten. Darin scheint mir doch ein wesentlicher Faktor der Bismarckzeit zu liegen, daß sie mit einem Konflikt beginnt, der gegen das Parlament und gegen die liberale Tendenz der Zeit durchgehalten wird. Aus dem Heereskon-flik’t wurde unter Bismarck der Verfassungskonflikt. „Der Konflikt hat die preußische Armee erst vollends zur Leibgarde der alten Monarchie“ gemacht. Vergessen wir nicht, daß deren Autorität mit dem Führertum späterer „autoritärer Staaten eine ganz äußerliche Ähnlichkeit hat". Ritter betont, man dürfte darin nicht den späteren Gegensatz von „wehrhafter" und „patriotischer“ Gesinnung sehen, wie sie erst viel später in der Sozialdemokratie zum Ausdruck gekommen sei „und daran, daß diese Massen sich dem , wehrhaften'Denken altpreußischen Stiles so tief entfremden konnten, trägt auch der Verlauf und Ausgang des Heereskonfliktes von 1861— 66 ein Teil der Schuld, und nicht einmal den geringsten".

Kontinuität von Bismarck zu Hitler?

Vorschnell beurteilt ist daher auch jede monokausale Linienführung, die etwa, wie es L. Dehio in seinem Vortrag ausgedrückt hat, eine so „simple These ausländischer Anklage“ versucht: Hitler einfach als notwendige Folge Bismarcks zu erklären. Dehio sagt mit Recht, daß es zwar Kontinuität in der deutschen Geschichte zwischen Bismarck und Hitler gibt, daß sie aber als Voraussetzung nicht „simplifiziert und unabso-lutiert" werden darf, sondern bloß als eine Komponente neben anderen angesehen werden kann. Wenn Dehio die Formel gefunden hat „Dauer im Wechsel", und uns auffordert, die Dauer (Kontinuität) im Wechsel gleichzeitig zu sehen, so mag ergänzend ein anderes angemerkt werden.

Jede Erklärung, die nur solche einfache Linienführung sieht, versteht Kontinuität falsch. Ähnlich ist auch mein Eintreten für Kontinuität seit dem Altertum als „absolutes" geschlossenes Geschichtsbild von Heinrich Geißler 2a) falsch verstanden worden. Denn das Ineinandergreifen und Aufeinanderwirken, das Beeinflussen, Übernehmen und Aufgehobensein (Hegel) bedeutet niemals eine gerade Linie als zwingende Notwendigkeit, daß es so hat kommen müssen. Das allerdings wäre totalitäres Denken nach Art des historischen Materialismus. Das wäre vor allem Determinismus, d. h. jene Geschichtsauffassung, welche die Folgen geschichtlicher Entscheidungen und Ereignisse als zwingende Kausal-Notwendigkeit ansieht! Das hat Marx in seiner Geschichtskonstruktion mit Klassenkampf-, Verelendungs-und Kapitalismustheorie als Gesetz der Geschichte zu formulieren versucht. Niemals kann aber das heute jemand meinen, der von der Individualität und Einmaligkeit geschichtlicher Entscheidungen und von der Unüberseh-

barkeit geschichtlicher Folgen überzeugt ist.

Daher müssen wir uns auch distanzieren von einem jüngst erschienenen Buche das schon auf dem Schutzumschlag durch die Bilder Friedrichs des Großen, Bismarcks und Hitlers deutlich machen möchte, was darin ausgeführt wird: es müsse allen Heranwachsenden eingeprägt werden, es sei ein „Grundzug der neueren deutschen Geschichte, daß von Friedrich II. bis zu Hitler eine kontinuierliche Linie führe und deren Kennzeichen Militarismus, Bürokratie, Diktatur.“ Da ich vom Verfasser darin als Lehrer genannt werde, der diese Auffassung vertrete, bin ich gezwungen, mich davon zu distanzieren. So sehr Grote durch Anführung manch „unangenehmer Geschichtstatsachen" recht hat, so muß man ihm doch entgegenhalten, daß er einseitig auswählt und einem unhistorischen Mono-kausalismus und Determinismus verfällt. Ob Grote mit Eyck sagen kann, Bismarck sei der Sinn für Recht und Gerechtigkeit völlig abgegangen, und ob man alle neueren und lebenden deutschen Historiker, darunter auch so kritische wie W. Mommsen, Joh. Hohlfeld und Rothfels als „Bismarckapologeten" bezeichnen und der „bewußten Unwahrheit" zeihen kann, erscheint fraglich!

So sehr wir uns eine wirklich dauernde „Revision“ des deutschen Geschichtsbildes wünschen — und das hat nunmehr Th. Schieder und vor allem auch L. Dehio getan —, müssen wir doch nicht sagen, Hitler mußte kommen.

Wir nehmen von Grote entgegen, daß es viele Voraussetzungen im deutschen Bürgertum und Adel gab, die Hitler eine demagogische Verführung erleichterten: Untertanengeist, Machtstreben, Militarismus und Antisemitismus — aber gestehen wir uns und der Geschichte auch eine Freiheit der Entscheidung zu. Möglichkeit bedeutet noch nicht Notwendigkeit! Hans Rothfels hat gerade darum aus seiner Kenntnis der ausländischen Auffassung deutscher Geschichte sein Buch über die Opposition gegen Hitler geschrieben, um der These entgegenzutreten, daß sich die Deutschen „infolge eingeborener Verruchtheit oder einer anerzogenen Gewohnheit blinden Gehorsams oder unter Entwicklung der tyrannischen Herrschaft von Verbrechern freiwillig angeschlossen“ haben. Immerhin hat es auch 1933 anläßlich der Ermächtigungsvorlage genau wie 1860 freie Entscheidung zur Opposition gegeben. Daß wir aber ein Wissen um solche Möglichkeiten politischer Konflikte und ihrer Folgen allen jungen Deutschen für die Zukunft vermitteln, dazu ist eine „kritisch geprüfte Anschauung der historischen Wirklichkeit" (Schieder) der deutschen Geschichte notwendig.

„Deutsche Geschichte" -15 Jahre danach

Es wird verschiedentlich in Zweifel gezogen, ob man in unserer Zeit noch eine „Deutsche Geschichte“ schreiben und lehren solle. Insbesondere in den ersten Jahren nach 1945 wurden der völlige Niedergang und das Ende nationaler Geschichtsschreibung verkündet. Nun wird jeder Einsichtige zustimmen, wenn eine nationalistische Darstellung der Vergangenheit aus dem eingeengten Blickwinkel nationaler Grenzen und nationaler Überheblichkeit als völlig verfehlt angesehen werden muß. Das wird besonders deutlich, wenn man die Situation Osteuropas mit der so verworrenen Streulage der Völker aus nationalstaatlichem Aspekt zu lösen versucht. Immer wieder mußten solche Versuche scheitern, ganz gleich, ob wir den Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn oder Preußen mit seinen Ostprovinzen, die Tschechoslowakei oder auch Polen, ja sogar Jugoslawien daraufhin betrachten. Der nationalpolitische Maßstab hat im Osten viel Unheil angerichtet — er 5a) aus der Revolutionszeit des Westens heraus erwachsen, ließ sich aber nicht auf den Osten übertragen.

Nun gehört es aber zum Wesen der europäischen Vergangenheit, daß sie eine Geschichte der Völker und nicht der Staaten oder Europas -—----kennt. Ich habe das unter besonderem Hinweis auf Heimpels Mittelalterforschung in meinem „Entwurf" 5a deutlich gemacht. Heimpel war es auch, der eine „Deutsche Geschichte“ als Aufgabe der Historiker nach 1945 forderte, wie sie ähnlich schon früher Karl Jaspers gefordert hatte. Wer nun aber eine Weltgeschichts-Ära in der Historie erwartet hat, wurde trotz verschiedener Weltgeschichten (Randa, Historia Mundi, Propyläen u. a.) belehrt, daß eine „Deutsche Geschichte“ nach der anderen erschienen ist. Angesichts der radikalen Revisionsforderungen in den ersten Nachkriegsjahren war nicht zu erwarten, daß so bald eine neue revidierte deutsche Geschichte hätte verfaßt werden können. Viel einfacher war es natürlich, im Gewohnten und Überlieferten zu bleiben.

So erschien wohl als erstes das Buch deutscher Geschichte von Prinz zu Löwenstein Sie ist aus dem Geist deutscher Romantik geschrieben und geht — ähnlich wie die große dichterisch-historiographische Gestaltung des Heiligen Römischen Reiches durch Ricarda Huch — vom Reichsgedanken aus, dient also patriotischen Zielen. Wir erinnern uns des Verfassers als des „Befreiers Helgolands". Kurz danach (etwa 1955) erschien — aus ähnlichem Geis te geschrieben — das Buch von Eberhard Orthbandt In einer Besprechung von Werner Bögli (Parlament vom 1.2.61) wird gesagt, die Grundhaltung des Verfassers sei „national", „was man ihm freilich nicht wird vorwerfen wollen“ — warum aber wird das jemandem vorgeworfen, der in weit zurückhaltender Art eine deutsche Geschichtsdarstellung für pädagogisch notwendig hält? Von dieser „nationalen“ Haltung bei Orthbandt kann man sidi ein Bild machen, wenn man seine sehr eigenartig-einseitige Auswahl von Bildern aus der Hitlerzeit aufmerksam verfolgt: mit Großaufnahme Adolf Hitlers, Großaufnahme des sich „ehrfurchtsvoll“ vor Hindenburg verneigenden Kanzlers mit Kurven über Beseitigung der Arbeitslosigkeit, der Autobahnen und zum Schluß wieder Hitler, wie er der Hitlerjugend Eiserne Kreuze austeilt. Dagegen ließe sich als historische Dokumentation gar nichts sagen, wenn nur nicht die andere Seite fehlte! Das Hitler sich als Inkarnation des Hegelsdien Weltgeistes vorkam, ist sicher-lieh philosophisch etwas hoch gegriffen.

Konzentrationslager werden nur durch ein Bild dargestellt, auf dem man sieht, wie Häftlinge noch in ihrer Zivilkleidung Liegestütze üben, auch versäumt man nicht zu erwähnen, daß Konzentrationslager von den Engländern erfunden wurden. Die Juden „wurden verfolgt und getötet, wie im Mittelalter Ketzer, Heiden und Hexen“. Offenbar war in Adolf Hitler — und im Nationalsozialismus überhaupt — ein religiöser Irrwahn rege: die Unfehlbarkeit, die dem Papst bei Lehrentscheidungen zukommt, nahm Hitler für sich bei seinen weltanschaulichen Kundgebungen in Anspruch .. . vom römischen Kirchenministerium für Glaubenspropaganda wurde der Name entlehnt für das „Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda" ... Das alles deutet darauf hin, daß eine Umwandlung kirchlichen Glaubensgutes ins heidnische erfolgt war... (!) Man könnte sagen: das alles deutet darauf hin, daß hier von einer „Revision" des Geschichtsbildes aber auch gar nichts — eher das Gegenteil — zu spüren ist!

Aber schon 1953 begann auch ein anderes, sehr gewichtiges Werk in Lieferungen zu erscheinen, welches Peter Rassow mit vielen Fach-gelehrten als Mitarbeiter als ein erstes „Handbuch deutscher Geschichte“ herausgab. Ich erinnere mich, daß es damals für mich nur tröstlich war, nun ein Werk solider deutscher Geschichtswissenschaft zu besitzen, das uns die Tatsachen, den „Kernbestand“ wieder zur Verfügung stellen wollte und ganz bescheiden den Zusatz „im Überblich“ benutzte. Lehrern und Studierenden hat dieses Buch außerordentliche Dienste geleistet. Es wollte nur erst einmal wieder eine Grundlage schaffen. Das Vorwort Rassows sagt darüber: „Beim Zusammenbruch des deutschen Staates und der deutschen Nation im Jahre 1945 wurde uns von vielen Seiten der Rat gegeben, wir sollten unser Geschichtsbild revidieren. Die Historiker unter uns wußten schon vorher, daß jede Gegenwart sich ein anderes Geschichtsbild macht. Ein anderes Deutschland blickt heute in die Vergangenheit, als das Deutschland von 1871 oder 1890 oder 1913. Infolgedessen ist die heutige deutsche Geschichte eine andere als die damalige ... Jede Gegenwart fühlt in sich andere historische Kräfte lebendig als eine frühere ... Insofern jene aus der Vergangenheit stammenden Kräfte Bestandteil unsrer Gegenwart sind, bewerten wir sie. Das ist kein Verstoß gegen die Objektivität, sondern ein Lebensrecht der Gegenwart.“ Hier wird also nicht radikal umgewertet, sondern versucht, Gegenwart und Vergangenheit einander maßvoll einzuordnen. So hat wohl dieses Geschichtswerk als erstes die wissenschaftliche Tradition bewahrt, also zunächst mehr bewahrend als revidierend, vor allem aber streng von den Tatsachen berichtend. Vor allem aber wagte es der Herausgeber damals schon, in ein solch Werk, das sich der Objektivität verpflichtet fühlte, ein Kapitel über den Nationalsozialismus aufzunehmen und zwar aus der Feder des Generalsekretärs im neu eingerichteten „Institut für Zeitgeschichte“, Hermann Mau, dem nach seinem Tode Helmut Krausnick folgte. Diese Leistung ist für die damalige Situation besonders hoch anzuschlagen, und „der Rassow“ erbrachte damit den Beweis, daß die „offizielle“ deutsche Geschichtswissenschaft früh genug statt einer „Ausklammerung“ eine Einbeziehung der Hitlerzeit in wissenschaftlicher Forschung vollzogen hat. Ausgezeichnet hat Hermann Mau die Maskierung und die verschiedenen Kulissen nationalsozialistischer politischer Technik und damit die Täuschungstaktik gegenüber den deutschen Volke entlarvt. „Nationale Erhebung war das Bild, das nun für einige Zeit als Kulisse vor das vielschichtige Geschehen gezogen wurde ... Die zentrale Figur dieses Bildes ist Hindenburg, nicht Hitler. Die Doppeldeutigkeit seiner Gestalt wird offenbar.“ Der Potsdamer Tag wird als „Schauspiel einer Siegesfeier“ bezeichnet. Aber dieses Bild des sich ehrfürchtig verneigenden Hitler „war eine Illusion.“ Das ganze Bild der „nationalen Erhebung entsprach nicht der politischen Wirklichkeit.“ Auf Grund des Aktenmaterials ist hier schonungslos klar, wenn auch damals noch auf Grund der Quellenlage vorsichtig, von Konzentrationslagern gesprochen worden. Der Mord an Häftlingen für die Schädelsammlung des „Ahnenerbes“, „Euthanasie-Programm“ und die „Endlösung“ werden hier bei Namen genannt und in ihrer verbrecherischen Art gekennzeichnet. Man kann also den Satz bei Klaus Hornung zustimmend ergänzen, indem neben den — von Hornung angeführten — Schriften von Gerhard Ritter (1948) und Fr. Meinecke (1949) auch diese Darstellung von Mau-Kraus-nick als eine erste innerhalb eines wissenschaftlichen Handbuches gesetzt wird, die den Nationalsozialismus in unsere geschichtliche Kontinuität einbezieht, ohne allerdings von einer Determination zu sprechen. „Tendenzen in der deutschen Geschichte" führt Hornung als Voraussetzungen für eine ins Verbrecherische führende Entwicklung der Hitlerzeit an, Voraussetzungen, die noch immer aus dem 19. Jahrhundert stammten, als es um die „Nationwer-dung" ging. Es ging um die „nationale Kultur-und Bildungseinheit“, die in dem konstruierten Fürsten-Staaten-Bund Bismarcks nicht gelungen war. Daher konnte der Nationalsozialismus an die Begriffe deutscher Sehnsucht „Volk" und „Reich“ anknüpfen, die ihn, was Hornung wohl hier zum erstenmal offen ausspricht, einer großen Zahl von Lehrern und Akademikern überhaupt empfohlen hat.

Wohl nicht zuletzt durch die Mahnungen Heimpels angeregt — trotz aller Tendenzen zur Weltgeschichte —, erkennen wir eine Belebung der Beschäftigung mit deutscher Geschichte, wenngleich die „Revision“ — was Ad. Grote kritisch anmerkte — gar nicht mehr so streng und ehrlich betrieben und wie es Meineckes Bücher „Irrweg" und „Katastrophe" hatten erwarten lassen. Man kann das zweifach begründen: 1. anklägerisch — man will beschönigen und sich nicht bekennen, will nichts ändern; 2. man will erst einmal überhaupt wieder Anschluß finden an die alte deutsche Vergangenheit, indem man zu den alten erprobten Methoden deutscher Geschichtsschreibung zurückkehrt. Dabei blieb dann — ganz gleich, welche Erklärung man nimmt — naturgemäß die „jüngste Vergangenheit“ zunächst einmal aus. Bei den Neuerscheinungen setzte zunächst die Bearbeitung der älteren Zeit ein. So begann der „Gebhardt" mit seiner 8. Auflage, unter Herbert Grundmann als Herausgeber, 1954 mit dem Mittelalter, und erst 1960 erschien — notgedrungen als eigener Band abgetrennt — die neuste Zeit. Das andere Handbuch deutscher Geschichte von Brandt-Meyer, das in der Vorkriegszeit zu erscheinen begonnen hatte, wurde durch Leo Just völlig neu herausgegeben. Wer, wie der Verfasser, noch jene Vorkriegslieferungen besitzt, kann nun interessante Vergleiche ziehen. Auch dieses Handbuch brachte erst kürzlich die allerjüngste Zeit (W. Hofer), bescherte uns aber die umfangreiche, wenn auch wohl etwas zu sehr harmonisierende Darstellung Bismarcks (Bußmann), die man sich doch — trotz des noch handbuchartigen Charakters — kritischer gewünscht hätte. Unschätzbar aber ist die stille und viel zu wenig gewürdigte Wirkung der großen Wörterbücher, die Helmut Rößler und Günter Franz herausgegeben haben, geduldige, sachliche Berater in allen Fragen deutscher Vergangenheit! Was will damit gesagt sein? Eine Hinwendung der Wissenschaft zur deutschen Vergangenheit setzte in jenen Jahren seit etwa 1954 ein, die in einer Mitte zu gehen versuchte zwischen Anklägern und Apologeten (Dehio). Man hat daher dieser Geschichtsschreibung bis zum aufrüttelnden Winter 1959/60 (Hakenkreuz-Schmierereien) einen unentschiedenen Neutralismus vorgeworfen, Ausklammerung und Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen. Das hat sich bis in die verschiedenen Auflagen der Schulbücher hinein ausgewirkt. Kein Wunder, daß — nationalsozialistische Ideologie hinter uns, kommunistische gegen uns und neben uns — man befürchtet, eine Forderung nach einem „deutschen Ge-schichtsbilde" sei ideologisch oder nationalistisch gemeint. Was aber sehen wir? Seit ich (1957/58 letztes Heft von „Die Welt als Geschichte, 1958 „Die Sammlung" und „Parlament") aus der Sorge des politischen Pädagogen einen consensus für einen Kernbestand an „Tatsachen der deutschen Geschichte (Barraclough) forderte, ist trotz aller Kritik eine „Deutsche Geschichte" nach der anderen erschienen und zwar durchweg für das interessierte Leserpublikum breiter Kreise und den gebildeten Laien. Ich nenne — auf die Gefahr hin, doch noch jemanden zu vergessen — die Werke von Wilhelm Treue, Hans Erich Stier, Golo Mann, Michael Freund, Hajo Haiborn, Veit Valentin, Paul Sethe und Wilhelm Mommsen — eine Skala, die von der nationalen bis zur äußersten liberalen Seite reicht, darunter Universitätshistoriker, Journalisten höchsten Niveaus und auch beides in einem. Dabei sind auch solche aufgeführt, die nur einen Teilabschnitt behandeln, aber doch von deutscher Geschichte sprechen (z. B. Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts). Aber auch ausländische Historiker wie Barraclough gehören in diese Reihe, neuerding Ralph Flenley. mit seinem Buche „Modern German History“ (London 1959). Flenley, der für Studenten und weitere Kreise ein kenntnisreiches Werk verfaßt hat — nach der Rezension durch Werner Frauen-dienst —, macht Bismarck, trotz der Kritik an ihm, doch zum Maßstab aller Politik bis 1918 und bringt trotz mancher Überschätzungen wie beim Pangermanismus die Bemerkung: „This did not mean that the majority of the German people were conciously militaristic". Der Rezensent schreibt zum Schluß: „Aus seinem Buch steigt ein klares deutsches Geschichtsbild empor, zu dem wir uns bekennen dürfen.“ (Hat also ein Engländer ein „klares deutsches Geschichtsbild“ — und sollten wir Deutsche es nicht anstreben dürfen?) Die Tatsache, daß drei große (und auch teure) Werke in bekannten Buchgemeinschaften erschienen sind, mag doch zur Genüge erweisen, daß ein breites Interesse an „deutscher Geschichte“ vorliegen muß. Ist das „taedium historiae“, ist der „Verlust der Geschichte“ überwunden? Müssen wir uns neue restaurativ-nationalisierende Tendenzen zum Vorwurf machen lassen? Das ist zumindest nicht möglich angesichts solch radikal kritischer Darstellung wie bei Michael Freund oder solch liberaler wie bei Golo Mann oder Veit Valentin, dem hervorragenden Darsteller der deutschen Revolution von 1848!

Geschichtsunterricht und politische Mitbestimmung

Nützen wir diese Chance! Das „Interesse an der Geschichte“, das Wittram so feinsinnig abgehandelt hat, und der Wille zur Beschäftigung mit dem Bestand an Tatsachen ist offensichtlich erwacht. Aber nehmen wir es doch den Deutschen im Jahre 1961 nicht übel, wenn sie zunächst einmal ihre eigene so verworrene Vergangenheit zu verstehen suchen! Jetzt müßte die kritische Aufarbeitung in ihre eigentliche schöpferische Phase treten. Was in den ersten Jahren nach 1945 nur Anklage und Einreißen war, was in den 50er Jahren allzu beschönigend und ausklammernd wurde, kann jetzt, nachdem der Hunger nach Tatsachen geweckt werden kann, durch eine Fülle von Spezialuntersuchungen an den zugänglich werdenden Quellen zur kritischen Darstellung werden. Dieses erschlossene Material darf aber nicht wie im 19. Jahrhundert in den abgeschlossenen Kreisen einer Bildungsschicht Steckenbleiben, sondern muß allen Bürgern unseres Staates im Rahmen der allgemeinen Volksschulbildung zugänglich gemacht werden. Psychologische Schwierigkeiten müssen durch didaktische und methodische Aufbereitung des Stoffes weggeräumt werden. Der junge Bürger unseres Staates hat auf Grund unserer Verfassung einen Anspruch auf die Übermittlung einer vollen geschichtlichen Überlieferung, um sich seine Grundbegriffe und Voraussetzungen für spätere politische Urteilsfindung zu schaffen. Da liegen Aufgaben für unsere Lehrerschaft, der allgemeinen Volks-und auch Erwachsenenbildung, die von großartiger politischer Bedeutung sind. Man darf sich ihnen nicht entziehen

Aber wir können nur — es sei wiederholt — eine „deutsche Geschichte im europäischen Zusammenhang“ schreiben und lehren.

Das scheint auch durchweg erkannt oder anerkannt zu werden. So schrieb der Rezensent von Wilhelm Treues deutscher Geschichte (HGL) im „Parlament“ (18. 1. 61), man frage sich, ob überhaupt noch recht getan wird, eine „Deutsche Geschichte" zu schreiben, aber es sei dem Verfasser zu danken, daß er sie stets im europäischen Zusammenhang dargestellt habe.

Ähnlich bemerkt Herbert Grundmann im Vorwort zu Band III von „Gebhardts Handbuch der Deutschen Geschichte", es „regte sich sogar der Zweifel, ob eine gesonderte Behandlung nur der deutschen Geschichte von der Frühzeit bis zur Gegenwart uns noch möglich und zu rechtfertigen sei. Denn weder als Volk noch als Staat haben die Deutschen eine stetige, von ihrem Nachbarn deutlich abgegrenzte und durch die Jahrhunderte kontinuierlich zusammenhängende Geschichte.“

Jedoch ist zunächst unser Standort noch der deutsche, sofern wir von 1945 ab rückwärts schauen. Von da aus, von dieser unserer und damit der europäischen Mitte aus sehen wir unser und das Schicksal der europäischen Völker. Seien wir aber froh, wenn der historische Sinn unserer Schüler sich, von der Heimat ausgehend, auf das deutsche Geschick richtet und von da, soweit möglich, zu den Nachbarn findet. Mehr werden wir z. T. auch im Gymnasium nicht erreichen. — Die „Ranke-Gesellschaft" hat kürzlich mit der Herausgabe einer Schriftenreihe „Studien zum Geschichtsbild" begonnen. In der Ankündigung heißt es: „Die Klärung des Geschichtsbildes hat in den stürmischen Wandlungen unseres Jahrhunderts eine eminente Bedeutung gewonnen. Hinaus über die nur chronistische Erfassung — ohne die Geschichte nicht erforscht werden kann — bedürfen wir in der Betrachtung der Vergangenheit der Gestaltung überschaubarer „Bilder“. „Freilich: im Begriff des Bildes, wie im Begriff der Ausschauung ist neben dem kontemplativen auch ein produktiv-aktives Element enthalten. Gegenüber der Vorherrschaft politischer Ideologien aber wollen wir uns in diesen Heften darum bemühen, im Geiste Rankes der Geschichtsschreibung zu dienen, welche in gleicher Weise die Idee der Wahrheit und der Gerechtigkeit umfaßt.“ (Ankündigung des Muster-schmidt-Verlags).

Politik und Zeitgeschichte

AUS DEM INHALT DERNÄCHSTEN BEILAGEN:

Waldemar Besson: „Franklin D. Roosevelt, der New Deal und die neuen Leitbilder der amerikanischen Politik"

Walter Bußmann: „Der deutsche Reichs-und Nationsgedanke im 19. und 20. Jahrhundert"

Indira Gandhi: „Indien heute"

Charles de Gaulle: „Memoiren"

Hans Friedrich Reck: „Die indischen Parteien"

Karl C. Thalheim: „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft"

Egmont Zechlin: „Separatfriedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche zur Ausschaltung Rußlands im 1. Weltkrieg" (II. Teil) */** Der Ostblock und die Entwicklungsländer

Fussnoten

Fußnoten

  1. Veröffentlicht in Beilage zum Parlament B 3/61 vom 18. 1. 1961.

  2. Gerhard Ritter: Staatskunst und Kriegshandwerk I. München 1954. S. 176.

  3. Adolf Grote: Unangenehme Geschichtstatsachen. Zur Revision des neueren deutschen Geschichtsbildes Nürnberg 1960.

  4. Ludwig Dehio: Deutschland und die Weltpolitik im 20. Jahrhundert. Fischer-Bücherei 352.

  5. Vgl. dazu Robert Multhoff: Das Bild der deutschen Geschichte im Spiegel amerikanischer Geschichtslehrbücher. In: Beilage zum Parlament B XLVIII/58 vom 3. 12. 1958.

  6. Die im folgenden angeführten Bücher über „Deutsche Geschichte" werden im einzelnen nicht bibliographisch angeführt, da sie sich ggf. leicht feststellen lassen!

  7. Von Eberhardt Orthbandt liegt der erste Band der „Trilogie" mit dem Untertitel „Lebenslauf des deutschen Volkes und Werdegang des Deutschen Reiches“ jetzt in 3. Auflage vor, dazu gibt es ein „Bildbuch deutscher Geschichte" und einen — sehr kenntnisreich zusammengestellten und pädagonisch brauchbaren Quellenband „Das deutsche Abenteuer".

  8. Die Fachgelehrten sind: Gerold Walser (Römisch-germanische Grundlagen); Helmut Beumann (Ottonen); Theodor Schieffer (Salier); Peter Rassow (Staufer, Luther und Karl V.); Otto Brunner (Habsburger und Luxemburger, Konfessionelles Zeitalter); Carl Hinrichs (Absolutismus); K. D. Erdmann (Revolution und Napoleon); Alexander Scharff (Deutsche Verfassungsbewegung); Paul Kluke (1851— 1871); Theodor Schieder (Bismarck); Werner Conze (Wilhelm IL, Weimar); Hermann Mau — Helmut Krausnick (Nationalsozialismus); Wilhelm Cornides (1945— 1948); Hans Dietzel (Bibliographie).

  9. In: Beilage zum Parlament B 10/61 vom 8. 3. 1961, Anm. 257: „Man hätte sich manche laute Polemik ersparen können, hätte man solche Deutungen zu Rate gezogen."

  10. Adolf Grote: Die beschönigte Katastrophe. In: Deutsche Rundschau 1955.

  11. Helmuth Rößler und Günther Franz: Biographisches Wörterbuch zur deutschen Geschichte. München 1953 — Sachwörterbuch zur deutschen Geschichte. München 1958 und schon vorher: Günther Franz: Bücherkunde zur deutschen Geschichte 1951.

  12. In: Das Historisch-Politische Buch. Jg. 8 (1960) S. 263.

  13. Vgl. dazu meinen Mainzer Vortrag über „Der Anteil der Volksschule an der Bewältigung der jüngsten Vergangenheit" jetzt in: Geschichtsbild und geschichtliche Bildung. Beltz-Weinheim 1961.

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