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Antwort an Heinrich Geissler | APuZ 30/1961 | bpb.de

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APuZ 30/1961 Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert Der deutsche Reichs-und Nationsgedanke Antwort an Heinrich Geissler

Antwort an Heinrich Geissler

Wolfgang Schlegel

(Vgl. „Leserstimme: Ein deutsches Geschichtsbild?“

In: Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ B 4/61 vom 25. 61, S. 41 f)

Meine beiden Beiträge in dieser Wochenzeitung (1958, 1960) waren in der Absicht geschrieben, eine Diskussion auszulösen. Sie ist offensichtlich auch in Gang gekommen. Die aus dem Grundsätzlichen her sehr kritische „Leserstimme“ von Heinrich Geißler erfordert eine Antwort und zwar 1. vom geschichtsphilosophischen und geschichtswissenschaftlichen, vom politischen und zugleich persönlichen und vom pädagogischen Gesichtspunkt her.

I.

Mein erster Aufsatz über „Revision und Wiederherstellung“ (5. 11. 1958) und in noch stärkerem Maße mein zweiter über „Entwurf eines deutschen Geschichtsbildes“ (13. 1960) war geprägt von einer geschichtsphilosophischen Grundauffassung, die man etwa nach Karl Jaspers oder — wem das angenehmer ist — nach Kant und Goethe als „offene Geschichtsphilosophie" bezeichnen kann. Das ist der völlig entgegengesetzte Standpunkt zu jeglicher Form von ideologischer oder deterministischer Philosophie der Geschichte 1). Jeder, der weiß, wie völlig undogmatisch Kant und Goethe zur Geschichte gestanden haben, weiß auch, wie beide ihr den eigentlichen Wissenschaftscharakter absprachen, weil es in ihr nicht zu einer Gesetzlichkeit der Erkenntnise kommen könne. Nun, der Historiker unserer Zeit weiß seit Ranke und Dilthey, daß es die Geschichtswissenschaft mit dem Individuellen, dem Unwiederholbaren, mit der Epoche „unmittelbar zu Gott“ zu tun hat — die Weltgeschichtskonstruktion Hegels ist eine philosophische Konzeption geblieben und nicht zur Grundlage der Historie als Forschung geworden. Hegel und Marx sind die beiden letzten großartigen Konstrukteure solcher geschichtsbezogenen Konzeptionen gewesen — sie sind damit in die politischen, nicht in die geschichts wissenschaftlichen Methoden übergegangen.

Jedoch war ich bei meinem „Entwurf" ganz einfach überzeugt, es müsse sich doch ein gewisses Grundgerüst geschichtlichen Geschehens, geschichtlicher Tatsächlichkeit (Faktizität) zusammenstellen lassen, auf das man sich einigen könnte. Gerhard Ritter hat das einmal anläßlich der Besprechung von Golo Manns neuer „Propyläen-Weltgeschichte" treffend formuliert, als es ihm darum ging, sich gegen eine Art der Geschichtsschreibung zu wehren, die er „historischen Impressionismus“ nannte 2). „Aber es gibt doch jenseits aller Ansichten, Meinungen, Urteile, Fragestellungen immer noch einen festen Kernbestand historischer Tatsachen und eindeutig ermittelter Zusammenhänge — einen Kern-bestand, der im Fortschritt der Forschung nicht immer wieder weggeräumt, sondern immer nur klarer und sicherer erkannt und immer besser verstanden wird.“ Genau das war auch unsere Auffassung, und wir meinten, wenn der Geschichtsmüdigkeit, von der Hermann Heimpel voller Sorge nach 1945 immer wieder gesprochen hat und wenn dem „Verlust der Geschichte", von dem Alfred Heuß gesprochen hat, entgegengewirkt werden sollte, müsse man in der Volksbildung anfangen. Wenn Ritter von einer neuen Universalgeschichte fordert, daß sie — für weitere Leserkreise bestimmt — die Aufgabe habe, „vor allem auch sachliches Wissen zu vermitteln und so dazu mitzuhelfen, daß im Bewußtsein der heutigen allzu schnell lebenden und allzu schnell vergessenden Generation das klare Wissen um die Tradition, um die geschichtlichen Lebenszusammenhänge nicht verblaßt", so hatten wir damals genau das gleiche Ziel im Auge. Unser Vorschlag eines Stoff-plans für „deutsche Geschichte im europäischen Zusammenhänge" — wie wir immer gesagt haben — sollte ein solches Grundgerüst eines Kernbestandes versuchen zu zeichnen, das man versuchen könnte, auch Volks-und Realschülern mitzugeben, damit geschichtliche Bildung nicht nur Vorrecht höherer Schulen bleiben solle — was sie ja auch schon lange nicht mehr ist!

Dabei bin ich allerdings von der geschichtsphilosophischen Voraussetzung ausgegangen, daß es einen geschichtlichen Zusammenhang geben müsse und daß wir, wenn wir überhaupt Wesentliches von Geschichte aussagen wollen, eben nicht (nach Ritter) im „historischen Impressionismus", hervorgerufen durch den leider ein wenig zum Schlagwort gewordenen „Mut zur Lücke“ des „exemplarischen Verfahrens“ 3) Steckenbleiben dürfen, sondern so etwas wie eine Kontinuität geschichtlichen Werdens annehmen müssen. Das bedeutet noch lange nicht, Geschichte in das Prokustesbett dialektischer Logik und Systematik zu pressen. Aber der Christ sieht die Geschichte als Ganzes doch letzthin in Gottes Hand — etwa so, wie das Rodin mit seiner wunderbaren Plastik (Gottes Hand) dargestellt hat. Der lutherische Protestant übt zwar gegenüber dem katholischen Christen eine weit stärkere Zurückhaltung in bezug auf Deutung des transzendenten Sinns der Geschichte, aber er weiß doch um dieses Aufgehobensein des Ganzen in Gott, wenngleich er nicht im einzelnen Gottes Finger zu erkennen glaubt. Aber gerade der Begriff der „Weltgeschichte" in Kontinuität ist ein ursprunghaft biblicher und christlicher und erst durch den Historismus des 19. Jahrhunderts zugunsten eines relativistischen Pluralismus aufgelöst worden.

Der Begriff „Geschichtsbild“ meint keineswegs ein starres festgelegtes, statisches „Bild“ 4) als Schema oder Dogma, oder gar Ideologie, sondern das Bild, die Vorstellung, die Auffassung, die sich der Mensch von den Kräften, dem Sinn und dem Wesen, aber auch vom Verlauf und vom Inhalt der Geschichte als Vergangenheit macht. Audi das war im ersten Beilagen-Aufsatz bereits knapp geklärt. Vielleicht ist aber der Ausdruck „geschlossenes Geschichtsbild“ mißverständlich gewesen.

Jeder, der als Lehrender etwas aussagen will, muß sich zu einer Formulierung entscheiden. In keinem Fache ist die Gefahr der Simplifizie-rung so groß wie im unsrigen, nirgends rückt diese Vereinfachung so leicht in die Nähe der Fälschung. Dennoch muß jedes Mal ne : das Wagnis der formulierten Aussage eingegangen werden, wenn überhaupt ein pädagogischer Ertrag der geschichtlichen Belehrung erreicht werden soll.

Es kann daher durchaus zu Recht als Kapitelüberschrift gesagt werden „Die Ritter nehmen das Kreuz“, denn das ist eine einfache Aussage über das, was gewesen ist und zwar ohne jede Deutung oder Beschönigung. Es ist eine Tatsache, daß nach der großen Predigt des Papstes in Clermont-Ferrand die Ritter das Kreuz freiwillig nahmen; es ist eine Tatsache, wie der Chronist berichtet, daß nach der Predigt Bernhards von Clairveaux im Speyrer Dom Kaiser Konrad III. das Kreuz nahm. Daß dabei der einmal entfachte religiöse Eifer bis zum Fanatismus aufschlug und sich gegen die Juden in Speyer wandte, so daß der Heilige Bernhard persönlich gegen die Pogrome einschreiten mußte, sollte ja mit unserer Kapitel-Über-schrift weder verschwiegen noch geleugnet werden, ändert aber auch nichts an der Tatsache, daß die Ritter das Kreuz nahmen.

Es ist natürlich sachlich nicht zu verantworten, wie in der Leserstimme gesagt wird, daß die osteuropäische Geschichte nur unter „Ostltolo-nisation“ betrachtet wird, aber dieser Ausdruck kommt bei mir gar nicht vor, vielmeh wird er ausdrücklich aufgrund der Vereinbarungen in der „Bundes-Arbeitsgemeinschaft für Ostkunde" abgelehnt. (Vgl. „Entwurf“, Anm. 46, 47, 48.) Die Einbeziehung der Slawen in die Geschichtsbetrachtung wird insbesondere auf der Seite 251 und in den Anm. 64, 65 gefordert; die Über-Windung des nur westlich gerichteten Geschichtsbildes hatte aber schon der erste Aufsatz „Revision und Wiederherstellung“ im Anschluß an die Arbeiten Eugen Lembergs als Forderung herausgestellt. Das 19. Jahrhundert wird übrigens nicht von mir, sondern, wie auch im „Entwurf erwähnt, von Hans Erich Stier in seiner „Deutschen Geschichte“ als das „deutsche“ bezeichnet, und die Frage, ob heute überhaupt noch von „deutscher Geschichte" in solchem Ausmaße gesprochen und gehandelt werden soll, ist auch in ihrem Für und Wider behandelt worden. Das ist gewiß eine ernsthaft zu diskutierende Frage, die Geißler hier aufwirft. Man beachte dazu nur die beiden Beiträge von Th. Schieder und L. Dehio in dieser Beilage (1961), die ja als Vorträge während einer Tagung um das deutsche Geschichtsbild gehalten worden sind Wichtig ist aber auch, was Herbert Grundmann als Herausgeber der 8. Auflage von Gebhardts „Handbuch der deutschen Geschichte“ im Vor wort des zuletzt erschienenen III. Bandes schreibt: „Dabei regte sich sogar der Zweifel, ob eine gesonderte Behandlung der deutschen Geschichte ... noch möglich und zu rechtfertigen sei.“ Aber er meint im wesentlichen, es sei schwer, genau abzugrenzen, wieweit deutsche Geschichte jeweils in den Epochen gehe und ob man dann „nur" von einer „deutschen“ Geschichte sprechen könne. Man beachte aber auch, daß seit 1945 trotz und vielleicht jetzt sogar wegen der „deutschen Katastrophe“ neben diesem „Gebhardt“ noch eine große Anzahl von Werken über deutsche Geschichte erschienen sind — sogar z. T. von ausländischen Historikern, bzw. von deutschen Emigranten, die noch im Auslande leben!

Wer — wie offensichtlich Geißler — einen völlig anderen Standort gegenüber dem gewaltigen Phänomen der Geschichte einnimmt und vermeint, aus christlicher Bescheidung heraus überhaupt nie vom Ganzen und vom Zusammenhang der Dinge reden zu dürfen, sondern nur von der sittlichen Entscheidung bei der einzelnen Persönlichkeit, mag aber daran denken, daß solche Hervorhebung von Einzelgestalten ohne den Zusammenhang des Getragenseins im Geschichtsverlauf leicht in ein anderes Extrem führen kann: die private Tat des Einzelnen aus christlich-sittlicher Haltung (Schweitzer) kann leicht umgedeutet werden zum Prinzip der Geschichtsdeutung und dann zur These führen, wie wir sie als „Männer machen Geschichte" kennen. Wenngleich die Bedeutung wirklich sittlich großer Persönlichkeiten nicht geleugnet werden kann, weiß man doch heute, welche Bedeutung aber auch jene Kräfte haben, die wir nur aus der soziologischen oder wirtschafts-und geistesgeschichtlichen Betrachtung der Geschichte erkennen können, welche Bedeutung aber auch Ideen als Brücken von einer Epoche zur anderen haben können, die dadurch zu einer „Kontinuität“ führen. Wer das betont, braucht noch nicht in der „Gefahr frevelhaften Hochmuts des Ausdeutens und Konstruierens" zu schweben. Das Ganze im Blick zu haben, mag genau so christlich sein wie die Darstellung von Gestalten, „die sich in ernstem Ringen den Nöten ihrer Zeit gestellt haben“. Selbst der als „Warner" bei Geißler und bei mir bemühte Historiker Reinhard Wittram hat betont: „Ohne Weltgeschichte gibt es keinen Sinn der Geschichte", aber er fährt fort „daß sie das Maß des Menschen übersteigt“ und somit auf der einen Seite ihre wissenschaftliche Erforschung unmöglich erscheinen läßt, zugleich aber aus der Gewißheit heraus, „daß es eine Weltgeschichte gibt“, die Wissenschaft eben deshalb nicht aufhören könne, sie zu suchen

II.

Wer jedoch, wie Geißler, einen Vertreter einer kontinuierlichen Auffassung von Ge-schichte und Geschichtsunterricht in die „Nähe totalitären Denkens" rücken will, mag sich fragen, ob er noch auf dem Boden sachlicher Auseinandersetzung bleibt und nicht schon zu persönlicher politischer Verdächtigung oder zumindest Unterstellung gegenüber dem Partner übergegangen ist. So gern ich in eine wissenschaftliche und pädagogische Diskussion über verschiedene strittige und kritische Punkte eintrete, so sehr muß ich allerdings eine Polemik als unfair und zur Diskussion innerhalb dieser Zeitschrift ungeeignet zurückweisen, insbesondere da sie sich in verschiedenen Ausdrücken durch die ganze Arbeit hindurchzieht. In einem bestimmten Abschnitt wird diese Art der unsachlichen Kritik besonders deutlich, er mag daher im ganzen ohne Auslassung hier noch einmal wiederholt werden. Geißler schreibt auf Seite 41, dritte Spalte unten rechts: „So sind also an Schlegels Entwurf eine Fülle ernster Fragen aufzuwerfen, die immer wieder den volkspädagogischen Sinn seines Versuches in Frage stellen. Es scheinen mir alle Voraussetzungen dazu zu fehlen. Die peinliche Nähe zum totalitären Denken, die heute jedes geschlossene Geschichtsbild spüren läßt, sollte uns eine Warnung sein. Man bedenke nur, wieviel noch von den simplifizierenden nationalsozialistischen Geschichtsvorstellungen im Unterbewußtsein unserer Zeitgenossen schlummert. Da ist die Rassenideologie, der Komplex der in letzter Minute rettenden Zauberwaffen und, besonders bedrückend, die Selbstverständlichkeit, mit der allgemein Menschentötung als ein notwendiges Mittel zur Erreichung politischer Zwecke hingenommen wird.

Von solchen, sicherlich unbewußt wirkenden, totalitären Gedankengängen scheint mir Schlegels Entwurf auch darum beeinflußt zu sein, weil in ihm die Frage der Geschichtsreife unserer Volksschuljugend nicht ernsthaft erörtert wird.“

Wer so argumentiert und damit den Betroffenen nicht nur persönlich, sondern auch politisch trifft, entzieht sich damit selbst einer Diskussion auf diesem Gebiete. Mit der Unterstellung, das Streben nach einem ganzheitlichen in sich zusammenhängenden Geschichtsbild (wir sagten schon, daß der Ausdruck „geschlossen" mißverständlich sein könne, wohl mag auch die Wendung „gültiger Kanon“ geschichtlichen Wissens mißverstanden worden sein, obwohl seit Jahrzehnten auch jeder Volksschullehrer — nicht nur der Philologe — einen gewissen Bestand geschichtlichen Wissens, also einen „Kanon“ von seinen Schülern zu verlangen pflegt!), mit dieser Unterstellung also wird dem Vertreter einer solchen Auffassung zugemutet, sein „Entwurf“ sei nur als Re-Aktion gegen Ideologie entstanden, ohne daß die Möglichkeit zugestanden wird, es könne aus ehrlichem pädagogischem Bemühen zu diesem „Stoffplan" gekommen sein. Welche Schule kann ohne solche Stoffplanung auskommen?

III.

In der Tat geht das Nachdenken über die Möglichkeit einer besseren Einprägsamkeit geschichtlicher Erinnerung als Ganzes sehr weit zurück in Unterrichtserfahrungen an Volks-Mittel-und höheren Schulen, bestätigt durch die besorgten Aussagen von Hermann Heimpel, Alfred Heuß und anderen. Die pessimistischen Erklärungen der Psychologen sind z. T. entkräftet durch die Felduntersuchungen Heinrich Roths, die nun wirklich ergeben haben, daß auch der Volksschüler geradezu nach einem Zusammenhang des Ganzen fragt und sucht. Wir erleben das in den Schulen etwa bei Anwendung des sogenannten „Geschichtsfrieses" wobei die Schüler gern die Geschichte als ein zusammenhängendes Nacheinander bildhaft erkennen möchten und darin eine weit wichtigere echte geschichtliche Erkenntnis sehen als zusammenhanglose Plaudereien über Albert Schweitzer, dessen Behandlung wohl eher in den Religionsoder Deutsch-Unterricht gehören mag. Der vorgelegte „Entwurf" soll sich auf einen „Vorkurs“ stützen, der im 5. und 6. Schuljahr in Geschichtserzählungen durch die ganze Geschichte bereits einmal hindurchgelaufen sein soll. Er gilt also in dieser Zusammenstellung nur für das 7. bis 8. und vor allem auch das 9. Schuljahr, das wir ja hoffentlich bald bekommen werden. Unter diesem Aspekt allein ist er zu sehen, außerdem ist er zugleich für den Geschichtskurs in den Real-schulen gedacht und, wie auch seinerzeit bemerkt, mit einer Arbeitsgemeinschaft von Volks-und Realschullehrern erarbeitet und mit der vorhandenen Stundenzahl verglichen worden. Er gilt als ein „geschrumpftes Geschichtsbild“, das zur frühen Vergangenheit hin immer mehr zusammenschrumpft, aber doch auch dem Volksschüler von frühen Hochkulturen oder von den freien Völkern der Antike Notwendiges und Wesentliches übermitteln will. Ob es wirklich ausgeschlossen ist, Volksschülern von diesen Zeiten und Kulturen ein Bild zu geben, ist fraglich. Unterrichtserfahrungen beweisen das Gegenteil, insbesondere, wenn an so aktuelle Ereignisse wie Olympiade angeknüpft werden kann. Audi sollte daran gedacht werden, daß ja die Volksschüler in Religionsoder Konfirmanden-Unterricht mit der Geschichte Israels als einer frühgeschichtlichen Hochkultur bekannt-gemacht werden. Ebenfalls sollte man nicht vergessen, wie stark gegenwärtig das Fernsehen auch Kinder mit neuen Grabungsund Forschungsergebnissen oder mit Reise-und Kultur-berichten jener Länder bekannt macht. Die Weltaufgeschlossenheit kann der Zeitaufgeschlossenheit zugutekommen. Auch Volksschüler haben einen Anspruch darauf — die Höhere Schule übrigens beginnt genau wie die Volksschule im Schuljahr mit Geschichtsunterricht.

Der jetzt verstorbene Erich Weniger hat darauf hingewiesen, daß immer diejenigen Stände einer Gesellschaft Geschichtsunterricht erhalten haben, die in der politischen Verantwortung standen: zuerst Fürsten, dann der Adel überhaupt, dann die adlige und bürgerliche Ministerialbürokratie, das Besitz-und Bildungsbürgertum und erst ganz zuletzt Bürgertum und arbeitende Bevölkerung im ganzen 7). In einer neueren Untersuchung ist diese These ausgenommen und an einigen Quellen bestätigt worden Luther hat gemeint, „die Chroniken und Historien sind wundernütze — der Welt Lauf zu erkennen und zu regieren, ja, auch Gottes Wunder und Werke zu sehen . .. darum sind auch Historienschreiber die allernützlichsten Leute und besten Lehrer.“ Comenius hat gefordert: „Auch sollen die Schüler die allgemeine Geschichte der Welt, nach deren Erschaffung Verderbnis, Wiederherstellung und der Regierung durch die Weisheit Gottes bis auf diesen Tag kennen lernen.“ Hier wird doch deutlich, wie gerade aus christlichem Geiste ein Gesamtbild der Geschichtsentwicklung gefordert wird. Welch wirklich weite Perspektive steckt etwa in folgenden Worten Luthers: „Wo man die Kinder aber lehret ... wie es dieser Stadt, diesem Reiche, diesem Fürsten, diesem Manne ... gegangen wäre, und könnte also in kurzer Zeit gleichsam der ganzen Welt von Anbeginn Wesen, Leben ... wie in einem Spiegel, daraus sie denn in ihren Sinn schicken und sich in der Welt Lauf richten könnten mit Gottesfurcht, dazu witzig und klug werden aus denselben Historien, was zu suchen und zu meiden wäre. Die Zucht aber, die man daheim ohne solche Schulen vornimmt, die will uns weise machen durch eigene Erfahrung. Ehe das geschieht, so sind wir hundertmal tot und haben unser Leben lang alles unbedächtig gehandelt, denn zu eigener Erfahrung gehört viel Zeit.“ Was hier Luther mit dem Klug-werden meint, das hat Weniger als gedankliches Vorwegnehmen von menschlichen Situationen durch die Kenntnis der Geschichte formuliert Auch Melanchton hatte schon die politische und menschliche Bedeutung der Geschichtskenntnisse erkannt, wenn er schrieb: „Fürwahr, ich bin geneigt, der Geschichte alles Lob zuzuwenden, welches dem ganzen Wissenskreise zu spenden ist ... Ihrer kann weder das öffentliche noch das private Leben entbehren .. . Und wenn die Verwaltung der Staatsgeschäfte die Geschichte missen sollte, ich weiß nicht, ob dies ein geringerer Verlust wäre, als wenn dieser unserer Welt die Sonne, die ihre Seele ist, genommen würde.“

Die „Allgemeinen Bestimmungen“ des Preußischen Unterrichtsministeriums vom 15. Oktober 1872 fordern zum erstenmal Geschichtsunterricht an Volksschulen als selbständiges Fach. Er wurde in patriotischem Sinne durchgeführt. Als dann nach 1918 die Weimarer Verfassung sich auf den Standpunkt der Volkssouveränität stellte, mußte auch das Volksschulwesen letzthin politisch gemeinten Geschichtsunterricht erhalten, zu dessen Ergänzung der von Kerschensteiner geforderte staatsbürgerliche Unterricht eingeführt wurde. — Sollen wir nun nach unseren schlimmen politischen Erfahrungen zurückfallen in ein zufällig lückenhaft aneinandergereihtes Behandeln von Einzelbildern im Geschichtsunterricht der Volksschule? Hat nicht gerade der Volksschüler, der später nie wieder Gelegenheit hat, in Geschichte unterrichtet zu werden, ein Anrecht darauf, die großen Zusammenhänge, die offenkundig auf der Hand liegen, zu deren Ausweis es keinerlei Konstruktionen bedarf, von seinem Lehrer zu erfahren? Ist es nicht dringend notwendig, den Schüler der Volks-und Realschulen immer wieder darauf hinzuweisen, wie er in einem lebendigen Zusammenhänge von Früher und Heute steht und wie sich Entscheidungen seiner Vorfahren nicht nur im Einzelnen, sondern auch in Gruppen und Gemeinschaften, auf seine eigene Gegenwart auswirken und wie wiederum die Taten seiner eigenen Generation die nachfolgenden prägen werden?

Wer in der wirklich bedrängenden politischen Herausforderung unserer Tage auf eine so gründliche Unterrichtung der Volksschüler als Vorbereitung auf spätere politische Urteilsbildung in der Schule verzichtet, wer nicht dazu das zur Orientierung dienende Rüstzeug aus der Geschichte mitgibt, wird sich nicht wundern können, wenn das so entstandene Vakuum später durch demagogische Propagandisten und Vereinfachet auf ihre Weise ausgefüllt wird!

Politik und Zeitgeschichte

AUS DEM INHALT. DERNÄCHSTEN BEILAGEN:

Oskar Anweiler: „Gesellschaftliche Probleme der sowjetischen Erziehung"

Indira Gandhi: „Indien heute"

Hans Friedrich Reck: „Die indischen Parteien"

Karl C. Thalheim: „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft"

Josef Wulf: „Dr. Hans Frank"

Egmont Zechlin: „Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche (IV. Teil)

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. dazu meine Schrift: Nietzsches Geschichtsauffassung, Würzburg 1937 und vor allem meinen m Kürze erscheinenden Vortrag über: Geschichte und Glaubenszeugnis, in: Wissenschaft und Glauhenszeugnis.

  2. In: Christ und Welt. Nr. 25/XIII vom 16. Juni 1960.

  3. Mit der Fragwürdigkeit dieser methodischen Begriffe für den Geschichtsunterricht habe ich mich kritisch auseinandergesetzt in meiner Schrift: Geschichtsunterricht in der Volksschule. Harms Päd. Reihe Hrsg, von Rudolf Renard H 23 Atlantik Vig. Frkft 1960.

  4. über die verschiedenen Aspekte des Begriffs „Geschichtsbild“ vgl. jetzt: Schlegel, Wolfgang:

  5. Dazu jetzt auch meinen eigenen Beitrag zu diesem Thema: . Die preußisch-deutsche Geschichte der letzten 100 Jahre als politisch-pädagogisches Problem", in: Beilage zum . Parlament'vom 7. Juni

  6. Wittram, Reinhard: Das Interesse an der Geschichte. Göttingen 1958, S. 135 f.

  7. Vgl. Weniger, Erich: Die Grundlagen des Geschichtsunterrichts Leipzig 1926.

  8. Becker, Edeltraud: Beiträge zur Geschichte des Geschichtsunterrichts an der Volksschule. Historisches Seminar der Päd. Hochschule Kaiserslautern 1960 (Masch.) Dort auch die Belege für die hier angeführten Zitate.

  9. In: Didaktische Voraussetzungen der Methode in der Schule Weinheim 1960, S. 38.

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