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Stalin und China | APuZ 32/1961 | bpb.de

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APuZ 32/1961 Stalin und China Chruschtschow und China

Stalin und China

George F. Kennan

In der Geschichte der Asienpolitik Rußlands gibt es ein bleibendes Element, das sich im Laufe der Entwicklung mit großer Deutlichkeit in überzeugender Weise abzeichnet: die zwingende geopolitische Notwendigkeit, diejenigen Gebiete Asiens, wie die Mandschurei, die äußere Mongolei und Sinkiang, die sich an die ostasiatische Grenze Rußlands angliedern, vor Fremdherrschaft und dem Eindringen feindlicher Kräfte zu schützen. Jahrzehntelang war die zaristische Regierung von dieser Aufgabe weithin in Anspruch genommen. In der Zeit vor dem Bau der großen asiatischen Eisenbahnwege und der Epoche, in der China und Korea sich dem Eindringen fremder Mächte öffneten, hatte diese Aufgabe für das zaristische Rußland einen weniger dringenden Charakter. Jedoch am Ende des 19. Jahrhunderts erleichterte die Entwicklung der modernen Transporttechnik und der Bau neuer Verkehrswege die Ausdehnung der Einflußsphäre der Großmächte in bisher unberührte oder weniger berührte Gebiete. Im Zuge dieser Entwicklung und gleichzeitig mit der Besiedlung Sibiriens wurden nun die asiatischen Grenzen für Rußland zu einem besonderen Problem und zwar weit mehr als dies bisher der Fall gewesen war.

Es wäre irrig, anzunehmen, daß das Interesse Rußlands an diesen asiatischen Grenzgebieten nur als eine Reaktion auf den Imperialismus der anderen Großmächte aufzufassen ist. Man kann mit gutem Grunde auch die gegenteilige Auffassung vertreten. Der Bau der transsibirischen Eisenbahnen in der zaristischen Zeit, insbesondere mit dem durch die Mandschurei führenden Zweig, bedeutete damals zweifellos für die übrigen Mächte einen Ansporn zu erhöhter Aktivität im fernöstlichen Raum. Die übrigen Mächte fürchteten damals eine russische Expansion nach China hin in dem gleichen Maße wie Rußland Befürchtungen über eine Ausdeh-nung des Einflusses der übrigen Großmächte in China hegte.

Tatsache ist nun (eine Tatsache, die in den heutigen Tagen verkannt wird, wo jeder gerne sich als guter Anti-Imperialist zeigen will), daß der Prozeß der imperialistischen Expansion sich im 19. Jahrhundert in einer hochgespannten Atmosphäre widerstreitender Interessen vollzog. Ein Verzicht auf imperialistische Ausdehnung bedeutete damals noch keineswegs, daß das betreffende Kolonialgebiet nun nicht das Opfer des Imperialismus sein würde. Die Alternative zu der Errichtung der amerikanischen Herrschaft auf den Philippinen war z. B. damals keineswegs eine freie und fortschrittliche Philippinische Republik: Die Alternative war die spanische oder deutsche oder japanische Herrschaft. Es konnte damals vom Standpunkt der amerikanischen Interessen aus durchaus die Möglichkeit erörtert werden, von der Errichtung der Herrschaft auf den Philippinen Abstand zu nehmen. Aber eine solche Enthaltung wurde keineswegs vom Standpunkt der Interessen der Philippinos erörtert. Der gleiche Vorgang vollzog sich damals in den weiten, unterentwickelten, politisch noch nicht erfaßten Gebieten, die zwischen Rußland und China lagen.

Leere Versprechungen nach der Oktoberrevolution

In der Periode unmittelbar nach der kommunistischen Oktober-Revolution von 1917 legten die neuen sowjetrussischen Führer großen Wert darauf, in der Öffentlichkeit die frühere zaristische Hegemonie in den asiatischen Grenzgebieten als imperialistisch zu verurteilen. Sie versprachen damals dem chinesischen Volk, daß Sowjet-Rußland nie und niemals die gleichen Wege wie ehedem wandeln würde. In den Jahren 1919 und 1920 erließ die Moskauer Regierung eine geharnischte Proklamation, in der sie die ungleichen Verträge zwischen Rußland und China, die in der zaristischen Zeit zwischen den beiden Staaten abgeschlossen waren, aufs schärfste verurteilte, auf alle aus diesen Verträgen resultierenden Privilegien und Rechte verzichtete und die Verpflichtung übernahm, in Zukunft mit dem chinesischen Volk auf der Grundlage der völligen Gleichberechtigung zusammenzuarbeiten. In diesem Anfangsstadium der neuen chinesisch-russischen Beziehungen umfaßten die russischen Versprechungen die Übergabe der ostchinesischen Eisenbahnen, die noch vor dem Ersten Weltkrieg Eigentum des Russischen Staates waren, an China.

Dieses Versprechen wurde zu einem Zeitpunkt abgegeben, als der russische Bürgerkrieg 1919 auf dem Gipfelpunkt der inneren Kämpfe angelangt war. Damals war es für die Sowjetunion von lebenswichtiger Bedeutung, die Chinesen davon abzuhalten, dem Admiral Koltschak (dem militärischen Führer der antikommunistischen „weißen“, in Sibirien operierenden Truppen) Hilfe und Unterstützung zu gewähren. AIs jedoch Koltschak besiegt war, änderte sich das Denken der Sowjetführer. Die chinesischen Behörden in Nord-China und in der Mandschurei wurden von den Sowjets als Marionetten in der Hand Japans erklärt. Die Russen stellten die Frage, ob es in Wahrheit richtig sei, die ostasiatischen Eisenbahnen den Japanern zu übergeben. Ihre Antwort war ein eindeutiges Nein. Die Russen verneinten in aller Form, daß ein derartiges Angebot in der erwähnten ursprünglichen Proklamation enthalten war und proklamierten nun ihrerseits eine Politik, in deren Folge die ostasiatischen Eisenbahnen bis zum Jahre 1935 in der Hand der Sowjets blieben. Es waren dann die Japaner und nicht die Chinesen, die die Russen zwangen, ihre Eisenbahnen zu verkaufen.

Es erscheint hier zweckmäßig, daran zu erinnern, daß im Verlaufe der ganzen Periode zwischen den zwei Weltkriegen das schwerste Problem für die Außenpolitik der Sowjets im Fernen Osten das japanische Eindringen in die Mandschurei darstellte — ein Phänomen, das sich nur durch die außerordentliche Schwäche Rußlands in der Periode der Revolution erklären läßt. Die Sowjets hatten damals nur den einen dringenden Wunsch, den Einfluß Japans aus dem Gebiet der Mandschurei auszuschalten. Die Sowjetunion war jedoch in der Zeit der zwanziger und dreißiger Jahre viel zu schwach, um sich anders als rein defensiv verhalten zu können. Die Hauptsorge Moskaus war damals — das höchste, was es hoffen konnte zu erreichen — Japan daran zu hindern, noch weiter in der Mandschurei vorzudringen und womöglich noch auf sowjetrussisches Gebiet überzugreifen.

Erneute Festsetzung in der Äusseren Mongolei

Im Gebiet der Äußeren Mongolei herrschte eine andere Lage vor. Diese gewaltige Region, die in den Jahren vor der russischen Revolution ein russisches Protektorat bildete, war in früheren Zeiten integrierender Teil Chinas. Eigentlich hätten die russischen Kommunisten als gute Anti-Imperialisten dieses Gebiet den Chinesen überlassen sollen. China verfügte damals jedoch nicht über die Macht, dieses Gebiet zu verwalten und zu schützen. Als die antibolschewistischen Kräfte im Zuge des russischen Bürgerkrieges aus Sibirien vertrieben waren, suchten einige ihrer Führer Zuflucht in der Äußeren Mongolei, terrorisierten dort die Einwohner durch Banden ihrer blutdürstigen Gefolgschaft und benutzten dieses Territorium als Basis für antibolschewistische militärische Aktivität.

Diese Situation barg nun erhebliche Gefahren für Moskau in sich. Die einzige Verbindung zwischen Moskau und den russischen Gebieten im Fernen Osten bestand in der Transsibirischen Eisenbahn, die in einer Länge von 5000 Meilen wie ein schmales Band Moskau mit den Sowjet-interessen des Fernen Ostens verbindet. Die Äußere Mongolei liegt nun an einem verwundbaren Teil dieser Linie, dort, wo der Eisenbahn-weg nach Süden zum Baikal-See abzweigt. Fehlende Aktivität hätte damals nichts anderes bedeutet als eine Aufforderung an die Japaner, dieses Gebiet zu durchdringen und zu beherrschen und zwar in enger Zusammenarbeit mit den antibolschewistischen russischen Kräften. Damit wäre für die Sowjetunion eine besonders gefahrvolle Lage entstanden, da gerade der westlich vom Baikal gelegene Teil Sibiriens eine ausgedehnte mongolische Bevölkerung aufweist. Sollten die Mongolen weiter unter japanischem und weißrussischem Einfluß bleiben, so hätte dies eine Quelle der Unzufriedenheit innerhalb der mongolischen Bevölkerung Sibiriens werden können.

Unter dem Drude dieser Lage handelten die russischen Kommunisten nach bester asiatischer Tradition. Sie schufen in der Äußeren Mongolei eine Marionettenregierung, veranlaßten diese, in Moskau um militärische Hilfe nachzusuchen, griffen darauf militärisch ein und stellten tatsächlich in der Wirkung wieder das alte zaristische Protektorat in der Mongolei her — eine Regelung, die bis auf den heutigen Tag in Kraft ist.

Diese Entwicklung der Lage im Fernen Osten hat naturgemäß nichts mit Demokratie zu tun. Für die Amerikaner ist es manchmal hart, zu begreifen, daß es eine politische Situation geben kann, bei der es nicht um die Demokratie geht. Die Motive, die damals die sowjetrussische Aktion im Fernen Osten auslösten, waren genau die gleichen, die die zaristische Regierung veranlaßt hatten, in die ostsibirischen Gebiete vorzudringen. Es ist erforderlich, sich über diese Entwicklung Klarheit zu verschaffen und zu begreifen, wie zwingend und unvermeidbar die Erwägungen geopolitischen Charakters sind, die die russische Politik vor und nach der Oktober-Revolution bestimmen. Der Hintergrund dieser geopolitischen Notwendigkeiten bildete damals die Schwäche des chinesischen Volkes. Aus der Schwäche Chinas heraus ist der ganze Komplex der ostasiatischen Vorgänge dieser ersten Epoche zu begreifen. Das Bestehen eines star-ken Chinas entzieht einer solchen Politik, wie sie damals verfolgt wurde, den Boden. Daß heute die ostchinesische und die nordmandschurische Eisenbahn von China kontrolliert werden, ist lediglich der Ausdruck der neuen Stärke des chinesischen Staates. Es wird nun interessant sein, zu verfolgen, wie lange noch Sowjetrußland fähig sein wird, die russische hegemoniale Stellung in der Äußeren Mongolei aufrecht zu erhalten — jetzt, wo die Alternative nicht mehr in der japanischen Rivalität, sondern in der neu-gewonnenen Machtstellung Chinas liegt.

Bis hierher wurde nun lediglich die defensive Seite der sowjetrussischen Fern-Ost-Politik behandelt und zwar mit bezug auf die asiatischen Grenzgebiete. Es entsteht damit jetzt die folgende Frage: Welches wird in Zukunft die Politik der Sowjetunion im gesamten ostasiatischen Raum sein, insbesondere in bezug auf China und die übrigen Staaten des asiatischen Festlandes? In Europa ist die Antwort auf diese Frage eindeutig ausgefallen. Im Jahre 1921 ging von der Sowjetunion der Versuch aus, in den übrigen europäischen Staaten kommunistische Revolutionen zu entfachen. Darauf folgte ein weiterer Versuch, die Wirtschaftskräfte der großen europäischen Staaten im Interesse der physischen Stärkung des Sowjetstaates nutzbar zu machen.

Aber was war nun das Ziel der sowjetrussischen Politik im Verhältnis zu einem Staat von der Ausdehnung wie China — ein Staat, in dem all die klassischen Voraussetzungen für den Ausbruch einer Revolution im marxistischen Sinn fehlen, und der wirtschaftlich damals so schwach war, daß von einer Hilfe und Unterstützung für die wirtschaftliche Entwicklung Rußlands nicht die Rede sein konnte?

zwischen Konflikt sozialistischer Revolution und nationaler Befreiung

Die Politik der Sowjetregierung war damals durch eine Frage in Verwirrung geraten, auf die bis auf den heutigen Tag eine Antwort nicht gefunden werden konnte. Es handelt sich hierbei um den Konflikt zwischen den Zielen der sozialistischen Revolution und der nationalen Befreiung.

Nach den marxistischen Auffassungen gibt es Menschen, die nicht im Besitz der Produktionsmittel sind und die für die Eigentümer der Produktionsmittel arbeiten. Diese Menschengruppe sind die Arbeiter. Der Arbeiter wird nach der marxistischen Lehre ausgebeutet. Da er kein Eigentum besitzt, ist er in sozialer und politischer Hinsicht ein reiner Mensch, erfüllt von edlen und aufbauenden Impulsen. Man muß also für den Arbeiter und gegen den Kapitalisten, der den Arbeiter ausbeutet, auftreten.

Soweit ist dies alles nun klar. Jedoch taucht in dem marxistischen Denkschema eine neue Gruppe auf: die Imperialisten.

Nehmen wir folgenden Fall an: Das Land A ist reich und hoch industrialisiert. Das Land B ist schwach und unterentwickelt. Das Land A beherrscht wirtschaftlich das Land B, baut auf dessen Gebiet Industrien auf, beutet seine Rohmaterialien aus, nützt die billige Arbeitskraft aus — mit einem Wort, das Land A beutet das Land B aus. Das ist nun Imperialismus, und ein jeder guter Marxist ist selbstverständlich gegen den Imperialismus, somit für das Land B und gegen das Land A.

Hier muß ein Augenblick der Überlegung eingeschaltet werden. Das Land B, für das nun jeder Marxist eintritt, besteht zufälligerweise nicht allein aus unterdrückten Arbeitern, die in den von den Kapitalisten des LandesAbeherrschten Werkstätten schmachten. Diese Arbeiter bilden nun der tatsächlichen Lage nach lediglich einen bedeutungslosen Teil der gesamten Bevölkerung. Sie sind zahlenmäßig viel zu gering, um eine Massenbewegung in Gang setzen zu können. Trotz des allgemeinen Zustandes der Unterentwicklung zeigt doch die Bevölkerung dieses Staates B eine soziale Gliederung, die nun keineswegs unähnlich zu der Struktur der imperialistischen Macht ist. Es gibt Menschen in diesem Staat, die über Besitz verfügen, und es gibt Menschen, die für andere arbeiten. Wenn dieses Volk nun mit den Augen eines Marxisten betrachtet wird, so zeigen sich all die bekannten Züge einer marxistischen Landschaft: reiche Bauern, arme Bauern, Grundbesitzer, Bourgeoisie, Arbeiter, Kapitalisten, schaffende Intelligenz, nicht schaffende Intelligenz, feudale Reaktionäre — mit einem Wort, eine vielgliedrige Gesellschaftsordnung.

Es erhebt sich nun die erste Frage, ob man für alles, was in diesem Staate besteht, eintreten kann, wenn man sich fürdiesenStaat B im Namen des Anti-Imperialismus erklärt. Mit anderen Worten erklärt man sich damit gleichzeitig auch für die Bourgeoisie dieses Staates, für die dortigen Kapitalisten und die Lakeien des Kapitalismus, für die nicht schaffende Intelligenz wie auch für die reaktionären militaristischen Cliquen. Wie läßt sich eine solche Haltung mit der marxistischen Doktrin vereinbaren, insbesondere wenn es sich tatsächlich erweist, daß die in diesem Staate B betriebene Ausbeutung einer Klasse von Menschen durch die andere Klasse keinesfalls weniger den Charakter von Unterdrückung trägt, vielleicht sogar noch mehr als die Ausbeutung, die von ausländischen Kapitalisten betrieben wird? Und was ist nun im einzelnen zu tun, wenn weiter ersichtlich wird, daß gerade diejenigen Menschen, die lokalen Ausbeuter, zugleich Herz und Seele der anti-imperialistischen Bewegung, der Bewegung für die nationale Befreiung darstellen? Sollen somit diese Menschen im Namen des Kampfes gegen den Imperialismus unterstützt werden oder soll man sie im Namen des Kampfes gegen den Kapitalismus bekämpfen?

Dies ist nun gerade der Konflikt, in dem sich die Sowjetpolitik in China in der Periode zwischen den zwei Weltkriegen, besonders in den Jahren 1923— 1927 befand. Es liegt hier übrigens das gleiche Problem vor, mit dem es jetzt die Sowjetpolitiker in Ägypten und im Irak zu tun haben und mit dem sie sich vielleicht morgen in Kuba auseinandersetzen müssen.

Im Fall China haben die Russen niemals eine wahrhaft befriedigende realistische Antwort auf die oben dargelegte Frage gefunden, obwohl endlose Variationen zur Beantwortung der Frage vorgeschlagen und geprüft wurden. Beide Ziele, die Niederlage des internationalen Imperialismus wie die Niederlage des einheimischen Kapitalismus erschienen den Kommunisten so lebenswichtig, lagen ihnen sosehr am Herzen, daß es ihnen nicht möglich wurde, eines dieser Ziele aufzugeben. Es war daher in dieser Nachkriegsepoche für jedermann in Moskau deutlich erkennbar, daß es den Sowjetführern trotz des offensichtlichen Widerstreits zwischen diesen beiden Zielen nicht gelungen war, beide Ziele gleichzeitig zu verfolgen. Dennoch sind hier Unterschiede der Auffassung feststellbar. Die Bemühung der Sowjets um die Arbeiterschaft bildet einen endgültigen, dauerhaften Faktor der Sowjetpolitik. Die Arbeiterschaft muß unter allen Umständen für den Kommunismus gewonnen werden. Die anti-imperialistischen bourgeoisen Kräfte müssen auf der anderen Seite zwar zeitweilig geduldet werden, solange sie noch ihre Aufgabe erfüllen, um sodann zerstört zu werden oder um, nach Stalins Worten, wie eine ausgemergelte Mähre beiseite geworfen zu werden.

Hierüber bestand nun allgemeine Überein-stimmung. Lenin hatte erklärt, daß die Arbeiter in solchen bourgeois geleiteten Staaten eine zeitweilige Allianz mit den bürgerlichen Bewegungen der nationalen Befreiung eingehen sollten. Jedoch hatte Lenin ausdrücklich festgelegt, daß die Arbeiterschaft nicht in der bürgerlichen Bewegung aufgehen dürfe. Die Arbeiterschaft dürfe ihre eigene organisatorische Identität nicht aufgeben. Sie müsse ihre eigene Unabhängigkeit sich vollauf bewahren, um die politische Kraft ihrer bürgerlichen Alliierten unterminieren zu können. Die Arbeiterschaft sollte aas Bürgertum als ein Instrument im Kampfe gegen die ausländischen Imperialisten ausnützen, um sodann das Bürgertum im geeigneten Moment zerstören zu können. Über diese grundsätzlichen Richtlinien ist Lenin nicht hinausgegangen. Seine Nachfolger standen vor der schwierigen Aufgabe, diese vagen und widerspruchsvollen Vorschriften in die Praxis umsetzen zu müssen.

Sowjetische Unterstützung der Kuomintang

In den frühen zwanziger Jahren gab es in China viele Kraftzentren. Die Beziehungen zwischen diesen einzelnen Zentren waren durch Rivalität und Feindschaft gekennzeichnet. Von Zeit zu Zeit wurde der Kampf zwischen diesen einzelnen Kraftzentren durch vorübergehende, wenig stabile Allianzen gemildert, die ihrerseits durch ein Höchstmaß von kämpferischem Einsatz und einem Mindestmaß von gutem Glauben gekennzeichnet waren.

Unter diesen verschiedenen Machtzentren Chinas zeichneten sich in den frühen zwanziger Jahren zwei Zentren, vom Moskauer Standpunkt aus gesehen als besonders bedeutungsvoll ab. Das eine dieser Zentren war Peking. Dort herrschte auf Grund gegenseitiger Duldung und kurzfristiger Vereinbarungen mit den lokalen kriegführenden Generälen eine Autorität, die sich selbst als die Regierung von China bezeichnete und als solche von den übrigen Mächten anerkannt wurde.

Das andere Zentrum der Macht China lag in Kanton, im Süden. Dort herrschte auch auf Grund von Vereinbarungen mit den örtlichen Kriegsgenerälen die von Sun Yat-sen geführte Kuomintang-Bewegung. Die Sowjetführer suchten in ihrer bekannten Vorliebe, möglichst immer gleichzeitig zwei Fäden in der Hand zu halten, mit beiden Gruppierungen ihr Spiel zu treiben. In den Jahren von 1921— 1925 suchte die Moskauer Regierung die Anerkennung des neuen Sowjetregimes durch Peking und bemühte sich, normale Beziehungen zu Peking herzustellen. Das war keineswegs einfach. Die Chinesen sind stets äußerst zurückhaltend, wenn es darum geht, eine vertragliche Vereinbarung aufzugeben, selbst dann, wenn schon seit langem dieses Papier seine Bedeutung verloren hat. Sie waren daher in der Frage der ostchinesischen Eisenbahnen und der Äußeren Mongolei außerordentlich widerspenstig. In dieser Situation war die von England im Jahre 1924 vorgenommene Anerkennung der Sowjetregierung durchaus hilfreich. Im gleichen Jahre wurden diplomatische Beziehungen zwischen Moskau und Peking hergestellt und zwar in einer solchen Weise, daß das „Gesicht“ Chinas gewahrt blieb, während den Russen eine echte Kontrolle über die Eisenbahnen eingeräumt wurde.

Die diplomatischen Beziehungen zu Peking waren für Moskau in begrenztem Ausmaße solange wertvoll, als sie nun bestanden. Sie stellten einen Beitrag zu dem Prestige Moskaus dar.

Der Sowjetregierung bot sich damit die Möglichkeit, einen ständigen Beobachtungsposten in China zu unterhalten sowie in der Frage der auswärtigen Beziehungen Chinas mitreden zu können. Die Moskauer Regierung betrachtete jedoch damals die chinesischen Gruppen, die hinter der Pekinger Regierung standen, weitgehend als reaktionäre Kollaborateure und Alliierte des westlichen Imperialismus und somit von nur geringem Nutzen für die Sache des Anti-Imperialismus. Dagegen war die von Sun Yat-sen geleitete Bewegung, die ausgesprochen nationalistisch und gleichzeitig sozial progressiv ausgerichtet war, von großem Interesse als ein mögliches Instrument der sowjetrussischen Einflußnahme. Als Ergebnis aller dieser Erwägungen wurde im Jahre 1923 ein mit weitgehender Machtfülle ausgestatteter Sowjetberater, Michael Borodin, nach China an den Hof Sun Yatsens entsandt. Unter Leitung von Borodin wurde diese an sich nur lose zusammengefügte politische Bewegung, die den Namen Kuomintang erhielt, zu einer einigermaßen festgeschlossenen militärischen Organisation zusammengefaßt und nach der Struktur der russischen Kommunistischen Partei aufgebaut. Jedoch hatte diese Bewegung, wie Moskau klar erkannte, eine durchaus andersartige ideologische Ausrichtung und politische Bedeutung als die Kommunistische Partei.

Geringe Einschätzung der chinesischen Kommunisten

Außer den nicht-kommunistischen politischen Gruppierungen bestand damals ferner noch die chinesische Kommunistische Partei. Diese Partei war erst im Jahre 1920 gegründet worden und zwar von einer Gruppe chinesischer Intellektueller. In der Mitte der zwanziger Jahre hatten diese chinesischen Kommunisten einen gewissen Grad von ideologischer Einheit erreicht. Jedoch blieb die Partei weiter schwach, ohne Unterstützung der Massen. Die Mitglieder der chinesischen Kommunistischen Partei anerkannten vollauf die Führerstellung Moskaus und unterwarfen sich der Disziplin der Komintern. Aus diesem Grunde war es der Moskauer Parteileitung nicht möglich, die Verantwortung für das politische Schicksal dieser Partei von sich zu weisen. Stalin jedoch war seinem Temperament nach weit mehr daran interessiert, die Austreibung der Imperialisten aus China zu erreichen, statt eine baldige kommunistische Revolution in China auszulösen. Stalin beurteilte die chinesischen Kommunisten in erster Linie vom Standpunkt ihres Nutzens für den potentiellen Kampf gegen den Imperialismus. Im Hinblick auf den Mangel einer Massenunterstützung und die militärische Hilflosigkeit schätzte Stalin den Nutzen der chinesischen Kommunisten keineswegs sehr hoch ein.

Das Ergebnis dieser Entwicklung war nun, daß die chinesischen Kommunisten von Moskau die Instruktion erhielten — und zwar bevor noch der neue Ratgeber Borodin in Kanton eingetroffen war — in die Reihen der Kuomintang-Bewegung einzutreten, eindeutig nach außen sich mit dieser Bewegung zu verbinden, dabei jedoch gleichzeitig im geheimen den eigenen organisatorischen Aufbau, die eigene Disziplin und die eigenen Beziehungen der Unterwerfung unter die Komintern aufrechtzuerhalten. Von dieser heiklen und zwiespältigen Position aus innerhalb der Kuomintang war es nun die Aufgabe der chinesischen Kommunisten, die Kuomintang-Bewegung in ihrem anti-imperialistischen Kampf zu stärken, jedoch gleichzeitig dabei in den Kuomintang-Aufbau der Bewegung einzudringen, dort den maßgeblichen Einfluß zu gewinnen und damit sich die Position zu sichern, von der gegebenenfalls die Kuomintang-Bewegung als ein Instrument der kommunistischen Machtergreifung in China ausgenützt werden könnte. Moskau hoffte auf diesem Wege, mit einem Steinwurf gleichzeitig die beiden Vögel, den internationalen Imperialismus und den chinesischen Kapitalismus töten zu können. Der von Moskau nach China zur Kuomintang als Ratgeber entsandte Emissär Borodin sollte -die ses äußerst heikle und widerspruchsvolle Unternehmen leiten.

Zunächst zeigte sich, daß die Aufforderung an die chinesischen Kommunisten, sich in die Kuomintang-Bewegung einzugliedern und mit ihr zu verschmelzen, tatsächlich eine Verletzung der von Lenin aufgestellten Richtlinien war, nach der die kommunistischen Parteien trotz ihrer Mithilfe im Kampf um die nationale Be-freiung der Völker ihre eigene politische Identität aufrechterhalten sollten. Diese Anweisung Lenins wurde nun in der Weise ausgelegt, daß Lenin selber diese Regel durchbrochen habe, indem er die britischen Kommunisten aufforderte, in der britischen Labour-Party aufzugehen mit dem Ziel, diese Partei von innen aus auszuhöhlen, um sie dann zu zerstören. Diese Interpretation der von Lenin aufgestellten Regel, die alle nationalen Unterschiede außer acht läßt, ist eine gute Illustration einerseits für den geradezu sakralen Offenbarungscharakter, der den Worten Lenins beigemessen wurde, wie andererseits für die schematische und undifferenzierte Art, in der die Nachfolger Lenins versuchten, die Richtlinien Lenins neuen, aus dem Tag geborenen Situationen anzupassen.

Sun Yat-sen starb ein Jahr nach Lenin im Jahre 1925. Sein Tod riß eine schwere Lücke in der Führungsschicht der Kuomintang-Bewegung und verlieh dem Moskauer Ratgeber erhöhte Bedeutung. Von diesem Zeitpunkt an fiel nun die Last den Nachfolgern Lenins in Moskau, insbesondere Stalin zu, die politischen Richtlinien der Kuomintang-Politik festzusetzen und die Beziehungen zwischen der Kuomintang und den chinesischen Kommunisten zu regeln. Stalin genoß damals bereits ein Ansehen, das zwar gerade auf dem Felde der Außenpolitik von einigen seiner Umgebung angefochten wurde, die jedoch über das Ansehen der einzelnen maßgebenden Parteiangehörigen weit hinausging. Zu dieser Zeit hegte Stalin unverhohlen ernste Befürchtungen über die britische Politik in China, insbesondere hinsichtlich der Möglichkeit eines weiteren britischen Eindringens in das chinesische Territorium. Es ist nachträglich schwierig, zu beurteilen, wie weit die von Stalin öfters geäußerten Besorgnisse hinsichtlich der britischen China-Politik ehrlich oder nur vorgetäuscht waren. In den Jahren 1926/1927 war die Befürchtung Stalins über eine britische Intervention in China durchaus echter Natur. Seine politischen Berechnungen waren zu diesem Zeitpunkt nicht unwesentlich von den Rückschlägen in der Beziehung der Sowjetunion zu China sowie der Belastung des russisch-deutschen Verhältnisses durch das „rapprochement“, das sich Mitte der zwanziger Jahre zwischen Deutschland und den Westmächten anbahnte, belastet. Alle diese Ereignisse genügten, damit in dem argwöhnischen Geist Stalins das typische Schreckgespenst der sowjetrussischen Vorstellungswelt — eine Anti-Sowjet-Koalition der Westmächte einschließlich Deutschland unter britischer Führerschaft — konkrete Formen annahm.

Verkennung der Absichten Chiang Kai-sheks

Vermutlich waren es derartige Erwägungen, die Stalin veranlaßt hatten, eine besondere Bedeutung den anti-imperialistischen Auswirkungen der Kuomintang-Bewegung beizumessen —, im Vergleich zu den weit mehr innenpolitisch ausgerichteten Kräften der chinesischen Kommunisten, auf deren Unterordnung und Eingliederung in die Kuomintang Stalin damals nach wie vor bestand. Derartige Erwägungen erklären die besondere Bedeutung, die seitens Moskau der Bildung einer regulären Kuomintang-Bewegung beigemessen wurde. Moskau zeigte bei dem fortgesetzten Druck auf die Kuomintang zur Bildung eigener militärischer Streitkräfte kein besonderes Interesse an der sozia’en Herkunft des Offizierskorps, das für diesen Zweck ausgesucht und ausgebildet wurde. Die Moskauer Regierung war damals weit mehr an der militärischen Leistungskraft und der Möglichkeit eines wirksamen Einsatzes dieser neuen Truppe gegen die imperialistischen Mächte interessiert. Bei diesen Erwägungen war Stalin ohne Zweifel durch den Erfolg Trotzkis irregeleitet worden, dem es während des Russischen Bürgerkrieges der ersten Nachkriegszeit gelungen war, Männer des zaristischen Offizierskorps für die kommunistische Sache zu gewinnen, selbst wenn diese Offiziere nur wenig Sympathien für die Grundsätze des Kommunismus empfanden. Jedenfalls war damals der Appell an die früher zaristischen Offiziere in Ausnützung ihrer patriotischen Verpflichtung durchaus erfolgreich gewesen. Stalin fragte sich daher damals, warum nicht das gleiche auch im Fall Chinas getan werden könne Das Ergebnis dieser Betrachtungsweise war, daß ein junger, viel-versprechender chinesischer Offizier, der den Namen Chiang Kai-shek trug, zur militärischen Ausbildung nach Moskau gebracht und sodann nach Kanton zurückgesandt wurde mit dem Auftrag, dort die Leitung der neuen Militärakademie zu übernehmen, die seitdem unter dem Namen Whampoa-Militär-Akademie bekannt-geworden ist.

Damit war die Voraussetzung für die kommende Katastrophe gelegt worden. Sobald die Kuomintang-Armee gebildet und zu einer ernsten Wirklichkeit geworden war, machte Chiang Kai-shek durch eine Reihe brutaler und höchst anfechtbarer Maßnahmen sich selbst nicht nur zum Höchstkommandierenden der Kuomintang-Armee, sondern darüber hinaus auch zum wahren Herrscher und Leiter der gesamten Bewegung. Nach Erreichung dieses Ziels ergriff Chiang Kaishek in den Beziehungen zu den chinesischen Kommunisten eine Reihe von Maßnahmen, die mit wachsender Deutlichkeit zeigten, daß eine dauerhafte Unterordnung der Kommunisten unter die Kuomintang-Führung nicht nur das persönliche, sondern auch das politische Ende des chinesischen Kommunismus zur Folge haben würde. In dieser Zeit gingen wiederholt ernsthafte Warnungen nach Moskau, daß Chiang Kai-shek eine unfreundliche, drohende Haltung zum Kommunismus einnehme. Die Kommunisten schlugen in Moskau vor, unverzüglich ihre Unterordnung unter die Kuomintang-Führung aufzuheben und baten um Erlaubnis sich aus dieser gefährlichen Beziehung herauslösen zu dürfen und zwar solange es noch nicht zu spät sei. Diese Nachrichten aus dem Fernen Osten führten in Moskau zu scharfen Auseinandersetzungen innerhalb der kommunistischen politischen Führung. Stalin hielt hartnäckig an der bisher bezogenen Linie fest. Er ließ den chinesischen Kommunisten mitteilen, daß der Kommunismus auch weiterhin mit der Kuomintang-Bewegung zusammenzuarbeiten habe. Er ließ keinen Zweifel darüber offen, daß ein „Verrat an Chiang Kai-shek in Moskau unter keinen Umständen geduldet werden könne“.

Im Spätherbst des Jahres 1926 wurde trotz der wachsend sichtbar werdenden Spannungen und Gegensätze im Kuomintang-Lager der Beschluß gefaßt, eine militärische Expedition in dem Gebiet nördlich vom Yangtse in Gang zu setzen mit dem Ziele, die Einflußsphäre der Kuomintang-Bewegung in nördlicher Richtung auszudehnen.

Diese Expedition führte auf militärischem Gebiet zu einem Erfolg, auf der politischen Ebene jedoch zu erheblichen politischen Meinungsverschiedenheiten. Die Kuomintang-Bewegung spaltete sich. Ein Teil der Armee marschierte unter der Führung von Chiang Kai-shek in der Richtung auf Shanghai und die gemäß den internationalen Verträgen von den Kolonialmächten beherrschten Häfen zu mit dem eindeutigen Ziel, die Kontrolle über diese reichen und machtvollen Plätze an sich zu reißen. Der andere Teil der Armee, der unter der Führung des liberalen Flügels der Kuomintang-Bewegung stand, erreichte die Wuhan-Häfen flußaufwärts. Dieser Teil der Armee geriet in zunehmendem Maße unter den Einfluß nicht-kommunistischer und anti-kommunistischer Generäle.

Ein schwerer Prestigeverlust Moskaus

Als sich nun die Truppen Chiang Kai-sheks Shanghai näherten, erhoben sich die Kommunisten in der Stadt, hierbei den Moskauer Weisungen folgend, in vollem Vertrauen auf das Bündnisverhältnis zur Kuomintang. Der Aufstand der Kommunisten in Shanghai erinnert in auffallender Übereinstimmung an den Aufstand der polnischen Patrioten in Warschau gegen die deutschen Truppen beim Herannahmen der Roten Armee im Jahre 1944. Chiang Kai-sheks Verhalten anläßlich seines Einmarsches in Shanghai ähnelt in einem solchen Maße dem Verhalten Stalins in Polen im Jahre 1944, daß die Vermutung nicht von der Hand zu weisen ist, der wenig originelle, zur Nachahmung bereite Stalin sei hierbei dem Beispiel Chiang Kaisheks vor Shanghai gefolgt.

Die Ereignisse im Fernen Osten nahmen damals den folgenden Verlauf: Chiang Kai-shek blieb mit seinen Truppen vor den Toren von Shanghai stehen und wartete in aller Ruhe den Ablauf der Kämpfe zwischen den Kommunisten und den Anti-Kuomintang-Behörden der Stadt ab. Als die Revolte mit dem Sieg der Kommunisten ihren Abschluß fand und die Anti-Kuomintang-Kräfte von den Kommunisten vernichtet waren, marschierte Chiang Kai-shek auf Einladung der Kommunisten hin mit seinen frischen, unverbrauchten Truppen in die Stadt ein. Kaum hatte er die Macht in der in die Stadt Hand bekommen, fiel er über die bis dahin mit ihm verbündeten erschöpften kommunistischen Truppen her und metzelte erbarmungslos die Kommunisten nieder. Aus diesen Kämpfen ging damals Chiang Kai-shek als der unbestrittene Herr der Lage hervor.

Dieser Verlauf der Ereignisse bedeutete für Stalins China-Politik eine harte Wendung der Lage und einen schweren Prestigeverlust für Moskau. Bittere Anklagen und rücksichtslose Untersuchungen fanden damals innerhalb der Komintern und des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei in Moskau statt. Als die Nachricht von den Vorgängen in Shanghai in Moskau eintraf, begriff man, daß Chiang Kaishek von nun an als ein Verräter und Feind des Kommunismus zu betrachten sei. Stalin vollzog damals diesen Wandel in seiner bisher eingenommenen Haltung mit dem üblichen taktischen Geschieh, jede persönliche Verantwortung für diesen Zusammenbruch der bisherigen Moskauer China-Politik von sich auf andere abzuschieben. Dennoch zögerte Stalin damals immer noch, seine Hoffnung auf die Verwendung der Kuomintang als ein nützliches Instrument der asiatischen Sowjet-Politik endgültig aufzugeben. Er bestand darauf, daß die chinesischen Kommunisten von nun an sich unter die Führung des liberal gerichteten Flügels der Kuomintang in der gleichen Weise unterstellen sollten wie dieses bisher von ihnen hinsichtlich Chiang Kaishek gefordert worden war. Dieser Teil der Kuomintang-Armee hatte damals in den Wuhan-Häfen Stellung bezogen. Dieses Unternehmen führte gleichfalls zu einem vollen Mißerfolg. Die Führer der Wuhan-Kuomintang suchten sich, wenn auch in weniger dramatischer Form, jedoch ebenso gründlich, von ihren kom-munistischen Alliierten zu befreien, ähnlich wie Chiang Kai-shek es getan hatte.

Damit war die Katastrophe der Moskauer Politik im Fernen Osten vollständig geworden. Die chinesische Kommunistische Partei war dezimiert und gezwungen, in den Untergrund zu gehen. Tatsächlich war es die Moskauer Regierung, die mangels richtiger Beurteilung der Lage die Kommunistische Partei in das Maul des Drachen hineingestoßen hatte. Um nun das „Gesicht" Stalins zu retten, wurde der Führer der Kommunistischen Partei Chinas, Chen Tuhsiu, aus der Partei ausgestoßen und ohne den Schatten eines Rechts zum Trotzkisten erklärt. Es war damals Mao-Tse-tung, der es unternahm, die in den Untergrund geflüchteten Reste der Kommunistischen Partei zu retten. Er führte sie hinweg in die ferne Zone der Nördlichen Hügel, wo sie noch für viele Jahre in Gesellschaft von Verbrechern und Desperados das harte Schicksal der Geächteten führten, bis in der Mitte der dreißiger Jahre dann der „lange Marsch“ um die Peripherie Chinas nach Norden begann und schließlich an der Grenze zwischen der chinesischen und der sowjetrussischen Macht die Grundlagen für die neue chinesische kommunistische Bewegung gelegt wurden.

Diese Entwicklung führte nun dahin, daß Ende des Jahres 1927 all die Bemühungen des Kreml, eine chinesische Bewegung der nationalen Befreiung aufzubauen und für sich auszunützen mit dem Ziele, die fremden imperialistischen Mächte aus China zu vertreiben, zu einem nicht wiedergutzumachenden Fehlschlag geführt hatten. Diese Bewegung hatte in dem Augenblick, als sie militärische Macht gewann, sich der Kontrolle Moskaus entzogen. Mit verächtlicher Rücksichtslosigkeit hatte die Kuomintang die Hand gebissen, die sie bisher gefüttert hatte. In diesem für den Kommunismus unseligen Abenteuer war tatsächlich die kommunistische Bewegung Chinas der damaligen Zeit geopfert worden, und zwar in einem solchen Grade, daß die übrig gebliebenen Reste für ein Jahrzehnt nur noch in der Gestalt einzelner, im Untergrund in den chinesischen Städten und Dörfern operierender Verschwörer oder als geringfügige Banden Geächteter in fernen Gebieten ihr Dasein fristen konnten.

Abweichung von den Grundsätzen Lenins

Was hatte sich nun tatsächlich ereignet? Welche Fehler waren hier begangen worden? Was war die Lehre dieser Katastrophe?

Die damaligen politischen Gegner Stalins — vor allem die Trotzkisten — führten die Katastrophe auf das bewußte Abweichen von den Grundsätzen Lenins zurück und klagten Stalin an, auf den schweren, von ihm begangenen taktischen Irrtümern allzu lange beharrt zu haben.

Es liegt kein Anlaß vor, sich mit dieser Auffassung im einzelnen auseinanderzusetzen noch die Meinung der marxistischen Kritiker Stalins zu teilen, daß Lenin unfehlbar sei. Als Stalin den von Lenin proklamierten vertrat, daß kommunistische Parteien eine Verschmelzung mit den nationalen Befreiungsbewegungen zulassen dürften, vertrat er diesen Standpunkt jedoch nur in begrenztem Ausmaße. Die breit aufgebauten ideologischen Theorien, hinter denen die russischen Kommunisten mit Vorliebe ihre eigentlichen Aktionen zu verbergen suchen, entsprechen nur selten der wahren Lage, mit der die Völker zu rechnen haben. Die theoretischen Auslassungen des Kommunismus werden aus Gründen der Zweckmäßigkeit regelmäßig wunschgemäß behandelt. Mit einem ge-radezu heiteren Mangel an Hemmungen hat Lenin seine eigenen Auffassungen jeweils in der Weise abgeändert, wie es ihm im jeweiligen Augenblick als nützlich erschien. Auf diese Weise bekam nach der Revolution die kommunistische Doktrin gewissermaßen eine kautschukartige Substanz, wie dieses auch heute noch für die kommunistische Ideologie kennzeichnend ist. Auf diese Weise ist es den Kommunisten möglich, in einem unbegrenzt dehnbaren Ausmaße die kommunistische Doktrin in der Weise auszulegen und anzuwenden, wie es dem kommunistischen Regime jeweils als vorteilhaft erscheint.

Es besteht kein Zweifel, daß Stalin viel zu lange in den chinesischen Angelegenheiten an einer Linie der politischen Führung festhielt, die unvermeidlich die gesamte Existenz der chinesischen Kommunistischen Partei aufs Spiel setzen mußte. Die Ursache seines Verhaltens ist vermutlich darin zu erblicken, daß der Fall China zu einer Prestige-Angelegenheit zwischen ihm und seinen Rivalen geworden war. Stalin war ein Mann, der nichts so haßte, wie zugeben zu müssen, daß er einen Fehler begangen habe. Es war keineswegs das letzte Mal, daß Stalin die Interessen ausländischer Kommunisten opferte statt zuzugeben, daß er sich geirrt habe und seine Gegner im eigenen Lager recht behalten hätten.

Wenn man den verwickelten Gang des geschichtlichen Ablaufs dieser Zeit überblickt, so sieht man, daß für die Männer in Moskau — vielleicht nicht im gleichen Ausmaße wie für Washington — China eine ferne, unverständliche, schwer erfaßbare Welt war. Der Boden Chinas war allzu trügerisch, um auf die Dauer eine ferngelenkte Kontrolle zuzulassen.

Mangelnder Sinn für Realitäten

Jedenfalls herrschte damals eine schwer beschreibbare Verwirrung, die noch dadurch verstärkt wurde, daß die russischen Kommunisten darauf bestanden, mit doktrinären Auffassungen eine Lage erklären zu wollen, die eigentlich nur mit den Maßstäben der Wirklichkeit meßbar war. Wenn man sich die Geschichte der Wirren in China während der Stalin-Epoche vor Augen hält, gewinnt man den Eindruck, daß die damaligen Ereignisse in Wahrheit selten das waren, was sie nach außen zu sein schienen oder was Moskau wünschte. Tatsächlich hatten damals die geschmeidigen Chinesen verstanden, den gesamten übernommenen Ballast des revolutionären Marxismus für sich auszunützen und damit ihre eigenen Impulse, Notwendigkeiten, Pläne, Intrigen und Möglichkeiten der verschiedenen chinesischen Gruppierungen zu verbergen — Vorgänge, die in Wirklichkeit nicht das min-deste mit der nach außen vertretenen kommunistischen Ideologie zu tun hatten.

Was sich damals in China abspielte, war schlechterdings nichts anderes als die peinliche Demonstration einer Wahrheit, die aber für den russischen Kommunismus im höchsten Grade abstoßend erscheint, mit der aber Moskau in wachsendem Maße gerade in unserer heutigen Zeit zu rechnen hat: nämlich, daß die Welt vielgestaltiger und komplexer Natur ist und daß es nicht eine einheitliche, sondern nur eine vielgestaltige Wahrheit gibt. Der Gegensatz, der Rußland, ein christianisiertes Volk, das seine Kultur von Byzanz und später von dem protestantischen Westen bekommen hat, von der orientalischen Welt Chinas trennt, ist viel zu tief, als daß er durch noch so anziehende stereotype Doktrinen des Marxismus überbrückt werden kann.

Verfrühte Aktivität Stalins

Stalin befand sich damals in seinem Kampf für die anti-imperialistische Sache Chinas und in dem Versuch, die Briten, die Japaner und die Amerikaner aus China zu vertreiben und alle ihre besonderen Privilegien und Machtstellungen zu zerstören, in einer durchaus günstigen Ausgangsposition. Die Zukunft war tatsächlich auf seiner Seite. Die Revolte der außereuropäischen Kräfte gegen Europa war bestimmt, die herrschende politische Wirklichkeit in dem mittleren Jahrzehnt dieses Jahrhunderts zu werden. Stalin hatte allen Anlaß, überzeugt zu sein, daß er der Nutznießer dieses historischen Prozesses sein würde. Die russische Oktoberrevolution war der tatsächlichen Lage nach die erste große Phase dieser Entwicklung, bedeutete die Inspirierung und Ermutigung von Millionen von Menschen, die sich danach sehnten, den europäischen Einfluß und die europäische Gegenwart von sich abzuschütteln.

Zwei Jahrzehnte später hatte Stalin das Ziel, das er im Jahre 1927 in China zu erringen suchte, tatsächlich erreicht: Die Imperialisten waren aus China bis auf den letzten Mann, das letzte Pfund Sterling, den letzten Dollar und den letzten Missionar vollständig vertrieben — aber dieses alles geschah nicht unter der Führung Stalins. Es war nicht Stalin, der nun das doppelte Ideal der nationalen Befreiung und der sozialen Revolution in China verwirklichen sollte. Dieses erreichte ein anderer. Wer war es? Warum gelang es Mao Tse-tung, dort den Erfolg zu erringen, wo Stalin versagt hatte?

Die Ursache ist in erster Linie darin zu erblicken, daß Stalins zu früh eingesetzt hatte. Es darf nicht vergessen werden, daß es nicht die Kraft marxistischer Ideen oder die politische Aktivität der Kommunisten war, die schließlich die Stellung der europäischen Mächte in Asien in der Mitte dieses Jahrhunderts endgültig vernichtete. Dieses wurde erst durch die übereinstimmende Wirkung zweier großer europäischer Kriege erreicht. Der Erste Weltkrieg hatte zwar die Stellung der europäischen Macht in China ausgehöhlt, aber es bedurfte des Zweiten Weltkrieges, um die vollständige Vernichtung der bisherigen Vormachtstellung der europäischen Mächte in China herbeizuführen. Ebenso war es dem Kommunismus gelungen, in den dreißiger und vierziger Jahren die bisherige Ordnung in Europa zu zerstören und die Hälfte Osteuropas unter seine Herrschaft zu bringen. Ohne Hitler wäre das kaum möglich gewesen. Es war Hitler, der die Widerstandskraft der Völker des europäischen Ostens zerstörte und sie schwer geschwächt dem kommunistischen Druck überließ. In ähnlicher Weise war es nun in Ost-asien nicht Moskau und letztlich auch nicht Washington, das China in die Hand der Kommunisten lieferte. Es waren die Japaner, die durch die Besetzung weiter chinesischer Gebiete die natürliche Widerstandskraft des Volkes brachen und schließlich zum Schluß des Krieges dieses Vakuum schufen, in das dann die Kommunisten eindrangen, als Chiang Kai-shek nicht mehr da war. Es ist kaum anzunehmen, daß Mao Tse-tung ohne den Zweiten Weltkrieg erfolgreich gewesen wäre.

Hätte Stalin vermocht, weitere zwanzig Jahre zu warten, so wären für ihn die Aussichten für einen Erfolg seiner chinesischen Politik besser gewesen. Dennoch erscheint es zweifelhaft, daß er letztlich den gewünschten Erfolg gehabt hätte. Die Zeit war im Jahre 1927 gegen ihn ebenso, wie der Raum gegen ihn war. Stalin hätte damit rechnen müssen, daß das Operationsgebiet 5000 Meilen entfernt lag und er für die Chinesen ein Fremder war, während Chiang Kai-shek und Mao Tse-tung Chinesen waren und sich an Ort und Stelle befanden.

Viele Amerikaner zeigten sich unfähig, die technischen Schwierigkeiten zu erkennen, die mit Operationen verbunden sind, die sich in weiter Ferne abspielen, ebenso wie die Schwierigkeit, von einem bestimmten nationalen Zentrum aus Macht auf weit entfernt liegende Zentren hin auszustrahlen. Der Ausstrahlung politischer Macht sind bestimmte Grenzen gesetzt. Es erscheint unbedingt notwendig, sich über diesen Tatbestand klar zu werden, da gerade jetzt die Furcht vor einer universalen Machtstellung Rußlands grassiert und von einer weltweiten Machteroberung des Kommunismus geredet wird, sofern nicht die freie Welt dieses oder jenes tut.

Es ist bisher noch keine magische Kraft erfunden worden, durch die große Völker gezwungen werden können, auf längere Sicht hin sich dem Willen ferngelegener Völker zu unterwerfen, mit denen keinerlei Gemeinsamkeit des Ursprungs oder des Denkens besteht. Eine solche Machtergreifung kann Bajonette durch erreicht werden. Es ist daher verständlich, daß die Machtausübung des Kreml sich gerade auf diejenigen Gebiete ausdehnt, die der Kreml mit militärischen Kräften zu beherrschen vermag, ohne daß hierbei seine rückwärtigen Verbindungswege in Gefahr sind. Der militärischen Okkupation sind geographische Grenzen gesetzt. Kolonialreiche, die weit entfernt von den nationalen Zentren geschaffen werden, können zwar zeitweilig einen Erfolg bedeuten, aber die Geschichte zeigt immer wieder seit den Tagen des Byzantinischen Reiches, daß diese Kolonialgebiete einen eigenen Willen und den Wunsch nach eigener Existenz entwickeln und damit auf die Dauer aufhören, ein handliches Instrument der Politik zu sein. Die Ausübung einer zentralisierten Macht auf fernliegende Kolonialgebiete stößt unvermeidlich und in wachsendem Maße auf naturgegebene Grenzen.

Universelle Weltherrschaft eine technische Unmöglichkeit

Eine universelle Weltherrschaft ist eine technische Unmöglichkeit. Die Ausstrahlung der Macht von einem nationalen Zentrum aus nimmt im Verhältnis zu der vorliegenden geographischen Entfernung ab ebenso wie im Verhältnis zur kulturellen Verschiedenheit. Gegen diese realen Faktoren ging Stalin an, als er im Jahre 1927 den Zusammenschluß des chinesischen Kommunismus mit der Kuomintang zu erreichen suchte. Stalin hatte damals die Grenzen seiner politischen Autorität überschritten, die deshalb gefahrvoll für alle Beteiligten wurde.

Aus diesen Vorgängen hat sich nun eine bestimmte Lage in den Beziehungen zwischen Moskau und den chinesischen Kommunisten ergeben, deren wahrer Charakter heute noch für viele Menschen ein Rätsel darstellt. Es hat niemals ein offener Bruch stattgefunden. In den langen Jahren, als Mao Tse-tung in der Einsamkeit verbannt lebte, hat er zwar niemals aufgehört, seiner politischen Verwandtschaft mit Moskau einen Liebesdienst zu erweisen und Moskau den Tribut einer . äußeren Ehrerbietung zu zahlen, wie dies von allen ausländischen kommunistischen Parteien von Moskau gefordert wird. Dennoch sind die Beziehungen niemals mehr die gleichen geworden wie sie es vor 1927 waren.

Von dieser Zeit an hat Moskau in Mao Tsetung einen Alliierten, nicht aber einen Satelliten gefunden. Die Niedermetzelung der Shanghaier Arbeiter im Jahre 1927 auf Befehl Chiang Kai-sheks hat gezeigt, daß der chinesische Kommunismus als eine unabhängige Macht leben und sich entfalten kann und seine eigenen Entscheidungen im Sinne der chinesischen Wirklichkeit trifft, keineswegs jedoch als eine Marionettenregierung des weit entfernten Moskau. Damals, im Jahre 1927, zerbrach ein Glied in der Kette der Einflußnahme und der autoritären Kontrolle, mit der Stalin die Länder bis zu den Küsten des Pazifik an sich zu fesseln gesucht hatte.

Fussnoten

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