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Gesellschaftliche Probleme der sowjetischen Erziehung | APuZ 38/1961 | bpb.de

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APuZ 38/1961 Gesellschaftliche Probleme der sowjetischen Erziehung Indien heute

Gesellschaftliche Probleme der sowjetischen Erziehung

OSKAR ANWEILER

Die Erziehung ist nach Auffassung des Kommunismus in erster Linie ein gesellschaftliches Phänomen, ihre Ziele, Aufgaben und Institutionen sind auf die Gesellschaft bezogen, und alle einzelnen Seiten der Erziehung haben einen gesellschaftlichen Aspekt. Eine Untersuchung, die sich den gesellschaftlichen Problemen der Erziehung in der heutigen Sowjetunion zuwendet, muß von diesen allgemeinen weltanschaulichen Voraussetzungen ausgehen; sie muß aber gleichzeitig berücksichtigen, daß seit der russischen Revolution über 40 Jahre und seit dem Wirken von Marx und Engels rund 100 Jahre vergangen sind, so daß die kommunistische Erziehungsauffassung selbst Wandlungen unterlegen ist, die in gewisser Hinsicht eine Anpassung an die tatsächlich eingetretenen Verhältnisse bedeuten. Es empfiehlt sich daher für unsere Untersuchung von einer dreifachen Fragestellung auszugehen: wie sieht der Marxismus-Leninismus das prinzipielle Verhältnis von Erziehung und Gesellschaft, wie hat sich dieses Verhältnis in der geschichtlichen Wirklichkeit der Sowjetunion seit 1918 gestaltet, 3. welche Probleme stehen heute im Vordergrund?

Die systematische Besinnung und die historische Skizze sollen den Boden für eine Gegenwartsanalyse bereiten.

Sache. In dem Zitat aus dem Kommunistischen Manifest finden wir einen Hinweis darauf, in welcher Richtung sich dieser allgemeine Satz zuspitzt: die Erziehung ist ein Bestandteil des Klassenkampfes, genauer, „vermittels der Erziehung verwirklichen die herrschenden Klassen ihre Politik, üben sie ihren Einfluß auf die heranwachsende Generation aus“ 1). Dieses Merkmal gilt nach marxistischer Auffassung für alle historischen Erscheinungsformen der Erziehung, angefangen von der athenischen und spartani-„Wir lösen gegenwärtig zwei Aufgaben: die Schaffung der materiell-technischen Basis des Kommunismus und die Erziehung des neuen Menschen. Im Grunde genommen ist das ein einheitlicher Prozeß. Bleiben wir mit der Bildung und Erziehung des Sowjetmenschen zurück, dann wird unvermeidlich der gesamte Aufbau des Kommunismus ins Stocken geraten.“

Chruschtschow auf dem Allrussischen Lehrerkongreß am 9. Juli 1960

I. Gesellschaft und Erziehung in der kommunistischen Pädagogik

Wenn davon die Rede war, daß die Erziehung in der Deutung des Kommunismus primär ein •gesellschaftliches Geschehen ist, dann ist mit diesem allgemeinen Satz noch nicht viel gewonnen. Seit eh und je wurde die Erziehung als ein soziales Verhältnis von Menschen gesehen, in der die Älteren all das an Sitten, Gewohnheiten und Bräuchen, an Kulturgütern, Wertmaßstäben und religiösen Oberzeugungen auf die Heranwachsenden zu übertragen suchen, was sie selbst erworben oder neu geschaffen haben. Ebenso selbstverständlich ist es, daß die Art und Weise, wie eine solche Tradierung erfolgt, also z. B. in welchen Institutionen, aber auch in welchem Ausmaß und für welche Gruppen, in hohem Maße von der gesamten ökonomischen, sozialen und politischen Struktur der betreffenden menschlichen Gemeinschaft abhängig ist. Marx hatte daher recht, als er im Kommunistischen Manifest, an die Bourgeoisie gewendet, erklärte: „Aber, sagt ihr, wir heben die trautesten 2) Verhältnisse auf, indem wir an die Stelle der häuslichen Erziehung die gesellschaftliche setzen. Und ist nicht auch eure Erziehung durch die Gesellsdiaft bestimmt? Durdt die gesellschaftlichen Verhältnisse, innerhalb derer ihr erzieht, durch die direktere oder indirektere Einmischung der Gesellschaft, vermittels der Schule usw.? Die Kommunisten erfinden nicht die Einwirkung der Gesellschaft auf die Erziehung; sie verändern nur ihren Charakter, sie entreißen die Erziehung dem Einfluß der herrsdtenden Klasse"

Aber nun meint die marxistische Definition der Erziehung als einer gesellschaftlichen Erscheinung mehr als die oben beschriebene Tat-sehenErziehung bis zur bürgerlichen Erziehung im 19. und 20. Jahrhundert, und ausdrücklich auch für die erste Phase des Sozialismus, die Periode der Diktatur des Proletariats, in der nach den Worten des bolschewistischen Parteiprogramms von 1919, „Schule und Erziehung eine Waffe zur Umgestaltung der Gesellschaft“ darstellen. Bildung und Erziehung haben also einen ausgesprochenen Klassencharakter, und Lenin hat ausdrücklich davon gesprochen, daß die Behauptung, Schule und Bildung stünden außerhalb der Politik, „reine Heuchelei“ sei. Ebenso eindeutig heißt es in der „Pädagogischen Enzyklopädie“ von 1927: „Die Sdtule ist eine ideologische Waffe in dem Kampf einer Klasse gegen die andere. Und jeder Klassenkampf ist ein politischer Kampf. Das Proletariat, das um die Schule kämpft, proklamiert das Prinzip der politischen Erziehung int revolutionären Geist“ Zwanzig Jahre später lautet eine Kapitelüberschrift im Lehrbuch der Pädagogik von Jessipow-Gontscharow: „Die Erziehung in der UdSSR als Werkzeug zur Festigung des Sowjetstaates und des Aufbaus der klassenlosen Gesellschaft“.

Die Erziehung ist demnach nicht nur bloße „Widerspiegelung“, bloßer „Reflex" der Basis im Sinne der „Basis-Überbau“ -Relation in der materialistischen Geschichtsauffassung. In der Tat ergaben sich aus der marxistischen Weltanschauung anfangs gewisse Schwierigkeiten für die Rolle der Erziehung im proletarischen Staat.

Kein Absterben der Schule

Eine zu starke Betonung der „objektiven“ gesellschaftlichen Verhältnisse konnte zu einer krassen Milieutheorie, zu einem weitgehenden Verzicht auf eine planmäßige erzieherische Einwirkung in besonderen Institutionen führen. Die um 1930 entwickelte Theorie vom „Absterben der Schule“ z. B. hatte ihre ideologischen Wurzeln in der Auffassung, daß angesichts der rapiden sozialen Umgestaltungen (Industrialisierung, Fünfjahresplan, Kollektivierung) die entscheidenden erzieherischen Einflüsse von der täglichen Arbeit, von der Fabrik, den Gewerkschaften usw. ausgingen, während die Schule als besondere Unterrichts-und Erziehungsanstalt an Gewicht einbüße. Dagegen hat dann Stalin die Rolle des „aktiven Überbaus", also des Staates, betont, der in der Lage und dazu berechtigt sei, planmäßige Eingriffe vorzunehmen, den gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß zu beschleunigen und — auf dem Felde der Erziehung — aktiv an der Formung des Bewußtseins mitzuwirken. Die kommunistische Pädagogik vertritt seitdem — im Unterschied zu einer bloßen Milieutheorie — ein dialektisches Verhältnis von gesellschaftlichen Bedingungen und Erziehung. Sie stützt sich hierbei auf die Marxschen Worte aus seiner 3. These über Feuerbach: „Die materialistische Lehre (Feuer-bachs)

von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß“ %). Demzufolge heißt es, auf die Pädagogik angewandt: „Die Umgebung wirkt auf die Entwicklung des Kindes ein . . . Aber die Umgebung selbst ist nicht unveränderlich . ., Das Milieu, in dem die Regeln sozialistischen Gemeinschaftslebens zur Grundlage des Verhaltens des Menschen geworden sind, ist selbst erst ein Ergebnis der revolutionären gesellschaftlichen Umbildung und der neuen Erziehung . . . Die Erziehung ist kein Naturvorgang, sondern ein zielgerichteter organisierter Prozeß, und deshalb ist die Bedeutung der Schule als des Hauptwerkzeuges der Erziehung der heranwadisenden Generation in der sowjetischen Gesellschaft außerordentlich groß“

Auf dieser dialektischen Wechselbeziehung von „objektiven" ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen und „subjektiven" planmäßigen erzieherischen Einwirkungen beruht das Entwicklungsgesetz der sowjetischen Gesellschaft auf dem Wege zum Kommunismus.

In der neuesten parteiamtlichen Veröffentlichung über „Probleme der kommunistischen Erziehung"

heißt es hierzu: „Die Produktionsbeziehungen stellen die objektive Grundlage der Erziehung dar . . . Die versdtiedenen staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen (der subjektive Faktor) beeinflussen zielstrebig und systematisch die Psyche des Menschen und impfen ihr bestimmte Eigenschaften ein . . . Die aktive Rolle des subjektiven Faktors in der Erziehung be- steht darin, den Mensdten eine bestimmte Weltanschauung und moralische Züge einzupflanzen, die der ökonomisdten Lage der Klasse oder der Gesellschaft im ganzen entsprechen“

Die Sowjetunion befindet sich nach eigenem Urteil derzeit im Stadium des „Übergangs zum Kommunismus". Wann der Vollkommunismus verwirklicht sein wird, steht nicht genau fest; Chruschtschow deutete an, daß diejenigen die jetzt in die Schule gehen, schon unter dem Kommunismus leben würden, also in 20 bis 30 Jahren. Die wichtigsten Kriterien des kommunistischen Endzustandes sind nach gegenwärtiger Definition folgende: „Jedem nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“, d. h.

teilweise Abschaffung des Geldes und Ersatz durch kostenlose Zuteilung von Brot und anderen einfachen Lebensmitteln, Angleichung von Stadt und Land (d. h. völlige Mechanisierung der Landwirtschaft, Aufhebung des Kollektiv-eigentums, Agrostädte), weiteres Steigen der Arbeitsproduktivität bei gleichzeitiger Abnahme der Arbeitszeit (bis auf 36 Stunden wöchentlich und darunter), „maximale Befriedigung der kulturellen Bedürfnisse“, u. a. durch Schulbildung von mindestens 11 Jahren für alle. Es handelt sich um die Verwirklichung der Endzeit-utopie — das Paradies auf Erden, die Harmonie aller Menschen, Wohlfahrt, „allseitige Entfaltung der Persönlichkeit" usw.

Entwicklung zum totalen Erziehungsstaat

Um dorthin zu gelangen, bedarf es in erhöhtem Umfange der Erziehung. In dem Maße, wie der Staat — aus welchen Gründen auch immer — auf die Anwendung von Zwang und Terror verzichtet, gewinnt die freiwillige Gefolgschaft immer größere Bedeutung. Nur durch Erziehung kann eine Übereinstimmung zwischen dem Willen der Millionen Individuen mit den allgemeinen Zielen der Gesellschaft, wie sie die Partei-und Staatsführung setzt und interpretiert, erreicht werden. Infolgedessen kann man davon sprechen, daß sich die Sowjetunion zu einem permanenten und totalen Erziehungsstaat hin entwickelt. Diese Entwicklung liegt in der Gesetzmäßigkeit der kommunistischen Lehre begründet: wenn alle äußeren Zwänge abfallen, wenn der Staat „abstirbt“, dann müssen die Menschen auf Grund einer Kollektivhaltung, die ihnen anerzogen worden ist, gesellschaftskonform handeln.

Es wird bei uns oft — und mit Recht — von dem Vorrang der Kollektiverziehung vor der Persönlichkeitsbildung im kommunistischen System gesprochen. Wir machen es uns aber zu leicht, wenn wir diese Tatsache meinen konstatieren und damit abtun zu können. Das Problem muß heißen: welche inneren Veränderungen bewirkt die Kollektiverziehung im einzelnen Menschen, welcher neue und andersartige Persönlichkeitsbegriff ergibt sich daraus? Es gibt keine bessere Illustration des von den Kommunisten erstrebten Idealverhältnisses von Persönlichkeit und Kollektiv und keinen besseren Hinweis auf die Rolle, welche dabei der Erziehung zukommt, als den entsprechenden Abschnitt in dem parteiamtlichen Werk „Grundlagen des Marxismus-Leninismus": „Mit der Annäherung an den Kommunismus werden zweifellos nicht nur die Ansprüche der Mitglieder der Gesellschaft wachsen, sondern auch die Anforderungen der Gesellschaft an ihre Bürger, an ihr Verhalten in der Produktion, in der Öffentlichkeit, in der Familie und in der ganzen Lebensweise.

Doch diese Forderungen werden sich immer mehr auf die Methoden der moralischen Einwirkung und Überzeugung stützen. Gleichzeitig wird sich der Schwerpunkt der Erziehung des neuen Menschen unmittelbar in das Kollektiv verlagern. . . . Das sozialistische Kollektiv kann einen überaus wirksamen Einfluß ausüben und vermag, falls notwendig, selbst scheinbar unverbesserliche Menschen umzuerziehen und zu nütz-Uchen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. ... Es kann keinen Zweifel geben, daß der Mensch der Zukunft, der Mensch, für den die Prinzipien des Kommunismus Grundlage seines Bewußtseins, Stimme seines Gewissens sind, gerade im Kollektiv geformt wird“

Formung des Gewissens im Kollektiv?

Ich möchte den letzten Satz aufgreifen: Die Stimme des menschlichen Gewissens wird im Kollektiv geformt. Das ist die äußerste Entgegen-setzung gegen jede personale Ethik, in der gerade das Gewissen als die letzte und innerste Instanz des Menschen frei ist von allen gesellschaftlichen Zwängen, weil es seinem Wesen nach jenseits aller gesellschaftlichen Determination steht. Ein „Kollektivgewissen* ist die Negation der Freiheit; wir sollten uns dabei nicht verhehlen, daß es Menschen gibt, denen das Gewissen etwas Lästiges ist, welches sie gern einer anderen Instanz überlassen — die jüngste Vergangenheit bietet hierfür genügend erschrekkende Beispiele.

Der kommunistisch erzogene Mensch soll in jedem Falle den Vorrang der gesellschaftlichen Interessen vor den persönlichen bejahen und darüber hinaus — was noch wesentlicher ist — die persönlichen Gewissensentscheidungen an das Kollektiv binden. Da dieses anonyme Gebilde als solches aber keine verbindlichen Anweisungen zu geben vermag, ist in Wirklichkeit die in der jeweiligen Führungsgruppe verkörperte „kollektive Weisheit“ der Partei die höchste sittliche Instanz, von der die Normen für die Lebensführung und Erziehung ausgehen. Es ist wichtig festzustellen, daß auch unter dem entwickelten Kommunismus in seinem vollendeten Stadium darin keine Änderung eintreten kann. Es ist vielmehr das letzte Ziel der Erziehung, gesellschaftskonforme Menschen heranzubilden, die einer Kontrolle durch das „gesellschaftliche Gewissen" unterliegen und deren persönliche Freiheit in der Zustimmung zum Kollektiv besteht. „Wer immer den Gehorsam gegenüber dem Gemeinwillen verweigert, wird dazu durch die gesamte Staatsführung gezwungen werden; was nichts anderes heißt, als daß man ihn zwingen wird, frei zu sein“ (Rousseau).

In dem Zusammenfallen der gesellschaftlichen und persönlichen Interessen und Bestrebungen liegt das entscheidende Merkmal des „neuen Menschen", den die Erziehung heranzubilden hat. Im einzelnen weist er folgende Wesensmerkmale auf: „Treue zum Kommunismus und Unversöhnlichkeit gegenüber seinen Feinden, das Bewußtsein der gesellschaftlichen Pflicht, aktive Teilnahme an der Arbeit zum Wohle der Gesellschaft, die freiwillige Einhaltung der Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens, die kameradschaftliche gegenseitige Hilfe, Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit und die Unduldsamkeit gegenüber allen, die gegen die gesellschaftliche Ordnung verstoßen“

Menschliche Tugenden allgemeinen Charakters (Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit) haben hier ihren Wert nur im Bezug auf das „gesellschaftliche Wohl“; sie sind also auch jederzeit umkehrbar: gegen die „Feinde“ dieser Gesellschaft. Die kollektive Moral ist eine exklusive Gruppenmoral mit Freund-Feind-Charakter.

Auf ein Merkmal des „neuen Menschen* und einen Hauptzug der kommunistischen Erziehung muß noch besonders hingewiesen werden: Dieser Mensch ist primär „homo faber“, er ist — schon Marx hat ihn so definiert — ein „arbeitendes Wesen“. Die Erziehung zur Arbeit ist demnach der wichtigste Bestandteil der kommunistischen Erziehung. Entscheidend für das Verhältnis von Erziehung und Gesellschaft sind wiederum der Gedanke und die Forderung, daß die Arbeit nicht nur ein Mittel zur persönlichen Bedürfnisbefriedigung darstellt und nicht nur — vielleicht — als persönliche Freude empfunden wird, sondern in erster Linie als Dienst an der Gesellschaft angesehen wird, und zwar gewissermaßen direkt, nicht auf LImwegen und nicht bloß im subjektiven Bewußtsein. Daraus folgt weiter die Auffassung, daß die Gesellschaft und ihr Organ, der Staat, ohne weite-res berechtigt sind, Außmaß sowie Art und Weise der Arbeitsleistung für den einzelnen nach eigenem Ermessen festzulegen. Anders formuliert: die Erziehung im Kollektiv bezweckt die höchste Arbeitsleistung für das Kollektiv. Die gesellschaftliche Kontrolle tritt in dem Augenblick ein, wo sich ein einzelner dieser Arbeitsverpflichtung zu entziehen sucht. Man argumentiert dann im Sinne der Kollektivmoral: du hast deine Pflicht gegenüber der Gesellschaft nicht erfüllt. Es scheint mir wichtig zu sein, das Augenmerk auf die Frage zu lenken, wieweit die kommunistische Erziehung mit Erfolg eine solche Kollektivmoral und die daraus resultierende gesellschaftliche Haltung tatsächlich erreicht, oder ob hier widerstreitende Tendenzen im Spiel sind.

Die systematischen Überlegungen über das Verhältnis von Gesellschaft und Erziehung lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die planmäßige, bewußte Erziehung spielt im Kommunismus als Bestandteil des dialektischen Wider-spiels von „Basis" und „Überbau" eine überragende Rolle. Diese Rolle nimmt gegenwärtig noch zu, weil beim „Übergang zum Kommunismus" als der höchsten Phase der menschlichen Gesellschaft die äußeren Zwangmittel zugunsten der inneren Antriebe zurücktreten sollen. Der „neue Mensch“ der kommunistischen Gesellschaft soll so erzogen sein, daß er aus eigenem Willen und aus freien Stücken sich gesellschaftskonform verhält. Darin besteht seine persönliche Freiheit. Ob in ferner Zukunft einmal, analog zum „Absterben des Staates" » auch die planmäßige, institutionalisierte Erziehung „abstirbt“, ist eine offene Frage für die Ideologen — die kommunistische Utopie wäre vollendet, wenn die Gesellschaft gleichsam in ihren Urzustand zurückfiele, wo sich die Erziehung absichtslos, organisch in den Sozial-ordnungen selbst vollzog. ,

11. Die soziologische Seite der sowjetischen Bildungspolitik seit 1918

Nach dem Sieg der bolschewistischen Revolution in Rußland erklärte Lenin, der stets die Verhältnisse sehr realistisch beurteilte, über den bevorstehenden Aufbau der sozialistischen Gesellschaft: „Wir können (und wir müssen) den Aufbau des Sozialismus nidu mit einem phantastischen und speziell von uns geschaffenen Menschemnaterial (!) beginnen, sondern mit dem, das uns der Kapitalismus vererbt hat. Das ist äußerst schwierig, daran kann kein Zweifel bestehen, aber anders kann man ernsthaft an die Sache nicht herangehen, und es lohnt nicht, davon zu reden“ Diese Worte sind in verschiedener Hinsicht aufschlußreich: Sie zeigen einmal, daß sich die Bolschewik! in Rußland in einer Situation befanden, die keineswegs den Marxschen Prämissen entsprochen hat. In dem agrarischen Rußland mit seiner noch un-entwickelten Industrie und dem kaum 3 Millionen Menschen zählenden Proletariat waren die ökonomischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für ein, wie Marx gemeint hatte, „Sprengen des Überbaus" aufgrund der verwandelten Basis nicht gegeben. Die politische Revolution ging der ökonomischen voraus. Die sozialistische Gesellschaft, deren wesentlichen Züge nach Marx bereits in der voraufgegangenen kapitalistischen Ordnung vorgebildet sein sollten, mußte erst geschaffen werden, und zwar mit Menschen, die noch weit überwiegend nicht einmal „bürgerlich“, sondern vor-bürger-lieh lebten und dachten. Daraus folgte für die Erziehung die Aufgabe, diese Menschen für die Ideen des Kommunismus zu gewinnen und ihnen gleichzeitig alle jene Eigenschaften und Gewohnheiten anzuerziehen, die in einer reifen industriellen Gesellschaft den dort lebenden Menschen selbstverständlich wären. Mit anderen Worten: Die russischen Bauern-und Arbeitermassen sollten sowohl mit einem „sozialistischen Bewußtsein“ ausgestattet werden wie die elementaren Arbeitsfertigkeiten, technischen Kenntnisse und kulturellen Gepflogenheiten erlernen, die für eine moderne Zivilisation unentbehrlich sind. Die sowjetische Bildungspolitik mußte das sechzigprozentige Analphabetentum der Bevölkerung überwinden und mittels gezielter Maßnahmen die für eine industrielle Gesellschaft erforderlichen technischen, wissenschaftlichen und bürokratischen „Kader“ zu einem erheblichen Teil erst schaffen. Zwischen diesen beiden Polen politisch-ideologischer Schulung einerseits und der Hebung des allgemeinen und fachlichen Bildungsniveaus andererseits bewegte sich die praktische Bildungsarbeit in Sowjetrußland bis auf den heutigen Tag.

Waffe zur Umgestaltung der Gesellschaft

Lenins Worte von dem „schlechten Menschen-material", mit dem die Kommunisten rechnen mußten, sind ferner ein Grund dafür, daß — wie schon vorhin gesagt — die Erziehung als „Waffe zur Umgestaltung der Gesellschaft“ proklamiert und praktiziert wurde. Es mußte der Parteiführung darauf ankommen, mittels verschiedener Maßnahmen pädagogischer und schulpolitischer Art den im Gange befindlichen gesellschaftlichen Umschichtungsprozeß zu unterstützen, ja zu provozieren. Ein Beispiel: Die 1919 ins Leben gerufenen „Arbeiterfakultäten“ hatten einen doppelten Zweck: einmal sollten sie bildungswilligen und möglichst auch begabten Jugendlichen ohne eine komplette Schulbildung den Zutritt zum Hochschulstudium ermöglichen, daneben aber — und das war genau so wichtig — sollte auf diese Weise eine neue Intelligenz-schicht herangebildet werden, die politisch zuverlässig und mit dem sozialistischen Bewußtsein ausgestattet war. Oder ein anderes Beispiel: Eine der ersten Erklärungen des Volks-kommissariats für das Bildungswesen bezog sich auf die öffentliche Erziehung der Kinder im Vorschulalter, also der 3-bis 7jährigen. Es wurde dort festgestellt, daß eine derartige Erziehung die sozialen Instinkte im Kinde entwickle und es von kleinauf auf die gesellschaftliche Rolle vorbereite, die es später einnehmen werde. In den folgenden Jahren versuchte man, wo es nur ging, Kindergärten oder geschlossene Kinderheime einzurichten. Diese gesellschaftliche Erziehung diente nicht nur der Bekämpfung akuter Nöte, wie z. B.der gewaltigen Kinderverwahrlosung, sondern entsprang ebensosehr dem gesellschaftspolitischen Leitbild. Noch 1927 wurde amtlich erklärt: „Das Proletariat weiß, daß der Mensch das Produkt gesellschaftlicher Beziehungen ist... Deshalb ist eine rational organisierte gesellschaftliche Erziehung von der frühen Kindheit an eine der Kantpflosungen der proletarischen Pädagogik. Letztere tritt entschlossen gegen die Fantilienerziehung auf, u. a. auch deswegen, weil auf der einen Seite die gegenwärtige ökonomische Entwicklung zur Beseitigung der Familie des Arbeiters führt, die gar keine Zeit hat, sich mit der Erziehung ihrer Kinder zu befassen, und weil auf der anderen Seite die häusliche Erziehung bei der bestehenden kulturellen Rückständigkeit der Familien gar nicht vernünftig organisiert werden kann“

Eingeständnis eines Mißerfolges

Es ist nun überaus bezeichnend, daß seit etwa 1931 diese Politik geändert wurde und die sowjetische Schule und Erziehung gleichsam eine neue gesellschaftliche Funktion zugeteilt bekam. Die um diese Zeit eingeleitete „Stabilisierung“ des sowjetischen Schulwesens war, von dieser Seite aus betrachtet, das Eingeständnis eines Mißerfolges: es war nicht gelungen, gleichsam im ersten Anlauf, mittels der Erziehung ein neues gesellschaftliches Bewußtsein zu schaffen und die Schule völlig zu sozialisieren. Stalin und die Parteiführung standen vor der Alternative: entweder man ging in der bisherigen Richtung weiter und machte die Schule vollends zu einem „Anhängsel des Betriebes“, ließ die Schüler wochen-und monatelang „gesellschaftlich nützliche Arbeit" leisten und reihte sie auf diese Weise unmittelbar in die „Front des sozialistischen Aufbaus“ ein, oder man nahm die Schule aus dieser vordersten Front heraus, reduzierte ihre Aufgaben auf die ursprünglichen und primären Funktionen der Kenntnisvermittlung und schuf auf diese Weise die soliden Grundlagen für eine industrielle Gesellschaft, die sich nach Wissen und Leistung differenziert.

Die Entscheidung zugunsten der zweiten Lösung bestimmte das gesamte Gesicht des sowjetischen Bildungswesens bis vor wenigen Jahren. Die Schule übernahm, um mit Schelsky zu sprechen, die Zuteilung der sozialen Rolle, sie bestimmte entscheidend den gesellschaftlichen Status des einzelnen. Das in der Stalin-Ära aufgebaute sowjetische Schulsystem diente, soziologisch gesehen, dazu, den Umwandlungsprozeß von der Agrar-zur Industriegesellschaft zu kanalisieren, die soziale Mobilität in bestimmte, vom Staat gewünschte Bahnen zu lenken. Das wird sofort ersichtlich, wenn man sich die Aufgaben ansieht, die den einzelnen Schultypen zugemessen waren: Auf dem Minimalfundament der vierjährigen Grundschule bauten die Berufsschulen der staatlichen Arbeitsreserven auf, denen die Ausbildung der unteren Arbeiterkategorien oblag. Von der siebenjährigen Mittel-schule führte der weitere Bildungsgang zum Technikum, das die verschiedenen mittleren Berufsgruppen in Industrie, Landwirtschaft, Verwaltung und Kultur stellte. Die zehnjährige vollständige Mittelschule schließlich berechtigte zum Hochschul-und Universitätsstudium und damit zur höchsten Ausbildung, die die akademische Führungsschicht stellte. Die „Bildungsleiter" erfüllte also ganz bestimmte gesellSchafts-und wirtschaftspolitische Zwecke, der Grad der erworbenen Bildung wurde umgekehrt zunehmend zum Maßstab der sozialen Geltung.

Weltanschaulich-politische Erziehung

Es bleibt die Frage, wie angesichts dieser Entwicklung, die wir aus den anderen modernen Industriegesellschaften kennen, die übergreifende Aufgabe der Erziehung zum „neuen Menschen“ und zum neuen gesellschaftlichen Bewußtsein gelöst wurde. Und hier können wir zum zweitenmal im Grunde genommen ein Scheitern feststellen. Während in den zwanziger Jahren der unmittelbare revolutionäre Impuls, die gesell-schaftliche Aktivität des Komsomol und die Schule als soziale Lebensform dieses Ziel zu erreichen strebten, verlagerte sich später die gesellschaftliche Erziehung fast ausschließlich auf die weltanschaulich-politische Schulung. Der patriotische Aufschwung des Krieges gegen Deutschland trug wesentlich zur Stärkung des Nationalbewußtseins bei, aber die Erziehung zum Kollektiv blieb hinter derjenigen zur Leistung zurück. Man könnte sogar sagen, daß hinter der Fassade der immer gepredigten Kollektivhaltung sich ein sehr robuster Individualismus und Egoismus breit machten, die durch die verschiedenen Leistungsprämien in Schule und Betrieb, durch den Grundsatz der „materiellen Interessiertheit“ und durch die Einführung von Titeln, Rängen, Orden usw. amtlich gefördert worden sind. Die sowjetische Erziehung steht ja vor der Schwierigkeit, den immer wieder angesprochenen individuellen und gruppenweisen Ehrgeiz, den Wettbewerb und den Leistungswillen gleichsam im umgreifenden Kollektiv zu integrieren, alle diese Eigenschaften und Antriebe für die gesellschaftlichen Zwecke zu mobilisieren und sie in dem Augenblick zu begrenzen, wo sie zu „individualistischen Abweichungen“ werden. Hinter der nach außen zur Schau gestellten Kollektivität spielen sich oft erbitterte persönliche Auseinandersetzungen und Machtkämpfe ab, nicht nur in den obersten politischen Gremien, sondern, was weit weniger an die breitere Öffentlichkeit dringt, aber doch jedem Sowjet-bürger bekannt ist, in Instituten und Betrieben, Gewerkschaften, gesellschaftlichen Organisationen usw.

Wenn wir die Bilanz der gesellschaftspolitischen Rolle des sowjetischen Erziehungs-und Bildungswesens vor Beginn der gegenwärtigen Reformen, also um 1956, ziehen, so ergibt sich folgendes: Auf der einen Seite entstanden durch die Beseitigung des Analphabetentums und den Aufbau eines durchgegliederten Schulwesens die wesentlichsten Voraussetzungen für eine neue soziale Gliederung nach Maßgabe der erworbenen Ausbildung, nachdem die alten Klassen durch Kollektivierung und Industrialisierung umgeschmolzen waren. Hingegen wurde gerade dadurch das in gleicher Weise erstrebte Ziel des „kollektiven Menschen“ in Frage gestellt. Im Sinne der marxistischen Theorie dürfte darin eigentlich kein Widerspruch bestehen, denn im gleichen Maße, wie sich die ökonomischen Verhältnisse und die gesellschaftlichen Beziehungen wandelten und sich — laut offizieller Erklärung — immer mehr dem Zustand der voll entwickelten kommunistischen Gesellschaft annäherten, mußten auch die Menschen — als Produkt der gesellschaftlichen Beziehungen — anders werden. Die gegenwärtige Reform des sowjetischen Schul-und Hochschulwesens und der dadurch bewirkte dritte gesellschaftliche Funktionswandel der Erziehung beweisen, daß dieses Problem bis heute ungelöst geblieben ist.

III. Die gesellschaftliche Erziehung in der gegenwärtigen Übergangsperiode zum „Vollkommunismus"

Die sowjetische Gesellschaft der fünfziger Jahre wies zahlreiche Symptome auf, die im Widerspruch zu der proklamierten Entwicklung zum kommunistischen Endzustand standen, etwa eine zunehmende Verfestigung des Eigentumsdenkens (Beispiel: Einführung einer gesetzlichen Erbregelung mit Konzessionen an die privaten Erben, Mißbräuche auf dem Gebiet des Haus-und Wohnungswesens) und eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber den „gesellschaftlichen Verpflichtungen“ gerade unter der Jugend, Zeichen, die nicht — wie die amtliche Erklärung lautet — „Überreste des bürgerlichen Denkens“ sind, sondern sich zunehmend entfalten und ihre Wurzeln durchaus in den eigenen sowjetischen Bedingungen haben. Im Westen hat man diesen Prozeß oft als „Verbürgerlichung“ der Sowjet-gesellschaft bezeichnet und im Sinne einer immer größeren Annäherung an die Lebensformen und — demzufolge auch — an die Lebensanschauungen und Denkgewohnheiten der westlichen Welt begrüßt; eine Auffassung, die in gewissen Grenzen zurecht besteht, wenn man nämlich darunter nichts anderes versteht als die Anpassung an äußere Formen der modernen Industrie-und Leistungsgesellschaft, die vielfach einen gleichen Lebensstil erzeugen, die aber falsch ist, sofern man darunter eine Selbstauslösung der kommunistischen Ideologie, einen durchgreifenden geistigen und politischen Liberalisierungsprozeß versteht, oder besser gesagt, sich erhofft.

Voraussetzungen für den „Vollkommunismus"

Man wird schon heute feststellen können, daß die sowjetische Führung, und in hohem Maße wohl Chruschtschow persönlich, diese Entwicklung spätestens im Jahre 1956 erkannt hat und sie zu unterbrechen oder, richtiger gesagt, in die gewünschten Bahnen zu lenken sucht. Über den Enthüllungen der Untaten Stalins auf dem XX. Pärteikongreß und dem geistigen „Tauwetter“ dieser Periode hat man beinahe völlig übersehen, daß auf dem gleichen Parteikongreß Chruschtschow die Grundlinien der neuen Erziehungs-und Bildungspolitik verkündet hat, die dazu bestimmt ist, die VorausSetzungen für den inzwischen offiziell proklamierten Übergang zum Vollkommunismus zu schaffen und die eine Korrektur der herausgebildeten Verhältnisse bewirken soll. Die beiden Richtlinien, welche Chruschtschow im Februar 1956 verkündet hat, lauten: einmal „Verbindung der Schule mit dem Leben, mit der Produktion", zum anderen Verstärkung der gesellschaftlichen Erziehung der Jugend, am augenfälligsten in der Schaffung einer neuen Erziehungseinrichtung, der Internatsschulen. Unter diesen beiden Leitgedanken stehen alle einzelnen Maßnahmen der Schulreform, die im Jahre 1958 begonnen hat und bis 1963 im wesentlichen abgeschlossen sein soll

Für unsere Frage nach den gesellschaftlichen Problemen der im Gange befindlichen Schulund Erziehungsreformen scheinen mir folgende Punkte von besonderer Bedeutung zu sein: 1. Welcher Zusammenhang besteht zwischen den pädagogischen Maßnahmen und dem gesellschaftspolitischen Leitbild?

2. Welchen Platz sollen künftig die einzelnen Erziehungsträger — Eltern, Schule, Öffentlichkeit usw. — in der Erziehung des Nachwuchses einnehmen?

3. Wie ordnet sich das Erziehungs-und Bildungsproblem in den gesamten Komplex des proklamierten „Übergangs zum Kommunismus“ ein?

Aus den Begründungen der Reform wird deutlich, daß die verschiedenen Maßnahmen — polytechnischer Unterricht, Verbindung des Unterrichts mit Produktionsarbeit, Ausbau des berufsverbundenen Bildunsweges — einem übergreifenden gesellschaftlichen Leitbild entspringen und daß sie zu dessen Verwirklichung beitragen sollen. In den „Thesen“ des ZK der KPdSU und des Ministerrats der UdSSR vom 16. November 1958 wurde dem Zukunftsbild der kommunistischen Gesellschaft breiter Raum gewidmet. Geht man von diesem Leitbild aus, so wird deutlich, welch großer Widerspruch zwischen den realen Verhältnissen und den Zukunftsidealen besteht. Chruschtschow selbst hat diese Diskrepanz in aller Offenheit zugegeben und mit Emphase „die falsche, herrschaftlich-verächtliche Einstellung zur körperlichen Arbeit“ bei einem großen Teil der Jugend und der Eltern gegeißelt. In seinem Memorandum vom September 195 8 erklärte er: „Mit einer saldiert sMiwnten Situation, daß in unserer Gesellsdiaft Menschen erzogen werden, die die körperlidte Arbeit nidtt achten und vom Leben losgelöst sind, kann man sich nicht länger abfinden. In der sozialistisdien Gesellsdiaft muß doch die Arbeit nach ihrem Nutzen bewertet werden, der Antrieb darf nicht nur im Lohn, sondern — und das ist die Hauptsadie — in der öffentlichen gesellschaftlidien Wertschätzung liegen. Man muß der Jugend ständig einprägen, daß die Hauptsache für die Gesellschaft dasjenige ist, wovon sie lebt: die produktive Arbeit, denn nur sie schafft materielle Werte. Die Arbeit ist für jeden Sowjetmenschen ein Lebensbedürfnis“


Der „Arbeiterbürger" als Leitbild

Die Reformmaßnahmen sollen diese Widersprüche verringern und schließlich ganz verschwinden lassen. So bezweckt z. B. die Einführung des Produktionsunterrichts für alle Mittelschüler von der 9. Klasse an nicht nur eine Art allgemeiner beruflicher Grundausbildung, sondern ebensosehr die Erweckung einer psychologischen Bereitschaft zur Arbeit überhaupt. Von vornherein wird den Kindern und Jugendlichen klarzumachen versucht, daß jede Arbeit gesellschaftlichen Wert besitze und daß daher die Gesellschaft erwarten dürfe, daß sich jeder dem allgemeinen Wohl unterordne. Die pädagogische Literatur der beiden letzten Jahre wimmelt geradezu von Untersuchungen und Vorschlägen zu dem Thema, auf welchen Wegen, mit welchen methodischen Mitteln und mit welchem Erfolg die geforderte Arbeitseinstellung bei den Schülern erzeugt werden kann. Immer wieder scheint hierbei das gesellschaftliche Leitbild des „Arbeitsbürgers" hindurch, den Chruschtschow als einen Menschen bezeichnet hat, der „sich richtig in das Arbeitskollektiv einfügen und sich dessen Interessen unterordnen" soll.

So bildet also die Erziehung zur Arbeit den einen Eckpfeiler der sowjetischen Pädagogik beim Übergang zum Kommunismus. Daß ihre Bedeutung dabei vornehmlich auf dem Gebiet der Steigerung der Arbeitsproduktivität gesehen wird, ist nicht weiter verwunderlich; besteht doch schon seit Lenin die Überzeugung, daß hier die Entscheidung über den schließlichen Sieg der kommunistischen Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung über die „kapitalistische“ falle. Es besteht daher auch kein Widerspruch zwischen der Erziehung zur Arbeit als einem Faktor des wirtschaftlichen Fortschritts und ihrem Wert als dem „ersten Lebensbedürfnis des Menschen". Unter beiden Aspekten gewinnt sie unter den gegenwärtigen Bedingungen eine zentrale Bedeutung, und es ist überaus bezeichnend, daß das „richtige" oder „falsche“ Verhalten zur Arbeit zum Gegenstand der Rechtsprechung gemacht wird, die — als Gegenstück zur positiven Erziehung — gegen „arbeitsscheue Elemente“ einschreitet und sie einer „gesellschaftlichen Umerziehung" unterwirft. Die in einigen Sowjetrepubliken kürzlich verabschiedeten Gesetze gegen „Parasiten und Schädlinge", die einen Aufenthalt in Arbeitslagern vorsehen, sind ein notwendiges Gegenstück zu der Arbeitspädagogik und werden als Bestandteil der gesellschaftlichen Erziehung ausgegeben.

Damit ist schon der zweite Eckpfeiler der Erziehung genannt, der heute, wie noch nie zuvor in der Geschichte der sowjetischen Erziehung, an Gewicht gewinnt: Die Erziehung zum „bewußten gesellschaftlichen Verhalten". „In unserem Lande trifft man noch Menschen, die die Arbeit lediglich als Mittel zur Befriedigung persönlidter Bedürfnisse ansehen und die gesellschaftlichen Interessen nicht anerkennen“ — dieser oft beklagte Zustand soll durch eine verstärkte politische Erziehung bekämpft werden, in deren Vordergrund die Erweckung „moralischer Motivationen" anstelle der bis dahin als legitim anerkannten Grundsätze der „materiellen Interessiertheit" steht Letztere werden zwar nach wie vor und für einen längeren Zeitraum als wesentlich angesehen, aber sie sollen immer mehr zugunsten der ideellen Antriebe zurücktreten. Praktisch bedeutet das, daß künftig der Appell an freiwillige Leistungen den Anreiz des Lohnes, der Prämien usw. ersetzen soll — ein Vorhaben, dessen Gelingen wiederum Erziehung und genügend starke gesellschaftliche Kontrolle voraussetzt. Aus diesem Grunde heißt es auch unmißverständlich in der oben zitierten Darlegung: „Die entscheidende Rolle gebührt hierbei den Partei-, Staats-und gesellschaftlichen Organisationen“

Totalitätsanspruch an den Menschen

Unter „bewußtem gesellschaftlichen Verhalten" wird aber nicht nur das richtige Verhältnis zur Arbeit verstanden. Hierzu gehört die gesamte Lebensführung, die sich den Normen der kollektiven Ordnung, wie sie als Leitbild des Kommunismus proklamiert werden, anpassen soll. Der Grundsatz „kommunistisch arbeiten, kommunistisch lernen, kommunistisch leben" vereinigt in eindrucksvoller Kürze den Totalitätsanspruch an den Menschen, der damit als solcher völlig der Gesellschaft ausgeliefert ist. Die Erziehung gewinnt dabei eine weit über das Schul-und Jugendalter hinausreichende Funktion einer permanenten gesellschaftlichen Kontrolle der Lebensführung, der sich der Einzelne nur schwer entziehen kann. Hier haben wir dann tatsächlich den von Marx für die entwickelte kommunistische Gesellschaft vorausgesagten Zustand, in dem der Mensch als vollendetes gesellschaftliches Wesen existiert und gerade dadurch, wie Marx meinte, seine wahre Freiheit gewinnt.

Der skizzierte Zusammenhang zwischen dem gesellschaftspolitischen Leitbild des Kommunismus und den pädagogischen Maßnahmen bringt eine erhebliche Verlagerung in den Aufgaben der einzelnen Erziehungsträger mit sich. Neben dem Elternhaus und der Familie auf der einen Seite, der Schule und dem Jugendverband auf der anderen kommt jetzt dem „Arbeitskollektiv", der „öffentlichen Meinung" in einem noch näher zu beschreibenden Sinne und — das ist die wichtigste institutioneile Neuerung — den gesellschaftlichen Erziehungseinrichtungen im Vorschulalter und den Internatsschulen größte Bedeutung zu. In einem Aufsatz unter dem Titel „Die Lebensweise des arbeitenden Menschen und der Kommunismus“ entwarf S. Strum i 1 i n , Mitglied der Akademie der Wissenschaften, das bisher detaillierteste Bild der künftigen kommunistischen Gesellschaftsordnung und der konkreten Lebensformen des einzelnen Menschen. Über die Erziehung schreibt der Verfasser: „Die gesamte Verantwortung für das Schicksal des neuen Mitglieds der Gesellschaft und vor allem für seine Erziehung zum Menschen und Bürger kann die Gesellschaft selbst auf sich nehmen, indem sie der Familie in dieser Hinsicht nur jene Funktionen überläßt, die ihr ohne Schaden für die Kinder ohne weiteres anvertraut werden können ... Die Vorteile der gesellschaftlichen Erziehung sind so groß und fühlbar, daß sich alle Aufwendungen der Gesellschaft in jeder Höhe und für alle Kinder des Landes bezahlt machen ... Da wir die gesellschaftlichen Erziehungsforwen allen anderen unbedingt vorziehen, steht vor uns die Aufgabe, diese Formen stetig so schnell auszubauen, daß sie der Bevölkerung des Landes — von der Wiege bis zur Ablegung der Reifeprüfung — in 15 bis 20 Jahren allgemein zur Verfügung stehen. Jeder Sowjetbürger wird bereits nach dem Verlassen des Entbindungsheims in die Kinderkrippe eingewiesen werden, von da aus in den durchgehend geöffneten Kindergarten oder in ein Kinderheim; hernach in die Internatsschule, um dann von hier aus .. . in das selbständige Leben, d. h. in die Produktion einzutreten oder aber um in dem gewählten Spezialfach weiterzustudieren“.

Es kommt hier nicht darauf an, den tiefen Gegensatz der Wertmaßstäbe und Lebensauffassungen darzutun, der sich hier gegenüber einer auf dem Prinzip der personalen Freiheit beruhenden Gesellschafts-und Erziehungsauf-fassung enthüllt. Uns interessiert die Frage, welche Konsequenzen sich daraus für die innersowjetische Entwicklung ergeben. Dazu ist zu sagen, daß der Weg zu Strumilins Zukunftsvision schon beschritten wird. Im Rahmen des laufenden Siebenjahresplans (1959— 1965) soll der Umfang der Vorschulerziehung so erweitert werden, daß insgesamt rd. 6, 8 Millionen Kinder im Alter von 6 Wochen bis 7 Jahren in „vereinigten Vorschuleinrichtungen“ erfaßt werden können, die an die Stelle der bisher getrennt bestehenden Kinderkrippen (für die Kleinen bis zu 3 Jahren) und Kindergärten (3 bis 7 Jahre) treten. Wie aus den Ausführungen Strumilins hervorgeht, wird ein Teil dieser Kindergärten unmittelbar mit der anschließenden Internatsschule verbunden sein. In diesen kombinierten Kindergärten und Internaten kann man das Modell der künftigen kollektiven Erziehung erblicken. Einige solcher Anstalten sind bereits geschaffen worden, indem man an bestehende Internatsschulen Kindergärten anschloß oder umgekehrt.

Das Internat als Heimat

In der Internats-und Ganztagserziehung dokumentiert sich wohl am deutlichsten die gewandelte Auffassung von der Rolle der gesellschaftlichen Erziehung. Gewandelt nicht in dem Sinne, als ob früher nicht auch der Vorrang der öffentlichen Erziehung vor der häuslichen proklamiert worden wäre, wohl aber insofern, als bis heute praktisch doch das Elternhaus und die Familie als das eigentliche Heim des Kindes angesehen wurden, während es künftig umgekehrt sein soll: das Kind geht nach Hause gleichsam „in Urlaub“, seine eigentliche Heimat ist das Internat. Kinder, die nur am Wochenende oder erst am Abend in den Verband der Familie zurückkehren, sind zwangsläufig weit stärker der planmäßigen kollektiven Erziehung ausgesetzt als bei einem bloßen Vormittagsunterricht. Der laufende Siebenjahresplan sieht die Erweiterung der Internatsschulen auf 2, 5 Millionen Plätze vor; das sind zwar noch nicht mehr als etwa 8 Prozent der gesamten Schuljugend, aber das Endziel einer totalen kollektiven Erziehung, das Chruschtschow wie folgt auf dem XXL Parteikongreß formuliert hat, sollte ernst genommen werden: „In Zukunft sollen alle Kinder die Möglichkeit erhalten, in Internatsschulen erzogen zu werden; das wird zur erfolgreichen kommunistischen Erziehung der heranwachsenden Generation und zur Einbeziehung weiterer Millionen Frauen in die Reihen der aktiven Teilnehmer am Aufbau der kommunistischen Gesellschaft beitragen“ Partei und Regierung nehmen Kurs darauf, daß in Zukunft alle Werktätigen, die es wünsdien, ihre Kinder in Staatseinrichtungen erziehen können“ Die vorläufige Betonung des Freiwilligkeitsprinzips ist nicht unbedingt ein Hinweis darauf, daß beim Vorhandensein der entsprechenden äußeren Voraussetzungen dieser Grundsatz gewahrt bleibt.

In dem erwähnten Aufsatz Strumilins finden sich auch einige Bemerkungen zu der Frage, welche Rolle künftig den verschiedenen Organen der „öffentlichen Meinung“ in der Erziehung zukommen soll. Es heißt da: „Die öffentliche Meinung spielt in unserem Milieu bereits heute eine gewaltige Rolle. Eine noch weitaus größere Rolle gewinnen die gesellschaftliche Anerkennung oder, umgekehrt, die gesellschaftliche Verurteilung, der Tadel und Boykott der Gesellschaft in der künftigen Kommune, wo einer den anderen gut kennt, mit ihm befreundet ist und in gesellsihaftlidter und künstlerisch schöpferischer Betätigung mit den anderen wetteifert“. Noch eindeutiger heißt es in den „Problemen der kommunistischen Erziehung“: „Die öffentliche Meinung gewinnt eine große praktische Bedeutung dank dem Einfluß, den sie auf Personen ausübt, welche die moralischen Nor-, men verletzen. Die Praxis zeigt, daß die gesellschaftliche Einwirkung ein überaus wirksames Mittel bei der Erziehung der Menschen darstellt.

Ein Mensch kann nicht außerhalb des Kollektivs leben; deswegen ist er auch bestrebt, das Vertrauen und die Achtung der Genossen wiederzugewinnen, sein Verhalten zu bessern, seine Fehler und Schwächen zu überwinden. Die Verurteilung eines Übertreters der gesellschaftlichen Normen durch das Kollektiv wirkt sich nidtt nur auf ihn selbst aus, sondern auch auf seine Umgebung. Deshalb stellt die gesellschaftliche Einwirkung eine gewaltige prophylaktische Erziehungsmaßnahme dar“ Es wird deutlich, was im sowjetischen Sinne „öffentliche Meinung“

bedeutet: die von den undiskutablen, durch die Partei festgelegten Prinzipien der „kommunistischen Moral" gebildete, durch Partei-, Gewerkschafts-und Jugendorganisation verkörperte, dem einzelnen als geschlossene Front gegenübertretende Norm der Lebensführung.

Selbstverständlich handelt es sich in vielen Fällen um Vergehen, die in jeder gesellschaftlichen Ordnung geahndet würden, aber das ist nicht das Entscheidende: vielmehr wirkt hier das „Kollektivgewissen" in einem geradezu tödlichen Sinne gegen die persönliche Würde des einzelnen und verlangt von ihm die Unterwerfung.

Das öffentliche Verfahren soll dabei „erzieherische“ Wirkungen ausstrahlen, um ähnliche Normabweichungen zu verhüten.

Neue Formen gesellschaftlicher Erziehung

In den letzten Jahren haben sich drei Formen solcher gesellschaftlicher Erziehungs-und Kontrolltätigkeit herausgebildet, die als wichtige Etappen auf dem Wege zum Vollkommunismus angesehen werden: die Genossengerichte, die Volksdrushinen und die Brigaden der kommunistischen Arbeit. Alle drei werden unter dem Gesichtspunkt der Erziehung unbotmäßiger Mitglieder der Gesellschaft und als Mittel zur Erziehung des „neuen Menschen“ angesehen. Die Genossengerichte in den Betrieben, Instituten usw. urteilen Vorfälle ab, die nicht kriminellen Charakter haben, die aber „gesellschaftsfeindlich“ sind. In der Pädagogischen Hochschule in Leningrad z. B. wurden Anfang Oktober 1960 in einem derartigen öffentlichen Verfahren vor der gesamten versammelten Studentenschaft drei Studentinnen wegen „Verstoßes gegen ihre gesellschaftliche Pflicht“ einem peinlichen Verhör unterzogen und von der Hochschule relegiert Die „Volksdrushinen" sind Streifen auf den Straßen und Plätzen, die vor allem gegen Trunkenheit und Rowdytum einschreiten sollen; insofern sind sie Hilfsorgane der Miliz, aber sie können — über den gesetzlich festgelegten Rahmen der Polizeirechte hinaus — die „öffentliche Meinung" mobilisieren und „gesellschaftliche Strafen“ verhängen. Auch hier handelt es sich vielfach um die Bekämpfung offenkundiger Mißstände, unter denen jede Gesellschaft zu leiden hat; aber auch hier — ähnlich wie bei den Genossengerichten — stehen diese Maßnahmen außerhalb der normalen Rechtspflege, wodurch das Gefühl der Rechtssicherheit, das sich in der Sowjetunion allmählich herausgebildet hat, wiederum untergraben wird, gerade durch die Vermengung von prophylaktischen Erziehungsmaßnahmen und gerichtlichen Strafen. Was schließlich die „Brigaden der kommunistischen Arbeit" betrifft, so handelt es sich hierbei um die Fortsetzung der altbekannten „Stoßbrigaden", deren Aufgabe es ist, an der Spitze der Arbeitsnormen zu marschieren und die Produktivität zu steigern; aber ebenso sollen sie die Keimzelle der neuen kommunistischen Lebensordnung als Arbeits-, Wohn-und Freizeitkommune darstellen. Unter der Losung „Einer für alle, alle für einen" gehen diese Brigaden kollektive Verpflichtungen ein, wie z. B. die folgende einer Brigade des Dimitrow-Bergwerks im Donezbecken: „Wir, die Mitglieder einer Brigade der koMtnunistischen Arbeit . . . beschlossen, nach folgenden Grundsätzen zu leben und zu arbeiten:

Stets und überall werden wir den Namen eines Mitglieds der Brigade der kommunistischen Arbeit rechtfertigen. Das bedeutet, daß wir alle Kräfte, Energien und Fähigkeiten bewußt dem Aufbau des Kommunismus widmen und in uns selbst und bei unseren Genossen die Eigenschaften eines Mitglieds der kommunistischen Gesellschaft entwickeln.

Uns alle eint ein hohes bewußtes Verhalten zur Arbeit. Die Arbeit ist für uns nicht nur ein Existenzmittel, sondern ein körperliches und geistiges Bedürfnis, eine Form der Teilnahme an der weiteren Entwicklung der Gesellschaft. Das Gesetz der Brigade lautet — einer für alle und alle für einen. Alle Freuden und Leiden wollen wir gemeinsam teilen.

Wir alle wollen lernen. Ständig werden wir unsere fachliche Qualifikation, unser allgemeines und politisches Bildungsniveau erhöhen. Auf das Lernen verzichten, bedeutet einen Mangel an Bewußtsein und Achtung vor sich selbst.

Entschlossen brechen wir mit den Überresten der Vergangenheit: Trunkenheit, Rowdytum, unzüchtigen Reden, mit allem, was uns hindert, vorwärtszugehen. Wer diese Forderungen verletzt, ist des hohen Namens eines Mitglieds der Brigade der kommunistischen Arbeit unwürdig“

Totalitärer Wohlfahrtsstaat ?

Alle diese neuen Faktoren der gesellschaftlichen Erziehung sollen in der Zukunft eine ausschlaggebende Rolle spielen. Die Entwicklung in der Sowjetunion scheint auf den totalen Erziehungsstaat hinauszulaufen, dem im politischen und ökonomischen Bereich der totalitäre Wohlfahrtsstaat entsprechen würde.

Unter dem Begriff „totalitärer Wohlfahrtsstaat", der seit kurzem in der wissenschaftlichen Diskussion aufgetaucht ist kann man ein Gebilde verstehen, das seinen Bürgern ein hohes Maß an ökonomischer und kultureller „Versorgung" gewährt und ihnen gleichzeitig keine oder nur sehr beschränkte politische Freiheiten einräumt. Es wäre also gleichsam eine Synthese von moderner industrieller Massengesellschaft und politischer Diktatur. In einem solchen Staatswesen genießen die Bewohner einen auskömmlichen, ja unter Umständen sogar recht hohen materiellen Lebensstandard, sie verfügen über genügend freie Zeit und haben auch zahlreiche Möglichkeiten, diese Freizeit zu nutzen. Hingegen besitzen sie nicht das Recht, ihrer politischen Meinung frei und wirksam Ausdruck zu geben, ja sich eine solche überhaupt zu bilden, mit der Außenwelt in breiten und ungehinderten Kontakt zu treten und in der Gesellschaft, in der sie leben, über eine von dieser unabhängige private Sphäre zu verfügen. Ein solcher Staat gewährt seinen Bürgern in der Tat freien Zutritt zu den Bildungseinrichtungen, ja er spornt sie sogar an, davon Gebrauch zu machen. Er beurteilt den Bildungsstand der Bevölkerung unter dem Gesichtspunkt der Verwertbarkeit von Wissen und Können für die Ziele der staatlichen Macht, daher fördert er sie. Er schafft maximale Bildungsmöglichkeiten und begrenzt dabei entscheidend den Bildungsbegriff. Denn er versteht unter Bildung nicht die ungehinderte Entfaltung der dem menschlichen Geist innewohnenden Möglichkeiten, die lebendige, fragende und sich auch selbst in Frage stellende geistige Kraft, die um Form ringt, sondern die Summe feststellbarer und daher lehrbarer Kenntnisse, die nach dem Gesichtspunkt der monistischen Weltanschauung ausgewählt, in ein System gebracht und weitergegeben werden, fertiger Besitz, der den Geist festlegt. Eine Bildung, die nach den Gründen einer Entscheidung fragt und sich ungehindert im „offenen Gespräch“ befindet, ist für den totalitären Wohlfahrtsstaat gefährlich — eine solche, die ihren Träger mit ausgezeichneten Fachkenntnissen ausstattet, ist ihm willkommen.

Die sowjetische Bildungspolitik seit 1917 hat entscheidend dazu beigetragen, die „Bildung“ im letzten Sinne zu fördern, sie hat gleichzeitig alles unternommen, um Bildung im erstgenannten Sinne zu drosseln. So bietet die sowjetische Gesellschaft heute das zwiespältige Bild einer hochspezialisierten, in diesem Rahmen überaus leistungsfähigen, fortschrittsgläubigen und auch bildungsbeflissenen Welt, in der trotzdem die Möglichkeiten für eine echte individuelle Bildung von vornherein begrenzt sind. Bildung und Erziehung unterliegen einer permanenten gesellschaftlichen Kontrolle — der totale Erziehungsstaat, der dem Kommunismus vorschwebt, ist zugleich das Ende jeder echten Bildung. „Bildung ist ein freies Verhältnis der Menschen untereinander" hat Tolstoj gesagt, oder, ein andermal: „Das einzige Kriterium der Pädagogik ist und bleibt allein — die Freiheit“.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Karl Marx, Die Frühschriften. Hrsg, von Siegfried Landshut. (Kröners Taschenausgabe Band 209). Stuttgart 1953. S. 544.

  2. B. P. Jessipow — N. K. Gontscharow, Pädagogik. Leipzig 1948. S. 8.

  3. Pedagogiceskaja enciklopedija. Hrsg, von A. G. Kalaänikov. Bd. I. Moskau 1927. Sp. 445.

  4. a a. O. S. 339 f.

  5. Jessipow — Gontscharow, a. a. O. S. 21.

  6. Problemy kommunisticeskogo vospitanija. Hrsg, von der Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim ZK der KPdSU. Moskau 1960. S. 3 ff.

  7. Grundlagen des Marxismus-Leninismus. Berlin (Ost) 1960. S. 784 t.

  8. ibid. S. 784.

  9. V. I. Lenin, Socinenija. 4. Ausl. Bd. 31, S. 32.

  10. Pedagogiceskaja enciklopedija, Bd. I, Sp. 445.

  11. Vgl. hierzu die Aufsätze des Verfassers: Die Reform des sowjetischen Bildungswesens, Osteuropa, IX (1959), S. 128— 143; Zwischenbilanz der sowjetischen Schulreform, Osteuropa, XI (1961), S. 285— 301.

  12. Pravda, 21. 9. 1958.

  13. Problemy kommunisticeskogo vospitanija, S. 56.

  14. ibid. S. 55.

  15. Rabocij byt 1 kommunizm, Novyj mir, 34 (1960), Nr. 7. S. 203— 220.

  16. Pravda, 28. 1. 1959.

  17. Sovetskaja obscestvennost'i skola, Sovetskaja pedagogika, 25 (1961), Nr. 5, S. 10.

  18. a. a. O. S. 63 f.

  19. UditeFskaja gazeta, 4. 10. 1960.

  20. Problemy kommunistideskogo vospitanija, S. 66.

  21. Vgl die in . Ost-Probleme*, 12 (1960), Nr. 6 abgedruckte Diskussion zu diesem Thema.

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