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Deutschlands Hauptstadt Berlin | APuZ 40/1961 | bpb.de

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APuZ 40/1961 Deutschlands Hauptstadt Berlin

Deutschlands Hauptstadt Berlin

Berlin wird zur Viersektorenstadt

Das Wappentier Berlins an der Autobahn beim Kontrollpunkt Dreilinden

Am 2. Mai 1945 wurde nach dem Zusammenbruch des letzten sinnlosen Widerstandes ganz Berlin von den Russen besetzt. Die Hauptkräfte der westlichen Verbündeten standen zu diesem Zeitpunkt noch fast zweihundert Kilometer westlich — an der Elbe. Vereinzelte Einheiten der Engländer und Amerikaner waren zwar schon bis zur mecklenburgischen Ostseeküste und in die Tschechoslowakei vorgedrungen. Es ist seitdem unter militärischen und politischen Fachleuten viel darüber diskutiert worden, ob es für die Westmächte klüger gewesen wäre, an der Eroberung von Berlin teilzunehmen, oder ratsamer war, diese Aufgabe und die damit verbundenen ungeheuren Opfer an Blut und Leben den Russen zu überlassen.

der Ein „Nolksarmist“ an Sektorengrenze

Um nach den Beschlüssen von Jalta ihr gemeinsames Hauptquartier in Berlin aufzuschlagen, trafen am 5. Juni 1945 die englischen und amerikanischen Kommandanten ihre russischen Kollegen in Berlin-Karlshorst und legten die endgültigen Vereinbarungen über die gemeinsame Besetzung von Berlin fest. Danach sollte Berlin zunächst in drei Sektoren geteilt und Frankreich eingeladen werden, einen eigenen, vierten Sektor zu übernehmen. Das Angebot nahmen die Franzosen an. Die Russen behielten ganz Ostberlin mit seiner Arbeiterbevölkerung und seinen Fabriken, die Engländer übernahmen den industriellen Nordwesten und den einst mondänen alten Westen, die Amerikaner den Südwesten mit seinen eleganten Vororten. Den Franzosen wurde ein Sektor im Norden zugeteilt.

Die Westmächte erhielten Zutrittsrecht zu ihren Berliner Sektoren — die wie Inseln im sowjetischen Besatzungsgebiet lagen — über die 150 Kilometer lange Autobahnstrecke Helmstedt-Berlin, die zu diesem Zweck internationalisiert wurde, auf der fast parallel dazu verlaufenden Eisenbahnstrecke und auf drei Luftkorri-doren. Einzelheiten über die Benutzung und Aufrechterhaltung dieser Zugangsstraßen wurden nicht festgelegt; ein Versäumnis, das schon drei Jahre später zu einem der gefährlichsten Konflikte der Nachkriegszeit führen sollte.

Im Austausch für das Recht, nach Berlin kommen zu dürfen, erklärten sich die Briten und Amerikaner bereit, ihre vorgeschobenen Einheiten aus den Ostprovinzen hinter eine neue Demarkationslinie westlich der Elbe und Werra zurückzunehmen. In der Nacht zum 4. Juli 1945 rückten Einheiten der Siebenten britischen Panzerdivision — der berühmten „Wüstenratten“, die in El Alamein Rommels Afrikakorps besiegt hatten — in Berlin ein. Gleichzeitig besetzten Truppen der amerikanischen Streitkräfte den ihnen zugeteilten Sektor von Berlin. Die Berliner Bevölkerung begrüßte die anglo-amerikanischen Besatzungstruppen mit der gleichen jubelnden Begeisterung, mit der im Jahre 1944 die Einwohner von Paris, Brüssel und Holland diese Soldaten als Befreier empfangen hatten.

Die Berliner hatten während der vorangegangenen sechs Monate Schweres durchgemacht. Auf die Bombenangriffe und den Wahnsinn der letzten Tage des zwecklosen Widerstandes, als die Fanatiker der SS in den Straßen Amok liefen und vernünftigere Mitbürger als Verräter an die Laternenpfähle hängten, waren die russischen Siegesorgien mit Raub, Plünderungen und furchtbaren Vergewaltigungen gefolgt. Es war daher verständlich, daß die verängstigte Bevölkerung den Einzug der siegreichen Truppen der westlichen Alliierten als einen Auftakt der Rückkehr zu normaleren und zivilisierteren Lebensbedingungen begrüßte.

Die westlichen Besatzungsmächte übernahmen eine Trümmerstätte, in der, fast wie ein Widerspruch, noch immer zwei Millionen Menschen lebten. Die meisten Häuser waren Ruinen; in der ganzen Stadt gab es kaum ein un-zerbrochenes Fenster; die Wasserversorgung war zusammengebrochen, Typhusepidemien drohten. Öffentliche Verkehrsmittel bestanden praktisch überhaupt nicht, mit Ausnahme einiger kurzer U-Bahn-Strecken, die nicht unter Wasser gesetzt oder eingestürzt waren. Die meisten Brücken waren gesprengt worden. Es schien damals fast einfacher, die ganze Stadt zu evakuieren und an einer anderen Stelle neu zu errichten, als diese Riesenfläche der Zerstörung wiederaufzubauen.

Zwei Wochen, nachdem die ersten Einheiten der Briten und Amerikaner in Berlin eingerückt waren, trafen sich die alliierten Staatsoberhäupter in Potsdam, Präsident Truman für die USA, Winston Churchill und später Attlee für Großbritannien und Stalin für die Sowjetunion, um ihr unglückseliges Abkommen über ihre gemeinsame zukünftige Deutschlandpolitik zu schließen.

Kurz darauf, am 30. Juli, traten die drei siegreichen Oberbefehlshaber, General Eisenhower, Marschall Montgomery und Marschall Tschuikow, zur ersten Tagung des in Jalta geplanten Alliierten Kontrollrates, der neuen Regierung Deutschlands, zusammen. Als ihren Sitz hatten sie das ehemalige Kammergericht in der Elßholzstraße in Schöneberg im amerikanischen Sektor von Berlin ausgewählt. Nur etwa ein Jahr zuvor waren in dem gleichen Saal die Teilnehmer der Aktion des 20. Juli dazu verurteilt worden, an Fleischerhaken erhängt zu werden.

Das eindrucksvolle Sandsteingebäude, das von den Alliierten „The Building" — das Gebäude — genannt wurde, wurde für kurze, hoffnungsvolle Zeit das Symbol der Möglichkeit einer friedlichen und konstruktiven Zusammenarbeit zwischen Ost und West.

Jeden Monat führte eine andere Besatzungsmacht den Vorsitz im Alliierten Kontrollrat, die zur gleichen Zeit auch die Leitung der Kantine im „Building“ übernahm. Die Russen machten sich anfänglich mit ihren vollen Kaviarschüsseln äußerst populär, gingen aber bald in Anbetracht des ungeheuren Appetits ihrer westlichen Kollegen dazu über, die Schüsseln durch dünn bestrichene Kaviarbrote zu ersetzen. Die Franzosen hatten mit ihrer Küche den üblichen Erfolg, während es die Engländer verstanden, die mangelnde Begeisterung für ihre Kochkunst durch großzügige Versorgung mit gutem schottischem Whisky zu heben. Die Amerikaner zeichneten sich in erster Linie durch Riesenmengen von Sahneeis aus.

Als sich die Besatzungsmächte auf einen längeren Aufenthalt in Deutschland einzurichten begannen und ihre Familien nachkommen ließen, konnte man im „Building" -Restaurant amerikanische Kinder in ihren Cowboyausrüstungen vergnügt mit ihren russischen Altersgenossen in weißen Matrosenanzügen spielen sehen, wobei kein Erwachsener jemals begriff, wie die Spielgefährten mit ihren Sprachschwierigkeiten fertig wurden.

Dieses glückliche Bild alliierter Zusammenarbeit wurde bald durch gegenseitiges Mißtrauen getrübt. Die Russen hatten inzwischen — nach den Tagen brutaler Rache — ihre Herrschaft über Deutschland damit begonnen, wohltönende politische Versprechungen an das deutsche Volk zu machen. Diese waren aber mit einem System drückender Reparationsleistungen gekoppelt. Nicht nur Rohmaterialien und Maschinen wurden nach Rußland evakuiert, sondern ganze Fabriken einschließlich der Arbeiter und ihrer Familien. Die Westmächte machten bald eine volle Kehrtwendung und gingen von ihrer unrealistischen Politik der „Nichtfraternisierung" mit den Deutschen dazu über, Geld, Nahrungsmittel und Rohstoffe in ihre Hälfte von Deutschland zu, pumpen, um die deutsche Wirtschaft sobald wie möglich wieder auf eigene Füße zu stellen.

Diese völlig unterschiedliche Einstellung gegenüber dem besiegten Deutschland zeichnete sich später am sichtbarsten in Berlin ab, wo die Bewohner der westlichen Sektoren weit eher und schneller mit ihrem Wiederaufbau und ihrer Rückkehr zu zivilisierten Lebensbedingungen beginnen konnten als ihre weniger glücklichen Mitbürger im Osten.

Berlin war in den ersten 18 Monaten der Besatzung die Stadt des Schwarzmarktes. Das deutsche Geld, das nur durch alliierte Verordnungen gehalten wurde, war kaum so viel wert wie das Papier, auf dem es gedruckt war. Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände, Kleidungsstücke und Schuhe waren praktisch unerhältlich, und der Einkauf selbst der geringsten Lebensnotwendigkeiten stellte ein fast unlösbares Problem dar. Luxusartikel, wie Kaffee, Tee, Zitronen oder Apfelsinen waren überhaupt nicht vorhanden, und mit Fleisch und Fett stand es kaum besser. Eine Zeitlang gab es noch nicht einmal Salz, um das Essen schmackhafter zu machen.

Eine zusätzliche Härte war der Mangel an Brennmaterialien. Gas und Elektrizität waren streng rationiert und oft nur zu den sonderbarsten Zeiten verfügbar, wie zwischen drei und fünf Uhr morgens. Während des Schreckens-winters 1946/47, als zwischen November und April eisigste Kälte herrschte, wanderten die letzten Baumstämme des einst so schönen Tiergartens und der Grenzreviere des Grunewalds in die Öfen der frierenden und verzweifelten Berliner, zusammen mit ganzen Bibliotheken und wertvollen antiken Möbeln. Viele hilflose alte Menschen froren trotzdem zu Tode.

Da die meisten Fabriken durch Bomben-• angriffe zerstört worden waren und weder Bau-noch Rohmaterialien vorhanden waren, gab es wenig Arbeit, und die Erwerbslosenzahlen waren erschreckend hoch. Nur eine Arbeitsmöglichkeit war fast unbegrenzt vorhanden: Trümmer-beseitigung. Überall in der Stadt sah man Männer aller Altersschichten und vor allem viele Frauen in abgetragenen Kleidern und zerrissenen Schuhen mit viel Fleiß, bloßen Händen, Hämmern und Eimern, ohne Unterstützung durch wirksame Maschinen an der gigantischen Aufgabe, Millionen Tonnen von Schutt aufzuräumen. Am Ende einer Woche voller harter, mühevoller Arbeit konnten sie sich neben den viel zu knappen Rationen von ihrem Lohn kaum mehr als ein Brot oder eine Handvoll Karto. -fein kaufen. Für ein Pfund Butter auf dem Schwarzen Markt hätten sie wenigstens einen Monat arbeiten müssen. In jenen Tagen war die Zigarette das begehrteste aller Besitztümer und eine härtere Währung als das Geld. Da sich der Wert des Geldes täglich änderte, wurden die meisten Preise auf die von britischen oder amerikanischen Besatzungsangehörigen gekauften Zigaretten abgestellt. Eine englische Zigarette erzielte zeitweise bis zu acht Mark, eine „Ami", an sich bei den Rauchern populärer, etwas weniger, da sie in größeren Quantitäten angeboten wurde. Zu diesem Kurs war der Wochenlohn eines Arbeiters real kaum drei Zigaretten wert.

Die amerikanischen und britischen Soldaten fanden in diesen Tagen viele Freunde, nicht nur unter den Berliner Mädchen, sondern auch unter den anderen Familienmitgliedern, denn sie waren die glücklichen Besitzer vieler Zigaretten, Schokoladen und anderer Köstlichkeiten.

Auch ihre russischen Kollegen, deren Oberkommando sich weniger um das leibliche Wohlergehen seiner Soldaten sorgte, waren bereit, Höchstpreise für die begehrten „Papyrossi" und für Penicillin zu zahlen. Nach den in der Roten Armee kursierenden Gerüchten sollte diese Wunderdroge ein Allheilmittel für die verschiedenen peinlichen Leiden sein, die viele der sowjetischen Krieger befallen hatten, und jeder amerikanische oder britische Soldat wurde als ambulanter Penicillinhändler betrachtet. Manches Fläschchen mit kaltem Tee wurde zu Wucherpreisen an gläubige russische Soldaten verkauft, zum Nachteil für den Ruf von Professor Flemings wunderbarer Entdeckung und der Moral der alliierten Streitkräfte.

Ein Schwarzmarkt größten Stils entwickelte sich am ausgebrannten Reichstag. Ganze Jeep-Ladungen mit Zigaretten und anderen Luxuswaren wurden dort verauktioniert.

Der Alliierte Kontrollrat, besonders seine Berliner Unterabteilung, die unter dem russifizierten Namen „Kommandatura“ operierte und Berlin von ihrem Hauptquartier am Thielplatz im amerikanischen Sektor regierte, machte mit Hilfe verantwortungsbewußter Berliner den nutzlosen Versuch, diesen unerfreulichen Entwicklungen ein Ende zu bereiten. Sie wurden daran durch die herrschenden Umstände, besonders aber durch ihre wachsende Uneinigkeit gehindert.

Als der Kalte Krieg begann, wurde Berlin sein Schlachtfeld. Man kann fast sagen, daß er dort ausbrach. Seine unmittelbare Ursache war eigentlich der Wettbewerb der ehemaligen Verbündeten um die Gunst ihres bisherigen gemeinsamen Feindes, der Deutschen. Noch immer über 60 Millionen stark, tüchtig, zäh, arbeitsam und von einer erstaunlichen Erholungsfähigkeit, blieb das deutsche Volk eine Kraft von größter Wichtigkeit in Europa.

Schon in den Tagen, da die Russen ihren Sieg mit Raub und Plünderungen in den Straßen Berlins feierten, ließen sowjetische Propaganda-offiziere in der ganzen Stadt Spruchbänder anbringen, die der zweifelnden Bevölkerung ewige Freundschaft versprachen: „Die Hitler kommen und gehen, aber Deutschland und das deutsche Volk bleiben bestehen.“ Andere, weniger pathetisch, ließen lediglih Stalin als Befreier des deutschen Volkes hohleben. Ihr Liebeswerben fiel auf schlechten Boden. Vielleicht wären sie auf mehr Gegenliebe gestoßen, wenn ihre Worte mehr im Einklang mit ihren Taten gestanden hätten. Da sie sich aber benommen hatten, wie es von Goebbels in böser Absicht vorausgesagt wurde, verspielten sie jede Möglichkeit, die Herzen des deutschen Volkes erobern zu. können. Wenn ein paar betrunkene amerikanische Soldaten, von zynischen Berlinern „Russen mit Bügelfalten“ genannt einen der wohlhabender aussehenden Bürger um seine Brieftasche oder Armbanduhr erleichterten, zeigten die Berliner ein gewisses väterliches Verständnis für solchen „Zeitvertreib“; wenn die „Iwans“ dasselbe taten, gab es kein Verzeihen. Die Russen versuchten durch geschickte politische Manöver zurückzugewinnen, was sie auf dem Felde menschlicher Beziehungen verloren hatten.

In den deutschen Parlamentswahlen des Jahres 1932 — bevor Hitler an die Mäht kam und das Leben der freien politishen Parteien in Deutschland beendete — standen Sozialdemokraten und Kommunisten nah den Nazis an zweiter und dritter Stelle und waren zusammen stärker als Hitlers Partei. Die Sozialdemokraten waren mit ihrer langen politischen Tradition, die über Liebkneht und Bebel bis auf Marx und Engels zurückging, und ihren gut organisierten Gewerkshaften immer eine stärkere Mäht gewesen als die Kommunisten, die sih nur auf Moskau und die Verzweiflung von zwei Millionen Arbeitslosen stützen konnten. Die deutschen Kommunisten schwärmten seit jeher für eine Einheitsfront mit den Sozialdemokraten, um den zahlenmäßig stärkeren Partner verschlucken zu können. Die Sozialdemokraten hatten — verständlicherweise — derartige Annäherungsversuche immer abgelehnt.

Die Russen versuchten nun, den alten Traum der deutshen Arbeiterklasse nah einer einigen Arbeiterbewegung auf ihre Weise zu erfüllen. Sie wollten die beiden Parteien vereinigen, wenn nicht freiwillig, dann auf Befehl Die Führer der Sozialdemokratischen Partei in der Ostzone, vor allem Otto Grotewohl und Max Fehner, wurden mehrfah zum russischen Oberkommando nah Karlshorst beordert und stimmten dort schließlich der Vereinigung ihrer Partei mit den Kommunisten in eine Sozialistische Einheitspartei (SED) zu. Diese neue Partei wurde von einem Veteran der deutshen Kommunisten. Wilhelm Pieck, geleitet, der aus seiner Emigration in Moskau mit dem Rang eines

Obersten der Roten Armee und einer großen Luxuslimousine zurückgekehrt war, sowie dem früheren kommunistischen Reihstagsabgeordneten Walter Ulbricht, dem spitzbärtigen Vertrauensmann des Kreml in Deutschland.

Vom Westen protestierte die kompromißlose Stimme Kurt Schumachers, des großen Führers der deutshen Sozialdemokratie, gegen die gewaltsame Vereinigung der beiden Bewegungen und verkündete, daß nur durch eine freie Entscheidung von Vertretern der beiden Parteien aus Ost-und Westdeutshland ein derartiger Zusammenschluß wirksam gemäht werden könne. Im Februar trafen sieben Mitglieder der SPD in Westberlin zu einer Geheimbesprechung zusammen und beschlassen, die befohlene Vereinigung abzulehnen und als selbständige Sozialdemokratische Partei in Berlin weiter bestehenzubleiben. Sie wurden darin von der damaligen sozialistischen Regierung Großbritanniens unterstützt, später, jedoch etwas zögernder, auh von den Amerikanern. Im Mai 1946 beschloß die Alliierte Kommandantur, so-wohl die unabhängige SPD als auh die kommunistischre SED für aEe vier Sektoren von Berlin zuzulassen.

Arno Scholz— Peter K. Orton

„Wir setzen Bürgermeister und Bezirksverwaltungen ein”

Holzsawmler (1946)

In den ersten Maitagen hatten die russishen Kommandanten von sih aus Bürgermeister und Bezirksverwaltungen eingesetzt. Ihre Zusammensetzung war niht selten völlig willkürlich. Die Kommandanten, oft der deutshen Sprahe niht mähtig, waren in einer schwierigen Situation. Wie sollten sie vorgehen? Sie lösten die Probleme auf ihre Weise (und dies soll keineswegs als Vorwurf gemeint sein): sie setzten einfach diejenigen ein, die erklärt hatten, sie seien „Antifaschisten", „KZ-Häftlinge" oder „alte Kommunisten". Ein Kommandant war nah Eintreffen des Befehls, Bezirksbürgermeistereien zu bilden, einfah auf die Straße gegangen. Einen zufällig vorübergehenden Mann, der ihm aus irgendeinem Grunde sympathish ershien, zupfte er am Ärmel und erklärte: „Komm her, du jetzt Bürgermeister.“ Er hatte zufällig einen guten Griff getan. Es handelte sih um einen durhaus fähigen Mann.

Leider war es niht überall so. Manhmal entpuppten sih shon nah wenigen Tagen die sogenannten „ Antifaschisten", „KZ-Häftlinge“ oder „alten Kommunisten“ als Karrieristen, unfähige Menschen, zweifelhafte Existenzen, in einigen Fällen sogar als ehemalige aktive Nazis.

Es war nun unsere Aufgabe, die Mängel in den zufällig entstandenen Verwaltungen abzustellen und fähige Antifaschisten einzusetzen.

Ulbricht gab uns neue Direktiven. Jede Bezirksverwaltung sollte von einem Bürgermeister und zwei Stellvertretern (wobei der erste Stellvertreter gleichzeitig der Dezernent für Personalfragen sein sollte) geleitet werden und aus einer Reihe von Dezernaten bestehen: Ernährung, Wirtshaft und Soziales, Gesundheitswesen, Verkehr, Arbeitseinsatz, Volksbildung, Finanzen, einem Beirat für Kirchenfragen u. a.

Shon die einfache Besetzung dieser Stellen — in zwanzig Berliner Bezirken! — war eine sehr schwierige Aufgabe, um so mehr, als Ulbriht uns dauernd antrieb und erklärte, die Arbeit müsse „spätestens in zwei Wochen" zu Ende sein. Aber es handelte sih niht nur um eine „einfache Besetzung". Ulbricht erklärte uns:

„Die Bezirksverwaltungen müssen politisch rihtig zusamnengestellt werden. Kommunisten als Bürgermeister können wir niht brauchen, höchstens im Wedding und in Friedrichshain. Die Bürgermeister sollen in den Arbeiterbezirken in der Regel Sozialdemokraten sein. In den bürgerlihen Vierteln — Zehlendorf, Wilmersdorf, Charlottenburg usw. — müssen wir an die Spitze einen bürgerlihen Mann stellen, einen, der früher dem Zentrum, der Demokratishen oder Deutshen Volkspartei angehört hat. Am besten, wenn er ein Doktor ist; er muß aber glethzeitig auh Antifashist sein und ein Mann, mit dem wir gut Zusammenarbeiten können."

„Und die anderen Posten?“ warf einer ein.

„Niht so voreilig, kommt gleih dran. Die müssen der politishen Struktur der Berliner Bezirke angepaßt sein. In Zehlendorf kann es niht so sein wie in Wedding oder Friedrichs-hain. In den Arbeitervierteln müssen wir vor allem viele Sozialdemokraten heranziehen oder parteilose Antifaschisten aus der Arbeiterklasse, die mit uns eng zusammenarbeiten. In den bür-gerlichen Vierteln müssen wir möglichst viele Bürgerliche finden.

Für den stellvertretenden Bürgermeister, für Ernährung, für Wirtschaft und Soziales sowie für Verkehr nehmen wir am besten Sozialdemokraten, die verstehen was von Kommunalpolitik. Für Gesundheitswesen antifaschistisch eingestellte Ärzte, für Post und Verbindungswesen parteilose Spezialisten, die etwas davon verstehen.

Jedenfalls müssen zahlenmäßig mindestens die Hälfte aller Funktionen mit Bürgerlichen oder Sozialdemokraten besetzt werden."

Wir machten lange Gesichter, denn bisher hatten wir fast ausschließlich Kommunisten kennengelernt und wußten gar nicht, woher wir so schnell die Bürgerlichen und Sozialdemokraten nehmen sollten.

Ulbricht fuhr fort: „Ihr kennt jetzt schon genug Leute. Gleich morgen kann man mit der Zusammensetzung der Verwaltungen beginnen. Sucht euch zunächst einmal den Bürgermeister. Wenn ihr erst einen Bürgerlichen oder Sozialdemokraten habt, dann werdet ihr auch schon an andere herankommen.

Und nun zu unseren Genossen. Der erste stellvertretende Bürgermeister, der Dezernent für Personalfragen und der Dezernent für Volksbildung — das müssen unsere Leute sein. Dann müßt ihr noch einen ganz zuverlässigen Genossen in jedem Bezirk ausfindig machen, den wir für den Aufbau der Polizei brauchen.

Das gilt für alle Bezirke. In manchen Bezirken werden wir uns nur auf die Besetzung dieser Funktionen beschränken. In den Arbeitervierteln Wedding, Friedrichshain, Neukölln und Lichtenberg können wir vielleicht von unseren Leuten einen oder zwei mehr einsetzen.“ „Und der Beirat für Kirchenfragen?“

„Da müßt ihr eben antifaschistische Geistliche finden. Mit denen muß man gut Zusammenarbeiten; das ist jetzt sehr wichtig." Ich bekam den Eindrude, daß ich den Kursus in der Kominternschule nicht umsonst besucht hatte, denn nun spielte sich haargenau das ab, was ich vor zweieinhalb Jahren in Baschkirien in den Seminaren üben mußte — Volksausschüsse „richtig“ zusammenzusetzen, mit dem einen Unterschied allerdings, daß es sich hier nicht um Volksausschüsse, sondern um Bezirksverwaltungen handelte. Über Ulbrichts Direktiven wurde noch hin und her diskutiert; vor allem über die Frage, wie man plötzlich soviel Bürgerliche und nun auch noch Geistliche finden sollte. Aber etwa nach einer halben Stunde brach Ulbricht die Diskussion ab. Im klassischen Sächsisch gab er uns die letzte abschließende Direktive: „Es ist doch ganz klar: es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben."

Nun war wirklich alles klar.

Wieder erfolgte eine Aufteilung der Berliner Bezirke. Insgeheim hoffte ich einen Bezirk zu bekommen, in dem man einen Sozialdemokraten zum Bürgermeister machen sollte, denn immerhin war es in jenen Maitagen noch leichter, einen Sozialdemokraten als einen „Bürgerlichen“ aufzutreiben. Aber das Schicksal war mir nicht wohlgesonnen. Ich bekam ausgerechnet — Wilmersdorf, einen Bezirk, „wo wir unbedingt einen Bürgerlichen an der Spitze haben müssen."

So stand ich dann am nächsten Morgen etwas ratlos vor der Kommandantur in der Berliner Straße. In Wilmersdorf kannten wir schon eine Reihe von Genossen. Ich war gerade dabei, zu überlegen, ob ich sie nicht aufsuchen sollte, um mit ihrer Hilfe einen bürgerlichen Bezirksbürgermeister zu finden. Da kam mir ein Zufall zu Hilfe.

Vor der Kommandantur war ein riesiges Gedränge. Ein Parterrefenster stand offen. Im Zimmer saß der Kommandant, auf der Straße, direkt vor dem Fenster stand ein junges Sowjetmädchen in Uniform.

Die Leute wollten vom Kommandanten die verschiedensten Fragen beantwortet haben. Seine Antworten aber waren oft unklar, die Übersetzung des Mädchens noch unklarer. Bei der ganzen Sache kam nicht viel heraus. Kurz entschlossen stellte ich mich neben die Übersetzerin, um ihr zu helfen. Wenige Minuten später war ich nun selbst umringt von Wilmersdorfern.

Ein etwa 45jähriger Mann trat auf mich zu:

„Könnte ich Sie für einen Augenblick einmal allein sprechen?“

Wir stellten uns etwas abseits.

„Entschuldigen Sie, daß ich mich an Sie wende.

Ich habe bemerkt, daß Sie über die Dinge orientiert sind und außerdem fließend Russisch sprechen. Es handelt sich um folgendes: Im Zusammenhang mit der Verschwörung des 20.

Juli wurde ich verhaftet und bin bis vor wenigen Tagen in einem KZ gewesen ..

Er zeigte mir seine Papiere, und nach einigen Fragen stellte es sich heraus, daß er früher Mitglied der Demokratischen Partei gewesen war und in der Hitlerzeit einem Oppositionskreis angehört hatte. Es war offensichtlich ein „bürgerlicher“ Oppositionskreis — genau das, was ich suchte!

Er stellte noch ein paar praktische Fragen, die ich ihm gleich beantwortete, und er wollte sich schon dankend verabschieden.

„Nun werden Sie mich entschuldigen, daß ich mich so direkt an Sie wende“, sagte ich hastig; „wären Sie bereit, an führender Stelle in der neuen Bezirksverwaltung tätig zu sein? Wir suchen befähigte Antifaschisten, und aus unserem kurzen Gespräch habe ich den Eindruck gewonnen, daß Sie sich sicher dafür eignen werden." Er lächelte freundlich, hob aber abwehrend die Hände.

„Nein, ich glaube, das paßt nicht für mich.

Für Verwaltungssachen werde ich kaum taugen.

Aber wenn Ihnen an Verwaltungskräften gelegen ist — ich habe einen guten Freund, einen ehemaligen Oberregierungsrat, früheres Mitglied der Deutschen Volkspartei, mit großen Verwaltungskenntnissen. Er war ein erbitterter Gegner des Krieges und wurde nach dem 20. Juli verhaftet. Er würde sich bestimmt dafür interessieren."

„Wo wohnt er?“ „Nicht weit von hier. Es sind vielleicht fünfzehn Minuten.“ Ich zeigte auf den mir zur Verfügung stehenden Wagen. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, mit mir gleich hinzufahren?“ So fuhren wir — auf der Jagd nach einem Bürgermeister für Berlin-Wilmersdorf. Die kleine Villa, vor der wir hielten, machte einen etwas vernachlässigten Eindruck.

Ein alter, freundlich aussehender Herr, der gewiß bessere Tage gesehen hatte, öffnete uns die Tür: „Dr. Willenbücher", stellte er sich vor.

Wir kamen bald ins Gespräch, und nach 10 Minuten hatte ich im stillen schon den Entschluß gefaßt: „Dr. Willenbücher wird Bürgermeister von Wilmersdorf.“ Er war mir vom ersten Augenblick an sympathisch — und außerdem entsprach er haargenau der Direktive Ulbrichts: Er stammte aus einem bürgerlichen Milieu, war Mitglied einer bürgerlichen Partei, Antifaschist, hatte den Doktortitel und außerdem, was bei den Direktiven zwar nicht ausdrücklich erwähnt wurde, aber immerhin wichtig war, als Oberregierungsrat a. D. langjährige Erfahrung in Verwaltungsfragen. „Würden Sie bereit sein, den Posten des Bezirksbürgermeisters von Wilmersdorf anzunehmen, wenn die Besatzungsbehörde einverstanden ist?"

Er streckte sich und schien einige Zentimeter größer zu werden. „Es wird mir eine Ehre sein, meine bescheidenen Verwaltungskenntnisse in den Dienst der Öffentlichkeit zu stellen.“

Mir fiel das Groteske an der Situation auf: ein in der Sowjetunion ausgewachsener 23jähriger Kommunist, seit drei Tagen in Deutschland setzt ehemalige Regierungsräte als Bürgermeister ein!

Nun galt es die andere Seite — den russischen Kommandanten — zu bearbeiten. Aber das ging leicht. Er war heilfroh, daß ihn jemand von der unangenehmen Aufgabe befreite, mitten in dem ganzen Durcheinander noch einen deutschen Bürgermeister zu suchen. „Bringen Sie Ihren Bürgermeister gleich her. Wir werden mit ihm eins trinken und ihn gleich ernennen“, sagte er.

Wenige Minuten später war ich wieder bei Dr. Willenbücher. Diesmal sah er schon anders aus. Er hatte seinen besten schwarzen Anzug angezogen, ging nicht mehr so gekrümmt, sondern schon etwas würdevoll. Seine Augenbrauen hoben sich in angenehmer Überraschung, als er in ein Auto gebeten wurde.

Der Kommandant, dem ich schon vorher gesagt hatte, daß es sich um einen bürgerlichen Mann handele, der etwas auf Formen hielt, versuchte sein Bestes. „Es freut mich, Herr Dr. Willenbücher, Sie hier begrüßen zu dürfen.“ „Die Freude liegt ganz auf meiner Seite“, gab Willenbücher bescheiden zur Antwort. Wir setzten uns in den für die Maitage 1945 relativ behaglichen Raum, und der Kommandant stellte pro forma noch einige Fragen. Nach wenigen Minuten erklärte er in etwas feierlichem Ton, daß er hiermit „Dr. Willen-bücher zum Bezirksbürgermeister von Berlin-Wilmersdorf“ ernenne. Ein Adjutant hatte inzwischen Gläser und Wodka gebracht, und in einer bereits ganz freundlichen Atmosphäre hob der Kommandant das Glas und trank „auf die erfolgreiche Tätigkeit der neuen deutschen Bezirksverwaltung von Berlin-Wilmersdorf“.

Wir waren alle zufrieden: Der Kommandant, weil er eine schwere Aufgabe auf leichte Art gelöst hatte; Dr. Willenbücher, weil er Bürgermeister wurde, und ich, weil in Wilmersdorf die Direktive Ulbrichts nicht nur wortgetreu erfüllt worden war, sondern weil ich auch glaubte, mit meinem ersten Bürgermeister eine gute Wahl getroffen zu haben.

Noch am gleichen Tage hatte ich die Vorschlagliste für die wichtigsten Funktionen des Wilmersdorfer Magistrats getreu nach den Direktiven zusammenzustellen. Der stellvertretende Bürgermeister und der Dezernent für Volksbildung waren Kommunisten. Ein zuverlässiger ehemaliger KPD-Funktionär übernahm die Leitung der Polizei. Einige weitere Dezernenten waren Parteilose, Sozialdemokraten oder Bürgerliche. „In Ordnung — und recht vielen Dank“, sagte der Kommandant. Die Bezirksverwaltung von Wilmersdorf ging an ihre Arbeit.

So wurden in den ersten zehn Maitagen in allen übrigen zwanzig Bezirken Berlins durch uns und durch die mit uns zusammenarbeitenden aktiven Genossen die Bezirksverwaltungen in ähnlicher Weise eingesetzt. Bei den Kommandanten gab es nicht die geringsten Schwierigkeiten. Im Gegenteil: Bereitwilligst unterzeichneten sie alle von uns vorgeschlagenen Listen, wobei wir zum Essen eingeladen und soviel zum Trinken genötigt wurden, daß bei uns schon das Scherzwort aufkam: „Einen Bürgermeister einzusetzen ist ja noch leicht, aber wie schafft man es, sich vor Trinkgelagen der Kommandanten zu drücken?"

Wolfgang Leonhard

Das Leben geht weiter

der Arbeit ^TrüwHterfrauen“ bei

Es gab Berliner, die sich, seitdem der letzte Schuß gefallen war, überhaupt nicht mehr für ihr eigenes Schicksal interessierten, sondern nur noch für das Schicksal der Allgemeinheit. Die meisten aber konnten und wollten nicht über ihr eigenes Schicksal hinaus denken, sie waren vollauf damit beschäftigt, daß sie hungerten und froren und im Dunkeln saßen. Einige wenige schienen es gar nicht zu bemerken. Sie konnten tagelang leben, ohne mehr zu essen als ein Stück trockenes Brot. Sie vergaßen, daß sie hungrig waren. Sie liefen täglich unzählige Kilometer durch die Stadt, als sei dies das Normale. Sie merkten gar nicht, daß sie durchnäßt waren und vor Kälte zitterten. Sie waren völlig besessen von der Idee, etwas für die anderen zu tun.

Vielleicht ist es besser, zu sagen, sie wollten nicht so sehr etwas für andere tun als für die Stadt, in der sie lebten und den größten Teil ihres Lebens verbracht hatten. Sie wollten auch nicht einen Augenblick lang zugeben, daß Berlin eine sterbende Stadt war. Sie gaben allenfalls zu. daß Berlin verschüttet war. Man mußte es nur ausgraben. Dann würde Berlin schon wieder funktionieren.

Die Berliner mit Privatinitiative verliehen der Stadt ihr neues Gesicht. Es war vielleicht ein provisorisches Gesicht, aber es war besser als nichts.

Sofort nach Kriegsende, ja eigentlich noch während die letzten Schüsse fielen, wurde in Berlin wieder Theater gespielt. Während noch die Eroberung Berlins im Gange war, hatte ein sowjetischer Offizier sich die Zeit genommen, im zufällig unbeschädigten Deutschen Theater, das einmal Max Reinhardt gehört hatte, vorzusprechen und eine Wiedereröffnung zu befehlen. In der Tat wurde wenige Tage später auf der Bühne des Deutschen Theaters wieder gespielt, freilich, von schreckensbleichen und zitternden Schauspielern, denn noch wurde um die Stadt gekämpft.

Aber es war dank der Initiative einiger weniger Berliner möglich, daß wenige Wochen nach Kriegsende nicht nur in den vier Theatern, die noch heil waren, gespielt wurde, sondern auch in den Aulen der Schulen, in Kirchen, in Gastwirtschaften, ja, solange es die Witterung erlaubte, im Freien.

Die Berliner waren immer theaterwütig gewesen, und jetzt waren sie es mehr denn je. Sie wollten wenigstens ein paar Stunden lang vergessen, was sie täglich und stündlich zu ertragen hatten.

Plötzlich hatten die Zeitungen wieder einen Vergnügungsteil, und dazwischen fand man Annoncen wie: „Scala sucht Girls, Größe nicht unter 1, 62“, „Junge Refrainsängerin sucht Anschluß an bekannte Tanzkapelle“, oder: „Hebbel-Theater sucht dringend Hobelbänkel" Oder: „Jeder Besucher des Schloßparktheaters wird gebeten, einen Nagel mitzubringen.“

Es war sicher kein Zufall, daß mitten im Westen aus einem Trümmerhaufen eine Opernbühne entstand, die bald wieder zu den führendsten Europas gehören sollte. Der Mann, der das schaffte, war Michael Bohnen, zwischen 1915 und 1930 der größte Baß-Bariton Deutschlands, der nach dem ersten Weltkrieg auch an der Metropolitan Oper in New York Triumphe feierte.

Einige Tage nach der Eroberung Berlins stand er vor dem „Theater des Westens“. „Das heißt, es wäre besser, zu sagen, ich stand vor der Ruine, die einmal so hieß", erzählte er mir später. „Die Umfassungsmauern standen noch. Aber vom Dach war keine Spur mehr zu sehen. Die Bühne war ausgebrannt, das Parkett ein Trümmerhaufen, die Bestuhlung nur noch als Brennholz zu gebrauchen. Übrigens lagen im Parkett und in den Gängen Leichen von Unglücklichen herum, die sich beim russischen Artilleriebeschuß schutzsuchend ins Theater geflüchtet hatten. . .“

Licht-und Wasserleitungssysteme waren zusammengebrochen; die Dekorationen verbrannt, die Kostüme verbrannt oder von russischen Soldaten gestohlen. Es gab kein Notenmaterial mehr, keine Textbücher, nichts. „Ich weiß nicht mehr genau, wie lange ich kopfschüttelnd in diesem Trümmerhaufen umherspazierte“, sagte Bohnen. „Es vergingen wohl ein oder zwei Stunden. Plötzlich merkte ich, daß ich nicht mehr allein war. Zwei ehemalige Bühnenarbeiter hatten sich mir beigesellt. Dann schloß sich uns eine Choristin an. Dann kamen drei Musiker, die gehört hatten, daß das Theater wieder eröffnet werden sollte.“

Das war noch, bevor es Zeitungen oder Post gab. Und doch erfuhren in den nächsten Tagen zahlreiche Opernsänger, Dekorationsmaler, Bühnenarbeiter, Souffleusen, Korrepetitoren, Ballettmeister, daß das „Theater des Westens“ wieder eröffnet werden sollte. Irgendwie fanden sie ihren Weg zur Ruine. Sie fragten nicht viel, sie began en zu arbeiten. Es lag kein Pirn vor, al es wurde spontan unternommen, der Schu t wurde mit den bloßen Händen weggeräumt.

Man barg die Leichen, man machte notdürftig sauber. Es wurde schwer gearbeitet, von morgens früh vier, fünf Uhr bis spät abends. Noch gab es keine Verkehrsmittel, die Menschen mußten zu Fuß zum Theater kommen und abends wieder zu Fuß zurück. Sie kamen trotzdem. Sie brachten ein paar Scheiben trockenes Brot mit und ein wenig Ersatzkaffee, der über offenem Holzfeuer gewärmt wurde. Das war alles.

Heldentenöre und Balletmädchen, Dirigenten und Bühnenmaler schleppten Balken, kehrten, fegten, Tag für Tag. Ein Dach wurde notdürftig gezimmert.

Und während die Ruine wieder repräsentabel gemacht wurde, ließ sich Bohnen in irgendeiner Ecke von jungen Sängern vorsingen, von jungen Musikern vorspielen, von Bühnenmalern Entwürfe zeigen. Er tätigte Tag und Nacht Engagements. Er stellte ein Ensemble zusammen, obwohl er keinen Pfennig Geld hatte. Eine der vielen Schwierigkeiten bestand darin, daß kein Telefon funktionierte. Brauchte Bohnen eine Auskunft von der Stadtverwaltung, mußte er einen seiner Mitarbeiter zu Fuß hinschicken. Das war ein Tagesausflug. Und wenn der Beamte zufällig nicht da war, mußte die Sache am nächsten Tag wiederholt werden.

Eine weitere Schwierigkeit: Michael Bohnen durfte niemanden engagieren, der in der Partei gewesen war. Gleich in den ersten Tagen mußte er 75 Sängern und Musikern, die sich bewarben, aus diesem Grunde absagen. Trotzdem kam ein Orchester zusammen, trotzdem konnte mit den Proben begonnen werden.

Während auf der Bühne bereits geprobt wurde, entstand ein Theater. Stühle wurden herbeigeschafft. Man hatte sie aus anderen, völlig zerbombten Theatern ohne viel Formalitäten herausgeholt. Ein Vorhang wurde aus tausend Stoffresten zusammengeflickt. Irgendwo in der Stadt wurde Farbe entdeckt, irgendwo anders Leinwand, und so konnten die ersten Kulissen gemalt werden.

Bohnen drang in die Ruine eines anderen Theaters ein, fand noch einige Maschinen in den Schneiderwerkstätten, der Schreinerei und Schlosserei, die zu gebrauchen waren, rettete, was zu retten war.

Es wurde die Bühne instand gesetzt. Die Proben wurden in die Wandelgänge hinter den Logen verlegt, ins Foyer, in den Raum vor der Kasse. Es wurde im fast völlig dunklen Haus geprobt, da das elektrische Licht meist versagte. Es wurde geprobt, während überall im Hause gehämmert wurde, und der Höllenlärm schien niemanden zu stören.

Am 15. Juni, weniger als sechs Wochen nach dem Beginn der Instandsetzungsarbeiten, eröffnete das Haus, das sich nun stolz „Städtische Oper“ nannte, mit einem Balletabend. Am 2. September folgte die erste Opernaufführung — es war die erste deutsche Opernaufführung seit Kriegsende: Beethovens „Fidelio“. Es folgten in den nächsten Tagen und Wochen „Cavalleria Rusticana“, Bajazzo“, „Die verkaufte Braut“, „Don Giovanni“.

Das wäre auch in normalen Zeiten eine imponierende Anzahl von Neueinstudierungen gewesen. So wie die Dinge lagen, durfte man von einem Wunder sprechen. Für jede einzelne Oper mußte jedes Kostüm neu angefertigt, jede Kulisse neu gebaut, das Notenmaterial aufgefunden oder kopiert werden.

Die Beschaffung der Tuche allein war ein schier unlösbares Problem. Vorübergehend half sich Bohnen damit, daß er fast alle Kostüme aus Verdunkelungsvorhängen anfertigen ließ, deren es ja in Berlin genug gab, und die man jetzt nicht mehr brauchte.

Die Probenarbeit war schwierig. Die Künstler litten fast alle an Unterernährung, und viele brachen bewußtlos auf der Bühne zusammen. Aber nur äußerst selten ließen sie sich krankschreiben. Während der ersten Saison der „Städtischen Oper“ gab es weniger Absagen als in jeder normalen Friedensopemsaison. Lind das, obwohl die Künstler in den ersten Monaten nur nominelle Gagen bezogen. Warum eigentlich? Die Oper war vom ersten Tage an ausverkauft, die Menschen standen stundenlang vor der Kasse an, auch noch im Winter, in Schnee und Eis. Übrigens war es innerhalb des Hauses kaum wärmer als draußen. Denn es gab keine Kohlen. Die Musiker spielten in ihren Mänteln mit aufgeschlagenen Rock-kragen; ihre blauen Finger hielten nur mit Mühe die Instrumente. Die Ballettmädchen zitterten in ihren hauchdünnen Roben, die Sänger erblickten, während sie ihre Kantilenen sangen, ihren eigenen Atem im eisigen Raum.

„Wenn ich jetzt noch einmal daran zurückdenke, weiß ich wirklich nicht, wie wir das alles geschafft haben", sagte Michael Bohnen. Er war auch noch am Kriegsende ein recht wohlgenährter, zur Rundlichkeit neigender Mann. Im Februar 1946 hatte er über 70 Pfund abgenommen. Curt Riess

Die Niederlage der Kommunisten

LuftbriickenwaschiHen Rkeiu-Maiu-Flugplatz bei Frankfurt vow Typ C 47 auf deut

Uns war klar, daß die Gemeinde-und Landtagswahlen in der Zone nur ein Vorspiel waren: Die wirkliche Entscheidung mußte bei den Berliner Wahlen am 20. Oktober 1946 fallen.

Im „Haus der Einheit" war man im allgemeinen recht siegesgewiß.

Am 26. September gab Wilhelm Pieck eine offizielle Erklärung ab, wonach „durchaus für die SED die Möglichkeit besteht, die absolute Mehrheit aller Stimmen zu erhalten", sie zumindest aber „mit ihren Wahlstimmen an der Spitze aller übrigen Parteien marschieren werde“.

Während eines geselligen Abends mit verantwortlichen Berliner Funktionären schlug einer vor: „Nun wollen wir einmal sehen, wieweit wir die Lage richtig einschätzen. Wie wäre es, wenn jeder von uns auf einen Zettel die vermutlichen Prozentzahlen der Wahlergebnisse notieren würde?“

Als ich meine Zahlen vorlas, herrschte allgemeines Erstaunen: „SPD 30 %, SED 30 %, CDU 25 %, LDP 15 %“ hatte ich getippt. Von allen Voraussagen für die SED war meine die pessimistischste — und doch war sie noch weit von der Wirklichkeit entfernt.

Die Nacht vom 20. auf den 21. Oktober verbrachte ich in der Redaktion des „Neuen Deutschland“. Hier liefen alle Meldungen ein, und wir konnten sofort den besten Überblick erhalten.

In Erwartung des Wahlsieges waren vor dem Redaktionsgebäude große Lautsprecher angegebracht worden, um den draußen versammelten Menschen die Wahlergebnisse bekanntgeben zu können.

Die ersten Ergebnisse einiger Altersheime und Krankenhäuser im Ostsektor waren für uns noch recht ermutigend. Der Durchschnitt lag bei den von mir vorausgesagten 30 % für die SED. Dann kam eine Hiobsbotschaft nach der anderen. Unsere Gesichter wurden immer länger. Der Ansager, der die Wahlergebnisse den draußen wartenden Menschen bekanntgeben sollte, raufte sich die Haare. Verzweifelt suchte er aus den einlaufenden Meldungen die für die SED günstigsten heraus. Er versuchte sich dadurch zu retten, daß er immer wieder die ersten Ergebnisse aus den Krankenhäusern und Altersheimen des Ostsektors vorlas. Als aber die Protestrufe „Det harn wa schon jehört, die neuen woll’n wa wiss’n!" von draußen immer stärker wurden, wußte er nicht mehr ein noch aus. „Hör auf mit dem Quatsch“, sagte ein führendes Redaktionsmitglied, „stell doch bloß diese blöde Übertragung ein.“ Noch immer versuchten wir uns zu beruhigen. „Die großen Arbeiterviertel Friedrichshain, Wedding, Lichtenberg, Neukölln werden uns wieder herausreißen", sagte einer. Aber ich glaubte nicht mehr daran.

Mit jeder Viertelstunde wurde die Situation schlimmer und schlimmer. Die ersten zusammenfassenden Meldungen zeigten eine katastrophale Niederlage der SED und einen riesigen Wahlsieg der Partei, die wir noch vor sechs Monaten als „Zehlendorfer Krankenhausklub“ und in den letzten Wochen als „Rest-SPD“ bezeichnet hatten.

Lex Ende, der damalige Chefredakteur des „Neuen Deutschland“, stöhnte: „Ich muß für morgen den Leitartikel schreiben. Was soll ich denn bloß schreiben?“ Er schaute sich hilfe-suchend um. „Schreib doch: Alles im Eimer!“, sagte einer, der seinen Galgenhumor los werden wollte. „Nein, ernsthaft, ich muß das doch morgen begründen!"

Inzwischen war eindeutig die „Rest-SPD“ zur stärksten Partei Berlins geworden. Im Re-daktionszimmer wurde es immer stiller. Die Agenturmeldungen wurden schweigend weitergegeben. Das Schweigen wurde nur unterbrochen durch Lex Endes hoffnungslose Ausrufe:

„Was soll ich bloß schreiben?!“

In den frühen Morgenstunden hörten wir das endgültige Wahlergebnis: Die Sozialdemokratische Partei hatte 48, 7%, die Christlich-Demokratische Union 22, 1 %, die SED 19, 8 % und die Liberal-Demokratische Partei 9, 4 % aller Stimmen erhalten.

Die Ursache der Niederlage war mir wie vielen anderen Funktionären völlig klar. Im Volksmund hießen wir die „Russenpartei“. Wir hatten zwar theoretisch die Linie des besonderen deutschen Weges zum Sozialismus ausgearbeitet, das war aber nur einem kleinen Kreis der Bevölkerung bekannt und verständlich. In der Praxis hatten wir alle Maßnahmen der sowjetischen Besatzungsbehörden unterstützt und verteidigt. Wir bekamen von ihnen Papier, Wagen, Häuser und besondere Lebensmittelzuteilungen. Unsere Spitzenfunktionäre wohnten in großen Villen, hermetisch von der übrigen Bevölkerung abgeschlossen, von Soldaten der Sowjetarmee bewacht und fuhren mit Wagen, die teilweise russische Kennzeichen hatten. Das Wahlergebnis war die logische Folge unserer Abhängigkeit von der sowjetischen Besatzungsmacht. Die Berliner Bevölkerung hatte nicht gegen uns gestimmt, so sagte ich mir, weil wir für den Sozialismus sind, sie hat auch nicht gegen aufopferungsvolle Mitglieder und Funktionäre gestimmt, die, soweit es möglich war, alles getan hatten, um die Not der Bevölkerung zu lindern. Sie hatte gegen uns gestimmt, weil sie — leider nicht zu Unrecht — in uns eine von der Sowjetunion abhängige Partei sah.

Wolfgang Leonhard

Louise Schröder

Entladen eines Transportflugzeuges auf dem Flugplatz Tempelhof

Einen Tag vor Ausbruch der Blockade, am 23. Juni, war es im Stadthaus, wo die Berliner Stadtverordneten zusammentraten, zu unbeschreiblichen Szenen gekommen. Dies Stadthaus lag tief im sowjetischen Sektor, und diesen Umstand benutzten die Russen, um die Vertreter Berlins zu terrorisieren. Sie luden Tausende von jungen Menschen auf Lastwagen, fuhren sie bis vors Stadthaus und ließen sie dort Krach schlagen. Viele drangen in den Sitzungssaal ein und machten eine Zeitlang jede geordnete Arbeit unmöglich.

Als der Tumult gefährliche Aspekte annahm, ging eine Frau auf die Tribüne. Sie war klein, schmal, zerbrechlich. Unter stark ergrautem Haar sah man ein kluges, gütiges Gesicht, intelligente Augen hinter einer etwas zu großen Hornbrille. Die Frau war einfach, vielleicht ein wenig zu spießbürgerlich angezogen. Sie wirkte ernst und gefaßt, aber keineswegs nervös. Und es wurde ganz still im Saal. Diese Frau war Louise Schröder, die amtierende Oberbürgermeisterin von Berlin in dieser Zeit, der nicht einmal ein Mann gewachsen war.

Man hatte ihr das nicht an der Wiege gesungen. Nach relativ ereignisloser Jugend, die sie in Hamburg als Tochter eines Arbeiters verbrachte, trat die Zweiundzwanzigjährige, die unverheiratet war und bleiben wollte, in die Sozialdemokratische Partei ein. Sie wollte sich ganz der öffentlichen Wohlfahrt widmen. Aber sie drang genügend tief in den inneren Kreis der Partei ein, um nach dem ersten Weltkrieg in die Nationalversammlung gewählt zu werden, die in Weimar tagte. Von da ab saß sie in jedem deutschen Reichstag. Doch meldete sie sich selten zu Wort.

AIs Hitler kam und den Reichstag auflöste, flohen viele ihrer persönlichen Freunde ins Ausland oder kamen ins Konzentrationslager. Ihr selbst geschah nichts, außer daß sie unter Polizeiaufsicht gestellt wurde. Sie mußte sich also täglich zweimal bei der Polizei melden. Da sie sich ernähren mußte, arbeitete sie in einem Kolonialwarengeschäft, dann in einer Bäckerei, dann in einem Warenhaus, in Hamburg. Im Kriege ging sie wieder nach Berlin zurück, denn in der großen Stadt konnte man leichter untertauchen und anonym bleiben. Zweimal wurde sie ausgebombt und verlor das wenige, das sie sich zusammengespart hatte.

Als Kurt Schumacher 1945 die Sozialdemokratische Partei neu gründete, war sie wieder dabei. Und sie gehörte zu jenen Berliner Sozialdemokraten, die sich von den Russen nicht einschüchtern ließen und mit den Kommunisten nicht gemeinsame Sache machten. Im Juni 1947, als Ernst Reuter zum Bürgermeister gewählt wurde, wurde sie zum stellvertretenden Bürgermeister gewählt, und da Reuter sein Amt nicht antreten durfte, rückte sie automatisch auf. Zuerst glaubte sie, es handele sich nur um ein paar Tage oder Wochen. Aber da General Kotikow sich stets von neuem weigerte, Reuter anzuerkennen, und die Stadtverordneten sich weigerten, an Reuters Stelle einen anderen Bürgermeister zu wählen, wurde aus der provisorischen Lösung eine Dauerlösung.

Die Tatsache, daß sie nun Bürgermeister von Berlin war, änderte nichts an ihrem Leben.

Sie wohnte nach wie vor in einem möblierten Zimmer bei einer Freundin, deren Wohnung keineswegs in einem guten Stadtteil lag.

Noch wenige Wochen vor Beginn der Blockade war sie jeden Morgen mit der Untergrundbahn oder der elektrischen Straßenbahn ins Stadthaus gefahren, obgleich dem Bürgermeister ein Auto zur Verfügung stand.

Ein Privatleben hatte sie nicht. Abends pflegte sie noch Akten mit ins Haus zu nehmen, traf sich nur selten mit alten Freunden, ging gelegentlich auch einmal ins Theater. Es war wie eine Ironie des Schicksals, daß diese kleine, ein wenig spießige Frau so pupulär wurde. Die Berliner sprachen von ihr nur noch als von „Tante Louise“, und ein fünfzig Jahre alter Schlager wurde wieder modern;

man sang ihn in Berlin:

„O Louise, keine Frau ist so wie diese!"

Ironie des Schicksals in der Tat nun mußte Amtiereude Oberbürgermeisterin Louise Sdtröder diese kleine, schmale Frau die zerrissene, korrumpierte, hungernde Stadt Berlin regieren, obwohl sie von der Kunst des Regierens nicht viel wußte; nun sollte sie, die sich zeit ihres Lebens mit Problemen der Wohlfahrt beschäftigt hatte, sich in dem internationalen Intrigenspiel aus-kennen, das in Berlin gespielt wurde, sollte an der Spitze eines riesenhaften Verwaltungsapparates stehen. Es mußte schiefgehen.

Aber es ging nicht schief. Louise Schröder setzte sich durch.

Curt Riess

Die Berliner Blockade

Der 31. 5. 1949 war ein Festtag für Berlin: Eine britische Lancaster-Maschine landete die hunderttausendste Tonne Versorgungsgut

Wann fing die Blockade an? Begann sie im Dezember des Jahres 1947, als die Sowjets immer strengere Befehle gegen die Verlagerung deutscher Möbel und den Umzug deutscher Familien von Berlin nach dem Westen erließen? Lagen ihre Anfänge im Januar 1948, als Sowjetsoldaten zum ersten Male den britischen Militärzug anhielten, der zwischen Berlin und Westdeutschland verkehrte, und zwei Personenwagen abkoppelten, in denen Deutsche in amerikanischem Auftrag fuhren? Begann sie einen Monat später, als ein amerikanischer Militär-zug stundenlang am sowjetischen Schlagbaum in Helmstedt festgehalten wurde?

Vielleicht begann sie am 20. März 1948, als Sokolowski die Konferenz des Alliierten Kon-trollrates abbrach und mit schweren Schritten den Konferenzsaal verließ. Auf jeden Fall wurde damals eine Tür zugeschlagen und weitere Zusammenarbeit zwischen den früheren Alliierten unmöglich gemacht.

Oder die Historiker werden sagen, daß die Blockade eigentlich am 1. April anfing, als die Sowjets den westlichen Alliierten offiziell ankündigten, daß „zusätzliche Bestimmungen“ eingeführt werden müßten, um die Durchfahrt alliierter Militärzüge im Interzonenverkehr zwischen Berlin und dem Westen scharf zu kontrollieren.

Damals unterhielten die westlichen Alliierten etwa 30 000 Mann Soldaten und Verwaltungspersonal in der Stadt Berlin; dazu mindestens ebenso viele Berliner als Dolmetscher, Sekretärinnen, technisches Personal usw. Alles, was sie brauchten, von der Verpflegung bis zur Puderquaste, Schreibpapier und elektrischen Birnen, mußten sie aus Westdeutschland oder aus den Heimatländern der westlichen Besatzungsmächte einführen. Alle Versorgungsgüter, Tausende von Tonnen wöchentlich, mußten über die eingleisige „internationale" Verkehrsader nach Berlin transportiert werden. Die kleinlichen Untersuchungen und unnötigen, neugierigen Fragen der Sowjets verursachten Verzögerungen, und bis auf ein gefährlich schmales Rinnsal versiegte dieser lebenswichtige Güterstrom.

Und mehr noch: Dieses neueste Recht der Untersuchung ankommender Fracht, das sich die Sowjets angemaßt hatten, ließ die Absicht ahnen, die zarte, dünne Nabelschnur abzuschneiden, die die Stadt am Leben erhielt. Berlin war wirtschaftlich niemals selbständig. Vor Kriegsende war Berlin Reichshauptstadt und Verwaltungssitz der Regierung. Die Industrie dieser Stadt war von ständiger Rohstoffzufuhr abhängig, um die laufende Produktion von Fertigwaren zu garantieren. Nicht zu vergessen, daß Berlin durch die Tätigkeit seiner Beamten und durch die Energie und Tatkraft seiner Facharbeiter genug verdienen mußte, um die Kosten für die laufende, große Einfuhr an Lebensmitteln zu dekken.

Diese Lage, wie sie ähnlich den Hauptstädten und Großstädten in der ganzen Welt eigen ist, hatte sich trotz der 75 000 Tonnen Bomben, die Wohnhäuser und Industrieanlagen zerstört hatten, nach dem Kriege nicht wesentlich verändert. Es war klar, daß Berlin nicht leben konnte, wenn sein importiertes Lebensblut an Nahrungsmitteln und Rohstoffen abgebunden wurde. Das wußten die Sowjets und wußten die Berliner. So wird der 1. April in der Geschichte vielleicht als der eigentliche Beginn der Blockade gewertet. Die Westalliierten in Berlin waren sich der großen politischen Bedeutung der kommenden Nervenprobe bewußt. Als Soldaten war ihnen klar, daß es geraten war, die Frauen und Kinder der Truppenangehörigen und des Verwaltungspersonals aus der Stadt zu evakuieren. Aber mit seltener Weitsicht erkannten sie gleichzeitig die psychologische Wirkung einer solchen Massendesertation. Das Hauptquartier in Washington fragte General Lucius D. Clay, den höchsten amerikanischen Offizier in Deutschland, nach seiner Meinung zu dieser Frage. Er telegraphierte sofort: „Die Evakuierung der alliierten Familien aus Berlin würde Hysterie zur Folge haben und sicher viele Deutsche in die Arme des Kommunismus treiben. Die Wirkung würde sich über ganz Europa verbreiten und überall die politische Kraft des Kommunismus stärken.“

Nun kam den Amerikanern mit einem Male die Gefahr zum Bewußtsein, die da grau und drohend am Horizont emporwuchs. Der amerikanische Chef des Stabes in Berlin schrieb einen unmißverständlichen und energischen Brief an die zuständigen sowjetischen Stellen: „Die Abmachungen, unter denen wir nach Berlin kamen, sahen ganz klar den freien und uneingeschränkten Gebrauch der bestehenden Korridore vor. Dieses Recht war die Bedingung, unter der wir nach Berlin einzogen und Thüringen und Sachsen verließen. Ich glaube nicht, daß ihre derzeitigen Maßnahmen mit diesen Abmachungen übereinstimmen."

Die Antwort der Sowjets auf den amerikanischen Protest folgte am nächsten Tage und war ebenso klar und eindeutig: sie schlossen die Hilfsstationen entlang der internationalen Autobahn zwischen Berlin und dem Westen. Diese Stationen waren im Abstand von 40 Kilometern entlang der 160 Kilometer langen Autobahn eingerichtet worden und hatten den alliierten Fahrern auf dem Wege durch das unfreundliche sowjetische Gebiet von und nach Berlin wertvolle Dienste geleistet. Dies war der zweite Schlag innerhalb weniger Tage, und die letzte, geheime Hoffnung auf Wiederversöhnung mit dem ehemaligen östlichen Alliierten wurde dadurch vernichtet.

Die Amerikaner bemannten einen Zug in Westdeutschland mit bewaffneten Wachen und schickten ihn auf der internationalen Strecke Marienborn—Helmstedt nach Berlin. Es sollte eine Probe aufs Exempel sein, ob die Sowjets es ernst meinten. General Clay berichtete später, „daß der Zug ein Stück in die Sowjetzone hineinfuhr, aber schließlich auf einer Seitenlinie abgestellt wurde, wo er stehenblieb, bis er sich ein paar Tage später ziemlich rühmlos zurückzog. Es war klar, daß die Russen es diesmal ernst meinten."

Zur gleichen Zeit verlangten die Sowjets, daß die Amerikaner und Engländer ihre Nachrichten-leute in der Zone innerhalb von zwei Wochen zurückzögen; bisher hatten diese Männer entlang jenes schmalen Asphaltkorridors gearbeitet, um die Telephon-und Fernschreibverbindungen zwischen Berlin und den alliierten Hauptquartieren in Westdeutschland aufrechtzuerhalten. Die Soldaten hatten einige Sonderrechte im Rahmen eines internationalen Abkommens — des gleichen Abkommens, das die lebenswichtige Verbindung zwischen Westdeutschland und Westberlin garantieren sollte—, und die sowjetische Anordnung war eine weitere, brüske Mißachtung dieses Abkommens.

Noch eine andere historische Bedeutung hatte dieser Tag in der Geschichte des Blockadebeginns. Denn an diesem frostkalten 2. April voller Nebel entschlossen sich die Amerikaner, eine neue Theorie auszuprobieren.

Ein amerikanischer Oberst saß in der „Einsatzbaracke" auf dem Flugplatz wenige Kilometer hinter Frankfurt am Main. Er hatte vor einer Stunde hastig zum Frühstück schwarzen Kaffee und ein paar Pfannkuchen hinuntergeschlungen und war um acht Uhr zum Dienst gekommen. Während er noch die Berichte über die Operationen der vergangenen Nacht durchblätterte, trat ein Sergeant in das Büro, grüßte stramm und verkündete mit mehr als üblicher Begeisterung: „Herr Oberst, ich habe ein Fernschreiben vom Luftwaffen-Hauptquartier in Europa.“

Der Oberst steckte seinen Zeigefinger zwischen die Seiten, um die Stelle in dem Bericht der vergangenen Nacht nicht zu verlieren, sah auf und sagte:

„Nun, da Sie Sergeant sind, nehme ich an, daß Sie lesen können. Was steht drin?“

Es steht drin, daß wir heute die ganze Gruppe einsetzen sollen, Herr Oberst." Der Sergeant, ein Berufssoldat der Luftwaffe, sagte es mit ungewöhnlicher Erregung in der Stimme.

„Es steht drin, daß wir heute vor Mitternacht dreißig Flüge nach Berlin, Tempelhofer Feld, machen sollen.“

Er reichte dem Oberst das Blatt Papier. Der saß plötzlich sehr gerade auf seinem Stuhl. Halb vermutete er einen Scherz, halb fürchtete er die Wahrheit — wußte er doch, in welcher Richtung sich die Dinge in den letzten Tagen entwickelt hatten.

„Dreißig Flüge!" rief er aus. „Verflixt, wir haben doch nur vierundzwanzig einsatzbereite Maschinen. Das heißt, sechs Flugzeuge müssen zweimal hin und zurück fliegen. Was, zum Donnerwetter, hat General Clay vor?"

Der Oberst und sein Sergeant — ebenso wie die Reinemachefrau und der Schornsteinfeger im 500 Kilometer entfernten Berlin — konnten kaum ahnen, welch historisches Unternehmen durch dieses Fernschreiben eingeleitet wurde.

Vielleicht konnte nicht einmal General Clay, der amerikanische Militärgouverneur, der in unendlich vielen Konferenzen von den Sowjets zum Narren gehalten worden war, die ungeheure Tragweite dessen ermessen, was er für jenen Morgen des 2. April, fast von ungefähr, als Versuch und als Prüfung der Transportfähigkeit der Luftwaffe angeordnet hatte.

Clays Chef des Stabes hatte am Abend zuvor gemeldet:

„Zwei unserer Güterzüge sind heute angehalten und nach Westdeutschland zurückgeschickt worden, Herr General. Damit fehlen uns 600 Tonnen dringend benötigter Fracht in den Beständen.“ Der General mit dem schmalen Gesicht und den grauen Augen sah von den Papieren auf, die seinen Schreibtisch bedeckten.

„Schicken Sie mir den Luftwaffen-Verbindungsoffizier“, sagte er. Seine Befehle kamen oft sehr unerwartet und scheinbar unvorbereitet; man mußte annehmen, daß die gütige Fee, die manche Menschen mit großem Glück segnet und ihnen die halbverdiente Fähigkeit gibt, das Rechte zur rechten Zeit zu tun, seine gute Freundin war. Sehr häufig überraschte und verwirrte er seine Mitarbeiter mit schnellen Anordnungen oder mit einer plötzlichen, unerwarteten Abfassung politischer Anweisungen, die nicht lange durchdacht zu sein schien. Dennoch war er wie wenige Soldaten bekannt dafür, daß er immer das Rechte tat, wie schnell die Entscheidung auch getroffen sein mochte. Dadurch bewahrte er sich das feste und tiefe Vertrauen und den Respekt seiner Mitarbeiter. Der junge Major der Flieger, Verbindungsoffizier zwischen der Luftwaffe und den Besatzungstruppen, trat wenige Minuten später ins Büro.

„Sie haben nach mir geschieht, Herr General“, sagte er einfach.

„Wie viele Flugzeuge — große, C 47er — sind in Frankfurt stationiert?" fragte der General. Die Schlichtheit seiner unumwundenen Frage war entwaffnend und verwirrend. Die Art des Generals hatte immer die gleiche Wirkung auf alle Offiziere, mit denen er sprach.

„Wir haben eine Gruppe, Herr General." Der Major wollte erklären, wie groß eine Gruppe sei, denn schließlich kam der General ja nur von der Erdtruppe. „Wir haben 36 Flugzeuge im Truppentransport-Kommando auf dem Rhein-Main-Flughafen in Frankfurt.“

Das Kinn des Generals wurde hart, seine Augen schmal. „Wie viele dieser 36 Maschinen können auf kurzfristigen Befehl hin aufsteigen?“

„Das ist schwer zu sagen, Herr General. Vielleicht 25 oder 26, denn etwa ein Drittel wird ständig überholt.“

„Wie groß ist ihre Ladekapazität?“

„Zwei bis zweieinhalb Tonnen gemischter Ladung, Herr General.“ Der Major fragte sich, was der General wohl vorhaben könnte. Welchen neuen Plan heckte er wieder aus?

Clay hob seine Hand und fuhr sich durch das schüttere Haar, dachte einen Augenblick nach und sagte dann:

„Vor morgen um Mitternacht brauche ich dreißig Flüge von Frankfurt nach Tempelhof. Sagen Sie das jetzt gleich Ihren Leuten in Frankfurt; ich werde in einigen Minuten eine schriftliche Anordnung schicken.“

Der Fliegermajor, halb ungläubig, grüßte und sagte: „Jawohl, Herr General!", machte kehrt und verließ das Büro.

Schon während er ging, wandte sich der General an den Chef seines Stabes: „Weisen Sie das Transportkorps in Frankfurt an, es soll 10 Prozent der Tonnage laden, die die ausgefallenen Züge gestern nach Berlin gebracht hätten. Und zwar die lebenswichtigsten Güter. Morgen früh muß alles per Lkw zum Rhein-Main-Flughafen gefahren werden. Sorgen Sie für alle Einzelheiten. Ich wünsche, daß 60 Tonnen des notwendigsten Materials — Sachen, die mit den Zügen kommen sollten — vor morgen nacht um zwölf auf dem Tempelhofer Feld landen.

Vielleicht begann an jenem Spätnachmittag des 1. April die Blockade und die Luftbrücke, an der schließlich diese Blockade zerbrechen sollte. Vielleicht war dies der Anfang der großen Prüfung für Menschen und Maschinen.

Drei Tage, nachdem General Clay die erste Versuchs-Luftbrücke angeordnet hatte, dachten sich die Sowjets noch eine weitere Maßnahme aus, um die Stadt von ihrem Hinterland abzuschneiden.

Sie unterbanden plötzlich jeden Schiffsverkehr auf den Kanälen von Berlin nach dem Westen.

Am gleichen Tage wurde die Postverbindung zwischen Berlin und den Westzonen gestört und auf sowjetischen Befehl hin verzögert. Am nächsten Morgen wurde die Paketpost nach dem Westen gänzlich unterbunden.

Der Berliner Magistrat und die westlichen Besatzungsmächte versuchten, an die Vernunft der Sowjets zu appellieren, aber umsonst; sie erhielten nicht einmal Antwort. Die Westberliner Presse protestierte stürmisch gegen die Unmenschlichkeit der sowjetischen Anordnungen. Wochenlang berichteten die Schlagzeilen von neuen Aktionen, die das Leben in den Sektoren lähmen sollten: „Sowjets befehlen Zensur aller abgehenden Post“; „Sowjets verlangen Sonderpaß für Interzonenreisen"; „Sowjets schließen die Elbebrücke zu Reparaturzwecken“; „Sowjets sperren die Autobahn Helmstedt—Berlin“ ...

Inzwischen lief die sowjetische Propaganda-maschine auf Hochtouren. Sie war, ebenso wie alle anderen Maßnahmen, darauf gerichtet, Berlin von den westlichen Mächten zu „befreien“ und auf Gnade oder Ungnade den Kommunisten auszuliefern. „Die westlichen Alliierten haben kein Recht, länger in Berlin zu bleiben", tönten das kommunistische Radio und die Presse. „Die Sowjetbehörden sind bereit, die Bevölkerung der Stadt zu ernähren und zu erhalten, und die westlichen Räuber und Reaktionäre sollen samt und sonders mit heiler Haut verschwinden.“

Riesenmengen von Flugblättern und Handzetteln wurden in den Westsektoren verteilt; die Kommunisten schickten sorgfältig ausgebildete Agitatoren und Gerüchtemacher mit der U-Bahn, in Straßenbahnen und Omnibussen nach Westberlin, um dort den Schmutz zu verbreiten, der die kommunistische Terrorkampagne unterstützen und vergrößern sollte.

Der Versuch, Panik zu erzeugen, erstreckte sich sogar auf das Telefon. Alliierte und deutsche Persönlichkeiten erhielten anonyme Telephonanrufe, oft mitten in der Nacht, in denen sie bedroht und beschimpft wurden. Aber diese Taktik war erfolglos. Edith Howley, die Frau des amerikanischen Stadtkommandanten, und ihre vier Kinder blieben während des ganzen nun beginnenden Streites in Berlin; das war typisch für die Haltung der ganzen amerikanischen Gemeinde.

Die Westberliner hatten das schrecklichste Luftbombardement der Geschichte, Vergewaltigungen, Chaos und Plünderungen durch herum-streifende Rotarmisten und die Epidemien und Hungerperioden der ersten Nadikriegsjahre überstanden — sie waren nicht leicht aus der Ruhe zu bringen. Aber eine gewisse Wirkung des sowjetischen Drucks war unvermeidlich.

Anfang Juni war kein Berliner mehr im Zweifel darüber, daß nunmehr wirklich das Schicksal der Stadt auf des Messers Schneide stand. Jeder Berliner spürte die fast elektrische Spannung, die in der Luft lag. Doch die Außenwelt verstand erst langsam und allmählich die Bedeutung der Dinge, die vorgingen.

Es war nicht mehr eine Ausnahme, sondern die Regel, daß sowjetische „Inspektoren" Eisenbahnzüge und Lastkähne auf dem Wege von Westdeutschland nach Berlin anhielten. Immer seltener gelangten Versorgungsgüter auf dem Wasserwege oder per Eisenbahn in die Stadt.

Schließlich befahl General Clay dem amerikanischen Stadtkommandanten, eine Zusammenkunft mit dem Sowjetgeneral Kotikow zu verabreden, um die genauen Gründe für diese unvernünftige und unmögliche Situation zu erfahren. Der amerikanische Kommandant setzte sich ins Auto und fuhr 20 Kilometer bis Karlshorst, dem sowjetischen Hauptquartier. Dort wollte er frei und offen mit Kotikow sprechen.

Oberst Howley war ein Mann von offenem und unkompliziertem Charakter; er stammte aus einer amerikanischen Pioniersfamilie und war kein Meister der versteckten Rede und der leeren Ausflüchte; zumindest zeigte er während seines 4 1/2jährigen Aufenthaltes in Berlin keine Anlagen dazu.

„Sagen Sie, Kotikow, warum kümmern Sie sich um Züge und Lastkähne, die nach Berlin kommen?“ fragte er. „Sind Sie wirklich hinter Schmugglern her, oder haben Sie tieferliegende Gründe? Wir kamen nicht nach Berlin, um Ihnen Schwierigkeiten zu machen, und wir nahmen an, daß auch Sie keine Schwierigkeiten haben wollen. Wir haben in den vergangenen Jahren, weiß Gott, genug Sorgen gehabt.“

Die kindlich-blauen Augen des sowjetischen Generals wurden schmal, und das Grübchen in seinem plumpen Kinn verschwand in der Spannung des Gesprächs.

„Wie denken Sie, amerikanischer Oberst, über den Schmuggel?“ fragte er sanft. Es ist eine beliebte Methode der Sowjets, durch Fragen nach den Gedanken des anderen selbst Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.

Der Amerikaner meinte, daß der Umfang des Schmuggels recht geringfügig sei, aber daß man sich natürlich zusammensetzen und Mittel und Wege beraten könnte, wie der Schmuggel zu unterbinden sei, falls die Sowjets über seinen Umfang beunruhigt seien.

Aber dieses einseitige Anhalten von Zügen und Lastkähnen — und gleichzeitig die boshafte Anti-West-Kampagne der kommunistisch gelenkten Presse — sei sicher nicht der richtige Weg, eine einheitliche Verwaltung der Stadt aufrechtzuerhalten. „Idi werde meine vorgesetzten Dienststellen um Instruktionen bitten“, sagte Kotikow mit leichtem Lächeln. „Ich werde Sie über ihre Entscheidungen informieren.“

Eine Woche verging, und die Transportunterbrechungen ließen nach. Naive und hoffnungsvolle Gemüter mögen damals angenommen haben, daß trotz aller gegenteiligen Anzeichen das Problem der ost-westlichen Zusammenarbeit in Berlin doch nicht unlösbar sei.

Aber nach dem 16. Juni waren die Würfel gefallen. General Kotikow, angeblich schockiert und erregt über eine Bemerkung des amerikanischen Stadtkommandanten Oberst Frank Howley, stampfte aus dem Konferenzzimmer der Alliierten Kommandantur hinaus. Jetzt wußte Berlin genau — und die Außenwelt begann zu ahnen —, daß eine Zeit der Prüfung und der Härte begonnen hatte.

Innerhalb einer Woche führten die Sowjets eine neue Währung in Berlin ein.

Die Alliierten antworteten damit, daß sie die westdeutsche Mark in die Stadt brachten, und zwar überdruckt mit einem „B“. Die Kluft wurde immer größer. Die vier Besatzungsmächte waren übrigens am 18. Juni insgeheim übereingekommen, die in West-und Ostdeutschland durchgeführte Währungsreform erst später auf Berlin auszudehnen. Am 22. Juni entschlossen sich die Sowjets jedoch anders und gaben bekannt, daß die neue östliche Deutsche Mark in der Sowjetzone und ganz Berlin eingeführt werde. Immer noch in der Hoffnung, daß sich zwei verschiedene Währungen innerhalb derselben Stadt vermeiden ließen, bat der Westen um Garantien dafür, daß alle Berliner gleichbehandelt würden. Sokolowski sagte, offensichtlich auf höheren Befehl, daß die Sowjets die Ausgabe und Verbreitung der neuen Ostmark kon-trollierten. Das neue ostdeutsche Geld, fast ebenso wertlos wie das alte, wurde am 23. Juni in Umlauf gesetzt. Da dies untragbar war, wurde am nächsten Tag in Westberlin die westdeutsche Währung eingeführt. Nur wenige Stunden zuvor war bekannt geworden, daß die Blockade nicht länger im Werden war — sie bestand bereits!

Die Westberliner Redakteure bereiteten die Morgenausgaben für den 24. Juni vor, als plötzlich die Fernschreibmaschine des ADN-Nachrichtendienstes — die oft lange Zeit gänzlich schwieg — ihr ominöses Tack-tack-tack anstimmte. Eine Nachricht erschien auf der gelben Papierrolle der Maschine:

„Berlin, 23. Juni (ADN) ... Die Transport-abteilung der Sowjetischen Militärverwaltung sah sich gezwungen, auf Grund technischer Schwierigkeiten den Verkehr aller Güter-und Personenzüge von und nach Berlin ab morgen früh, 6 Uhr, einzustellen ... Es ist im Interesse der Eisenbahn unmöglich, den Verkehr umzulegen, da eine solche Maßnahme den Eisenbahnverkehr in der sowjetischen Besatzungszone hindern würde."

Die Zeitungsleute riefen sich erregte Worte zu. Sie versammelten sich um die Maschine, die monoton die Worte tippte. „Jetzt ist es soweit", sagte einer von ihnen, „und diesmal endgültig. Die Blockade hat begonnen.“

Seit sechs Monaten war der Eisenbahnverkehr plötzlichen Unterbrechungen durch die Sowjets unterworfen gewesen, aber jedesmal war der Verkehr nach höchstens ein oder zwei Tagen wiederaufgenommen worden. Aber diesmal war der Bruch vollständig. Während die Zeitungsleute die Nachricht mit ernsten Gesichtern anstarrten, klapperte die ADN-Maschine weiter.

„. .. Der Verkehr auf den Wasserstraßen wird unterbrochen. Kohlentransporte aus der Ostzone nach Berlin werden angehalten. Die Sowjetbehörden haben außerdem das Hauptkraftwerk angewiesen, die Versorgung der Westsektoren mit elektrischem Strom aus der Ostzone und dem Ostsektor abzustellen. Begründet wird diese Maßnahme mit dem Mangel an Kohle zur Beheizung der Kraftwerke ...“

Drohend tauchte das Unglück in seiner brutalsten Form auf: Hunger, Kälte, Dunkelheit. In normalen Zeiten benötigte die Bevölkerung von Westberlin als Lebensminimum wenigstens 13 000 Tonnen Nahrungsmittel und Brennstoff täglich. Die Zufuhr war nun völlig unterbunden worden, und die Vorräte in den Warenlagern der Stadt konnten allerhöchstens wenige Wochen reichen. Bei Blockadebeginn waren Lebensmittel-reserven für 36 Tage und Kohlenvorräte für 45 Tage vorhanden, einschließlich Gemüse, Obst, Gefrierfleisch und Lebensmitteln in Büchsen, die auf die Tausende von Läden und Großverteilerlagern in ganz Westberlin verteilt waren. Mindestens ein Drittel der Elektrizität für Westberlin kam aus ostzonalen Kraftwerken. Das fehlte jetzt, und außerdem konnten die Westberliner Kraftwerke und Fabriken natürlich nicht ohne eine gewisse Menge Kohle arbeiten. Die Gerüchte waren schneller als die Morgenzeitungen. Wie ein zerstörendes Feuer, das über die Prärie jagt, erreichten sie die Bevölkerung, flogen über die dunkle Stadt und flüsterten gefährliche Prophezeiungen in die Ohren der Menschen. Den Fabrikarbeitern drohten sie, daß sie jetzt arbeitslos würden — den Müttern, daß ihre Babys sterben müßten — den Alten und Schwachen, daß es jetzt keine Hoffnung und Hilfe mehr für sie gäbe.

Im Morgengrauen wußten alle Berliner, daß sie isoliert und verloren waren. Sie wußten, daß die zynischen und gnadenlosen Herren des Kreml sich entschlossen hatten, sie als menschliche Geiseln zu benutzen — über zwei Millionen Berliner — in dem harten, unerbittlichen Kampf um politische Macht.

Für das umkämpfte Berlin durfte es weder Übergabe noch Untergang geben. Mut und Charaktergröße dieser Art waren im Berlin der letzten Junitage 1948 an der Tagesordnung. Die eiserne Entschlossenheit der Deutschen und der Alliierten war unerschütterlich. Berlin würde sich nicht ergeben.

Der Mut war begleitet von harter Arbeit und von Erfindergeist. Auf den Flugplätzen in Berlin und in Westdeutschland wurden übermenschliche Anstrengungen gemacht, um die Voraussetzungen für eine Luft-Nachschubbrücke zu der eingeschlossenen Stadt zu schaffen.

General Clay saß wiederum in seinem unterirdischen Fernkonferenzzimmer und „sprach"

mit Washington: „Wir glauben jetzt, daß wir Berlin durch die Luft versorgen können. Es ist ein beispielloser Plan. Wirtschaftlich gesehen ist er untragbar. Aber es stehen so hohe politische und menschliche Werte auf dem Spiel, daß wir hier glauben, den Versuch machen zu müssen. Wir brauchen Flugzeuge, nichts als Flugzeuge; und zwar die größten, die ihr habt, und so viele wie möglich. Wir sind entschlossen, die sowjetische Absicht, Berlin zu erdrosseln, zunichte zu machen. Werdet ihr uns unterstützen?"

Diesmal kam die Antwort sofort. Es war ein dramatischer Augenblick, als sie auf der Fernschreibleinwand sichtbar wurde: „Wir haben unseren Geschwadern in allen Teilen der Welt befohlen, nach Europa zu fliegen. Sie erhalten die benötigten Flugzeuge und unsere vollste Unterstützung. Gott segne Berlin!“

Und nun begann das große Wunder des 20. Jahrhunderts. Radiosender funkten den Befehl über die sieben Meere und fünf Kontinente der Welt. Die Gesamtmacht der amerikanischen und der britischen Luftwaffe wurde mobilisiert. London und Washington jagten dringende Befehle in alle Teile der Welt: „Oberst X, schicken Sie Ihre Gruppe schwerster Transportmaschinen auf dem kürzesten Wege nach Westdeutschland."

Auf vielen entlegenen Luftstützpunkten ging es vielleicht ähnlich zu wie auf der Insel Guam, die 16 000 Kilometer Luftlinie von Berlin entfernt ist.

Die Offiziere des Stützpunktes auf jener fernen, einsamen Insel, die bis 1898 spanische Kolonie war und dann amerikanischer Besitz wurde, langweilten sich. Seit Kriegsende war Langeweile ihr ständiger Gast. Eine der wenigen, freudig erwarteten Abwechslungen war der Tanz am Samstagabend, zu dem sie einige Krankenschwestern, ein paar hübsche einheimische Mädchen und natürlich ihre eigenen Frauen einluden. Dann vergaßen sie für kurze Zeit, daß sie viele tausend Kilometer von aller Zivilisation entfernt waren, und vergnügten sich.

An diesem Sonnabend versprach die gesellige Feier ein ganz besonderer Erfolg zu werden. Bei leichtbeschwingter Musik unterhielt man sich fast wie in einer zivilisierten Stadt in den fernen Vereinigten Staaten. Die täglichen Sorgen und Nöte des Lebens auf einer unfruchtbaren vulkanischen Insel waren im Augenblick vergessen.

Gegen Mitternacht, als der Tanzabend seinen lauten und vergnügten Höhepunkt erreicht hatte, erschien ein Sergeant mit rotem Gesicht an der Tür. Er schaute sich suchend unter den tanzenden, trinkenden und schwatzenden Menschen um. Schließlich fand er den Gesuchten und drängte sich durch die Menge zu ihm. Er war verlegen, weil er die Gesellschaft störte, und doch freudig erregt über die Nachricht, die er brachte. „Oberst Wilson“, sagte er leise, als er einen großen, breitschultrigen Mann erreicht hatte, der sich angeregt mit einer Gruppe von Offizieren und Damen unterhielt. „Oberst Wilson, ich habe soeben einen Funkspruch von größter Wichtigkeit erhalten.“ „Was gibt es, Sergeant?" fragte der Kommandeur und wandte sich um. Er nahm das gelbe Stück Papier, las die Nachricht, stutzte, und las sie noch einmal, zögerte einen Moment und ging dann hochaufgerichtet an das Mikrophon auf dem Podium. Er bedeutete dem Orchester, zu schweigen.

„Meine Damen und Herren“, sagte er mit plötzlichem Ernst, „ich habe soeben eine sehr wichtige Nachricht erhalten. Mir persönlich gefällt es hier heute abend ganz ausgezeichnet. Es ist wirklich eine großartige Party. Daher bitte ich Sie, mir im voraus zu vergeben, wenn der Funkspruch, den ich soeben erhalten habe, Ihr Vergnügen stört. Lassen Sie mich vorlesen. Es ist ein Befehl vom Luftwaffenhauptquartier in Washington. Er lautet: . Ihre Gruppe muß sich sofort nach Hawai begeben, von wo sie an der Luftbrücke nach Berlin teilnehmen wird. Nehmen Sie ihr Bodenpersonal, Ihre Funker und Ihr technisches Personal mit. Alle Vorkehrungen für Ihre Ankunft sind getroffen. Bestätigen Sie den Empfang dieses Funkspruches. Dieser Befehl hat Dringlichkeitsstufe EINS!"

Im Saal hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Niemand bewegte sich, keiner sprach.

Schließlich brach der Oberst, selbst erschüttert von der Wirkung der Nachricht, das Schweigen und sagte: „Meine Herren, wir fliegen in zwei Stunden.“

Solche und ähnliche Szenen wiederholten sich auf Flugplätzen in der ganzen Welt. Britische Luftwaffeneinheiten in Südafrika, Indien, Australien, Kanada und Neuseeland erhielten ähnliche Funksprüche. Amerikanische Transporteinheiten in Hawai, Japan, Alaska und Panama — ganz zu schweigen von denen in den Vereinigten Staaten selbst — machten sich bereit, das historische Experiment zu unterstützen. Es galt, im Kampf gegen Unheil und Terror eine Hauptstadt mit allem zu versorgen, was der Mensch im täglichen Leben braucht. „Unternehmen Gegenschlag“ war der Decknähme eines Planes, der zu einer Zeit vorbereitet worden war, da sowjetische Aktionen bereits derartigen Terror ahnen ließen. Die Fachleute und Planer hatten natürlich nicht gewußt, welcher Art der endgültige Schlag sein werde, aber sie hatten Grund zu fürchten, daß er eines Tages kommen und Berlin von seiner Umgebung abschneiden werde.

An zentralen Stellen der Westsektoren waren wertvolle Lebensmittel und Rohmaterialien gelagert worden, um die Stadt während der ersten Wochen am Leben zu erhalten. Dadurch sollte Zeit für politische und diplomatische Entscheidungen und für eine Lösung der auftauchenden Probleme gewonnen werden. Genaue Rationierungspläne waren ausgearbeitet worden, auch Pläne für die Einstellung nichtlebenswichtiger Arbeiten, und — vor allen Dingen — für Vergeltungsmaßnahmen gegen die Kommunisten, die mit Hilfe ihrer eigenen Waffen geschlagen werden sollten.

Und kein anderer als Marschall Sokolowski selbst war das erste Opfer der sowjetischen Blockade.

Als die Amerikaner hörten, daß er das Gas für Küche und Warmwasserofen in seinem Hause aus einer Gasanstalt im amerikanischen Sektor bezog, wurde es sofort abgestellt. Der Marschall der Roten Armee, der in Babelsberg, nur anderthalb Kilometer von den westlichen Sektoren entfernt, wohnte, mußte sich eine andere Wohnung suchen, die nicht innerhalb des Wirkungsbereiches seiner eigenen Blockade lag.

Und — die schönste aller Vergeltungsmaßnahmen — als seine Möbel in das neue Haus geschafft werden sollten, passierten sie zufällig den amerikanischen Sektor und wurden sofort von der Polizei festgehalten und beschlagnahmt.

Doch dies waren nur bescheidene kleine Siege des Westens. In jenen ersten dunklen Tagen der Belagerung schien sich alles gegen den Westen verschworen zu haben. Die Nachrichten waren fast alle schlecht, und die kurzen Lichtblicke und vergnüglichen Momente verflogen rasch.

Aber es gab auch gute Nachrichten an jenem 1. Juli. Die westdeutschen Bundesländer, die jetzt sahen, in welch verhängnisvoller Lage sich die Stadt Berlin befand, stimmten für eine Berliner Anleihe von 45 Millionen Westmark. Das war das erste von vielen Zeichen der Sympathie und Hilfe, die die Außenwelt der belagerten Stadt entgegenbrachten.

Außerdem kamen am gleichen Tage weitere 10 große C-45-Maschinen, direkt aus den Vereinigten Staaten, auf dem Rhein-Main-Flughafen bei Frankfurt am Main an und flogen darauf mit über hundert Tonnen Fracht in Richtung Berlin weiter. Wenige Stunden später trafen Flugzeuge aus dem fernen Alaska ein. In der Nacht kamen 25 gigantische Lastenflugzeuge von US-Stützpunkten in der Karibischen See in Westdeutschland an. Gleichzeitig gab die britische Luftwaffe bekannt, daß sie dabei sei, einen neuen Flughafen in Fuhlsbüttel einzurichten, von wo aus noch mehr große Lancaster-und Hastings-Transportflugzeuge zur Tonnage-erhöhung des Lufttransportes nach Berlin starten könnten.

Am 3. Juli protestierten die Frauen von Westberlin in einer Massenkundgebung lebhaft gegen die sowjetischen Methoden, die „in direktem Widerspruch zu den Grundlagen des Christentums und den fundamentalsten Menschenrechten stehen". Zeitungen und Rundfunksender trugen diesen Protest in die fernsten Teile der Welt.

Am nächsten Tage trafen westalliierte Persönlichkeiten mit Marschall Sokolowski zusammen, um in einer letzten, von Anfang an zum Scheitern verurteilten Konferenz zu versuchen, die vorhandenen Probleme durch eine Aussprache zu lösen. Die Alliierten wollten feststellen, ob die Sowjets vielleicht eine Beendigung der Blockade in Betracht ziehen würden. Der verschlagene, schmallippige Sowjetgeneral hörte sich die Vorschläge an und widerlegte jedes Argument mit dialektischer Spitzfindigkeit, mit Leugnen und Doppelzüngigkeit. Die Sitzung endete, und die Blockade ging weiter.

Nun war es endgültig klar, daß die Blockade kein Zufall, sondern ein kalt berechnender Schachzug der Sowjets war. General Clay äußerte sich später darüber: „Es war einer der erbarmungslosesten Versuche der Neuzeit, durch Massenaushungerung politischen Zwang auszuüben."

Und über seinen Glauben an Berlin fügte er hinzu: „Trotz der bedrängten Lage waren wir überzeugt, daß die Berliner bereit waren, eher schweres physisches Leid hinzunehmen, als noch einmal unter einer totalitären Regierung zu leben, und daß sie viel Schweres ertragen würden, um ihre Freiheit zu erhalten.“

In der Zwischenzeit wurde die Luftbrücke technisch verbessert und erweitert. Viertausend Mann der US-Luftwaffe, Piloten und Bodenpersonal, waren in Westdeutschland versammelt, um die Luftbrücke durchzuführen. Am gleichen Tage, an dem Sokolowski nichts von Vernunft hören wollte, flogen 184 amerikanische und 107 britische Flugzeuge über 1000 Tonnen Versorgungsgüter nach Berlin.

Zwei Tage danach landete das erste „Sunderland“ -Flugboot zur Unterstützung der Luftbrücke auf dem Wannsee. Außer Nahrungsmitteln und anderen Gütern brachte die „Sunderland" viele Tonnen dringend benötigtes Salz nach Berlin. Denn nur in dem schiffsförmigen Leib eines Flugbootes konnte Salz transportiert werden, ohne Schaden anzurichten, da es aus seinen Behältern herausdringen und die Flugzeugeinrichtungen beschädigen kann. Jede Hausfrau weiß zu gut, wie wichtig Salz ist, als daß hier auf seine Bedeutung eingegangen werden müßte.

Eine Übersicht über die benötigten Kraftstoffmengen gibt vielleicht das klarste Bild über die ungeheure Leistung der Luftbrücke.

Die Maschinen der Luftbrücke kamen von neun Flugplätzen in Westdeutschland nach Berlin, nämlich von Schleswig-Land, Lübeck, Fuhlsbüttel, Celle, Faßberg, Wunstorf, Bückeburg, Wiesbaden und Rhein-Main. An dem Verbrauch eines dieser Flugplätze kann man die Größe des Kraftstoffproblems ermessen. Nehmen wir zum Beispiel Rhein-Main:

Im Juli 1948, dem ersten vollen Monat der Blockade und der Luftbrücke, erhielt dieser Flugplatz 10 920 000 Liter hochwertigen Flugzeugtreibstoff, also etwa sechsmal soviel wie in normalen Zeiten. Im nächsten Monat wurden rund 18 Millionen Liter benötigt. Und im September war der Verbrauch auf weit über 20 Millionen Liter angestiegen.

Die Flugzeuge wurden während des Verladens auf dem Flugplatz betankt. Kaltes Wetter, das sonst diese Arbeit im Freien wegen Einfrierungsgefahr ungeheuer erschwert, war in diesem Falle kein Hindernis, denn die Motoren standen nie so lange still, daß sie kalt wurden. Zwanzig riesige Esso-Tankwagen waren auf dem Rhein-Main-Flughafen stationiert und besorgten das Auftanken. Kaum rollte das Flugzeug an der Verladestelle aus, waren schon drei besonders ausgebildete Männer mit ihrem Tankwagen zur Stelle.

Vereisungen an den Tragflächen und Steuerungen der Maschinen verursachten insofern Schwierigkeiten, als durch Enteisung wertvolle Zeit verlorenging. Um das zu unterbinden, montierte man Düsenmotoren aus Jagdmaschinen auf Lastkraftwagen und fuhr sie rückwärts an die Transportmaschinen heran. Unter dem vollen heißen Luftstrom des Düsenmotors schmolz selbst die stärkste Eisschicht, und die Maschine war innerhalb weniger Minuten wieder startbereit.

Als Deutschlands Flughäfen während des Blockadewinters von Schnee und Matsch bedeckt waren, wurden auf dem schnellsten Wege 20 Schneepflüge und 36 Straßenkehrmaschinen aus den Vereinigten Staaten herbeigeschafft und zur Reinigung der Rollbahnen und Auffahrten auf die verschiedenen Flugplätze verteilt. An einzelnen Stellen hatte man Sandstreumaschinen eingesetzt, um das Landen und Starten auf den vereisten Rollbahnen ungefährlich zu machen.

Bei den Kraftstoffversorgungseinheiten arbeiteten die Leute mindestens zwölf Stunden, oft sogar achtzehn Stunden täglich. Immer wieder wiesen Ärzte darauf hin, daß die Arbeiter bei Aufrechterhaltung dieses Tempos zusammenbrechen würden. Aber die Situation war kritisch und konnte nur durch Einsatz bis zum letzten gemeistert werden. Das Wunder aus harter Arbeit und Schweiß hätte anders nicht entstehen können.

Gute Organisation und Schnelligkeit waren das Wichtigste des ganzen Unternehmens. Zu Anfang benötigten die Tankwagenleute etwa 33 Minuten, um eine C-54 mit 3000 Liter Benzin und 48 Liter Öl zu füllen. Innerhalb weniger Wochen schafften sie es durch Übung durchschnittlich in 12 Minuten: etwas später in 8 Minuten und weniger, indem sie zum Auftanken für jedes Flugzeug zwei Tankwagen mit je zwei Leitungen benutzten.

Um die von Luftbrückenflugzeugen verbrauchte Menge Brennstoff zu verdeutlichen, denke man sich ein ganz gefülltes Gefän. es müßte 100 Meter Durchmesser und die Höhe des Kölner Doms (also 157 Meter) haben.

Außer dem Meer von Benzin, das für den Flug der Maschinen nach Berlin und zurück gebraucht wurde, brachten britische Spezialmaschinen aber auch noch über 75 Millionen Liter Benzin zur Versorgung der Wirtschaft nach Berlin. Das entspricht dem Rauminhalt eines Tanks von 28 Metern Durchmesser und der Höhe des Berliner Funkturms, 148 Meter.

Der Treibstoff für die Flugzeuge und für die Berliner Wirtschaft, so eindrucksvoll die ungeheuren Zahlen auch sind, war natürlich nur ein winziges Steinchen in dem massiven Mosaik des Gesamtunternehmens. Das größte Einzel-problem, das immer wieder Kopfschmerzen bereitete, lag in der einfachen Frage: wieviel Tonnen Nahrungsmittel, Brennstoff und Medikamente können wir innerhalb von 24 Stunden nach Berlin schaffen?

Die Berliner Sachverständigen hatten 3439 Tonnen als alleräußerstes tägliches Bedarfsminimum angesetzt. Weniger knapp berechnet betrug die benötigte Versorgungsmenge rund 4500 Tonnen. Natürlich erwartete kein Statistiker oder Wirtschaftler, daß die von ihm errechnete Bedarfsquote voll erfüllt werden könnte. Er setzte sich einfach hin und berechnete, wieviel Berlin zum Leben brauchte, reichte die Zahlen ein, zuckte mit den Schultern und wartete auf die Berechnung anderer Statistiker, die feststellen sollten, ob seine Forderungen erfüllt werden könnten.

Auf einer denkwürdigen Konferenz im amerikanischen Hauptquartier in Berlin kam es fast zum offenen Ausbruch des traditionellen Gegensatzes zwischen der Luftwaffe und den Erdtrup-pen. Die Heeressachverständigen, die für die Berechnung der Berliner Lebensbedürnfisse verantwortlich waren, erklärten den Luftwaffenleuten, die ihrerseits für den Transport der Güter nach Berlin verantwortlich zeichneten, ganz unumwunden, wieviel Tonnage gebraucht wurde.

Der Hauptsachverständige für Ernährungsfragen sagte: „Wir haben das absolute Minimum ausgerechnet. Wir brauchen täglich 1439 Tonnen Nahrungsmittel." „Vielleicht brauchen Sie soviel, aber Sie kriegen's nicht“, antwortete der Luftwaffenfachmann rundheraus. „Wir können täglich 870 Tonnen fliegen ... nicht ein Pfund mehr.“ „Wenn das alles ist, dann können Sie gleich einpacken und nach Hause gehen. Wir werden Berlin auch ohne Sie retten“, erwiderte der Sachverständige scharf. „Was denkt Ihr denn, was wir sind, zum Donnerwetter? Elefanten?“ Der Luftwaffenmann lief vor Ärger rot an. Er war nicht gewöhnt, wie ein Droschkenkutscher behandelt zu werden. „Wir haben zwei Tragflächen und vier Propeller an unseren Flugzeugen — meinen Sie, wir können Wolkenkratzer durch die Luft fliegen?“ „Wir müssen täglich 1439 Tonnen haben“, sagte der Wirtschaftler grimmig. „Es ist schon eine ganze Menge Trockennahrung dabei, von der die Berliner nicht allzu begeistert sein werden. Aber 1439 Tonnen täglich sind das absolute Minimum." „Zum Donnerwetter, woher wissen Sie denn das? Die Zahl kommt mir verdächtig vor. Wo haben Sie sie her?

Jetzt grinste der Wirtschaftsfachmann, denn er hatte die Flieger da, wo er sie hinhaben wollte. „Sie wollen wissen, wie wir auf die 1439 Tonnen gekommen sind?“ fragte er, griff in eine Aktentasche und zog eine Aufstellung heraus. „Schauen Sie her!“ „Wir brauchen 746 Tonnen Mehl, 180 Tonnen Kartoffeln, 144 Tonnen Gemüse, 145 Tonnen Fleisch und Fisch, 85 Tonnen Zucker, 64 Tonnen Käse und 5 Tonnen Trockenvollmilch. Halt, ich vergaß, 3 Tonnen Hefe zu erwähnen.“

Damit war die Sache geschafft. Die unruhigen und phantasievoller Luftwaffenoffiziere hatten Respekt vor jedem, der sich hinsetzte und geduldig ausrechnete, daß eine Stadt mit über zwei Millionen Einwohnern zur Erhaltung ihrer Existenz täglich 64 Tonnen Käse und 3 Tonnen Hefe brauchte. „Gott allein weiß, wie wir es schaffen sollen. Aber Sie sollen Ihre 1439 Tonnen Lebensmittel haben."

Aber das war leichter gesagt als getan. Lim Berlin zu ernähren, brauchte man mehr als nur zwei Tragflächen und vier Propeller an jedem Flugzeug. Man mußte Butter aus Dänemark heranschaffen, Milch aus Holland, Kaffee aus Brasilien, Zucker aus Kuba, Weizen aus Minneapolis, Reis aus Indien, Fisch aus Norwegen und England und Rindfleisch aus Bayern und Niedersachsen — es war wirklich fast jedes Land der Welt an der Versorgung Berlins beteiligt.

Und trotzdem: die 1439 Tonnen wurden nicht nur selbst in den nebligsten Tagen und Nächten, die Europa innerhalb der letzten 50 Jahre erlebt hatte, erreicht und aufrechterhalten, sondern sogar verdoppelt, verdreifacht und schließlich vervierfacht! Die Luftbrücke wurde zu einem Wunderwerk der Transporttechnik. Schließlich war die Versorgung so ausreichend und die Luftbrücke so fabelhaft eingespielt, daß es sogar möglich war, täglich 10 Tonnen Malz nach Berlin zu fliegen. Daraus brauten die Brauereien dunkles Bier, das dem Magistrat über 3 Millionen Mark monatlich an Steuern einbrachte. 24 Tonnen Fahrradersatzteile wurden hineingeflogen, als diese wichtigen Dinge plötzlich knapp waren. Und schließlich kamen täglich 2000, 3000, 6000 ja selbst 10 000 Tonnen Kohle für Fabriken und Kraftwerke über die Luftbrücke nach Berlin.

Trotz aller Schwierigkeiten und Gefahren war der Gesundheitszustand der Berliner, wie regelmäßige, sorgfältige Überprüfungen zeigten, bei Blockadeabschluß besser als zu Beginn der Blockade. Durchschnittlich gesehen, nahmen die Verbraucher aller Kartengruppen während der elfmonatigen Feuerprobe an Gewicht zu.

Die anhaltende gute Volksgesundheit und die geringe Kriminalität in Berlin waren in der Tat wichtige, wenn auch weniger bekannte Teile jenes menschlichen Wunders, an dem schließlich die Blockade der Sowjets scheiterte.

Zu den Problemen der mangelnden Ernährung und Heizung kam noch die Tatsache hinzu, daß die Arbeitslosenzahl von 35 000 vor der Blockade auf über 150 000 stieg, das heißt, daß ein Drittel aller Westberliner (Frauen und Kinder eingerechnet) ausschließlich aus öffentlichen Mitteln erhalten wurde.

Außerdem strömten monatlich 2500 Flüchtlinge in die Westsektoren, um politischer oder religiöser Verfolgung im Osten zu entgehen.

Dazu kamen Tausende von Kriegsgefangenen, die aus der Tortur der Verbannung in Sibirien in ihre Berliner Heimat zurückkehrten (und noch viele Tausende ihrer Kameraden als Sklavenarbeiter in Rußland zurückließen).

Man bedenke weiter, daß bis zum Ende der Blockade 5 807 Fabriken in den Westsektoren ihre Tore hatten schließen müssen, weil Strom, Rohmaterialien und Ausfuhrmöglichkeiten fehlten, und daß weitere 10 634 Betriebe gezwungen worden waren, in Kurzschichten zu arbeiten.

Und ein besonderer Mißstand in einer zivilisierten Stadt: es war fast kein Bargeld im Umlauf. Selbst Leute in gutbezahlten Stellungen hatten so wenig Geld, daß diese Erfindung, Plage und Segen zugleich, nicht mehr von großer Bedeutung war. Die Währungsreform, die den Wert der Mark auf ein Zehntel herabgesetzt hatte (und die vorausgegangene Ausplünderung der Bankkonten und Versicherungen durch die Sowjets), hatte den Bargeldumlauf gefährlich reduziert. Weihnachten 1948 beliefen sich die Gesamteinlagen bei allen Westberliner Banken auf nur etwa 90 Millionen Deutsche Mark — vielleicht eine eindrucksvolle Zahl, aber zwei Jahre später hatten sich die Bankeinlagen fast vervierfacht, doch Bargeld war nach wie vor in verhältnismäßig geringer Menge im Umlauf.

Man mache sich alle diese Tatsachen und ihre volle, tödliche Bedeutung-klar — ist es dann nicht wirklich ein Wunder, daß die Westberliner die elfmonatige Belagerung in ungebrochener Moral überstanden, zu allen Zeiten den Kopf oben behielten und nie ihre Entschlossenheit verloren?

Sie standen unendlich viele Stunden in kilometerlangen Schlangen und warteten auf ihre mageren Rationen. In den öffentlichen Wärme-hallen drängten sie sich an die Öfen, um ihre ausgemergelten Körper anzuwärmen. Sie lebten Tag für Tag 20 Stunden lang ohne Elektrizität und dauernd mit einem nur schwachen flackernden Gasflämmchen in der Küche. Wenn man all das weiß, muß man ihnen die höchste Anerkennung aussprechen für ihre entschlossene, unerschütterliche Haltung in vorderster Front gegen die mitleidlose, grausamste Unmenschlichkeit, die je begangen wurde.

Der Berliner spielte während der Blockade keineswegs nur eine passive Rolle. Es war sein Kampf, und er wußte, daß es um sein Leben und seine Freiheit ging. Es ist völlig falsch, sich vorzustellen, daß der Berliner in jener Zeit niedergeschlagen und teilnahmslos auf einem Schutthaufen gesessen und die leben-spendenden Luftbrückenflugzeuge beobachtet habe, die über seinem Kopf dahin brausten.

Berlin lebte und überlebte die Blockade, weil seine Bewohner es wollten.

Die obersten alliierten Dienststellen haben öffentlich erklärt, daß der Erfolg der Luftbrücke ohne die mutige und unerschütterliche Haltung der Berliner Bevölkerung unmöglich und alle technischen Leistungen und die Anstrengungen der Flieger bedeutungslos gewesen wären.

Gegen Ende des Jahres 1948, als nebliger Regen und Mangel an Ausrüstungsgegenständen die Luftbrücke stark gefährdeten, unternahm man eine genaue Umfrage über die öffentliche Meinung. Interviewer gingen von Tür zu Tür, unterbrachen Hausfrauen bei ihrer Arbeit, sprachen mit Studenten zwischen den Vorlesungen, mit Arbeitern an ihren Werkbänken und Arbeitslosen in den Schlangen vor den Stempelstellen. Sie stellten folgende zwei Fragen: „Glauben Sie, daß die Luftbrücke Berlin über den Winter bringen wird?" und „Würden Sie lieber unter diesen Umständen in einer blockierten Stadt leben oder sich den Sowjets unterwerfen?“

Die Antwort war ein historisches Beispiel für unbedingtes Vertrauen auch unter härtesten Bedingungen; 87 von 100 Berlinern antworteten auf die erste Frage: „Ja, ich glaube an die Luftbrücke. Ich glaube, daß sie uns durch den Winter bringen wird.“ Und auf die zweite Frage, ob eine Übergabe nicht doch ein leichterer Ausweg aus dieser grauen und beschwerlichen Existenz sei, antworteten 96 von 100 Berlinern mit einem klaren „Nein“. Am Ende der Blockade müsse ein voller Sieg des Westens stehen. Niederlage oder Unterwerfung kämen nicht in Frage.

Man bedenke, daß diese Umfrage zu einer Zeit durchgeführt wurde, als die Luftbrücke in ihrer schwersten Krise stand und als das Wetter im Kampf gegen den Westen mit den Sowjets im Bunde zu sein schien. Man bedenke, daß ein Viertel aller Berliner arbeitslos war und fast ein Drittel aller Menschen von Arbeitslosenunterstützung lebte, die, wie man so schön sagt, „zum Leben zuwenig und zum Sterben zuviel" war.

Man erinnere sich daran, daß diese gleichen Deutschen vor knapp vier Jahren die schrecklichste totale Niederlage der Geschichte erlebt hatten. Die Männer ihrer Regierung hatten Selbstmord begangen oder waren gefangengenommen, getötet oder ins Gefängnis geworfen worden. Der Glaube der Deutschen an den Sinn des Lebens war in seinen Grundfesten erschüttert. Man bedenke, daß das Unkraut des Opportunismus in Zeiten der Not und des Mangels stets besonders kräftig wuchert und daß Berlin vielleicht das hilf-und hoffnungsloseste Gebiet war, das man sich vorstellen kann.

Trotzdem gewann der Opportunismus nicht die Oberhand. Bis auf den letzten Mann lehnten die Berliner es ab, den Kampf durch Über-gabe zu beenden — und die Menschen fühlten keine Bitterkeit gegenüber dem ehemaligen Feind, der jetzt in einem anderen Kampf stand, nämlich im Kampf gegen die Furcht für die Freiheit und Würde des Menschen. Die willige Selbstverleugnung, die Ausdauer und das Vertrauen der Bevölkerung waren unermeßlich. Ihre Charakterstärke und ihr geschlossener Einsatz für die gute Sache sind in der Geschichte unübertroffen. „Einst wurde die große Stadt durch die Tyrannei zerstört", erklärte der amerikanische Hochkommissar John McCloy. „Jetzt hat Berlin ein Beispiel des höchsten Heldenmutes gegeben, das für die ganze freie Welt richtungweisend ist.

Kein wortreiches Buch, keine Statistiken und Tabellen können die volle Bedeutung der Blockade und der Luftbrücke erschöpfend wiedergeben. Kein Fotograf, kein Maler und kein Dichter kann das Gesamtbild jener Stunde im Leben von Berlin festhalten. Kein Wochenschau-mann, kein Radiokommentator, kein Historiker oder Berichterstatter kann die eindringliche Bedeutung der beispielhaften Rolle Berlins klar vermitteln.

Der Zusammenbruch einer Tyrannei, die es selbst hatte ausbrüten helfen, hatte in Berlin ein klares und demütiges Wissen um das Wesen einer Tyrannei hinterlassen — und aus diesem Wissen wuchs der eiserne Entschluß, die Unterdrückung in dieser Stadt ihr endgültiges Ende finden zu lassen.

Während der 15monatigen Dauer der Luftbrücke — sie wurde nach der Beendigung der Blockade noch fortgesetzt, um Berlin für alle Fälle mit den nötigsten Dingen zu versorgen — flogen die vereinten alliierten Luftbrückenverbände 2 324 257 Tonnen Versorgungsgüter in 279 114 Flügen nach Berlin.

Die geflogene Gesamtentfernung betrug genau 109 228 502 Meilen (rund 175 Millionen Kilometer) — das entspricht mehr als 200 Flügen zum Mond! Die ankommenden Frachten bestanden zu 67 Prozent aus Kohle, 24 Prozent aus Lebensmitteln und 9 Prozent aus Rohmaterialien, Medikamenten, Zeitungspapier und anderen Frachten.

Mit der Zeit wurde es auch den Sowjets klar, daß die Berliner Blockade vergeblich war. Sie erkannten die Gefahr der alliierten Gegenblokkade, und sie spürten den wachsenden Hohn und den steigenden Zorn der ganzen freien Welt.

Gegen Ende April 1949 kamen die ersten Gerüchte in Umlauf. New Yorker Zeitungen berichteten, die Sowjets seien zu Verhandlungen über die Beendigung des Blockadefiaskos bereit.

Die ersten Nachrichten drangen durch ein Interview mit dem australischen Außenminister Dr. Herbert Evatt nach außen. Er sagte: „Man darf erwarten, daß die Berliner Blockade bald aufgehoben wird." Radio und Nachrichtenagenturen verbreiteten diesen kurzen Satz in der ganzen Welt.

Es herrschte eine fast elektrische Spannung, und die ganze Welt hielt voller Erwartung den Atem an. Am 5. Mai kam schließlich ein amtliches Kommunique aus New York; „Die vier Großmächte haben beschlossen, die Blockade am 11. Mai genau um Mitternacht zu beenden. Alle Verkehrs-und Handeiseinschränkungen in Deutschland werden von beiden Seiten aufgehoben. Für den 23. Mai wurde eine Außenministerkonferenz über die Berliner Frage festgesetzt.

Man hätte erwarten können, daß in Berlin ein wilder Freudentaumel einsetzte, aber er kam nicht. Die Berliner kannten die Sowjets zu gut. Und General Clay kannte sie auch. Er erklärte: „Die alliierte Luftbrücke wird in bisheriger Stärke weitergeführt, bis ein Vorrat von 200 000 Tonnen Kohle und Lebensmitteln in Berlin vorhanden ist.“

Und vom Luftwaffen-Hauptquartier in Washington kam eine ebenso scharfe Erklärung: „Das Personal und die Maschinen der Luftbrücke werden so lange in Europa bleiben, bis wir sicher sind, daß die Sowjets keine zweite Blockade planen.“

Aber diesmal meinten es die Roten ernst. Die Beendigung der Blockade war kein östlicher Trick, denn sie lag zu sehr im eigenen Interesse der Sowjets.

Der Ostberliner Polizeipräsident Paul Markgraf befahl mit fast übertriebener Eile: „Alle Verkehrskontrollen an der sowjetischen Sektorengrenze werden nach Aufhebung der Blokkade aufhören und alle damit zusammenhängenden Maßnahmen eingestellt werden.“

Am 8. Mai erklärte Oberbürgermeister Prof. Ernst Reuter: „Die Aufhebung der Blockade ist der größte Triumph der letzten Jahre. Die Bevölkerung von Berlin hat den Weltfrieden gerettet. Wäre Berlin gefallen, so gäbe es heute keinen Frieden in der Welt."

In der Nacht vom 11. zum 12. Mai drängten sich Tausende von Berlinern am Rande der Autobahn Berlin-Helmstedt und in den Bahnhöfen, auf denen die ersten Züge ankommen sollten. Voll Eifer und brennender Neugier wollten sie selber sehen, ob das Unglaubhafte wirklich wahr werde.

Hunderte von Zeitungskorrespondenten, Bildberichtern, Wochenschauleuten, Rundfunksprechern und Reportern aus allen Teilen der Welt strömten nach Berlin, um dabeizusein und über den historischen Augenblick der Blockadeaufhebung zu berichten.

Zur Feier des Endes der Belagerung wurden in Nachtklubs, Bars und Privathäusern Gesellschaften vorbereitet, die die ganze Nacht durchgehen sollten.

Fahnen und Banner flatterten über den Straßen, und Blumen und Girlanden lagen am Rand der Ausfallstraßen bereit, auf denen die ersten Lastwagen ankommen sollten.

Und währenddessen dröhnte das ununterbrochene, beruhigende Motorengeräusch der riesigen Luftbrücken-Flugzeuge durch die Nacht.

Die Luftbrücke wurde ohne Unterbrechung und ohne Verzögerung weitergeführt.

Genau eine Minute nach Mitternacht ergriff ein breitschultriger, schlitzäugiger Sergeant der Roten Armee den Schlagbaum über die Straße und hob ihn hoch. Der erste große Lastwagen, mit Obst und Gemüse voll beladen, rollte langsam über die letzten Meter auf der Straße nach Berlin. Die wartende Menge brach in einen lauten, begeisterten Beifallssturm aus, ein mächtig anschwellender Willkommens-und Siegesruf klang hinaus in die sternklare Nacht. Und über viele Wangen rannen Tränen der Dankbarkeit. Fast in derselben Minute dampfte der erste Zug nach fast elf Monaten über die Zonengrenze nach Berlin.

Es war eine unvergeßliche Nacht. Wilder, bacchantischer Jubel und hemmungslose Begeisterung tobten in den Westsektoren, dankbar für die Befreiung und voller Stolz auf das Erreichte. Überall verkündeten handgeschriebene Zettel: „Hurra, wir leben noch! Berlin ist wieder frei!"

Am nächsten Tage folgte dann die große Siegesfeier. Ungefähr 300 000 freiheitsliebende Bürger der befreiten Stadt trafen sich zu einer gewaltigen Massenversammlung vor dem Schöneberger Rathaus. Die führenden Persönlichkeiten des Berliner Magistrats und der Bonner Bundesregierung und die drei westlichen alliierten Militärgouverneure waren anwesend.

Ernst Reuter — für die Welt das Symbol der Kraft, des Glaubens und des Sieges der Berliner — rief der riesigen Zuhörerschaft zu: „Meine Freunde! Meine Mitbürger! Die Blockade ist zu Ende! Der Versuch, uns auf die Knie zu zwingen, ist gescheitert! Er ist gescheitert, weil die Welt unseren Ruf gehört und uns geholfen hat.

Die Blockade ist gescheitert, obgleich scheinbar alles gegen uns sprach und ein bergeversetzender Glaube notwendig war, diese Zeit zu überstehen. Wir haben endlich gewonnen. Aber wir wissen, daß wir noch viel mehr erreichen müssen. Im Osten Berlins muß die Freiheit genau so hergestellt werden wie im Westen. Niemand und nichts wird uns hindern können, diesem ersten Sieg den zweiten folgen zu lassen, der Berlin endlich zu einer wirklich freien Stadt macht!“ Lowell Bennett

Das geteilte Berlin

Ernst Reuter am vor dem 1949 Blockadeaufhebuptg spricht auf einer Kundgebung 12. Mai Schöneberger Rathaus

Der Abbruch der Blockade war nichts als ein strategischer Zug der Russen, die ein Unternehmen beenden wollten, das für sie eine Belastung geworden war. Er führte nicht zu einer spürbaren Verbesserung der Beziehungen zwischen Ost und West. Im Gegenteil, diese verschlechterten sich ständig, und das Ergebnis dieser Fehde zeigte sich in einer Reihe sinnloser Ereignisse in der gespaltenen Stadt. Da alle Telefonkabel zwischen Ost-und Westberlin durchschnitten waren, hätte ein Westberliner, der sein Telefon dazu benutzen wollte, sich im Opernhaus im Ostsektor einen Platz zu bestellen, ein Ferngespräch über die 200 Kilometer entfernte Verteilerstation in Hamburg führen müssen, um sein Zil zu erreichen. Die Straßenbahnwagen hielten an der Sektorengrenze, Fahrgäste, die ihre Reise fortzusetzen wünschten, mußten andere Wagen besteigen und neue Fahrkahrten in der Währung des anderen Sektors lösen. Die Demarkationslinie zwischen den Sektoren folgte den Grenzen der alten Berliner Stadbezirke, deren ursprüngliche Planer kaum die sich jetzt ergebenden Komplikationen vorausahnen konnten. So konnte es geschehen, daß in einer Grenzstraße die Vorderfront der Häuser zu Westberlin gehörte, während die Hintereingänge im Ostsektor lagen. Eine derart seltsame Lage hatte gewisse Vorteile für die Hausbewohner, die sich eine Kostbarkeit wie Kohle billig im Ostsektor bestellen konnten, die Ware an der Hintertür abladen ließen, durch das Haus schleppten und dann am Haupteingang für die weit wertvollere Westmark profitabel verkaufen konnten. Von Zeit zu Zeit entdeckten die Rechtsgelehrten der einen oder anderen Seite, daß die ursprüngliche Bezirksgrenze einige Meter westlich oder östlich von der gegenwärtigen Demarkationslinie gelegen hatte, und sie besetzten die ihnen zustehenden Quadratmeter.

Die Bewohner der Westsektoren, die in unmittelbarer Nähe der Sektorengrenze wohnten, lebten in ständiger Angst und Sorge, daß sie eines Morgens mit der Entdeckung aufwachen könnten, über Nacht von den Sowjets übernommen zu sein. Als eines Tages Stalin-Bilder und kommunistische Plakate an den Häuserwänden auf der westlichen Seite des Potsdamer Platzes erschienen, wagten sich die erschreckten Bewohner nicht in ihre Häuser und Geschäfte, bis sie herausfanden, daß diese Beschriftung den Hintergrund für eine britische Filmgesellschaft bildete, der die Erlaubnis verweigert worden war, ihre Aufnahmen im russischen Sektor zu machen.

Andere Vorfälle waren weniger amüsant, und Menschenraub und Entführungen aus dem Westsektor waren keine Seltenheit. Am tragischsten war der Fall des antikommunistischen Rechtsanwalts Dr. Linse, der am hellichten Tag vor seiner Wohnung im amerikanischen Sektor niedergeschlagen und in ein wartendes Auto gezerrt wurde, das im Eiltempo durch die Absperrungen in die russische Zone raste. Dr. Linse ist seitdem verschwunden.

In der entgegengesetzten Richtung wälzte sich ein ständiger Strom von Flüchtlingen aus der Ostzone nach Westberlin. Zu Ende des Jahres 1952 hatten bereits über 300 000 dieser Flüchtlinge, darunter viele Mitglieder der kommunistischen Volkspolizei, in Westberlin Asyl gefunden. Ungefähr eine Million Dollar waren ausgegeben worden, um diese Flüchtlinge in Berlin unterzubringen und nach dem Westen abzufliegen. Während der letzten Woche des Januar 1953 allein suchten 8 500 Ostdeutsche Zuflucht in der Freiheit und Sicherheit von Westberlin. Die Frage ihrer Unterbringung und Weiterbeförderung wurde das Hauptproblem der Berliner Stadtverwaltung, ein Problem, das nur in Zusammenarbeit mit der deutschen Bundesregierung und der aktiven Mithilfe der westlichen Besatzungsmächte gelöst werden konnte.

Peter K. Orton

17. Juni 1953

Pariser Platz Sowjetische Panzer ant

Am Morgen des 16. Juni ziehen 300 Bau-leute vom Blöde 40 durch die Stalinallee. Sie wissen nicht, daß sie zum Marsch in eine Volks-erhebung aufgebrochen sind.

„Wir fordern Herabsetzung der Normen!“ steht auf dem Transparent, das sie mittragen — steht auf der Vorderseite. Auf der Rückseite: „Aus Anlaß des 1. Mai hat Block 40 freiwillig nicht nur die Normen, sie meinen ein freies Leben in einem freien Staat. Das ist keine Forderung mehr, die sich in der Sparte „Arbeitsrecht“, „Lebensstandard“ oder „Soziale Ansprüche“ unterbringen ließe.

Keiner hat es sich überlegt: aber das ist die Kampfansage an Pankow und Karlshorst. Da der Bann gebrochen ist, sammelt sich ihre Not, die Normen um 10 Prozent erhöht!“ Die Rückseite ist durchgestrichen.

Ein ungeordneter Haufen zieht durch die Stalinallee. Die Männer an den benachbarten Baustellen — C-Süd — sehen auf, lesen das Transparent, werfen die Werkzeuge fort, ziehen mit. Es braucht kein Wort. 500 ziehen von Baustelle zu Baustelle und sammeln ein: Kollegen, Unzufriedene, Erbitterte, Unterdrückte. Die Arbeiter von C-Süd zögern. Funktionäre versuchen sie zurückzuhalten — sie werden nach kurzer Auseinandersetzung beiseitegestoßen. Die Kollegen von F-Süd und D-Nord laufen herbei. 1 500 oder 2 000 demonstrieren. An der Stalinallee, der „ersten sozialistischen Straße Deutschlands“, rührt sich keine Hand mehr. In den vorderen Reihen reimen ein paar Männer die Worte der ersten Parole zusammen. Der Text wird nach hinten durchgesagt. Einer schreit: „Drei — vier!" (wie er es beim Komiß gelernt hat), und dann dröhnt der Sprechchor auf: „Kollegen, reiht euch ein — wir wollen freie Menschen sein!“ Sie meinen die innere, in dem einen Wort: frei sein. Die nächsten Stationen des Zuges sind von neuen Sprechchören markiert.

Der Verkehr zwingt die regellosen Reihen in eine Marschordnung. Man hat es diesen Männern nicht erlaubt, den Rhythmus des Marsches aus den Beinen zu schütteln. Wehrmacht, SA, Hitlerjugend, Arbeitsfront, Partei-und Gewerkschaftsdemonstrationen — nun marschieren sie wieder, wie sie es in Krieg und Frieden gelernt haben. Mit klappernden Holzpantinen, manche barfuß. Aber mit dem richtigen Ziel.

Sie näheren sich dem Alexanderplatz. Niemand hält sie auf. Die blauen Volkspolizisten wenden sich ab. Nur ein Funktionär versucht ihren Marsch aufzuhalten. Er empfängt Prügel, die ersten einer langen Serie harter Prügel. Ein Vopo, der ihm beispringen will, wird mit einer kleineren Portion abgefertigt. Passanten drängen sich auf den Bürgersteigen. Sie wissen nicht, was der Marsch dieser Männer in den Maurer-kitteln und Zimmermannshosen bedeuten soll. Eine Demonstration — aber wer hat sie befohlen? Niemand. Zurufe aus den Reihen stecken ihnen ein Licht auf: hier wird nicht auf Befehl der Regierung, hier wird gegen die Regierung demonstriert. Manche verdrücken sich (denn das kann ja nicht gutgehen). Andere winken, lachen, feuern an. Wenige ziehen mit.

Alexanderplatz. Am Renomier-HO, dem Prachtladen, sieben Stockwerke mit zehnstökkigen Preisen, ist plötzlich eine neue Parole da: „HO macht uns k. o.!“

Rufe hinüber zum Polizeipräsidium: „Wir wollen keine Volksarmee — wir wollen Butter!“

Durch die Wallstraße, am FDGB-Palast vorbei: „Nieder mit den Steuerfresserni" Und wohin weiter? „Zur Regierung!“ schreit einer. Er hat es erfaßt. Aber die vorderen einigen sich, einen Umweg zu machen, um die Kollegen von der Baustelle Staatsoper mitzunehmen. Die Kollegen von den Baustellen „Verwaltung des deutschen Innen-und Außenhandels" in der Schicklerstraße und einer Baustelle Unter den Linden sind alarmiert. Sie marschieren los — es sind etwa 600.

Zum Spittelmarkt am Stadthaus (bei Fritz Ebert, dem dicken Oberbürgermeister und kleinen Sohn seines großen Vaters) vorbei, dann zum Lustgarten, durch die „Linden". Die Kollegen von der Baustelle Staatsoper verbläuen ihre Betriebsgewerkschaftsleitung und schließen sich an. Schweigend marschieren sie am Monumentalbau der neuen sowjetischen Botschaft vorüber. Noch immer stellt sich ihnen niemand entgegen.

Die „Linden“ hatten schon lange den brausenden Verkehr vergessen, der einst durch die Straße der Straßen brauste. Die „Linden“ starben im Feuersturm der letzten Kriegsjahre. Was dann zur Linken und Rechten in den Schutthalden aufgerichtet wurde, die Fassaden der Bonzenpaläste, das „Haus der Sowjetkultur", das Gebäude der SED-Landesleitung, die Botschaft — das hatte nichts mit dem versunkenen Leben zu schaffen. Die paar Funktionärswagen, die dann und wann vorüberglitten, konnten die Stille der Straße nur noch trostloser machen.

Die Kolonnen der Arbeiter haben freie Bahn. Sie biegen in die Wilhelmstraße ein, die Straße der Schatten, der Ruinen und des lang versunkenen Glanzes. Ein roter BMW hat sich vor den Zug gestellt, zwei Funktionäre klettern aufs Dach, beschwören die „Kollegen“, nicht in den Westen zu marschieren, es gebe unnötiges Blutvergießen, sie wollten auf dem Marx-Engels-Platz verhandeln. Sie werden heruntergezogen, ihr Wagen wird beiseitegeschoben. . .

Dies ist die Minute des Aufstandes: „Nieder mit der Regierung!" — zum ersten Mal springt der Ruf auf, die Parole, auf die es ankommt. „Wo sitzen unsere Volksvertreter? Im Keller! Feiglinge! Schweinehunde!“

Was nun? Es geschieht nichts. Die Arbeiter schreien weiter: „Wir wollen Grotewohl und Ulbricht sehen!“ (Die Menge auf dem Platz wächst an: nun mögen es dreitausend oder viertausend sein.) Im ersten Stock öffnet sich ein Fenster: Rau und Selbmann werden erkannt, der Industriechef und der Bergbauminister. „Kommt runter!“ Die beiden verschwinden. Ein Mikrophon wird aus einem Fenster heruntergelassen. Die Staatssekretärin Walter will sprechen. Man hält sie für die Sekretärin Walter Ulbrichts. Ihre Stimme dringt nicht durch. Ein anderer Funktionär wird ausgepfiffen. Dann wird ein Tisch herausgetragen. Selbmann erscheint. Ein junger Arbeiter springt auf den Tisch, kündigt den Minister an. Es ist still geworden. Selbmann setzt an: „Liebe Kollegen . . .“

„Wir sind nicht deine Kollegen!“

„Idi bin auch Arbeiter.“

„Du bist ein Lump und Arbeiterverräter!“

Der Minister breitet die Arme aus, versucht, sich mit einer pathetischen Geste zu retten: „Arbeiter, schaut euch meine Hände an!“ Das Mätzchen hilft ihm nichts. Man kennt ihn zu genau, man weiß von den Durchstechereien, die er sich nach seiner Befreiung aus dem KZ Sachsenhausen als sächsischer Wirtschaftsminister und später als Direktor der Zentralverwaltung für Wirtschaft geleistet hat. Die Arbeiter lachen ihn aus. „Deine Hände sind ganz schön fett.“ Selbmann wird ausgepfiffen. Die Arbeiter schreien nach Ulbricht. Eine Frau besteigt den Tisch, verlangt in drei Sätzen noch einmal nach Grotewohl und Ulbricht.

Selbmann kommt auch jetzt nicht zu Wort. Aber auch die Arbeiter finden noch keinen Sprecher. Zehn Minuten vergehen — Minuten neuer Unschlüssigkeit —, bis ein Bauarbeiter im weißen Kittel auf den Tisch springt: „Kollegen, ich habe bei den Nazis fünf Jahre im KZ gesessen. Ich scheue mich nicht, bei diesen Brüdern noch einmal zehn Jahre für die Freiheit zu sitzen! Das sind die Sätze, die not tun. Rasender Beifall. Der Arbeiter formuliert knapp und klar die Forderungen: Normensenkung, Preissenkung, Straffreiheit für die Sprecher der Demonstranten.

Selbmann versucht ein anderes Mal, sich Gehör zu verschaffen. Er will die Menge überreden, eine Delegation für Verhandlungen über die Normen zu wählen. Ein anderer Arbeiter springt neben ihn auf den Tisch, schiebt ihn beiseite: sein Oberkörper ist nackt, braungebrannt, sein Gesicht mager, scharf. (Der Name des Mannes blieb unbekannt — er lieh dem Geist der Erhebung für einige Minuten seine anonyme Gestalt, damit war sein Auftrag erfüllt)

Zu Selbmann: „Was du uns erzählt hast, interessiert uns überhaupt nicht.“ „Kollegen, es geht hier nicht mehr um die Normen und die Preise. Es geht hier um mehr. Wir kommen nicht nur von der Stalinallee, sondern aus ganz Berlin.“ Zu Selbmann: „Das hier ist eine Volkserhebung. Wir wollen frei sein. Die Regierung muß aus ihren Fehlern die Konsequenzen ziehen. Wir fordern freie und geheime Wahlen!"

Es ist soweit. Der Funke der Erhebung hat gezündet. Die Stimmung schnellt hoch. Die Demonstranten sehen das Ziel ihres Marsches.

Unterdessen klettern zwei junge Ostberliner auf das Brandenburger Tor. Müde und schlaff hängt die rote Fahne am Mast, dort, wo die Quadriga stand. Die beiden Jungen lassen die Fahne der Sowjetunion herunter. „Es ging langsam und schwer. Alle sahen uns, denn es war auf einmal ringsum Stille.

Die Fahne wollte nicht abgehen. Unten schrie einer: . Kommt herunter, es wird gefährlich!'Wir sprangen aus dem Schußfeld.“ 15 Minuten später versuchen sie es ein zweites Mal: „Wir legten uns auf die Westseite des Podestes und schlichen uns langsam hoch. Unten rief einer: . Vorsicht! Am Hotel Adlon haben sie ein Maschinengewehr postiert!'Das rote Tuch war aus hartem Leinen, es dauerte fast eine halbe Minute, bis wir es durchgeschnitten hatten. Horst X nahm die Fahne und ging aufrecht und schwindelfrei bis auf den Sims der geschützten Westseite. Dann ließ er die Fahne fallen. Ein Beifallsturm brach los. Die Menschen waren außer sich.“ Um diese Stunde werden die ersten Toten in den Westsektor geschleppt.

In der Leipziger Straße drängten die Demonstranten die Vopo-Sperre Schritt für Schritt zurück, schoben sich immer dichter an das Haus der Ministerien heran. Kurz nach Mittag rasseln Sowjetpanzer durch die Friedrichstraße. In der offenen Turmlucke eines T 34 steht ein sowjetischer Offizier, gibt Anweisungen an die Volkspolizei. Man erkennt den sowjetischen Stadtkommandanten von Berlin, General Dibrowa. Die Arbeiter pfeifen, schreien: „Iwan raus!“ Die Vopos preschen vor. Ein Steinhagel schlägt ihnen entgegen. Die Panzer schieben sich vor. Eine Maschinengewehrsalve fegt in die Menge, eine zweite, dritte. Verwundete, Tote. In panischer Flucht stieben die Massen zurück, dem Potsdamer Platz zu, suchen in den Ruinen Schutz, werfen sich hinter Mauern und Schutt-hügel. Die Panzer stehen.

Die Demonstranten fluten wieder vor. Arbeiter haken sich unter, gehen in geschlossenen Reihen auf die Panzer zu. Junge Burschen springen auf die Geschütztürme, werfen Holz-stücke in die Geschützrohre, versuchen die Antennen abzureißen, ziehen Balken und Eisenträger aus den Trümmern, versuchen sie in die Ketten zu schieben. Neue Salven, Flucht, Stille, Minuten des Wartens. Meter für Meter schieben sich die großen, schrecklichen Stahltiere durch die Leipziger Straße auf den Potsdamer Platz herein. Wie Flut und Ebbe stürmen die Arbeiter vor und zurück. Die Szene ist gespenstisch.

Ein Lautsprecherwagen fordert in russischer Sprache wieder und wieder: „Schießt nicht auf deutsche Proletarier!“ Lautsprecherwagen auf der Gegenseite: „Der sowjetische Stadtkommandant befiehlt: Ab 13 Uhr wird der Ausnahmezustand verhängt. Menschenansammlungen über drei Personen sind verboten. Verstöße werden nach dem Kriegsrecht bestraft.

Stefan Brant

Der Aufstand, der mit der Auflehnung der Bauarbeiter vom Block 40 der Stalinallee gegen die Normenerhöhung begann und in Windeseile revolutionären Charakter annahm, blieb nicht auf Berlin begrenzt. In der ganzen sowjetisch besetzten Zone kam es zu einer offenen Auflehnung gegen die Zonenmachthaber. Wenn diesem Freiheitskampf der Erfolg versagt blieb, so lag das an dem Eingreifen sowjetischer Panzer, die diese große spontane Massenbewegung mit Gewalt und Terror unterdrückten. Aber diese Volkserhebung war trotzdem nicht sinnlos. Sie zeigte der Welt, daß die Idee der Freiheit im deutschen Volk noch lebendig ist, und daß die Deutschen bereit sind, für die Freiheit zu kämpfen. Der 17. Juni hat wie der 20. Juli 1944 wesentlich dazu beigetragen, dem deutschen Volke bei den freien Völkern der Welt wieder Achtung und Ansehen zu verschaffen.

Wird fortgesetzt

Platz Demonstranten im MG-Feuer auf dem Potsdamer

Politik und Zeitgeschichte

Bildnachweis: Das Gesicht aus Stein. Von Walther Kiaulehn Gekürzt. Aus: W. Kiaulehn »Berlin«. Biederstein-Verlag Vom Seelenreiz der Großstadt. Von Walther Kiaulehn Gekürzt. Aus: W. Kiaulehn »Berlin« Die Stadt der Wissenschaften. Von Jan Maren Gekürzt. Aus: »Berlin am Kreuzweg Europas«, herausgegeben von Emst Lemmer Die gefährlichen „Weber“. Von Johann J. Hesslin Aus: H. Erman »Weltgeschichte auf berlinisch«. Verlag für Intern. Kulturaustausch, West-Berlin Pariser Platz 7, Max Liebermann. Von Karl Scheffler Aus: J. J. Hesslin »Berlin«, Prestel-Verlag Pinselheinrich. Von Werner Schumann Aus: W. Schumann »Pinselheinrich«, Büchergilde Gutenberg Die Republik wird ausgerufen. Von Philipp Scheidemann Aus: Ph. Scheidemann »Memoiren eines Sozialdemokraten«, Karl Reissner Verlag Alexanderplatz. Von Alfred Döblin Gekürzt. Aus: A. Döblin »Berlin — Alexanderplatz«, Fischer-Bücherei Die goldenen zwanziger Jahre. Von Walther Kiaulehn Aus: Merian, Heft 11, 12. Jahrgang Es begann am 30. Januar 1933. Funkmanuskript Aus: W. Jäger u. a. »Es begann am 30. Januar«, Juventa Verlag, München Die geistige Freiheit wird auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Funkmanuskript Aus: W. Jäger u. a. »Es begann am 30. Januar« Der Endkampf in Berlin. Von Jürgen Thorwald Gekürzt. Aus: J. Thorwald »Das Ende an der Elbe«, Steingrüben-Verlag, Stuttgart Berlin wird zur Viersektorenstadt. Von Arno Scholz — Peter K. Orton Aus: A. Scholz -P. Orton »Die Insel Berlin«, Arani-Verlags-G. m. b. H. Berlin-Grunewald Wir setzen Bürgermeister und Bezirksverwaltungen ein. Von Wolfgang Leonhard Aus: W. Leonhard »Die Revolution entläßt ihre Kinder«, Verlag Kiepenheuer & Witsch Das Leben geht weiter. Von Curt Riess Gekürzt. Aus: C. Riess »Berlin Berlin 1945-1953«, Non Stop-Bücherei G. m. b. H., Berlin-Grunewald Die Niederlage der Kommunisten in Berlin. Von Wolfgang Leonhard Aus: W. Leonhard »Die Revolution entläßt ihre Kinder« Louise Schroeder. Von Curt Riess Aus: C. Riess »Berlin Berlin 1945— 195 3« Die Berliner Blockade. Von Lowell Bennett Aus: L Bennett »Bastion Berlin«, Friedrich Rudi Verlags-Union Das geteilte Berlin. Von Peter K. Orton Aus: A. Scholz — P. Orton »Die Insel Berlin« 17. Juni 1953. Von Stefan Brant Aus: St. Brant »Der Aufstand«. Steingrüben-Verlag, Stuttgart der Abbildungen auf den Seiten 581 Stacheldraht?, herausgeg. v. Bundesministerium für Deutsche Trans-Kontakt-Prod Berlin zur Verfügung gestelltuktion (aus . Freie Stadt“ — Zwischen gesamtdeutsche Fragen) und 599 GmbH) wurden alle Fotos von der Landesbildstelle Mit Ausnahme Inhalt der letzten Ausgabe: Sie lesen in dieser Ausgabe:

AUS DEM INHALT DER NÄCHSTEN BEILAGEN:

Arnold Bergstraesser: „Erwachsenenbildung als politische Aufgabe"

Gustavo Costa: „Die kommunistische Presse Italiens"

Frederic Lilge: „Makarenko"

Golo Mann: „Bismarck"

Otto Schiller: „Das Wesen der kommunistischen Gefahr — Die . Verbürgerlichung'in der Sowjetunion"

Karl Seidelmann: „Der Generationsprotestder Jugend-bewegung in gegenwärtiger Betrachtung"

Karl C. Thalheim: „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft"

Egmont Zechlin: „Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche" (IV. Teil) * * * : „Fridtjof Nansen"

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Fussnoten

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