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Massenzwangswanderungen in Europa seit 1912 | APuZ 41-42/1961 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 41-42/1961 Fridtjof Nansen Zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages Ungelöste Probleme der Flüchtlingskonvention von 1951 Integration nationaler Flüchtlinge im Spiegel der Soziologie Massenzwangswanderungen in Europa seit 1912

Massenzwangswanderungen in Europa seit 1912

Martin Kornrumpf

Während der Balkankriege 1912/1913 mußten 900 000 Griechen, Türken und Bulgaren ihre Heimat verlassen und in die jeweiligen Nationalstaaten flüchten. Nach dem 1. Weltkrieg setzte sich diese Bewegung fort. 2, 2 Mill.

Griechen, Türken und Bulgaren wurden durch den „Bevölkerungsaustausch" umgesiedelt. 1923 wurde diese „Massenumsiedlung" erstmalig in der Geschichte durch einen Vertrag (von Lausanne) beschlossen. Manche seiner Formulierungen kehren in späteren Verträgen wieder, vor allem im Punkt XIII des Potsdamer Abkommens.

Die Niederlage des Deutschen Reichs und der Zerfall Österreich-Ungarns verursachten 1918 beträchtliche Flüchtlingsströme. 1, 2 Mill, kamen als „Optanten" und Flüchtlinge aus Polen, dem Elsaß und den deutschen Kolonien.

Rund 400 000 Ungarn flohen aus Rumänien und Jugoslawien in das sogenannte „Rumpf-

Ungarn“.

Nadi der Oktober-Revolution von 1917 emigrierten aus Rußland 1, 2 Mill. Balten, Polen und Türken. 1 Mill. Russen suchten in den mittel-und westeuropäischen Staaten Asyl. Innerhalb der UdSSR wurden etwa 6 Mill, zur Kolonisierung Sibiriens deportiert. Mit staatlicher Förderung füllten 900 000 polnische, rumänische und französische „Siedler“ die von den deutschen „Optanten“ verlassenen Plätze.

Eine neue Flüchtlingswelle wurde durch den Faschismus ausgelöst. Bis 1939 emigrierten 750 000 „politisch Verfolgte" aus Italien, Spanien und Deutschland (zuerst aus dem „Alt-reich“, nach dem „Anschluß" aus Österreich, dann aus dem Sudetenland und dem „Protektorat"). Seit dem Ausbruch des 2. Weltkrieges überstürzten sich die Massenzwangswanderungen. Wegen des Luft-Krieges wurden in England, Frankreich, Deutschland und Italien über 10 Mill. Zivilpersonen „evakuiert“. Unter dem Schlagwort „Heim-ins-Reich" begann Hitler — zuerst auf Grund von Staatsverträgen — die Umsiedlung von 1 Mill. „Volksdeutschen“.

Um genügend Arbeitskräfte zu erhalten, brachte Hitler Millionen von „Fremdarbeitern“ nach Deutschland, verwendete zu diesem Zweck Kriegsgefangene und „verschleppte" Millionen von DP’s aus den besetzten Gebieten. 9 Mill, waren es beim Zusammenbruch. 8 Mill, wurden durch die Besatzungsmächte und dieUNRRA »repatriiert". Die IRO brachte rund 800 000, die nicht in ihre Heimat „zwangsrepatriiert“ werden wollten, zur Auswanderung — nach USA, Kanada, Israel usw. Die UNRRA wirkte bis Mitte 1947, anschließend die IRO bis 1952.

Das Aufgabengebiet der Flüchtlingshilfe wurde dann geteilt. Die Auswanderungshilfe oblag dem ICEM, dem zwischenstaatlichen Wanderungskomitee, die Rechtshilfe usw.dem UNHCR, also dem UN-Hochkommissar für staatenlose Flüchtlinge. Rund 200 000 „heimatlose Ausländer“ blieben in der Bundesrepublik, rund 75 000 „fremdsprachige Flüchtlinge" blieben in Österreich, von denen mehr als die Hälfte inzwischen eingebürgert wurde.

Nach dem Polenfeldzug vom September 1939 wurden durch Hitler 1, 5 Mill. Polen aus Westpreußen und dem Warthegau in das „Generalgouvernement“ zwangsweise umgesiedelt. Nach der Besetzung der Balkanstaaten durch Italien und Deutschland verursachte die „Neuordnung der Territorien“ die Flucht und Umsiedlung von 1, 2 Mill. Ungarn, Serben, Kroaten, Rumänen, Bulgaren und Griechen.

Der Zusammenbruch der Achsenmächte verursachte eine neue Welle von Flucht und Ausweisung. Das übervölkerte Italien mußte 530 000 Flüchtlinge aus Istrien, Dalmatien, Libyen und Ostafrika aufnehmen. Für Finnland optierten sämtliche 425 000 Karelier. In Griechenland entwickelte sich aus dem Partisanenkrieg, der gegen die Besatzung organisiert war, ein Bürgerkrieg, durch den 750 000 Menschen entwurzelt wurden. In den „Satelliten-Staaten“ wurde ein Bevölkerungsaustausch durchgeführt, von dem 500 000 Tschechen, Ungarn, Jugoslawen und Rumänen betroffen wurden. Die Volksrepublik Bulgarien wies 200 000 Türken 1950/51 aus. Die UdSSR siedelte während und nach dem 2. Weltkrieg 4 Mill. Balten, Polen, Ukrainer, Kaukasier, Wolgadeutsche usw. um, die zumeist nach Sibirien gebracht wurden.

Hier muß auch die polnische Emigration nach England erwähnt werden. Die meisten dieser 200 000 Polen waren frühere Soldaten der Armee des polnischen Generals Anders, die nach dem Polenfeldzug entkam und 1944/45 in Afrika und Italien eingesetzt und in England demobilisiert wurde. Viele von diesen Polen wollten nicht zurückkehren.

Die größte Zahl von Vertriebenen weist Deutschland auf. Die vier Besatzungszonen mußten 12, 5 Mill. „Flüchtlinge und Ausgewiesene“ aufnehmen, weitere 2 Millionen gingen durch Vertreibung und Flucht zugrunde. 400 000 Volksdeutsche blieben in Österreich, vor allem Sudetendeutsche und Südostdeutsche. (Nach den neuesten Volkszählungen gibt es heute 1. 6 Millionen Deutsche in der UdSSR, fast 400 000 in Rumänien und 350 000 in Ungarn.) Vertrieben wurden aber auch die Deutschen aus den ehemaligen Reichsgebieten östlich der Oder-Neiße-Linie,die unter polnische und russische Verwaltung gestellt wurden. 1939 lebten in Ostdeutschland 9, 6 Millionen. Nicht einmal ein Zehntel blieb in der Heimat. Dabei war nur für 100 000 von diesen nicht Deutsch die Muttersprache. Als „Spät-Aussiedler" kamen in den letzten Jahren mit Hilfe des Roten Kreuzes noch rund 400 000 Angehörige nach. Von den 12, 5 Mill. Vertriebenen leben fast 10 Mill, in der Bundesrepublik, knapp 3 Mill, in der Sowjetzone.

Aber aus der Sowjetzone haben bis zum 13. August dieses Jahres 2, 6 Millionen Deutsche die „Notaufnahme" beantragt, das Asyl für Deutsche, die aus Deutschland nach Deutschland fliehen. Ein Viertel von diesen sind Heimatvertriebene aus Ostdeutschland, die nach einem Zwischenaufenthalt in den freien Westen flohen. Die Bevölkerungszahl der sog. „DDR" ist damit gegenüber 1939 nicht mehr gewachsen. Die enorme Bevölkerungszunahme aber in der heutigen Bundesrepublik ist nur gerade so groß wie die Aufnahme von Vertriebenen und SBZ-Flüchtlingen. Das ist eine Folge der großen Kriegsverluste; denn unser Altersaufbau, den einmal die Statistiker „Alterspyramide" nannten, gleicht heute eher einer zerzausten Berg-tanne. „Frauenüberschuß“ infolge des Männer-verlustes, „geburtenschwache Jahrgänge", die jetzt ins Berufsleben nachrücken, sind Begriffe, die alltäglich auftauchen.

Die durch die Ausweisung und Vertreibung der Deutschen freigewordenen Gebiete wurden durch 9 Mill. Russen (in den Baltenstaaten und Ostpreußen), Polen (in Ostpreußen, Schlesien, Ostpommern und Ostbrandenburg), und Tschechen (im Sudentenland) aufgefüllt..

1956, während des Ungarnaufstandes, flohen 175 000 — zuerst nach Österreich, einige nach Jugoslawien. Ein Teil repatriierte nach der Normalisierung. Ungarn bemüht sich verstärkt darum und fordert zur Registrierung in einem ungarischen Konsulat auf. Aber auch aus anderen osteuropäischen Staaten sickern unaufhörlich neue Flüchtlinge ein. Die amerikanische Zellerbach-Kommission untersuchte 195 8/59 eingehend den Flüchtlingsstrom aus Jugoslawien. Ihretwegen vor allem ist die Diskussion um den Begriff „Wirtschaftsflüchtling" entbrannt.

In Europa trifft man aber auch Flüchtlinge, Repatriierte usw., die im Zeichen der Rekolo-nialisierung „zurückkehrten". Werfen wir daher noch einen Blick auf die Flüchtlingswellen, die seit 1945 in Asien und Afrika hereinbrachen und noch heute Tag für Tag von neuem unschuldige Menschen in den Strudel reißen.

Flüchtlinge in Asien und Afrika seit 1945

Unmittelbar oder mittelbar durch den 2. Weltkrieg ausgelöst, gab es mehrere Flüchtlings-wellen in Asien. Mit dem Zusammenbruch Japans kehrten fluchtartig 3 Mill. Japaner in den Jahren 1945/46 aus den verlorenen Gebieten in das Mutterland zurück. Seit der Staats-gründung Indiens und Pakistans 1947 wurden vertrieben, flüchteten oder wanderten bis jetzt mindestens 17 Mill. Hindus und Moslems von einem Staat in den anderen. Bei der Teilung Palästinas 1948 wurden 800 000 Araber heimatlos, die heute in Jordanien, im Libanon, in Syrien und Ägypten als Flüchtlinge auf den Friedensvertrag warten. Durch Geburtenüberschuß wuchs ihre Zahl bis heute auf 1 Million.

Wegen der Niederlage Nationalchinas 1949 flüchteten 2, 2 Millionen Chinesen nach Formosa und 1 Mill, in die Kronkolonie Hongkong. Dorthin flüchteten auch Tausende von Russen, die nach der Revolution von 1917 zuerst meist in der Mandschurei Asyl gefunden hatten. 73 000 Flüchtlinge leben im portugiesischen Makao. Mit der Teilung Koreas nach dem Koreakrieg von 1950 bis 1953 wurden 3 Mill. Nordkoreaner in Südkorea ausgenommen. 1954 flohen 800 000 Vietnamesen — insbesondere der katholische Bevölkerungsteil — aus dem kommunistischen Nordvietnam nach Südvietnam.

Infolge des Suezkonfliktes 1956 mußten rund 25 000 Menschen, vor allem Juden und Staatenlose, aus Ägypten fliehen. Seit 1959 flohen bis jetzt fast 50 000 Tibetaner nach Indien und Nepal, nachdem Rotchina, um seine Macht in Tibet zu festigen, eine Revolution ausgelöst hatte.

Mit den nordafrikanischen Auseinandersetzungen in Algier verloren 400 000 Algerier ihre Heimat, fanden Asyl in Marokko und Tunis und warten auf die Rückkehr.

Andererseits werden die Europäer aus den ehemaligen Kolonien verdrängt — die Niederländer aus Indonesien, Franzosen aus Nordafrika, Belgier aus dem Kongo. Am 24. August 1961 wurde im Rahmen einer Kabinettsumbildung in Frankreich ein „Staatssekretariat für Repatriierte“ neu geschaffen.

Währenddessen entstehen unter schweren Geburtswehen die neuen Staaten in Afrika. Allein im Kongo ist die Zahl der Flüchtlinge bereits vor einem halben Jahr auf 150 000 beziffert worden, als die Madagaskarkonferenz im März tagte. Ihre Zahl erhöht sich laufend. Dazu kamen andere Gruppen, wie die im Kongo Asyl suchenden Angola-Flüchtlinge.

Fussnoten

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