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Politik in Wissenschaft und Bildung | APuZ 44/1961 | bpb.de

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APuZ 44/1961 Politik in Wissenschaft und Bildung Bismarck

Politik in Wissenschaft und Bildung

Arnold Bergsträsser

Die Lehrgehalte der politischen Bildung

Politische Bildung ist mehr als Wissen; politisches Wissen ergibt sich nicht aus der Aufmerksamkeit auf politische Ereignisse allein, sondern es setzt Kenntnisse voraus, vermöge deren das aktuelle Geschehen verarbeitet werden kann. Darum ist es notwendig, den Wissensgehalten der politischen Bildung in allen Bereichen des Erziehungswesens unter dem Gesichtspunkt ihrer Leistung für die Ausbildung der Urteilsfähigkeit nachzugehen. Dies wird hier im Hinblick auf die höhere Schule als ein Beispiel versucht.

Eine Darstellung dieser Lehrgehalte der politischen Bildung an den höheren Schulen, wie sie von dem Erziehungsziel der politischen Bildung her entwickelt werden sollten, macht es nötig, zunächst von diesem Erziehungsziel selbst zu sprechen, um dann die spezifische Art des Lehrziels innerhalb der politischen Bildung zu kennzeichnen. Danach soll eingegangen werden auf das Wissen, welches beim Lehrer als Grundbestand seiner Unterrichts-und Erziehungspraxis vorauszusetzen ist und von den Lehrplänen und ihrer Durchführung unterschieden werden muß. Sodann ist es angebracht, die Lehrerausbildung auf der Universität und die Weiterbildung oder Zusatzausbildung des Lehrers in der Übergangsperiode der Gegenwart zu erörtern. Typische Einwände, die gegen Politik als Unterrichtsgegenstand und politisches Denken als Erziehungsziel gemacht werden, kommen an geeigneten Stellen zur Besprechung.

Das Erziehungsziel

Obwohl sich diese Ausführungen konzentrieren auf das Wissen, welches ein unentbehrlicher Bestandteil der politischen Bildung ist, und auf die Art seiner Erwerbung und Vermittlung, sollten sie dennoch durchgehend verstanden werden als einem Erziehungsziel der politischen Bildung untergeordnet. Ein Wissenserwerb, der diesem Ziele nicht dient, hat auch auf der höheren Schule keinen Platz. Andererseits gilt von der Politik in noch höherem Grade als von anderen Daseinsbereichen des Menschen, daß ein politik-gerechtes Verhalten die Kenntnis und richtige Deutung der Situationen verlangt, in denen es sich bewähren soll.

Das Erziehungsziel der politischen Bildung ist die Selbstgestaltung einer inneren Form der Persönlichkeit, welche befähigt, auf politische Entscheidungsfragen adäquat und zugleich produktiv einzugehen. Das Erziehungsziel der politischen Bildung ist also das eines mündigen Menschen, der die Zuständlichkeit, in der er sich als politischer Mensch befindet, erkennen und im Wissen darum, was er tut, auf sie antwortend sich verhalten kann. Diese Persönlichkeitsform beruht einerseits auf Erfahrung, welche in ihrer Tragweite durch ein Erfahrungsgefühl im Handeln selbst angezeigt wird. Es oszilliert zwischen den Polen von Bejahung oder Freundschaft und Verneinung oder Feindschaft. Mit dieser Polarität ist zugleich das Engagement als unabdingbar zum politischen Verhalten gehörig gekennzeichnet. Es ist aber unzureichend und in einer falschen Richtung verführerisch, an dieser Polarität des Erfahrungsgefühls den Begriff des Politischen selbst herauszubilden, wie sich im späteren Verlauf dieser Darlegungen deutlich zeigen wird. Vielmehr bedarf als solches das Erfahrungsgefühl der abwägenden Klärung und der geistigen Überwindung. Sie entstehen sowohl durch Gewöhnung, das heißt gute Sitten, wie durch Erkenntnis. Die Leistung der Schule kann, wenn sie als Beispiel eines Gruppenverhaltens aufgefaßt wird, das gut oder schlecht vollzogen werden kann, den Grund legen dafür, daß Tugenden guter politischer Sitten in Situationen gefunden und eingeübt werden, die zwar gegenüber dem politischen Leben der offenen Welt nur teilweise beispielhaft sind, aber doch ein gewisses Maß grundlegender Sicherheit des Verhaltens mitteilen. Für die politische Bildung als Ganzes, wie sie heute notwendig ist, kann diese Erfahrung allein nicht ausreichen.

Wenn von einer Disziplin der Satz gilt „Non scholae sed vitae discimus", dann ist es die Politik. Erziehung und Unterricht in der Politik haben das Ziel, dem Schüler die Grundelemente des Verhaltens und des Wissens mitzugeben, die für seine Daseinsführung als politischer Mensch unentbehrlich sind. Wir können nicht erwarten, die Wissensgehalte der Politik auch dem besten Schüler in irgendeiner Vollständigkeit mitzugeben, aber wir können hoffen, einen Bestand an Wissen und Denkverfahren in ihm zu festigen, den er im Wachstum seiner eigenen künftigen Daseinserfahrung selbständig weiterzuentwickeln vermag. Um aber dazu in der Lage zu sein, eigenständige Erfahrungen zu machen und selbständig urteilen zu lernen, bedarf er der Grundbegriffe. Die stofflichen Wissensgehalte können sich zwar bilden mit Hilfe des auf verschiedenen Wissensgebieten Erlernten, aber sie werden für die politische Bildung nur dann nützlich, wenn sie unter dem spezifischen Gesichtspunkt des Politischen ihre begriffliche Form bekommen, wie sie die Politische Wissenschaft vermittelt. Das Bild der Vergangenheit steht dem Lehrenden und dem Lernenden als Material des politischen Denkens zur Verfügung. Um sie aber für die spezifisch politische Aufgabe nutzbar zu machen, ist es zunächst notwendig, eine ganz andere Blickrichtung zu pflegen, nämlrch die auf Gegenwart und Zukunft. Der besonders dem deutschen Erziehungswesen eigentümliche historische Charakter des Lernens enthält die Möglichkeit, das Gegenwartsverständnis zu schwächen. Dem der historischen Bildung innewohnenden Gedanken der Entwicklung sollte man darum den andersartigen Gesichtspunkt des dynamischen inneren Zusammenhangs an die Seite stellen, der die Gegenwart erschließt. Freilich ist dabei nicht zu übersehen, daß auch die historische Darstellung einer bestimmten Epoche die Einsicht in ihren inneren Zusammenhang, also dieselbe Heuristik verlangt, wenn sie schlüssig sein soll. In diesem Falle hat sie mit ähnlichen Grundbegriffen und Grundfragen zu arbeiten wie die Gegenwartsdiagnose. Hinsichtlich der letzteren muß aber bemerkt werden, daß die Schule dem heranwachsenden modernen Menschen die Fähigkeit, seine Gegenwart und damit auch seinen eigenen Standort in ihr in geistig gefestigter Weise zu erfahren, um so mehr schuldig ist, als die Strukturwandlungen des 20. Jahrhunderts in so drastischer Form vor sich gehen, daß gerade eine Orientierung, welche persönliche Entscheidungen betrifft, ohne dieses vom Wissen abhängige Vermögen der Zufälligkeit ausgesetzt bleibt.

Wenn die Schule es wahr machen will, daß sie für das Leben vorbereitet, muß sie energisch zu tun versuchen, was in statischen Epochen allenfalls vernachlässigt werden konnte. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hieße es, unsere erzieherische Verantwortung in diesem wichtigen Punkte verleugnen, wenn wir den Schüler in ein Leben hinaustreten lassen, in dem er sich nicht orientieren kann, weil ihm Grundwissen und Grundbegriffe zur Deutung seiner unmittelbaren sozialen, wirtschaftlichen und politischen Erlebnisse, seines eigenen Standortes in der Gesellschaft und der Bedingungen seiner Standortswahl fehlen.

Die Gegenwartsanalyse als solche ist aber noch nicht der Bereich des eigentlich Politischen. Gegenwart in diesem Sinne ist gewissermaßen im gegenwärtigen Zeitpunkt festgehaltene Geschichte, befragt nach den in ihr wirksamen Kräften sowie nach den Bedingungen, die das Geschehene für das zukünftige Handeln bietet. Die Katastrophe von 1945, historisch gedeutet, verlangt eine Geschichte des Nationalsozialismus, des Dritten Reiches und seiner internationalen Politik. Die Katastrophe von 1945, unter dem Gesichtspunkt der Gegenwartsanalyse gedeutet, verlangt eine Bewertung der Stellung Deutschlands im Zusammenhang der Weltpolitik, der sich in demselben Jahr auch anderswo verändert und als Ganzes neue Voraussetzungen für alles folgende politische Handeln geschaffen hat. Die politische Frage im eigentlichen Sinne gilt aber der Zukunft. Das politische Urteilen des Staatsbürgers beantwortet die Frage, was denn zu geschehen habe. Es ist also ein Abbild des politischen Urteils, welches auch dem verantwortlichen Staatsmann die notwendige Voraussetzung seiner Entscheidung bedeutet. Wollen wir einen urteilsfähigen politi-schen Zeitgenossen erziehen, dann muß er imstande sein, mit anderen Staatsbürgern und gleichsam für den handelnden Staatsmann die Entscheidung auf die Zukunft hin vorauszudenken. Je dichter und breiter die Basis der Pyramide ist, an deren Spitze die dazu befugten öffentlichen Organe ihre Entscheidungen fällen, je weniger diese aus zahllosen Einzel-und Gruppenurteilen sich bildende öffentliche Meinung dem Gefühl und der Konvention, je mehr sie der begründeten Einsicht entspringt, desto kräftiger wird der innere Aufbau des freiheitlichen Rechtsstaates und desto sicherer werden seine Entscheidungen sein.

Das Lehrziel

Um diesen urteilsfähigen Menschen zu erziehen, bedarf es also der Übertragung gewisser Grundbegriffe und Grundformen des Denkens und des politischen Lernens im Unterricht.

Die Lernstoffe der höheren Schule eröffnen auf den Gebieten der Sprachen und Literaturen, der Geographie, der Geschichte und der Religion einen breiten Raum, der für die Bildung politischer Urteilsfähigkeit verwertbar ist. Über die Stoffe selbst werde ich in anderem Zusammenhang noch sprechen. Jetzt nur noch ein kurzes Wort über die beim Studium dieser Gebiete erlernbaren Methoden und ihre Bedeutung für die Politik. Das Erlernen fremder Sprachen und die Interpretation ihrer Texte, gleichgültig ob es sich um alte oder um neue Sprachen handelt, erbringt für das politische Lernen die philologische Methode, das heißt aber die Kunst präzisen und abwägenden Lesens und der auf ihr aufgebauten Interpretation. Das Verständnis einer politischen Rede oder des Schlußkommuniques einer politischen Konferenz bedarf aber gerade dieser Fähigkeit des Lesens. Die Literatur selbst, die deutsche, die klassische und die der neueren Sprachen stellt zahlreiche Texte historischer, dichterischer und philosophischer Art zur Verfügung, deren politischen Gehalt der Kundige herausarbeiten kann. Ein solcher Versuch ist im Sinne der politischen Bildung fruchtbar, wenn es gelingt, das politisch Typische aus dem Text zu entwickeln, und eben dies verlangt einen geschulten Blick. Die Kulturgeographie, welche den wirtschaftlichen und sozialen Aufbau eines Landes unter den bestimmten Bedingungen seiner physischen Gegebenheiten vergegenwärtigt, führt ein in die Daseinsgesamtheit der politischen Einheiten, die wir als Träger der Weltpolitik und in diesem Sinne als Staaten bezeichnen. Die Geographie kann also Grundbegriffe vermitteln, welche Voraussetzungen politischen Handelns klarlegen, bzw. von den inneren Verhältnissen eines Volkes aus Bedingnisse seines weltpolitischen Verhaltens erklären. Die Geschichte wird dann zur politischen Bildung Wesentliches beizutragen vermögen, wenn sie die oben erwähnten inneren dynamisehen Zusammenhänge des Geschehens verdeutlicht, die politische Geschichte in ihrer Verwobenheit mit der sozialen und geistigen begreiflich macht, die historischen Entscheidungen den sie bewirkenden Faktoren zuzurechnen sucht und vor allem von dem Entwicklungsgedanken sich distanziert, der einen irreleitenden anonymen Determinismus nahelegt. Sie wird noch viel mehr dazu beitragen können, wenn sie am geschichtlichen Ereignis die Freiheit der Wahl aufdeckt, in der der Handelnde unter den ihn beschränkenden Bedingtheiten seiner Lage entschieden hat. Schließlich wird der Religionsunterricht dazu beitragen können, die letzten Motive des Daseinsverhaltens zu klären und damit eine Voraussetzung dafür erbringen, diese Motive hinsichtlich ihrer politischen Folgen in das politische Bewußtsein aufzunehmen.

Aus meiner Darstellung der Beiträge dieser Fächer wird ersichtlich, daß ich bis an die äußerste Grenze der Möglichkeit gehe, um ihre Lernstoffe und Denkverfahren für die politische Bildung nutzbar zu machen. An ihr wird aber auch deutlich, daß sie allein dem spezifischen Erziehungsziel der Politik nicht zu genügen vermögen. Vor allem aber dies: Um dem Erziehungsziel der politischen Bildung näher zu kommen, genügt es weder, die Schülerselbstverwaltung oder das „partnerschaftliche Verhalten“ als Vorübung zur Demokratie zu verstehen und anzuwenden, noch das Politische als Unterrichts-prinzip zu proklamieren — was immer im einzelnen und darunter verstanden werden möge —, noch aus den Unterrichtsgegenständen anderer Fälle das Politische hervorzuheben. Auch diese Möglichkeiten der Erziehung und des Lernens werden für die politische Bildung erst fruchtbar, wenn die Kenntnis-Voraussetzungen des politischen Urteils von dazu vorgebildeten Lehrern, die sie selber in den Grundzügen besitzen, den Schülern vermittelt werden.

Deshalb bedarf es eines Unterrichts in Politik als eines selbständigen Faches. Auch dort, wo die Bezeichnung Gemeinschaftskunde oder Sozialkunde für diesen Unterricht gewählt wird und also nur Teilaspekte des Politischen im Na-men des Gebietes zum Ausdrude kommen, ist dieses die Urteilsfähigkeit ins Auge fassende Erziehungsziel gemeint. Bei ihm handelt es sich dann um den Blick auf das, was zu tun ist, das heißt aber um die Unterscheidung dessen, was unabänderlich ist, von dem, was möglich ist, und schließlich innerhalb der gegebenen Möglichkeiten um die Entscheidung für das, was wünschenswert ist. Alle politischen Entscheidungen werden getroffen in der Spannung zwischen dem Möglichen und dem Erwünschten. Jedes der politischen Entscheidung zugrunde liegende Urteil enthält eine Rangordnung des zu Tuenden. Diese Urteilsfähigkeit auszubilden ist Sache eines spezifischen, durch keine andere Denkweise zu ersetzenden Verfahrens. Ihm ordnen sich, solange es geübt wird, andere Wissensgebiete und Denkweisen hilfeleistend unter.

Gegen die Einführung von Politik oder Gemeinschaftskunde als Unterrichtsfach wird geltend gemacht, dieser Unterricht verleite zur Indoktrination und wirke damit der bildenden Absicht der Schulerziehung entgegen, er bleibe ohne die engagierte Stellungnahme der Lehrenden blaß und wirkungslos, eben diese aber sei ihnen nicht zuzumuten und schließlich sei Politik ohnehin ein unübersehbares, „dämonischen" Kräften ausgeliefertes Spiel der Gewalten, das sich darum der Lehre entziehe. In Wirklichkeit ist der gute Unterricht das Gegenteil von Indoktrination, weil er nicht fertige Urteile mitteilt und auferlegt, sondern die Elemente des begründeten Urteilens vermittelt und zu seinem eigenständigen Vollzüge auffordert. Das eigene Urteil des Lehrenden, das er nicht verschweigen sollte, ist ein vorzügliches Beispiel, wenn er diese Anforderungen begründeter Eigenständigkeit erfüllt, andere, gegensätzliche Urteile nicht nur zu Wort kommen läßt, sondern hervorruft und sie nicht nach ihrem inhaltlichen Ergebnis, sondern nach der Zulänglichkeit ihrer Kenntnis-voraussetzungen und der Qualität ihrer Begründung bewertet. Dieses Verfahren ist, wie zahlreiche Beispiele bezeugen, durchaus zumutbar für den Lehrenden, es ist pädagogisch produktiv, weil es den Schüler zum eigenen verantwortlichen Denken hinführt, und es ist der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie gemäß, die auf dem sachlich begründeten, wenn auch von verschiedenen Grundauffassungen getragenen Entscheidungskompromiß beruht. Ja, dieses Verfahren ist ein Anwendungsfall des für das Grundgesetz der Bundesrepublik maßgebenden Prinzips der freiheitlichen Ordnung. Auf dieses Prinzip allerdings ist der Lehrende der Politik, der ihm als Beamter öffentlich-rechtlich ohnehin verpflichtet ist, auch moralisch verpflichtet zu halten. Der Verpflichtung zur dogmatisch gerechtfertigten, Haß erzeugenden und haßverzerrten Indoktrination, die den gesellschaftlich-politischen Unterricht im sowjetischen Osten beherrscht, setzt die freiheitliche Welt die Verpflichtung zur Achtung vor dem Menschen und seiner Bestimmung zur Mündigkeit und zu ihrer Bewährung auch im Unterricht entgegen.

Stärkung des Verständnisses, der Kritikfähigkeit und der Verantwortungsbereitschaft

Auch der Umstand, daß das deutsche Volk — und mit ihm die ältere Generation unserer Lehrer — während eines halben Jahrhunderts vier verschiedene Formen der politischen Ordnung erlebt hat und, daß es in der Gegenwart in zwei gegensätzlich aufgebauten gesellschaftlich-politischen Systemen lebt, rechtfertigt noch keinen Einwand gegen den Unterricht in Politik. Der Wechsel der politischen Systeme hat notwendig nicht nur im deutschen Erziehungswesen, sondern auch in dem anderer Länder, zum Beispiel im französischen, Schwierigkeiten hervorgerufen, die aber nicht unüberwindlich sind. Und der Irrtum und die Selbsttäuschung können zur Quelle der Einsicht werden, zumal dann, wenn die Ereignisse selbst sie als solche aufgedeckt haben. Es ist darum nicht einzusehen, warum ein Lehrer, der einmal dem Nationalsozialismus näher stand, als ihm heute lieb sein kann, aus eben dieser enttäuschten Erfahrung nicht die Konsquenz ziehen könne, den Gesamtzusammenhang des Politischen von Grund auf zu durchdenken, seinen Irrtum geistig zu überwinden und aus ihm den Gewinn einer gefestigten freiheitlichen Urteilsfähigkeit herauszuarbeiten.

Das deutsche Volk, das durch eine nationalsozialistische Diktatur gegangen ist und zu einem kleineren Teile unter einer kommunistischen leben muß, ist wegen dieser unmittelbaren Erfahrung besonders geeignet, die Gefährdung des Menschen und seines gemeinschaftlichen Lebens durch die Willkür des totalen Staates zu erkennen, den Sinn freiheitlicher Ordnungen zu begreifen und an ihrer Erhaltung und Fortbildung mitzuwirken. Dies zu tun, ist es den unter sowjetischer Herrschaft lebenden Mitbürgern schuldig. Der Einwand schließlich, der geschichtliche Prozeß entziehe sich der Einwirkung vernünftiger Einsicht ohnehin, durch den der Verzicht auf politisches Lernen, Nachdenken und Urteilen oft motiviert wird, entspringt der Bequemlichkeit des anonymen Determinismus oder aber einer geistigen Schwäche, die vor der Auseinandersetzung mit den komplexen Problemen der modernen Welt zurückscheut. Diese Gesinnung der Ohnmacht lähmt die Kraft des Willens und der sinnerschließenden wie der gesellschaftsdeutenden Erkenntnis auch in anderen Bereichen als dem politischen. Sie begünstigt eine menschliche Art, die das gesellschaftliche Dasein, das jeden trägt, als Gelegenheit zu subjektiver Ausbeutung begreift statt als eine Verpflichtung zu dienender, wenn auch das Eigene nicht vernachlässigender Leistung. Sie fördert die Neigung zum romantischen Traum von unerreichbaren Werten statt des Willens zur Wertverwirklichung. Sie ist letzten Endes zynisch. Niemand wird ernsthaft glauben, die menschliche Vernunft sei imstande, das „Dämonische" zu beseitigen, aber kein Einsichtiger wird aus seiner Erkenntnis der Beschränktheit dieses menschlichen Vermögens folgern, man solle von ihm im Bereich des Politischen keinen Gebrauch machen.

Die Erfahrung und die Übung einer Denkweise, die sich auf das im Gemeinwesen und von seiner dazu legitimierten Führungsspitze zu Tuende richtet, gehört zu den Grunderfordernissen der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie. Sie verstärkt das Verständnis, die Kritik-fähigkeit und die Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers und damit auf die Dauer den Subjektcharakter des Staates selbst. Indem sie das politische Urteil dem vagen Meinen entzieht, kristallisiert sie Lernen und Wissen um eine Fragestellung, die für jeden von einer sein eigenes Dasein angehenden Bedeutung ist. Im Unterricht ist sie geeignet, übe/ihren engeren Bereich hinaus das Verständnis für den Sinn des Wissens überhaupt zu fördern und die Energie zu seiner Aneignung zu kräftigen.

Es ist nun deutlich ersichtlich, daß das erregende Moment des politischen Lernens eben in dieser Ausrichtung auf das zu Tuende, das heißt aber in der Übernahme von Verantwortung schon im Denkvorgang der lernenden Übung beruht. Wenn wir sagen, daß die politische Bildung nur von dem persönlichen Einsatz des Schülers zum Erfolge gebracht werden kann, so sehen wir jetzt, daß im richtigen Begriff des Politischen dieses Engagement schon enthalten ist. Wenn aber der Schüler politisch zu denken beginnt wie der Staatsmann politisch denken sollte, dann wird er die Gefahren des Dilettantismus zu spüren und zunehmend zu überwinden vermögen. Es ist selbstverständlich, das das gründlich in dieser Gesinnung durchgeführte Lehrbeispiel politisch sehr viel wirksamer bildet, wenn es den nötigen Grad von Abstraktion erreicht, als irgendeine stoffliche Vielwisserei. Ich beschränke mich auf diese Bemerkung, die besonders auch für Aufbau und Lehrverfahren des Universitätsunterrichts in Politik ihre Bedeutung hat. Pädagogen brauche ich nicht darauf hinzuweisen, daß die Sequenz des im politischen Unterricht zu Entwickelnden besonders sorgfältiger Kontrolle bedarf, denn nur das Anknüpfen an schon bekannte Erfahrungsbestände kann sowohl die Erfahrungsfähigkeit wie ihre Umformung im politischen Sinne entwickeln.

Das Lehrwissen

Das Wissen des Lehrers ist, wie oben hervorgehoben wurde, klar zu unterscheiden sowohl von seinem Anwendungsbereich in der Unterrichtspraxis wie von dem Wissen, das von dem Schüler schließlich zu verlangen ist. Die Schärfe dieser Unterscheidung ist begründet in dem synoptischen Charakter des politischen Wissens. Der staatsbürgerliche Unterricht in der Weimarer Republik hatte sich nach zwei Haupt-richtungen entfaltet, einmal zu einem von der Verfassung ausgehenden, aber nicht weit in das sie tragende Leben hineinführenden öffentlich-rechtlichen Grundwissen — auf der anderen Seite zu einer Interpretation politischer Tagesfragen, die meistens mit einem dafür unzureichenden Instrumentarium an Hand der Tagespresse vorgenommen wurde. Beide diese Denkrichtungen sind auch heute unentbehrlich, aber sie werden ihre Fruchtbarkeit erst dann erweisen, wenn sie in den größeren Zusammenhang des eigentlich Politischen gestellt werden. Vor diesem Horizont bedeutet also das Verfassungsrecht eine Ordnungsform der politischen Willensbildung, die ihre Bedeutung erst dann kundtut, wenn sie neben anderen Ordnungsformen des Daseins in der Eigenart ihres lebendigen Vollzuges erscheint. Die politische Tagesfrage erscheint manchem Pädagogen als der beste „Einstieg“ in den politischen Unterricht. Wenn aber das Erziehungsziel des mündigen politisch-urteilsfähigen Zeitgenossen verlangt, daß er das aktuelle Problem selbständig beurteilen und sogar einer Beurteilung durch die Presse gegenüber unabhängig durchdenken kann, so ist für den Lehrer die Behandlung der Tagesfragen die größte Anforderung, die an sein eigenes Wissen und Können überhaupt zu stellen ist. Ich gebe einige Beispiele. Bei jedem von ihnen zeigt sich, daß das aktuelle Problem dann bis zu einem gewissen Grade befriedigend erörtert werden kann, wenn es sozusagen von einem Netz von Vorstellungen und Begriffen aufgefangen wird. Dieses Netz macht es dann möglich, auf die für eine Beurteilung der Tagesfragen in Betracht kommenden Faktoren aufmerksam zu werden, die sich ergebenden Fragen entweder zu beantworten oder zumindest festzustellen, wo zusätzliches Wissen notwendig wäre, um eine Antwort zu finden. Dies verstehe ich unter dem synoptischen Charakter des politischen Wissens. Er zwingt die politische Heuristik, den Gegenstand der Untersuchung nach möglicherweise mitgestaltenden Faktoren zu befragen. Sie müssen bei dem Untersuchenden vorgegeben sein, und zwar als prinzipiell gefestigter und in seinem inneren Zusammenhang gegliederter Fragehorizont.

Der russische Vorstoß vom Herbst des Jahres 1958 in Sachen der politischen Stellung Westberlins kann erhellt werden durch eine Geschichte der Sonderstellung Berlins unter der Vier-Mächte-Besatzung und der aus ihr sich ergebenden Teilung der Stadt. Damit sind wir aber noch nicht befriedigt. Zur Erklärung schon der bloßen Situation sind wir genötigt, unseren Fragekreis zu erweitern auf die Teilung Deutschlands. Diese wiederum wird nicht verständlich ohne eine Einsicht in die weltpolitische Ost-West-Spannung, wie sie sich bei Kriegsende vorbereitet hat und seit 1948 offenkundig geworden ist. Diese Weltspannung ihrerseits ist wieder nicht zu erfassen ohne den Einblick in die Verschiedenheit der Gesellschaftsauffassung des freiheitlichen Rechtsstaates einerseits und des kommunistischen totalitären Systems andererseits, ohne die Kenntnis der beiden zugrunde liegenden Auffassungen der öffentlichen Willensbildung, des Wirtschaftssystemes und der Stellung des Menschen in Staat und Gesellschaft, ja ohne die Einsicht in die Verschiedenheit der Auffassung des Menschen schlechthin. Geographisch, scheint es, ist das Berlinproblem auf den kleinsten Raum zusammengedrängt. Politisch spiegelt sich in ihm die Weltkonstellation. Die Beantwortung der Frage, wie hinsichtlich dieses Problemes zu handeln sei, verlangt ein synoptisches Sehen der weltpolitischen Dynamik der Gegenwart als Voraussetzung der Urteilsbildüng.

Ein anderes Beispiel: in der innenpolitischen Debatte wurde vor einigen Jahren die Frage des Wahlrechts behandelt. Zwischen den Extremen des Mehrheitswahlrechts und des Listenwahlsystems wurde eine Reihe von Vorschlägen erörtert. Sie haben in dem Bericht der Wahlrechts-kommission ihren Niederschlag gefunden. Um das Pro und Contra dieser Vorschläge oder auch nur der beiden entgegengesetzten Hauptrichtungen erwägen zu können, bedarf es des Wissens von der Arbeit des Parlaments, seinem Verhältnis zur Regierung und Verwaltung, seiner Beteiligung an internationalen Organisationen, seiner Erfordernis an Sachkenntnis, aber auch an dauernder Fühlung mit der öffentlichen Meinung und dem Wähler und schließlich sogar von dem Stande der politischen Bildung und seiner Wirkung auf die Wahlentscheidung selbst. Zum mindesten ist also hier unerläßlich die Einsicht in das Zustandekommen und die Wirksamkeit der Organe, welche in einer friedlichen Gesellschaft legal und praktisch den politischen Willen bilden. Audi in diesem Falle führt das aktuelle Problem einer gesetzgeberischen Veränderung des Wahlrechts in einen sehr viel weiteren Kreis des Wissensnotwendigen hinein, wenn es sachkundig behandelt werden soll. Schließlich die Frage der Besoldung des Abgeordneten und des Ministers. Soll er eine Pension bekommen, von wann an, in welcher Höhe? Diese Frage ist nicht zu lösen, ohne darüber Klarheit zu gewinnen, welche Auslese von Abgeordneten man begünstigen will, was Unabhängigkeit moralisch, wirtschaftlich und politisch überhaupt, was im besonderen Unabhängigkeit von Abgeordneten bedeutet, welche Einwirkungen von der Struktur des Wirtschaftssystems, und zwar von unternehmerischer wie gewerkschaftlicher Seite, auf den Abgeordneten ausgehen können, falls er nicht entweder unabhängig ist oder zur Unabhängigkeit der Urteils instand gesetzt wird. Die Frage nach der Auslese führt auf die von dem Abgeordneten zu fordernden Eignungsmerkmale, zu denen auch seine Urteilsfähigkeit auf dem Gebiet der internationalen Politik gehört. Die Frage nach der sozialen Unabhängigkeitschance führt auf die Struktur des wirtschaftlichen wie des politischen Führungssystems, also in die Bereiche der Soziologie und der inneren Politik. Die Frage nach der moralischen Unabhängigkeit führt auf die Verläßlichkeit der letzten Motive, die für den Abgeordneten maßgebend sein müssen und ohne staatspolitisches Verständnis nicht zu erhellen sind.

Wie auch immer wir aus pädagogischen Gründen das Wissen des Lehrenden im Unterrichts-vorgang verwerten, dieses Wissen selbst muß die Hauptgegenstandsgebiete der wissenschaftlichen Politik um des synoptischen Charakters des politischen Denkens willen umfassen: 1. Die Gegenwartsanalyse der modernen industriewirtschaftlichen Gesellschaft und zu ihrer Erhellung die Gegenbeispiele der primitiven geschlossenen Gesellschaft und der vorkapitalistischen ständischen Gesellschaft, sowie den Unterschied zwischen der marktwirtschaftlich dezentralen Organisation im freiheitlichen Rechtsstaat und der Zentralverwaltungswirtschaft in der totalitären Diktatur. 2. Die Kenntnis des für die Gesellschaft den politischen Rahmen bildenden Gemeinwesens und insbesondere seiner Willensbildungsform. In Erweiterung des Juridischen ist hier die Erfüllung des rechtlichen Rahmens mit dem praktischen Leben die Aufgabe der politik-wissenschaftlichen Forschung und des von ihr getragenen Unterrichts. 3. Die internationale Politik in ihrem Gesamtzusammenhang, und zwar hinsichtlich der Bewertung ihrer Träger und deren Wirkungschancen, hinsichtlich der Bewertung militärpolitischer Potentiale, wirtschaftspolitischer Chancen und gesellschaftspolitischer Auffassungen und schließlich hinsichtlich der Bedingungen des Handelns, welche politische Konstellationen einschließlich der aktuellen auferlegen. 4. Die Einsicht in die letzten Motivationen des politischen Handelns, seien sie religiös oder philosophisch begründet.

Diese Systematik der Lehrgehalte macht sich bei jedem Einzelbeispiel bemerkbar. Bei der Berlinfrage oder dem Problem des Wahlrechts oder dem der Abgeordnetenbesoldung kommen alle vier Gebiete ins Spiel. Folglich gibt gerade die Erörterung dieser Systematik an praktischen Beispielen einen aufschlußreichen Hinweis auf die Unentbehrlichkeit des synoptischen Be-griffsnetzes, das in der Verfügung des Lehrers stehen muß.

Insofern der Unterricht auf der Schule die Lehrstoffe anderer Disziplinen unter dem besonderen Gesichtspunkt der politischen Bildung nutzbar zu machen unternimmt, sollte er unter denselben Gesichtspunkten gegeben werden, die für den im engeren Sinne politischen Bereich des Unterrichts gelten. Das Begriffsnetz des politischen Denkens lenkt die Aufmerksamkeit auf die geeigneten Gegenstände und leitet den Lehrenden bei ihrer Verwertung. Auch hier einige Beispiele:

Am Melier-Dialog des Thukydides läßt sich die Grundfigur von Machtkonstellationen und ihren ethischen Konsequenzen bei Gegebenheiten von mehreren Staaten entwickeln, an der Ara Pacis auf dem Forum Romanum die frieden-stiftende Sendung, welche der Auffassung des Imperium Romanum zugrunde lag und nicht allein durch ihr historisches Fortleben bemerkenswert ist, sondern als Problem des Weltfriedens Aktualität hat. Ausgewählte Textstellen aus der Nikomachischen Ethik des Aristoteles geben die Gelegenheit zu einer Erörterung des Zusammenhanges von Ethik und Politik oder der Frage, ob die Leistung des Staates einen dem Menschen dienenden Charakter habe und in welchem Maße dies durch geeignete Institutionen etwa zu sichern sei. Eine politische Interpretation des Investiturstreits gibt Anlaß zur Erörterung der politischen Frage nach dem Verhältnis von Religion und Weltlichkeit und darüber hinaus dem von Kirche und Staat. Die Frage nach der Bedeutung, welche die Staats-und Gesellschaftslehre des Marsilius von Padua für Ludwig den Bayern gehabt hat, könnte zu einer Diskussion des Problems führen, was denn theoretisch formulierte Staatsauffassungen für das politische Handeln und für seine Stützung durch die Gewinnung von Anhängern überhaupt bedeuten. Die Frage, ob im Sprachunterricht Texte gelesen werden können, die zugleich der sprachlichen Ausbildung, dem Verständnis der fremden Nationalkultur und der politischen Bildung dienen, ist sehr erörterungswürdig. Rousseaus Contrat Social oder Montesquieus Esprit des Lois sind Grundbücher zum Verständnis der Institutionen des modernen Staates und zugleich erschließen sie wesentliche Seiten des französischen Geistes im 18. Jahrhundert. Die von Thomas Jefferson stammende Declaration of In-

dependence ist eine sprachlich hervorragende Leistung, ein politischer Akt und ein Grund-dokument der freiheitlichen Gesinnung. Zudem steht sie am Beginn der Ausbildung eines amerikanischen Stils der politischen Rede, der sich bis in die Gegenwart fortsetzt.

Die deutsche Literatur bietet eine Fülle wenig ausgenützter Leistungen. Auch eine Schrift wie Kants Allgemeine Geschichte in weltbürgerlicher Absicht gehört zum sprachlichen Schatz des deutschen Geistes, und zugleich der politischen Literatur. Goethes Vorspiel zur Eröffnung des Weimarischen Theaters im Jahre 1807 enthält ein Bild des Krieges und des Friedens und zugleich eine Theorie des Staates. Sein Eindruck ist um so lebendiger zu gestalten, wenn von der Jahreszahl aus das Ereignis des Tilsiter Friedens am Horizont auftaucht. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen sind ein politisches Buch. Es enthält zugleich eine Theorie der Gesellschaft. Das Salzburger große Welt-theater von Hofmannsthal enthält eine Gegenwartsdiagnose und eine religös begründete Ethik des Politischen. Die Politik der Gegenwart ist weder ohne die Kenntnis der Sozialethik Martin Luthers noch ohne die der Enzyklika Rerum Novarum zu verstehen. Aber auch wenn ein Geograph das moderne Indien darstellt, wird er ohne die Frage nicht auskommen, welche Spannung zwischen der Daseinsauffassung des Hinduismus und der modernen technischen Arbeitsgesinnung besteht. Diese Beispiele kann der Kundige jeder der genannten Disziplinen um viele andere vermehren, wenn er sich den Gesichtspunkt ihrer Auswahl zueigen gemacht hat. Sie sollen hier dazu dienen, auf Gelegenheiten hinzuweisen, an denen politisches Denken entwickelt werden kann. Wenn sie ergriffen werden von einem dazu ausreichend geschulten Geist, aber nur dann, können sie für die politische Bildung Wesentliches leisten.

Pädagogisch verlangt also die Auswertung von Stoffen, die in anderen Fächern gelehrt werden, das spezifisch Politische der Interpretation aus dem Besitz eines ausgebildeten Einblicks in den Zusammenhang von Mensch, Staat und Gesellschaft. Mit größtem Nachdruck muß daher wiederholt werden, daß schulorganisatorisch die Einführung des ordentlichen Lehrfachs unvermeidlich ist, wenn politische Bildung zu dem gewünschten, ja politisch unentbehrlichen Erfolge führen soll. Der ausgebildete Lehrer ist geeignet, seinen Kollegen bei der Auswahl und Behandlung politischer Stoffe zu beraten. Gerade hier, wo es sich um die Erziehung zur Urteilsfähigkeit handelt, muß jede Gefahr des Dilettantismus vermieden werden, wie sie nur allzu nahe liegt, wenn nicht die spezifische Denkzucht durch eine entsprechende wissenschaftliche Ausbildung erreicht worden ist, die diesen Dilettantismus zu vermeiden weiß. Der Weg dorthin wird mehr Zeit in Anspruch nehmen, als uns lieb ist. Aber es ist unsere politisch-moralische Pflicht, gegen die noch immer verbreitete Auffassung zu wirken, für das politische Urteil genüge ein Lernen ohne zureichende Begründung — oder gar so etwas wie der so-genannte „gesunde Menschenverstand“ — und die politische Leistung sei zu bewerten allein entsprechend der Geschicklichkeit, mit der sie durchgesetzt und der Leidenschaft, mit der sie vertreten wird. Ein guter Unterricht wirkt diesen Mißverständnissen entgegen. Solange wir wissenschaftlich ausgebildete Lehrer der Politik und der Soziologie nur in unzureichendem Maße haben, werden wir uns mit Überbrückungsmaßnahmen, mit Einführungskursen und Weiterbildungskursen helfen müssen. Über einen solchen Weiterbildungskurs, der im Jahre 1960 in Freiburg mit Lehrern der Höheren Schulen Baden-Württembergs durchgeführt wurde, gibt der erstattete Bericht im einzelnen Aufschluß. Aber auch die Kurse sollten im Licht eines Gesamt-planes des Lehrwissens durchgeführt werden, der seitens der wissenschaftlichen Forschung und der pädagogischen Erfahrung zu erproben und fortzubilden wäre. Gerade für dieses zur Daseinsorientierung und zur Ausbildung der Urteilsfähigkeit in der Gegenwart entscheidende Fach ist er unentbehrlich.

Die Ausbildung des Lehrenden

Die Ausbildung des Lehrers auf der Universität sollte also auch bei den Behelfsmaßnahmen, die auf Jahre hinaus nicht zu umgehen sind, das maßgebende Kriterium bilden. Die Ausbildung auf der Universität entspricht mit gewissen Varianten von Seminar zu Seminar der Grundauffassung des Lehrwissens, wie es hier und ebenso in den Richtlinien für die Arbeit der Bayerischen Akademie für Politische Bildung in Tutzing kursorisch dargestellt ist. In ähnlicher Weise haben auch die von einem Ausschuß für staatsbürgerliche Bildung ausgearbeiteten und an etwa 25 Schulen des Landes vor der Veröffentlichung erprobten Lehrpläne von Baden-Württemberg den Gesamtkomplex des Lehrwissens für die höhere Schule geordnet. Der Plan ist der Zusammenarbeit von Vertretern aller Schulgattungen, der Universität der Erwachsenenbildung zu verdanken. Die Fortbildung dieses Gesamtplanes mit Rücksicht auf seine pädagogische Verwertbarkeit und insbesondere auf die Bestimmung der Rangordnung der Thematik bei begrenzter Stundenzahl sollte derselben Art der Zusammenarbeit anvertraut werden. Es gibt nur eine politische Bildung und grundsätzlich nur einen der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie adäquaten Kanon des Lehrwissens, so sehr es nötig ist, ihn in der pädagogischen Praxis den verschiedenen Stufen der Aufnahmefähigkeit entsprechend zu verwenden und in den Gesamt-lehrgang der verschiedenen Schulgattungen sinnvoll einzufügen. Ebensosehr versteht es sich von selbst, daß in der Forschung, in der akademischen Ausbildung und in der Weiterbildung des Lehrers die wissenschaftliche Offenheit erhalten und die Kritik gepflegt wird, die für die Disziplin der Politik so unentbehrlich sind wie für jede andere. Je weiter sich der Versuch des der politischen Bildung dienenden Unterrichts entwickelt, desto dringender werden sowohl auf dem Gebiete der Soziologie wie dem der inneren Politik und der Staatsphilosophie von der Seite der Wissenschaft wie der Praxis Wünsche nach Ergänzung des verfügbaren Lehrmaterials auftreten, zu schweigen von den Forschungslücken selbst, die auf diesen Gebieten bestehen. Ein einführendes Buch in die Wirtschaftsstruktur der modernen Industriegesellschaft oder eine zwar knappe, aber begrifflich ausreichende und zugleich lesbare Einführung in die weltpolitische Dynamik der Gegenwart seien als Beispiele solcher Desiderata genannt. Es ist zu wünschen, daß sie nicht vorschnell in Arbeit genommen werden, sondern daß ihnen die praktische Unterrichtserfahrung, der Vergleich mit ähnlichen Versuchen in anderen Ländern und die Verbindung mit der Wissenschaft zugute kommt.

Auf der Universität wird dem Studierenden, welcher Politik als Hauptfach oder Beifach für das Staatsexamen wünscht, die notwendige Einführung und individuelle Beratung zu geben sein. Mehr noch als bei anderen Fächern ist es unerläßlich, daß dieser Studierende sein Studium auf den eigenen Willen zum geistigen Aufbau seines Gegenstandes konzentriert. Weder Vorlesung noch Proseminare und Seminare können dieses selbständige Moment der Aneignung von Stoff und Methoden ersetzen. Erst dort, wo es geweckt worden ist, kommen die auf der Universität möglichen Erziehungsleistungen zu ihrer bleibenden Fruchtbarkeit.

Die Vorlesungen auf den engeren Gebieten der Politik richten sich wiederum in ihrer Thematik nach den vier oben umrissenen Grund-gebieten. Die Grundbegriffe der theoretischen Soziologie und eine Einführung in eine Spezial-soziologie (Soziologie der Familie, des Betriebs oder der Herrschaft zum Beispiel) sollen die Fähigkeit entwickeln, die soziologischen Strukturgefüge im menschlichen Gemeinschaftsleben herausarbeiten zu können und die soziologische Fragestellung auch gegenüber neu auftretenden Problemen wachzuhalten. An Beispielen werden die Studierenden in die Methoden soziologischer Forschung eingeführt, um dadurch zugleich die kritische Sicherheit in der Verwendung soziologischer Untersuchungsergebnisse zu erhöhen. Eine grundlegende Vorlesung über Grundzüge der Politik soll das Verständnis der Gesamt-disziplin und ihre Stellung in den Wissenschaften fördern. Eine Analyse von Staat und Gesellschaft des gegenwärtigen Deutschland wird die Systemgegensätze des freiheitlichen Rechtsstaates und der totalitären Diktatur im Prinzipiellen wie an Einzelproblemen darstellen. Die Beschäftigung mit der inneren Politik wird sich auf die Probleme der Bildung des Staatswillens, des Parteiwesens, des Verhältnisses zwischen Regierung und Opposition, Parlament, Bürokratie und Verbänden wie überhaupt auf die ganze Struktur des öffentlichen Lebens erstrecken. Es ist eine Zweckmäßigkeitsfrage, ob solche Vorlesungen als Gesamteinheiten vorgetragen oder in Teilgebiete aufgelöst gelesen werden. Dasselbe gilt von dem Bereich der Internationalen Politik, auf dem sowohl die Analyse der Träger der Weltpolitik wie die des konstellativen Zusammenhangs der internationalen Politik und der besonderen Verfahrensformen, wie zum Beispiel der Diplomatie, wesentlich wird. Zur Einsicht in die letzten Motivationen des politischen Handelns oder — mit anderen Worten — zur Erhellung des Zusammenhangs zwischen Politik und Philosophie ist eine Geschichte der politischen Ideen oder eine verstehende Darstellung der politischen Ideenkreise der Gegenwart um so nützlicher, je mehr sie dazu anregt, die eigene Position, sei es zu finden, sei es in geistig begründeter Form zu vertiefen. Die Fort-entwicklung der philosophischen Anthropologie als Voraussetzung der politischen Wissenschaft ist eine heute vordringliche Aufgabe.

Diese Vorlesungen sind zu ergänzen durch die Übung in der historischen Quellenkritik, deren die politische auch deshalb bedarf, weil sie über ein in höherem Maße zugängliches Material verfügen kann, als es für die aktuelle Politik bereitsteht. Sie sind zu ergänzen durch das Studium der neuesten Geschichte, des Staatsrechts und der vergleichenden Verfassungslehre sowie des Völkerrechts. Sie alle nehmen ein komplementäres Verhältnis zu den Disziplinen der inneren und der internationalen Politik ein. Der soziologische Einblick in die moderne Gesellschaft bedarf national-ökonomischer Grundkenntnisse, die wiederum notwendig sind zum Verständnis wirtschafts-und gesellschaftspolitischer Fragen. Die Geschichte der politischen Ideen und die Staats-und Sozialphilosophie verweisen den Lernenden durch sich selbst auf die Einheit des philosophischen und des politischen Bewußtseins.

Vorlesungen sind nur dann nützlich, wenn der Studierende bemüht bleibt, sie in den selbständigen Aufbau seines Lebens durch Nachdenken und Nacharbeiten wirksam einzufügen. Diese Wirksamkeit kann gefördert werden durch die Seminare, zunächst durch ein Proseminar, das zur Einführung in das Studium bestimmt ist. Dann durch Proseminare, die die Interpretation politischer Texte, vor allem von Klassikern der Politik, üben. Ein besonderes Seminar, das sich mit den Grundrechten, den im Grundgesetz begründeten Institutionen der Willensbildung und dem Aufbau der Verwaltung in Bund, Ländern und Gemeinden befaßt, ist den Kandidaten für das höhere Lehramt zu empfehlen, weil für sie weniger die kasuistische juristische Kunst der verfassungsrechtlichen Interpretation als neben dem sicheren Wissen von den Institutionen selbst das Verständnis für ihre Bedeutung im Daseinszusammenhang wesentlich ist. Lehrer in der Erwachsenenbildung oder solche, die es werden möchten, können ein Seminar mit Lehrproben besuchen. Die praktische Teilnahme an der politischen Jugend-und Erwachsenenbildung hat sich als fördernd für die Ausbildung erwiesen. Die internationale Politik sollte in Kolloquien und Oberseminaren gepflegt werden. Auf allen Gebieten ist die Mitwirkung des älteren Studierenden an der Materialsammlung und seine Übung in der Kritik der politischen Literatur und im politischen Gebrauch der Erzeugnisse des Nachrichtenwesens notwendig. Die Kenntnis der politisch wichtigsten Fremdsprachen, und für Studierende, die Politik als Hauptfach wählen, der Arbeitsaufenthalt in mindestens einem fremden Lande, sind unentbehrlich. Die Unabhängigkeit in der Anwendung wissenschaftlicher Verfahren auf die Bildung eines eigenständigen und fundierten Urteils ist die Voraussetzung für den Aufbau einer eigenen politikwissenschaftlichen oder soziologischen Arbeit, mit der die wissenschaftliche Ausbildung ihren ersten Abschluß finden soll.

Wenn daran festgehalten wird, daß es nur eine politische Bildung gibt, so sind damit sowohl das Erziehungsziel wie die Lehrgehalte gemeint, ohne doch dem Schulwesen eine Monopolstellung geben zu wollen. Aber was hier am Beispiel der Höheren Schulen und der akademischen Ausbildung des Lehrers an der Universität verdeutlicht werden sollte, gilt in abgewandelter Form auch von den nicht-schulischen Einrichtungen, in denen politische Jugend-und Erwachsenenbildung gepflegt wird und die in der Bundesrepublik einen mit Recht wachsenden Raum einnehmen. Auch von ihnen ist aber zu erwarten, daß sie sich der geistigen Voraussetzungen und des methodischen Könnens bemächtigen, die für ihre Arbeit erforderlich sind, daß sie sich an der Diskussion der diese Arbeit betreffenden Fragen in Gemeinschaft mit Lehrerschaft und Wissenschaft beteiligen und dadurch den Wert ihres Beitrags zu erhöhen suchen.

Von Seiten politischer Parteien schließlich ist gelegentlich die Frage erhoben worden, ob politische Bildung nicht eine spezifische Aufgabe der Parteien selbst sei. Aber nicht nur lehrt die praktische Erfahrung, daß der Entschluß zur tätigen Mitwirkung an der Politik durch ein vorher gewecktes und ausgebildetes Interesse an politisch verantwortlichem Denken in den meisten Fällen erst herbeigeführt wird, und daß dieser Weg der aussichtsreichste ist, um den „Antiparteieneffekt" zu überwinden. Vielmehr bedarf auch die für den Bestand der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie entscheidende Homogenität der Grundauffassungen des Dialogs zwischen den Parteien in derselben Atmosphäre des Ringens um die Sache, wie es für die Arbeit des Parlaments und der Regierung fruchtbar wird. Es setzt Kenntnisse, Einsichten und Verhaltensweisen voraus, deren Vermittlung und Übung am ehesten den in erster Linie erzieherischen, auf die Prinzipien des Grundgesetzes verpflichtenden, aber auf das spezifische politische Handeln der Parteien nicht festgelegten Arbeitsverfahren der Institutionen gelingt, die mit politischer Bildung ohne Rücksicht auf die Partei befaßt sind. Die „vorparteiliche" politische Bildung ist also ein unentbehrliches Moment der freiheitlichen Ordnung, der sie zu dienen bestimmt ist.

Die Demokratie des freiheitlichen Rechts-staats bedarf einsichtsvoller Führungskräfte, die begründete Überzeugungen vertreten und zur Wirkung zu bringen vermögen. Ihre Ausbildung und Auswahl ist in hohem Grade abhängig von dem Pegelstand der politischen Bildung und von der sachlichen Qualität der politischen Kritik. Deshalb gehört zu einem guten Stil der Politik das Wissen des Staatsbürgers und seine Geltung.

Er muß ebensosehr wissen von den grundsätzlichen Leistungen und den aktuellen Aufgaben der öffentlichen Organe wie von den konstruktiven Wegen seines eigenen politischen Wirkens. Politische Aktivität ohne Einsicht, wie sie manchmal allzu bereitwillig als Zeichen abnehmender Gleichgültigkeit begrüßt und bei der jüngeren Generation begünstigt wird, greift an die Wurzeln des Rechtsstaats und der Freiheit. Sie muß sich stützen auf Emotionen, die dem un-durchdachten Interesse eines Augenblicks oder eines gesellschaftlichen Sonderbereiches entstammen. Sie verhindert Entstehung und Wirksamkeit des Verantwortungsbewußtseins, das für das Urteil der öffentlichen Meinung so wesentlich ist wie für Parlament und Regierung. Die Neigung, rasch und ungeprüft anzunehmen oder zu verwerfen, die Lust an der scheinbaren „Festigkeit“ des eigenen Standpunkts und der Hang, das eigene Selbst durch die „Schärfe“ einer moralischen Entwertung des Gegners zu erhöhen, richten sich gegen den Geist der freiheitlichen Institutionen und bereiten den Diktaturen den Weg. Wer sich an der politischen Bildung beteiligt, wird die Mühe auf sich nehmen müssen, diesen im Menschen angelegten Gefahren durch das Gewicht des Wissens und die Pflege begründeter Kritik entgegenzuwirken. Diese Mühe sollte ihn nicht verdrießen, denn sie ist selber ein Beitrag zur Gerechtigkeit und zur Freiheit.

Erwachsenenbildung als politische Aufgabe

Die Stellung der Erwachsenenbildung in Gesellschaft, Volk und Staat ist im 20. Jahrhundert eine andere geworden, als sie es im 19. Jahrhundert war. Heute handelt es sich nicht mehr darum, eine „untere“ Bildungsschicht einer „oberen“ anzugleichen. Vielmehr ist unser Anliegen, die Stätten der Erwachsenenbildung zu dem gemeinsamen Gespräch zu nutzen, das dem Zeitgenossen und Staatsbürger der Gegenwart dazu verhelfen kann, die Wirklichkeit, die er selbst erfährt, im Austausch mit anderen geistig zu erfassen. Nur wenn er dies tut, wird er fähig sein, ein mündiges Urteil als Voraussetzung und Folge seines Verhältnisses zu den Mitmenschen, zu dem Bereich seiner Arbeit und zu der Wirksamkeit des Staates auszubilden, zu denen er gehört. Nur dann wird er nach Gründen zu urteilen wissen: er wird ein Gegenwartsbewußtsein entwickeln können, das ihn befähigt, den sich umwandelnden Formen unserer Daseinsführung mit Verständnis gegenüberzutreten, und er wird in einer eigenständigen Haltung seine Zeit mitzuerleben und, so weit er vermag, mitzubilden vermögen. In gewissem Sinne ist es heute für die Erwachsenenbildung eher möglich geworden, eine eigentliche Bildungsarbeit in diesem Sinne zu leisten, als für andere Einrichtungen des Erziehungswesens. Wo diese notgedrungen der spezialistischen Berufsvorbereitung gewidmet sein müssen, kann die Volkshochschule die Lebenserfahrung als Ganzes zum Gegenstand der Besinnung erheben. Wo diese sachliches Lernen auf Fachgebieten zu betreiben haben, deren Bewältigung nur durch ihre Sonderung von anderen möglich wird, kann die Volkshochschule sich dem Daseinswissen als Ganzem zuwenden und eben damit der Daseinsführung im Entscheidenden helfen. Außerdem steht ihr das gemeinsame freundschaftliche Gespräch der Arbeitsgemeinschaft als das hauptsächliche Mittel zur Verfügung, um ihre Aufgabe zu lösen. Erwachsenenbildung ist also schon wegen ihres besonderen Orts im Erziehungswesen eine Aufgabe von politischer Bedeutung. Denn ohne eine Bildung, die die unmittelbare Daseinserfahrung geistig durchdringt und sich entsprechend mit den letzten Sinnmotiven des persönlichen Lebens verbindet, ist ein gesundes Verhältnis des Einzelnen und der Gruppe weder zum Mitmenschen, noch zum Volke, noch zum Staate möglich.

Unter Bildung ist in diesem Zusammenhänge verstanden der alte Sinngehalt des Begriffes, also weder ein oberflächliches noch ein spezialistisches Wissen, vielmehr eben jene Denkform, die geeignet ist, Daseinserfahrung geistig zu verarbeiten und vom Geiste her zu gestalten, das Vermögen also, das den Menschen als Geistwesen überhaupt auszeichnet. Um es auszubilden bedarf er nicht der eigenen Meisterung der Wis-senschaft, obwohl er ohne die Beratung der Wissenschaft Gefahr läuft, in die Irre zu gehen. So ist also der Erwachsenenbildner in der guten Lage, Ergebnisse und Verfahren der Wissenschaft Benützen, sie aber bereithalten zu können für die unmittelbare Verschmelzung mit dem Bereich der Daseinserfahrung, an dem ein jeder jeweils mit seinem eigensten Wesen innerlich und äußerlich beteiligt ist. In dieser Weise verstanden, bildet die Volkshochschule geradezu eine Institution innerhalb des Gesamtaufbaus unseres Erziehungswesens, die, wenn es nötig ist, seine anderen Institutionen zu ihrer entscheidenden Funktion: dem Gesamtdasein zu dienen, zurückrufen kann.

Begreifen des eigenen Standortes

Diese grundsätzliche Haltung zur Erwachsenenbildung als politischer Aufgabe besagt nun keineswegs, daß wir andere überlieferte Gebiete der Tätigkeit, welche die Volkshochschulen ausüben, hinter uns lassen sollten. Im Gegenteil, sie bekommen von dieser Gesamtausgabe her einen neuen Sinn und eine gesteigerte Lebenskraft. Nach wie vor wird die Volkshochschule dabei zu helfen suchen, daß die beruflichen Möglichkeiten ihrer einzelnen Teilnehmer durch das geeignete Lernen und seine richtige Beratung verbessert werden können. Dazu wird die Arbeitsgemeinschaft der Volkshochschule am meisten beitragen, wenn es ihr gelingt, die begründete Einsicht in den Zusammenhang zu vermitteln, in dem der einzelne Beruf und derjenige, der ihn ausübt, innerhalb der Gesellschaft und des Staates wirksam werden. Das Begreifen des eigenen Standortes, auch des beruflichen, steigert die Leistung zugleich mit der Freude an ihr und der Fähigkeit, sie auszuüben. Es ist denkbar, daß die Volkshochschule beim Aufbau des sogenannten „zweiten Bildungsweges“ eine nicht unwesentliche Aufgabe zu übernehmen hat, die um so besser zu erfüllen ist, je mehr ihre Gesamtarbeit der spezifischen Sendung der Erwachsenenbildung in der modernen Gesellschaft treu bleibt und sie entwickelt.

Die Erwachsenenbildung, als Stätte der Selbst-erziehung zu fruchtbarer Gestaltung des Daseins verstanden, wird ihre Wirksamkeit auf andere Träger der Erziehungsarbeit nicht verfehlen. Erwachsenenbildung ist freilich nur möglich als Selbsterziehung. Immer wird der Leiter einer Arbeitsgemeinschaft zugleich ein Lernender sein, und wer von den „Lernenden" der beste Lehrende ist, wird in jeder guten Arbeitsstunde sich aufs neue ergeben. Diese Mitgestaltung des geistigen Vorganges ist in der Volkshochschule deswegen möglich, weil sie eben nicht in erster Linie äußere Zwecke verfolgt oder gar die Erteilung von Berechtigungen auf Grund von Leistungsprüfungen vornimmt, sondern als Stätte des freiwilligen Lernens unmittelbar sich stellenden und als solche empfundenen Fragen die Antwort erarbeiten möchte. Die Schule, die Fa-milie, die Verbände, in denen sich Lernen und Leben abspielen, können von dieser Freiwilligkeit ihrerseits befruchtet werden. Das Lernen kann helfen, unsere schwer durchschaubare Gegenwart zu begreifen. Es kann dazu führen, die Fähigkeiten zu üben, die dazu nötig sind, im Beruf, in der Freizeit, in der nachdenklichen Sammlung und im Umgang mit anderen unseren eigenen Bereich in dieser Gegenwartskultur fruchtbar zu formen.

Einsicht in Zusammenhänge des gesellschaftlichen Lebens

Allerdings verlangt die Volkshochschule, wenn sie diese zentrale Aufgabe der Gegenwart zu erfüllen vorhat, die Aneignung bestimmter einfacher Grundkenntnisse der modernen Gesellschaft und des modernen Staates. Diese Grundkenntnisse sind dieselben, die für jeden Staatsbürger unentbehrlich werden, sobald er seine Mitverantwortung für die Freiheit der rechtsstaatlichen Demokratie in mündiger Weise mit begründetem Urteil auszuüben sucht. Sie umfassen die Einsicht in die Gefügezusammenhänge des gesellschaftlichen Lebens, in den Aufbau und die Funktionen des Staates und seiner Einrichtungen, in die politischen Kräfte der Welt, die das Leben auch unseres Staates wie jedes anderen entscheidend beeinflussen, also in die Weltpolitik, und schließlich einen grundsätzlichen Einblick in die Ideen, die in der Gegenwart wirksam sind. Wenn die Volkshochschule diese Bereiche der im engeren Sinne politischen Bildung zu Gegenständen ihrer regelmäßigen Besinnung macht, wenn sie also ihrerseits wohlverstandene politische Bildung zur Entstehung bringt, dann gibt sie erst der politischen Aufgabe, die sie als Einrichtung des Erziehungswesens überhaupt hat, ihre bewußte Vollendung. Die große Aufgabe der Gegenwart aber stellt sich für alle Völker und Kulturen gleichermaßen dar als die Notwendigkeit, zu einem richtigen Gleichgewicht von Ordnung und Freiheit hinzufinden. Freiheit und Ordnung sind einander ergänzende Funktionen jedes Gemeinwesens.

Ordnung der Arbeit

Die Notwendigkeit der Ordnung wird am unmittelbarsten einsichtig an der Ordnung der Arbeit. Die Teilung der Arbeit, die es immer gegeben hat, verlangt die Ordnung des Arbeitsvorganges. Die Arbeitsordnung ist der Inbegriff des verläßlich Regelhaften, dem gemäß vor sich geht, was Menschen miteinander in der Daseinsvorsorge tun. Zu jeder Arbeitsordnung, welcher Stufe der geschichtlichen Entfaltung sie auch angehört, ist es nötig, daß derjenige, der an ihr teilnimmt, ihren Aufbau geistig erfaßt, Dadurch erwirbt er erst die Voraussetzungen, seine eigene Leistung im Arbeitszusammenhang zu begreifen und im selbständigen Zusammenwirken mit anderen auszuüben. Zu einer solchen Arbeitsordnung gehört auch das Recht, welches sie möglich und stabil, vollziehbar und verläßlich macht. Zu ihr gehört die Ordnung des Eigentums. Wenn wir die Eigentumsordnung verändern, muß sich in gewissen Grenzen auch die Arbeitsordnung verändern. Zu ihr gehört die Ordnung des Marktes, des Austausches der hergestellten und ihrem Zweck zuzuführenden Güter. Wesentlich für sie ist die Ordnung der Lenkung des Arbeitsvorgangs. Die Arbeitsordnung ist ein Grundverhältnis des Menschen, der nicht existieren kann, ohne in Gemeinschaft mit anderen Menschen tätig zu sein.

Mitmenschliche Ordnung

Die zweite Art der Ordnung ist die witntensMidre Ordnung. Sie bezieht sich auf eine Erfahrung, die wir alle gemacht haben und ohne die menschliches Dasein nicht vorkommt, auf die Erfahrung nämlich, daß Menschen jenseits des Bereiches des Tuns einander etwas sind oder doch sein können. Zwischen Menschen walten Freundschaft, Kameradschaft, Liebe, Sorge und Fürsorge, zwischen ihnen entstehen Erziehungsund Schutzverhältnisse. Diese menschlichen Ordnungen durchgreifen das ganze Leben auch der Arbeitsordnung ebenso, wie die Arbeitsordnung in das Leben der mitmenschlichen Ordnungen hereinragt. Im Tagesablauf ist nicht immer eine eindeutige Scheidung zwischen beiden zu vollziehen. Beides wird gelebt in gefügten Gruppen, in der Familie, in der Werkstatt, im Betrieb. Wir sind auf Gruppenleistung, auf Gruppenhandeln und auf die Gruppenformen mitmenschlichen Lebens angewiesen, an denen auch unsere mitmenschlichen Beziehungen als Ordnungsgefüge zur Entfaltung gelangen. Alle diese Grup-pen sind im Vollzüge ihres Sinnes durch solche von ihrem Daseinsgehalt her sich ergebenden Gefügezusammenhänge gesichert. Das Gefüge legt auch hier dem einzelnen auf, sich gefüge-gerecht zu verhalten. Es ist lebendig und lebensnotwendig. Es wird als sinnvolles Gefüge einsichtig, welches das Zusammenwirken und Zusammensein von Menschen möglich, verständlich und verläßlich macht. Es kommt zur Entstehung, bevor ihm Recht oder Verfahrensvorschrift eine äußere Sanktion geben. Auch den Daseinssinn moderner Rechtsvorschriften können wir nur dann verstehen, wenn wir den Lebensbereich kennen, auf den sie sich beziehen und um dessentwillen sie gemacht worden sind. Immer ist er als ein Gefüge geordnet, das von den in ihm wirkenden Menschen ein bestimmtes Verhalten erwartet.

Ordnung der gemeinsamen Willensbildung

Wenn wir in dieser Richtung weiterdenken, stoßen wir auf die dritte Art der Ordnung, nämlich die Ordnung der gemeinsamen Willensbildung und der Willensverwirklichung des Gesamtverbandes, dem wir angehören. Es läßt sich kulturhistorisch zeigen, wie in diese Ordnung der Willensbildung und der Willensausübung sowohl die Ordnung der Arbeit als auch die mitmenschlichen Ordnungen hineingeflossen sind, wie beide also für den Staat konstitutive Momente bilden. Hieran wird deutlich, daß eine Ordnung der Willensbildung, wenn das mitmenschliche Verhalten in ihr nicht zum Austrag kommt, der Wahrheit dessen, was der Mensch vom Gemeinwesen seinem Wesen gemäß fordert, nicht ganz entsprechen kann. An der jüngsten Geschichte Deutschlands, zum Beispiel an der Endphase der Weimarer Republik, wird sichtbar, wie sehr der Mangel eines hinreichenden Beitrags des Mitmenschlichen zu dem Gesamtgefüge des Gemeinwesens eine Labilität mithervorgerufen hat, die für uns schicksalhaft geworden ist.

Die Verfassung und ihre Sicherung

Diese Ordnung der Willensbildung und der Willensausübung des Verbandes begreifen wir auf der Ebene des Staates als Verfassung. Verfassung heißt nicht etwa nur das Grundgesetz. Sie ist auch nicht nur die Rechtsform, unter der sich Machtgruppen über die zu vollziehenden Willensakte einigen. Es gibt ja auch ungeschriebene Grundordnungen des Gewohnheitsrechtes oder historische Fortentwicklungen von Verfassungen wie in den angelsächsischen Ländern. Es handelt sich vielmehr um das Mit-und Gegeneinander der gesellschaftlichen und menschlichen Kräfte, die darüber entscheiden, wie regiert wird, welche Entschlüsse gefaßt werden, welches Maß von Voraussicht, von politischem und menschlichem Verständnis bei ihnen wirksam wird, welcher Grad von kritischer Fähigkeit und welches Maß von Vertrauen bei Regierenden und Regierten das Staatshandeln trägt und tragen darf. Aus dieser lebendigen Dynamik der Kräfte gehen Gestalt und Leistungsfähigkeit des politischen Handelns hervor. Jeder geistig mündige Mensch ist für sie zum mindesten mittelbar mitverantwortlich. Aus ihr kann unter weiser Führung und eigenständig mutiger Teilnahme des Bürgers entstehen, was als gesunde „Integration“ des politischen Gefüges, als ein sinnvoller Zusammenschluß bezeichnet worden ist. An der inneren Festigkeit der verstehenden Beziehung des Bürgers zum Staatsgefüge erweist sich die Festigkeit von Verfassungen.

Das freiwillige sinngemäße Verhalten

Zur Aufrechterhaltung von Ordnungen gibt es verschiedene Mittel. Das erste dieser Mittel, das von uns immer gefordert wird, ist das freiwillige sinngemäße Verhalten. Die Arbeitsordnung und die Gefügezusammenhänge zwischen Menschen, welche die Arbeitsordnung und die mitmenschliche Ordnung begründen, muß der Mensch begreifen durch die Einsicht in ihren Sinnzusammenhang und durch seine Übung in der Erfüllung dieses Sinnzusammenhanges. Diesem sinngemäßen Verhalten gilt die Hauptarbeit der Erziehung. Dieser Erziehungsakt ist wesentlich für die jüngere Generation und für ihre Fähigkeit zur Selbsterziehung. Zu ihr gehört auch das Verständnis des der Freiheit gemäßen Orts in der politischen Ordnung. Es ist unentbehrlich, wenn der Umschlag der Freiheit in die Willkür vermieden werden soll, der die bedrohliche Gefahr für die Freiheit selbst ist.

Der soziale Zwang

Ein zweites Mittel zur Aufrechterhaltung der Ordnung ist der soziale Zwang. Er wird in jeder Gesellschaft ausgeübt. Wir richten uns nach den anderen, mit denen zusammen wir arbeiten und leben, und sie richten sich nach uns und nach dem „Ganzen", in dem wir gemeinsam befaßt sind. Unser Dasein ist in hohem Grade von solchen „gesellschaftlichen“ Notwendigkeiten bestimmt, ohne die auch das Eigenste an ihm nicht hervortreten kann. Aber der soziale Zwang bringt Gefahren mit sich. Eine von ihnen ist die des Konformismus, der nicht verstehenden Anpassung im So-tun wie die anderen tun. Wer immer handelt, ohne zu verstehen, was der Sinn des gesellschaftlichen Gefüges verlangt, und warum man aus Eigenem etwas tun muß, um dieses Gefüge seinem sinngemäßen Erfolg zuzuführen, kann nicht voll leben. Wer zu stolz oder zu eigenwillig ist, sich der den sozialen Zwang bildenden Sitte zu fügen, schließt sich ab auch von der Erfahrung des Lebens und erst recht von der Möglichkeit, an der Sitte selbst fruchtbar fortzuwirken.

Der Rechtszwang

Das dritte Mittel zur Einhaltung der Ordnungen ist der Rechtszwang. Er steht im Gegensatz zum rechtlosen Zwang, der entweder als rohe Gewalt oder als Rechtsbeugung auftritt. Hier ist das Moment der Berechtigung, Zwang auszuüben, entscheidend. Allein den Organen des Staates gibt die Verfassung das Monopol der physischen Gewaltausübung. Der Staat hat es deshalb, weil er den Frieden zwischen seinen Bürgern stiften und erhalten soll durch die Macht, die seine Organe ausüben. Sie sind dem Recht und damit ideell der Gerechtigkeit untergeordnet. Das Wort Gerechtigkeit verbindet den öffentlichen Akt unmittelbar mit einer Grunderfahrung jedes Menschen: der der Billigkeit, zu der ihn sein Rechtsgefühl leitet. Keinem Menschen hat diese Grunderfahrung je ganz gefehlt. Dieses eingeborene Rechtsgefühl kommt zur Entfaltung als kulturelle Daseinsform und wird institutionell geordnet durch das Gefüge des Rechtsstaates.

Die abendländische Welt, die wir kennen und die uns als geistig-seelische Wesen geprägt hat, begrenzt die Freiheit, um sie gegen die Willkür zu schützen. Diese Begrenzung der Freiheit des einzelnen hat ihren Sinn im Schutz der gemeinsamen Freiheit aller, im Dienst also des Menschen schlechthin und seiner Bestimmung.

Aber was ist denn nun die Freiheit? Diese Freiheit ist nicht nur die Freiheit von Unterdrückung, das heißt also eine Freiheit von Willkür; sie kann keinen Bestand haben, wenn sie nicht einen konstruktiven Sinn besitzt, wenn sie nicht auf ein Wozu bezogen bleibt. Sie kann sich aber nur beziehen auf die gesollte und erstrebte Erfüllung des Daseinssinnes, der im Menschen angelegt ist. Alle die Fragen nach dem Sinn der Freiheit, auf die es uns ankommt, münden ins Philosophische.

Verbindliche Aussage über den Sinn der Freiheit?

Ist denn aber eine Aussage über diesen Sinn der Freiheit, ist denn eine Vertretung dieses Daseinssinnes heute möglich in unserer gespaltenen und pluralistischen Gesellschaft? Oder ist durch die Krise der Gegenwart, unter der wir sehr drastisch gelitten haben, der pessimistische Standpunkt gerechtfertigt, den viele Zeitgenossen einzunehmen scheinen, die allgemein einsichtige Aussagen über dieses letzte Problem ablehnen?

In den politischen Ideenkreisen der Gegenwart spiegelt sich die Vielfalt dieser Auffassungsweisen. Das Weltbild der sogenannten bürgerlichen Überlieferung des 19. Jahrhunderts hat die Allgemeinheit seiner Geltung verloren, wenn es sie je besessen hat. Das Weltbild der Naturwissenschaft ist in einer ständigen Bewegung begriffen; mit ihr vollzieht sich eine Wandlung des Verhältnisses von Naturwissenschaften, Philosophie und Religion. Die Gesellschaftslehre des Sozialismus hat die Spaltung in einen reformistischen und einen revolutionären Flügel er-fahren, der bis zum Weltgegensatz zwischen dem sowjetischen Osten und dem freiheitlich demokratischen Westen weitergetrieben wurde. In dieser Lage ist der abendländische Westen, wenn es sich um Politik handelt, auf das Erlernen der Fähigkeit verwiesen, in einer pluralistischen Welt miteinander zu leben. Die Freiheit ist abhängig von dem Vermögen, sich gegenseitig zu ertragen, ja gemeinsam zu handeln, auch dort, wo Verschiedenheiten der Auffassung zunächst trennend zu wirken scheinen. Aber das Leben selbst belehrt uns oft über Gemeinsamkeiten, die mehr Wirklichkeitsgehalt besitzen als die Gedankengebilde, mit denen wir oft das Wirkliche verdecken. Weil die Volkshochschule mit Unmittelbarkeit von dem Wirklichkeitsgehalt des gelebten Daseins ausgehen kann, ist sie imstande, geradezu ein Organ dafür zu werden, aus der Lebendigkeit der Daseinserfahrung heraus ideologische Gegensätze zu überwinden und damit beizutragen zur Entstehung eines gefestigten Verhältnisses des Menschen zu Gesellschaft und Staat.

Sorge um das Schicksal des Menschen

Es stellt sich freilich die Frage, ob für die politische Bildung des Menschen heute hinreichend geklärte, gemeinsame Grundlagen bestehen, die es uns ermöglichen, ein gemeinsames, erzieherisches Vorgehen nach ihnen zu orientieren. Wir finden solche gemeinsamen Grundlagen in unserer Bejahung des freiheitlich-rechtsstaatlichen Verfahrens bei der Bildung und Durchführung des öffentlichen Willens im demokratischen Gemeinwesen. Wir finden sie ebenfalls in den Grundvoraussetzungen der politischen Gedankenwelt von heute. Wenn wir der Geschichte der politischen Ideenlehre der Gegenwart nachgehen, so stellt sie sich im Vergleich mit anderen Kulturen trotz ihrer inneren Spannungen als eine Einheit dar, deren verschiedene Elemente jeweils einen besonderen Aspekt des Ganzen ins Auge fassen. Was wir uns vom Gemeinwesen und was wir von unserem eigenen Eingreifen in die Dynamik erwarten, ist die tätige Sorge für das Schicksal des Menschen. Sie bildet für die christliche Gesellschaftslehre in katholischer wie in evangelischer Form den entscheidenden Ausgangspunkt. Die Sorge für das Schicksal des Menschen liegt aber auch der Gedankenwelt des Sozialismus zugrunde, sofern sie an dem Grundpostulat der Freiheit und ihrer politischen Institutionen festhält. Die verfassungsmäßige Ordnung unserer politischen Willensbildung hat die Aufgabe, die Interessenpluralität der modernen Gesellschaft zu der politischen Entscheidungskraft auf dem Wege eines friedlichen Vorgangs zu befähigen, die im Gesamtinteresse unentbehrlich ist. Die geistige Pluralität der Ausgangspunkte des heutigen politischen Denkens läßt eine Zone der Konvergenz, ja der Gemeinsamkeit erkennen, die gemeinsames Handeln und Übereinstimmung in der Gesinnung möglich macht. Diese Zone der Gemeinsamkeit einsichtig zu machen, ist gerade bei der Verschiedenheit der geistigen Kräfte vordringlich, die im heutigen Deutschland Zusammenwirken. Von diesem Bemühen wird es einst abhängen, ob wir gegenüber der politischen Pseudoreligion des sowjetischen Ostens unsere aus der abendländischen Gesamtüberlieferung erwachsenen Freiheiten als Daseinswirklichkeit würdigen, sie in unseren verpflichtenden Willen aufnehmen und in den Auseinandersetzungen unserer Epoche erhalten, festigen und konstruktiv entwickeln können. Diese gemeinsame praktische Sorge beruht auf der Achtung vor dem Menschen als Geschöpf und hat in der Selbsterfahrung des Daseins durch jeden Einzelnen ihre Wurzel. Auch keine in wissenschaftlicher Form vorgebrachte oder aus schwer zu tragender Erfahrung stammende Skepsis kann sie widerlegen oder sollte sie lähmen. Wir alle sollen ein gesundes Dasein führen; wir alle wollen in einem Gemeinwesen leben, welches diese gesunde Daseinsführung beschützt und fördert. Dies ist in der einfachsten Form die gemeinsame Voraussetzung, die für die verschiedensten Ausgangspunkte maßgebend ist, von denen aus der Begriff des Gesunden im grundsätzlichen und im einzelnen erörtert wird und die Maßnahmen vorgeschlagen und durchgeführt werden, die nötig sind, um dieser Forderung zu entsprechen.

Wenn wir von dieser einfachsten Voraussetzung ausgehen, wird dabei mitverstanden, daß auch die Lehre von der Politik es mit der Vorbereitung der Menschen zu gesundem politischen Urteil und politischem Handeln zu tun hat. Politik dient also als Wissenschaft und als Unterricht im letzten Grunde der Staatskunst, und zwar der Staatskunst der Gegenwart bzw.der Zukunft, wie ja alle Erziehung auf die Zukunft des Menschen gerichtet ist. Vom Problem der Bildung her gesehen sind aber die Tatsächlichkeiten der Gegenwart zugleich Bedingungen unseres denkenden und erzieherischen Verhaltens. Auch politische Bildung steht in der polaren Spannung zwischen normativem Denken und tatsächlichen Möglichkeiten des Handelns. Wir selbst befinden uns in einer Epoche, in der die gesellschaftliche und politische Ordnung aller Völker der Erde in einer stärkeren Verwandlung sich befindet, als dies seit Jahrhunderten der Fall war. Diese Verwandlung ist in gewissem Maß zwangsläufig und unwiderruflich. Wir müssen sie kennen und verstehen» um begreifen, urteilen und uns als mitverantwortliche Zeitgenossen richtig verhalten zu können. Wir haben zu begreifen, wie die Gesellschaftsordnung der Gegenwart als Gefüge aufgebaut ist und wie der moderne Staat und vor allem der freiheitliche Rechtsstaat geordnet ist und seine Willensakte vorbereitet und durchführt. Wir haben die Lage der Völker der Welt im 20. Jahrhundert in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit voneinander kennenzulernen, die die Weltpolitik ausmacht. Und schließlich haben wir die Ideen zu kennen und zu verstehen, von denen die Menschen und die Völker sich leiten lassen, und wir haben sie so zu verstehen, daß wir fähig werden, die letzten Maßstäbe unseres eigenen Urteils mit geistiger Klarheit zu begreifen und festzuhalten. Hier bedürfen wir des Wissens, um die selbsterzieherische Leistung aufzubauen, die für unsere Zukunft notwendig ist. Wir haben damit begonnen, die Grundkenntnisse auf diesen vier Gebieten, die im vorhergehenden Beitrag erörtert wurden, auf den Schulen zu lehren, weil sie unentbehrlich sind zur Ausübung der Freiheit und zur Bewältigung des modernen Daseins durch den freien Menschen. Die Wissenschaft beschäftigt sich mit ihnen. Sie bedarf zu ihrer Arbeit der Volkshochschule, die dem täglich gelebten Dasein näher steht als die Universität, wie umgekehrt die Erwachsenenbildung der Wissenschaft bedarf, um am geistigen Fortgang des Wissens und der Bildung und ihren Ergebnissen teilzunehmen, die für den fruchtbar werden, der im täglichen Dasein den Willen und die Fähigkeit sich erhält, ein wacher Mit-genosse und Mitgestalter seiner Zeit zu sein.

Als allgemeine Einrichtung der Erwachsenenbildung hat also die Volkshochschule in dem Aufbau des geistigen Lebens der Gegenwart eine Stellung inne, der als solcher politische Bedeutung, das heißt also Bedeutung für die Gesundheit des Gemeinwesens zukommt. Sie hat zudem die engere Aufgabe, die Kenntnisse ihren Teilnehmern nahezubringen, die der moderne Mensch braucht, um als Staatsbürger und Zeitgenosse im 20. Jahrhundert bestehen zu können. Beide, der Mensch und der Staat, sind gefährdet, wann immer sich eine Kluft auftut zwischen Gegenwartsverständnis, praktischer Daseinsführung und religiös oder philosophisch begründeter Daseinsauffasung. Zu ihrer Schließung ist politisches Wissen ebenso unentbehrlich wie geistige Klarheit über Sinn und Wirkungsbereich der persönlichen Verantwortung.

Fussnoten

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