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Staatsgesinnung und Nationalbewußtsein heute | APuZ 47/1961 | bpb.de

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APuZ 47/1961 Die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Staatsgesinnung und Nationalbewußtsein heute

Staatsgesinnung und Nationalbewußtsein heute

HEINZ GOLLWITZER

Zur preußisch-deutschen Geschichte sind in der Beilage inzwischen verschiedene Beiträge veröffentlicht worden. Folgende Historiker kamen dabei zu Wort (in der Reihenfolge des Erscheinens): Walter Bußmann („Ernst Moritz Arndt“ B 10/60), Ernst Weymar („Ernst Moritz Arndt" B 20/60), Gordon A. Craig („Die Preußische Armee 1807— 1840“ B 47/60), Theodor Schieder („Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat" B 3/61), Ludwig Dehio („Preußisch-deutsche Geschichte 1640— 1945" B 3/61), Wolfgang Schlegel („Preußisch-deutsche Geschichte als politisch-pädagogisches Problem" B 23/61), Walter Bußmann („Der deutsche Reichs-und Nationalgedanke im 19. und 20. Jahrhundert" B 30/61), Golo Mann („Bismarck" B 44/61), Eberhard Kessel („Adolf Hitler und der Verrat am Preußentum" B 46/61). Dabei war es das Bestreben der Redaktion, verschiedene Anschauungen einander gegenüberzustellen, konservative und weniger konservative, um dem Leser die Möglichkeit zu eigener Urteilsbildung zu geben. — Durch die genannten Veröffentlichungen in der Beilage ist Professor Heinz Gollwitzer, Universität Münster, zu der folgenden Betrachtung angeregt worden. »Zu spät für ein deutsches Nationalbewußtsein“ — so war vor einigen Monaten der Bericht einer großen deutschen Tageszeitung überschrieben, der sich mit einer dem Nationalgedanken und seiner Problematik gewidmeten Tagung der Friedrich Naumann-Stiftung beschäftigte. Veranstaltungen solcher Art sind heute nicht selten, und sie werden ergänzt durch publizistische und wissenschaftliche Auseinandersetzungen über daß gleiche Thema. Daß eine Diskussion über das Nationalbewußtsein in Gang gekommen ist, scheint symptomatisch für zwei Tatbestände zu sein. Einmal ist es mit der unbesehenen Geltung des überkommenen Nationalbegriffs vorbei, zum anderen verstehen sich nur wenige zu einer pauschalen Verwerfung des Nationalgedankens. Aus diesem Dilemma erwächst eine gewisse Unruhe und vielfach der Wunsch nach einer neuen Bestimmung des Nationalen. Zwischen der äußeren staatlichen und wirtschaftlichen Stabilität der Bundesrepublik und der inneren Sicherheit des politischen Bewußtseins ihrer Bürger besteht noch keine Übereinstimmung.

Die Gründe für eine allenthalben deutlich bemerkbare Zurückhaltung und Unsicherheit dem Nationalgedanken gegenüber liegen auf der Hand. Das deutsche Volk — aber nicht es allein — ist unter nationaler Flagge grausam überfordert worden und geistig wie politisch in eine Sackgasse geraten. Die politische und moralische Legitimation zahlreicher Wortführer des öffentlichen Lebens, die zum Opfer für nationale Existenz und Größe aufriefen, hat sich als nichtig erwiesen. Die Überspitzung des Nationalbewußtseins zum Nationalismus hat innerhalb Europas und außerhalb weithin zu einer trostlosen Situation geführt. Vieles, was unter dem Vorhaben oder auch nur dem Vorwand nationaler Bestands-und Lebenssicherung, nationaler Integration und Purifikation geschehen ist, schreit zum Himmel. Wir haben erlebt und erleben es noch täglich, wie der Nationalbegriff lediglich vorgeschoben und manipuliert wird. In der kommunistischen Welt ist der Nationalgedanke grundsätzlich weit hinter die gesellschaftspolitische Zielsetzung zurückgetreten, taktisch und propagandistisch wird er jedoch je nach Bedarf hervorgeholt oder wieder auf Eis gelegt. Daß sich „Sowjetpatriotismus“ und russisches Nationalbewußtsein während des „Großen Vaterländischen Krieges" als gewaltige Macht erwiesen haben, steht auf einem anderen Blatt. Solange sie unter der Regie und Kontrolle der Partei und ihrer Ideologie stehen, sind sie keine selbständigen Größen, sondern zählen zum Instrumentarium der politischen Strategie.

Für den deutschen Zeitgenossen erschwert sich das Problem des Nationalen durch die politische Spaltung des Vaterlandes. Mancher, der sich einst für die Nation im Zustand der Großmacht erwärmen konnte, erwägt, ob sich noch Emotionen oder Hingabe an reduzierte Staatsgebilde lohnen, die auf jeden Fall in größere Systeme eingeordnet bleiben und deren selbständige außenpolitische Manövrierfähigkeit gering ist. Schließlich fragt es sich — und das ist wohl ein besonders ernsthafter Einwand —, ob nicht angesichts einer zusehends sich vereinheitlichenden Welt und einer Menschheit, die buchstäblich nach den Sternen greift, das Nationalbewußtsein nur noch einen erweiterten Provinzialismus und reaktionären Partikularismus darstellt, während eine ökumenische Bewußtseinslage mehr und mehr das nationale Denken zu überlagern scheint.

Der Verfasser darf vorwegnehmen, daß er bei sorgfältiger Berücksichtigung der aufgeführten und weiterer Einwände dem Nationalbewußtsein auch heute noch eine positive und wesentliche Rolle zumißt. Wenn dieser Standpunkt im folgenden begründet wird, so sei doch nicht mehr als nötig auf die Ergebnisse der historischen Forschung über die Entwicklung des National-gedankens zurückgegriffen. Der Hinweis erscheint freilich nicht überflüssig, daß die Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten über das Wesen des Nationalbewußtseins und des Nationalismus entscheidende Einsichten erarbeitet hat. Nicht nur das historische Phänomen steht uns heute deutlich vor Augen, sondern auch Terminologie und Begriffsbestimmung haben im Zusammenwirken mit anderen Disziplinen weitgehende Klärung erfahren. Da die vorliegenden Betrachtungen weniger von wissenschaftlichen Erwägungen als von staatspolitischen Motiven ausgehen, wird indessen ein pragmatischer und aktueller Ausgangspunkt gesucht. Wir finden ihn in der Existenz der Bundesrepublik, deren Bürger wir sind und deren Gesetze uns binden.

Die Bundesrepublik ging aus einer weit schlimmeren Katastrophe als der Weimarer Staat hervor. Ihre Geburtsstunde hat kaum irgendwo Enthusiasmus ausgelöst. Vergleicht man die Gründung des Hohenzollernreichs 1871 oder die Ausrufung der Republik 1918 mit den Umständen, unter denen die Bundesrepublik ins Leben trat, so fällt unter anderem auf, wie zurückhaltend und vorsichtig sich Wissenschaft und Publizität mit der Sinndeutung des neuen und problematischen Gebildes, mit der Prognose seiner Zukunft verhielten. Schiffbrüchige hatten eine Küste erreicht, aber niemand konnte wissen, was ihnen dort bevorstand. Frühere Vorstellungen vom Sinn oder gar dem krönenden Abschluß einer Entwicklung, von der Erfüllung und dem notwendigen Ergebnis eines historischen Prozesses, der positiv und optimistisch aufgefaßt wurde, schienen in ihr Gegenteil verkehrt. Wer die Aufteilungspläne der Alliierten aus den letzten Kriegsjahren kennt, weiß, daß es mit einer leichten Wendung des Geschicks auch zu ganz anderen territorialen Lösungen als denen der Bundesrepublik hätte kommen können. Als Konglomerat von Besatzungszonen, als Willkürprodukt ist die Bundesrepublik ins Leben getreten, und —in welchem Maße hat sie sich doch binnen zehn Jahren konsolidiert und perfektioniert! Zwar gehört es zum politischen guten Ton, die Bundesrepublik nicht zu loben, ihr keine überschwenglichen Prognosen zu stellen, vielmehr das Prekäre ihrer Existenz hervorzuheben. Aber es kann kein Zweifel bestehen, daß dieses Staatswesen funktioniert und seinen Platz im Koordinatensystem der Weltpolitik einnimmt. Die Geschichte der Entstehung der Bundesrepublik ist lehrreich für das Wesen der Staats-bildung überhaupt. Im Banne problematischer, aber gleichwohl mächtig nachwirkender staats-philosophischer Anschauungen ist man weithin auch heute noch nur zu sehr geneigt, das Entstehen und Werden von Staaten im Sinne „organischen Wachstums" aufzufassen und — mißzuverstehen. Der historische Befund erweist, daß es vielmehr Handlungen und Entscheidungen, Maßnahmen und Willkür (in der ursprünglichen wie in der später abwertenden Bedeutung des Wortes) sind, die Staaten zuwege bringen. Die weitere innere Entwicklung eines Staatswesens, die Gewöhnung einer Bevölkerung an ihren Staat und die Identifikation mit ihm sind bedingt durch die Realitäten des politischen Alltags, d. h. die gemeinsame Regierung, Verwaltung, Rechtsprechung, Gesetzgebung, gemeinsamen Militärdienst und gemeinsame Öffentlichkeitsanliegen aller Art sowie durch die politisch-historischen Schicksale, denen die Staaten und ihre Bevölkerung unterliegen.

Damit ist freilich noch nicht alles über Sein und Möglichkeiten des Staates ausgesprochen. Soll der Staat gedeihen — und das ist insbe-sondere im Hinblick auf die Bundesrepublik gesagt —, so genügt es keineswegs, daß die Bevölkerung die innerhalb der territorialen Grenzen gebotenen Lebenschancen ergreift und die Organisation des Staates und seine Gebote zur Kenntnis nimmt, sich seiner juristisch-politischen Apparatur bedient und sich unter dem Motto von Geben und Nehmen in das gleiche unpersönliche Verhältnis mit ihm einläßt, das etwa einer Versicherungsanstalt gegenüber angemessen wäre. Nein, Staatszugehörigkeit schließt mehr in sich; sie hat auch eine moralische und eine emotionale Seite! Kein Staat existiert ohne die Zustimmung der Bürger zu seiner elementaren Existenz, ohne ihre Sympathie, ohne ihre innere Anteilnahme an den Staatsangelegenheiten und ihr Einstehen für seine Sicherheit und Unversehrtheit. Der Staat bedarf des Staatsbewußtseins seiner Angehörigen, eines Staatsbewußtseins, das nicht mit einer Staatsideologie verwechselt werden darf. Gewiß, Staatsphilosophien und Staatsideologien kommt als Antworten auf wechselnde Situationen des öffentlichen Lebens, als geistiger Bewältigung neu auftauchender Fragen der Staatsexistenz eine relative Berechtigung durchaus zu. Beim Staatsbewußtsein handelt es sich indessen um Einfacheres und gleichzeitig Notwendigeres. Wie der Einzelne, so vermag auch ein aus Menschen bestehendes Kollektiv nicht ohne Ehre und Reputation, nicht ohne ein Minimum von Selbst-achtung und Willen zur Selbstbehauptung aus-zukommen. Diesen Satz anerkennen und zu seiner Geltung beizutragen, heißt Staatsbewußtein realisieren und die Wohlfahrt des Staates von innen her gewährleisten.

Nirgendwo existiert ein abstrakter Staat, überall ist das Staatswesen in geschichtliche und kulturelle Dimensionen eingebaut. Es empfiehlt sich — nicht so sehr generell, als in unserer speziellen deutschen Situation —, ein Staatsbewußtsein, das über die Teilhabe an der aktuellen Staatswirklichkeit hinausgeht und sich in der geschichtlichen und kulturellen Sphäre begründet weiß, Nationalbewußtsein zu nennen, unbeschadet der Gültigkeit seit langem erarbeiteter terminologischer Definitionen überStaatsnation, Kulturnation und dergleichen Begriffe mehr. Manche irrigen Ansichten stehen dem rechten Verständnis der Beziehung von Geschichtsauffassung und Nationalgesinnung entgegen, vor allem die Meinung, es könnte dem Nationalbewußtsein nur mit einem einheitlichen und harmonisierten Geschichtsbild gedient sein. Kein Volk der Welt, das sich nur einiger geistiger Differenziertheit rühmen kann, besitzt ein uniformes Geschichtsbild. Das Vorhandensein verschiedener gesellschaftlicher, ideologischer, konfessioneller, religiöser Gruppierungen in einem Volke bedingt notwendigerweise verschiedene Geschichtsaspekte. Es ist zwar eine nicht unerhebliche, auch politische Aufgabe der Geschichtswissenschaft, auf diesem Gebiet fortwährend zu entmythologisieren, aber es besteht wenig Aussicht, daß irgendwann das Bewußtsein der Öffentlichkeit ein wissenschaftlich stichhaltiges Geschichtsbild in sich aufnimmt. Jede Zeit produziert ihre Geschichtslegenden, und auch ohne Zutun interessierter Ideologen wandeln sich die historischen Perspektiven von Generation zu Generation. Aber macht es nicht gerade den Reichtum und den Reiz nationaler Tradition aus, wenn sie einen Pluralismus von geschichtlichen Konzeptionen aufweist und erträgt? Daß man sich über die Reformation, Friedrich des Großen oder Bismarck, kaum völlig einigen wird, versieht das deutsche Geschichtsdenken mit fruchtbaren Spannungen und bedeutet das Gegenteil einer aus „unbewältigter Vergangenheit“ und gespaltenem Geschichtsbewußtsein vermeintlich abzuleitenden nationalen Misere. Entscheidend bleibt, daß wir uns unserer Vergangenheit nicht entziehen, auch wenn man ihr manchmal gerne ausweichen möchte. Wir dürfen unsere Geschichte weder verklären, noch sie durch eine übertriebene und ausschließliche Konzentration auf ihre negativen Höhepunkte verwüsten, sondern müssen in kritischer Auseinandersetzung gleichzeitig zu ihr stehen und sie überwinden.

Wir gingen davon aus, daß auch heute der Staat nur auf der Grundlage eines politischen Staatsbewußtseins und vaterländischer Gesinnung bestehen kann. Dabei ist hervorzuheben, daß die vorwiegend nationalstaatliche Organisation der Menschheit keineswegs als „natürliche" Angelegenheit aufzufassen ist. Sie ist verhältnismäßig jungen Datums und in ihrer Geschichtsbedingtheit genau zu greifen. Ferner soll keineswegs behauptet werden, daß die nationale Gliederung auch in alle Zukunft Bestand hat; manche Anzeichen weisen auf ihre Ablösung hin. Wir sprechen nur von Staats-und Nationalbewußtsein heute und auf absehbare Zeit

Manche Leser, namentlich der älteren Generation, werden das bisher Gesagte für eine Binsenwahrheit ansehen. Das mag im Hinblick auf ihre persönliche Einstellung zutreffen, nicht jedoch auf die gesamte Öffentlichkeit und am wenigsten auf die junge Generation in der Bundesrepublik. Wer täglich mit jungen Menschen zu tun hat, weiß wie ratlos, auch und gerade in der akademischen Welt, sie sich vielfach den Begriffen von Staat und Nation gegenüber verhalten. Ihre Einstellung läßt Schlüsse ziehen auf die Behandlung oder Nichtbehandlung der hier in Frage stehenden Tatbestände durch die Schule. Sicher ist ein generelles Urteil über die staatsbürgerliche Erziehung in der Schule nicht möglich. Die Akzente werden sehr verschieden gesetzt, und je nach Generationszugehörigkeit und persönlicher Auffassung des Lehrers ergeben sich sehr unterschiedliche Beeinflussung und Unterweisung. Die Mehrheit der Erzieher — dies scheint festzustehen — tut heute ihr Äußerstes, um der Jugend allen Nationalismus, alle Staats-und Obrigkeitsvergötzung auszutreiben. Mit Nachdruck wird für die Sache der europäischen Zusammengehörigkeit und die der Vereinten Nationen geworben. Alles recht und gut! Aber wird denn auch genug getan, um die Begriffe Volk, Staat, Nation, Vaterland zu präzisieren, und wird nach Beseitigung aller Verzerrungen und Übertreibungen klar und deutlich gesagt, wie man sich heute mit diesen Faktoren positiv auseinanderzusetzen hat?

Aus der Vergangenheit lernen, heißt gerade nicht von einem Extrem ins andere fallen. Wer immer als Politiker, Erzieher, Publizist über die Fragen von Staat und Nation nachzudenken und sich ihre heutige Bedeutung zurechtzulegen hat, muß sich nicht nur Klarheit darüber verschaffen, was in der Vergangenheit fehlgeschlagen ist, sondern auch nüchtern die Gegebenheiten der Gegenwart in Erwägung ziehen. Wer die Zeichen der Zeit erkennt, dem bieten sich manche Anhaltspunkte für eine neue Orientierung des Staats-und Nationalbewußtseins, ohne daß er zu Konstruktionen greifen oder sich auf restaurative Experimente einlassen müßte.

Zunächst müssen Staat und Nation als politisch-historische Ordnungsbegriffe in die rechte Beziehung zu den Gliederungsprinzipien der Gesellschaft gesetzt werden. Die den Tatsachen entsprechende Anwendung gesellschaftlicher Kategorien im politischen Denken schränkt die Geltung des Nationalen von vornherein so ein, wie es erforderlich ist Ebenso gilt es, das Staats-und Nationalgefühl von jedem Nationalismus und Etatismus abzugrenzen. Staat und Nation können unter keinen Umständen mehr den ersten Platz in der Tafel der Werte einnehmen. Die Menschheit steht auf jeden Fall über Staat und Nation, und andererseits dürfen sich diese nicht über Menschen-und Persönlichkeitsrechte des Einzelnen hinwegsetzen. Je reifer die ökumenische Gesinnung des Einzelnen, je ausgeprägter sein Takt und seine politische Erfahrung, um so sicherer wird die Einordnung des Staats-und Nationalbegriffs in eine der heutigen Weltsituation angemessene weltbürgerliche Sphäre gelingen. Es ist ein großer Irrtum zu glauben, daß mit den Begriffen Staat und Nation Gegensätze zu menschheitlicher Gesinnug oder dem Ausbau der internationalen Organisation aufgestellt sind. Eine universale Geschichte des Nationalbewußtseins bringt vielmehr zutage, daß ein im Sinne des politischen Darwinismus betätigter Nationalismus nur einen, wenn auch bedeutenden Teil des gesamten Phänomens ausmacht. Der Nationalgedanke der westlichen Welt und ursprünglich auch der Mitteleuropas hat in Nation und Welt-bürgertum gegenseitig ergänzungsbedürftige Größen, verschiedene Komponenten einer gemeinsamen, in sich widerspruchsfreien Überzeugung erkannt. Es gilt heute, zu dieser Auffassung zurückzufinden und den aus der menschheitlichen Solidarität sich abkapselnden Nationalismus als eine Entartungsform festzulegen. Aber im gleichen Atemzug ist zu betonen, daß niemand sich vom Individuum zum Kosmopoliten sublimieren und dabei die Zwischenstufe von Staat und Nation überspringen kann. Wer in eine übernationale Solidarität einzutreten wünscht, muß erst selber solide sein. Solche Solidität wird aber bis auf weiteres nur auf dem Wege über das Ernstnehmen staatsbürgerlicher und nationaler Bindungen erlangt. Bis zum heutigen Tag und vermutlich noch auf lange Sicht kann man nur auf dem Umweg über Nation und Staat in die internationalen Organisationen von der UN bis zum Europarat eintreten.

Man möchte meinen, daß diesen Organisationen mit patriotischen und in sich gefestigten Nationen auf die Dauer besser gedient ist als mit desorientierten und solchen, die eigentlich nur malgre eux existieren. Trotz Blockbindungen, hegemonialen Gruppierungen und internationaler Organisation repräsentieren bis zur Stunde und bis auf weiteres in der, ganzen Welt Staat und Nation die vorwiegende politisch-historische Organisationsform. Die Weltorganisation selbst nennt sich „Vereinte Nationen" und nicht „Vereinte Menschheit“. Auch die sich emanzipierenden Bevölkerungen Asiens und Afrikas mußten und müssen zwangsläufig den Weg der Staats-und Nationbildung beschreiten, um politisch existieren und ihre Stimme zu Gehör bringen zu können. Sie hatten nicht die Möglichkeit, ganz von vorne oder ganz anders als die geschichtsbelasteten Europäer anzufangen. Auch sie sind genötigt, sich eine vaterländische Tradition zurechtzulegen. Ohne nationale und staatliche Organisation geht es noch nicht, denn das goldene Zeitalter ist noch nicht angebrochen. Staat und Nation nicht mehr ernst zu nehmen, ist immer noch gleichbedeutend mit politischem Nihilismus.

Die geschichtlich und politisch wirksamste, aber auch gefährlichste Form des Nationalismus, seine Ausprägung als Imperialismus und Missionsbewußtsein, ist heute noch bei den führenden Weltmächten möglich. Bei allen anderen Staaten verbietet sich der expansive Akzent des Nationalgefühls und der Staatspolitik mehr oder minder von selbst: die weltpolitischen Proportionen gestatten ihn nicht mehr. Staaten von geringerer Größenordnung als die Giganten unter den Nationen führen ihre Außenpolitik nicht mehr auf eigene Rechnung allein, auch die Neutralen nicht. In ihren politischen Entscheidungen und Stellungnahmen geht es ebenso um gemeinsame übernationale Fragen wie um die Sicherung ihrer nationalen Belange. Solche nationalen Belange und Interessen sind allerdings auch heute noch vorhanden, wo die Eroberungslust mittleren und kleineren Mächten weithin vergangen ist und sie, auch wenn sie nach wie vor als Waffenträger im Dienst stehen, einen Domestikationsprozeß durchlaufen haben.

Der Angehörige der westdeutschen Bundesrepublik kann seine nationale Bindung nicht suspendieren, nur weil die Wiedervereinigung auf weite Sicht hin nicht realisierbar erscheint. Der Verlust der nationalen Basis, als die man den territorialen Umfang des Bismarckreichs anzusehen sich seit langem gewöhnt hatte, läßt die Verankerung des Nationalgefühls bei uns problematischer erscheinen als irgendwo sonst in Europa. Es bedarf auf die Dauer und nicht zuletzt für die heranwachsende Generation einer gewissen geistigen Anstrengung, sich gleichzeitig als Staatsbürger der Bundesrepublik und als Glied einer über deren Grenzen hinausreichenden Nation zu sehen und zu empfinden. Wenn aber niemand eine Schwierigkeit darin erblickt, gleichzeitig „Bundesbürger“ und Europäer zu sein, müßte es eigentlich auch gelingen, die psychische Koexistenz als Angehöriger des Bonner Staatswesens und als Glied der deutschen Nation zu bewahren. Schon hinsichtlich des Begriffs des Europäischen herrscht heute ein ambivalenter Sprachgebrauch: zunächst denkt man an das organisierte „Kleineuropa“, an die Staaten des Europarats, aber darüber hinaus erstreckt sich die Vorstellung von Europa auf alle der europäischen Geschichts-und Kulturwelt zugehörigen Nationen diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs. Eine ähnliche Ambivalenz haftet der deutschen Situation an: der Deutsche ist entweder Bürger der Bundesrepublik oder des Sowjetzonenstaates, aber er ist gleichzeitig Teilhaber einer gemeinsamen, sogar juristisch noch fixierbaren Staatstradition und Erbe einer übergreifenden geistigen und politischen Überlieferung der ganzen deutschen Nation. Man kann keine Rezepte ausschreiben, wie der einzelne die realen Faktoren seiner Staatsbürgerschaft und die ideellen seiner Zugehörigkeit zur Gesamtnation zu kombinieren hat, aber daß die Aufgabe als solche besteht, sollte keinem Zweifel unterliegen. Anachronistisch und illusorisch wäre es jedenfalls, angesichts der deutschen Lage von heute einstweilen oder grundsätzlich hinter den Staats-und Nationalgedanken auf den Heimatgedanken zurückgehen zu wollen. Nachdem sich einmal die Bundesrepublik als Staatsgebilde aus der großen Konkursmasse herauskristallisiert hatte, waren, wie die Schicksale einiger hauptsächlich den Heimatgedanken kultivierender Parteigründungen erwiesen haben, solche Versuche zum Scheitern verurteilt. Ob man am föderativen Prinzip mehr die Glieder oder mehr das Ganze betont — wer die Bundesrepublik bejaht, muß so oder so vom Begriff eines deutschen Staates und einer deutschen Nation ausgehen.

So unverkennbar die Weltmächte unser politisches Schicksal in die Hand genommen haben, so wenig wir heute mehr große Politik im früheren Sinne betreiben können, die politischen Lebensfragen jedes Einzelnen werden doch nur über das Medium von Staat und Nation entschieden. Dazu kommt, daß der wirtschaftliche, wissenschaftliche, künstlerische, technische, sportliche Wettbewerb allenthalben zum größeren Teil nach wie vor in der Form nationaler Konkurrenz ausgetragen wird. Staat und Nation bieten sich auch heute als das überschaubare Arbeitsfeld für unausgesetztes Mühen um gute zeitgemäße Lösungen der gesellschaftlichen Fragen an. Diskrepanz zwischen hochgeschraubten nationalen Ansprüchen und sozialer Ungerechtigkeit hat ja nicht zuletzt dazu beigetragen, das Nationale Millionen von Menschen unglaubwürdig zu machen. Die Nation, in deren Rahmen an einer relativ befriedigenden und gerechten Gesellschaftsordnung gebaut wird, wird ganz von selbst ihren Angehörigen teuer und wert, und strömt eine Anziehungskraft aus, die alsbald in selbstverständliches Nationalbewußtsein umschlägt. Schließlich bilden Staat und Nation Gefäße der Tradition und Kontinuität.

Die nationale Überlieferung verändert sich zwar fortwährend, aber es geschieht dies in einer eigenartigen Dialektik von Wandlung und Bestand, die eines Gehäuses bedarf.

Als Vaterhaus Schutz und Schirm bietend, als Ort des Herkommens, als Ausgangspunkt und Hauptgebiet unserer Aktivität und Lebensbewährung wie unseres sozialen Verhaltens dürfen Staat und Nation nach wie vor Gruppendisziplin fordern und das heißt unter anderem, beim Aufenthalt im Ausland und im Verhalten dem Ausländer gegenüber, aber auch in Fragen der inneren nationalen Disziplin, dem Vaterland keine Unehre machen. Genugtuung und Selbstvertrauen der Nation sind nicht grundsätzlich abzulehnen, wenn sich Erfolge eingestellt haben und Leistungen vollbracht worden sind, die im Endeffekt nicht nur ihr selbst zugute kommen, aber jedenfalls von ihren Angehörigen zuwege gebracht worden sind. Das neue Nationalbewußtsein, das uns erfüllen sollte, müßte das Gegenteil von nationaler Hybris sein, unpathetisch, selbstverständlich, weltoffen, brüderlich. Ein gesundes und in europäische und ökumenische Gesinnung eingebettetes nationales Empfinden hat auch — und das muß allerdings gesagt werden — nichts mit einer gesuchten Selbsterniedrigung zu tun, die letztlich nur als Nationalismus mit umgekehrtem Vorzeichen aufzufassen ist. Eine der großen Erziehungsaufgaben unserer Zeit besteht jedenfalls darin, den mit einer grundsätzlichen menschlichen Überzeugung und Verhaltensweise korrespondierenden humanen und vernünftigen Patriotismus zu prägen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Christian Graf Krochow, Nationalbewußtsein und Gesellschaftsbewußtsein, in: Politische Vierteljahresschrift, 1. Jahrgang, Heft 2, Dez. 1960.

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