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Die atlantishe Welt - ein gesellschaftspolitisches Kraftfeld | APuZ 17/1962 | bpb.de

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APuZ 17/1962 Die Erziehungspolitik in der SBZ Die atlantishe Welt - ein gesellschaftspolitisches Kraftfeld

Die atlantishe Welt - ein gesellschaftspolitisches Kraftfeld

PETRU DUMITRIU

Als Vortrag gehalten auf der 12. Jahrestagung der Wirtschaftspolitischen Gesellschaft am 19. Januar 1962 in Frankfurt a. M.

Die Deutschen haben in ihrer Geschichte als einzige Westeuropäer den Gedanken eines Weltstaates, der Weihmonarchie des universalen Kaisertums, einmal gedacht und mit den unzulänglichen Mitteln jener fernen Zeit zu verwirklichen versucht. Heute besteht aber die materielle Grundlage für eine universale menschliche Gesellschaft. — Die Deutschen haben die Weltrevolution des individuellen Gewissens durch die Reformation eingeleitet. Heute heißt es aber, das individuelle Gewissen vor dem Massenkonformismus und vor der totalitären Ideologie zu retten. — Die Deutschen haben ein Unterfangen, das schon von den Hellenen und dann in der italienischen Renaissance begonnen war, in der Person ihres größten Dichters zu einem wundervollen Sieg geführt, und zwar meine ich die harmonische, integrierte, ganze, reifste menschliche Persönlichkeit. Heute aber heißt es, jedem einzelnen die Möglichkeit zur Entfaltung seiner Persönlichkeit zu bieten, auf universaler Ebene.

Die Deutschen haben aber auch, und das ist gleichfalls wichtig, zur Krise des heutigen Abendlandes durch waghalsiges, tiefes und oft vermessenes Denken beigetragen. Derselbe, vielleicht größte, gewiß aber einer der größten Männer des Abendlandes hat im zweiten Teil des Faust die dämonischen Verse geschrieben:

Daß sidi das große Werk vollende, Genügt ein Geist für tausend Hände.

Dieser Gedanke macht einen schaudern, wenn man bedenkt, daß er im Osten jetzt zu Ende gedacht wird. Weil Hegel die Geschichte und die Moral relativierte, indem er sie in einen dialektischen Prozeß aufgliederte und hinein-fügte, trug er grundsätzlich dazu bei, daß in der heutigen Welt überall, selbst bei den Kommunisten, und ausgenommen nur die wirklich echten und gläubigen Christen, Buddhisten oder Moslems, eine grundsätzliche sittliche Krise herrscht. Der Marxismus, die Bibelkritik, Nietzsche, der Kulturpessimismus, Freud, der Empiriokritizismus sind Stationen der fortschreitenden Krise, und es sind deutsche Stationen.

Vorteilhafte Position teuer erkauft

Die Deutschen haben noch dazu die Hauptsünde unseres Jahrhunderts, die Abtrünnigkeit von der Menschheit, ich meine den autarken Nationalismus, zum äußersten getrieben, sie haben durch Ausübung der Gewalt, durch technische und organisatorische Rationalisierung, aber Entmenschlichung der Welt, ihrer Welt, durch dauernde Krise, durch hundert Jahre kritischer Unterhöhlung der Sittlichkeit und der Grundwerte des menschlichen Lebens die Bitternis des Jahrhunderts bis zur Neige ausgekostet und aus ieser Bitternis auch viele andere zu Tode gespeist.

Dies aber macht sie nach dem politischen Zusammenbruch, in diesem Land mit seinen verwüsteten aber wiederaufgebauten Städten, mitten in einem ungeheuren Ausbruch rein gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Vitalität, zu einer privilegierten Nation in der heutigen Welt. Es ist kein Zufall, daß Deutsche in den ersten Reihen der Kämpfer für politische Integration des Abendlandes zu finden sind.

Zugleich haben die Deutschen in der Not des Krieges und der Nachkriegsepoche die einzige, sehr harte, sehr bittere, aber auch wertvolle Gelegenheit gehabt, sich auf das Kernstück der Menschen zu besinnen und es wiederzuentdekken. Und ich glaube, daß dieselbe gewaltige Vitalität, die sich jetzt im Unterbau der Gesellschaft und vor allem der Wirtschaft äußert, sich unumgänglich geistig, intellektuell und sittlich sublimieren wird. Die Deutschen sind nach dem Zusammenbruch des alten Abendlandes, den sie so tief erlebt und zum größten Teil auch selbst herbeigeführt haben, ungefähr wie ein Athlet, der, weil er nunmehr nackt ist, schneller laufen und weiter springen kann. Die nationalen Vorurteile, die jetzt den größten Politiker Frankreichs an die Vergangenheit binden, Vorurteile, welche die Briten an ihrer vergangenen Welt festhalten lassen, haben die Deutschen auf die schmerzlichste Art und Weise zu überwinden gelernt. Sie haben einen sehr teuren Preis dafür bezahlt, aber dafür sind sie auch frei und prinzipiell der Zukunft offen. Meiner Meinung nach gibt es kaum eine Nation, die so frei von Bindungen der Vergangenheit in die nächste Zukunft treten kann, als die deutsche. Selbst die quälende seelische Leere, die die deutsche Jugend zu empfinden scheint, ist vielleicht eine dynamische; es ist vielleicht der Zustand der Angst und Beklommenheit, welche den Künstler vor dem Durchbruch zum schöpferischen Akt beherrscht; es ist vielleicht ein Spannungszustand, der seinen Pfeil abschießen wird.

Niemand empfindet so wie die Deutschen (sie empfinden sie sogar mehr als wir Osteuropäer) die Spaltung der Welt am eigenen Leib. Die Einigung der Welt, die Integration im weitesten Sinne ist deswegen, so scheint es mir, auch ein deutsches Anliegen.

Diese Gründe lassen das Wort von der „deutschen Chance" als kühn aber nicht unrealistisch erscheinen. Ob die Chance auch ausgenutzt wird, werden die Deutschen selbst entscheiden. Es gibt Kräfte, welche die Deutschen zu einer solchen Entscheidung drängen. Die Deutschen stehen nämlich, gleich den Nordamerikanern, in der ersten Reihe der Revolution des Jahrhunderts.

Strukturwandel der technischen Welt

Es gibt heutzutage nämlich zweierlei Revolutionen, und die, die aus erster Hand ist, wird meistens nicht bemerkt, weil sie den Alltag bildet. Diese Revolution vollzieht sich in den Naturwissenschaften, der Technologie, im menschlichen Zusammenleben. Es ist die zweite industrielle Revolution, diejenige der Kybernetik, der Elektronik, der Automation, der plastischen Massen, der Kunststoffe, des neuartigen, modernen Unternehmens, die im Westen und nur im Westen (vor allem in den Vereinigten Staaten) vorhanden ist und die die Gesellschaft nivelliert und zu übernationalen politischen Formen führt. Diese Revolution wird in der übrigen Welt nachgemacht. Man kann diese Revolution weder nachahmen noch übertreffen, sofern die eigene Gesellschaft nicht selbst die innere Problematik und die inneren Kräfte trägt, welche zu dieser sich im Westen vollziehenden Revolution geführt haben. Ich weiß nicht, ob die materiellen Faktoren unseres Lebens die geistigen determinieren oder ob es umgekehrt der Fall ist.Vielmehr meine ich, daß es sich um Strukturen handelt, um Zusammenspiele und Widerspiele von Faktoren, die zusammen gehören und deren einer durch seine Veränderung alle anderen in Mitleidenschaft zieht, wobei die anderen wieder auf ihn zurückwirken. So werde ich nichts über die Rangordnung in der Faktorentafel dieser Revolution sagen. Ich möchte nur bemerken, daß die industrielle Revolution Hand in Hand mit der Verstädterung der westlichen Landschaft geht. Groß-London, Groß-Tokio, Ruhrgebiet, das Gebiet südlich der großen Seen in den Vereinigten Staaten, die östliche Küste der Vereinigten Staaten: das sind die ersten Beispiele einer städtischen Revolution, die in ihren Ausmaßen nur mit der vor 5000 Jahren in den großen Flußebenen des Zweistromlandes, des Indus und des Nils stattgefundenen Verstädterung vergleichbar wäre. Seitdem gab es nichts Unerhörteres als die Verstädterung, die heute vor sich geht. Wir bemerken sie nur wenig, weil wir mitten drin sind. Vom Süden New Hampshires bis zum Norden Virginias gibt es eine ununterbrochene Stadt nördlich und südlich von New York, die viele Städtenamen hat, die aber doch eigentlich nur ein einziges Stadtgebiet ist und die 1960 nahezu 31, 5 Millionen Einwohner hatte. Das ist ungefähr die Bevölkerung Argentiniens, oder Polens, oder Nigerias, oder Spaniens. „Suburbia“, die moderne Vorstadt ist auch eine solche revolutionäre Erscheinung. Das Besondere bei ihr ist, daß sie zum individuellen Leben, zum in einer Gemeinschaft integrierten aber doch individuellen Familienleben zu führen scheint, ungleich der Wohnkasernen nach der Mode des neunzehnten und der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, einer Mode, die leider im Osten heute immer noch herrscht.

Als weiteres Merkmal der westlichen Revolution möchte ich die Entkolonialisierung nennen, die aus sittlichen und geistigen, aber zweifellos auch aus ökonomischen Gründen hervorgeht. Es gibt außerdem zwei weitere revolutionäre Entwicklungen, die der Westen während der letzten Jahrzehnte durchgemacht hat: Erstens die Expansion nach innen — und das ist etwas, das zum erstenmal in der Geschichte vorkommt; zweitens, die Entdeckung des Untertanen, Arbeiters, Steuerzahlers als Konsumenten. Das macht die ganze überlieferte Auffassung der gesellschaftlichen Struktur und Entwicklung ungültig. Es handelt sich nämlich nicht mehr um Ausbeutung als Prinzip der Wirtschaft, sondern um Aktivierung einer immer wirksameren Öko-nomie. Diese zwei Umwälzungen machen eigentlich den Westen der kommunistischen Kritik im Grunde unzugänglich. Der Westen ist heute kein Imperialist und kein Kolonialist mehr, weil er es nicht braucht, weil der Besitz der Kolonien offensichtlich — man sieht es am französischen und an anderen Beispielen — nur eine Last ist. Sie wird ersetzt durch die Entwicklungshilfe, die man jetzt auf sich nimmt und nehmen muß aus sittlicher und politischer Verantwortung, weil man eben die Klassengegensätze aus dem nationalen innenpolitischen Bereich nicht ins Internationale treten sehen möchte. Der Westen ist auch keine Gesellschaft der Klassenausbeutung mehr, obgleich Profit und Mehrwert immer vorhanden sind — weil der Akzent von der Prosperität einer Klasse auf Massenprosperität verlegt wurde.

Revolution aus zweiter Hand

Gegen diese Revolution, die das Leben des einzelnen zutiefst verändert, sind die kommunistischen Revolutionen, und schon gar die nationalistischen, zweitrangig. Man merkt dies unter anderem am Regime der Arbeit — auch eins der revolutionärsten Merkmale des Westens.

Die nationalen und ideologischen Revolutionen der übrigen Welt sind in dieser Sicht Revolutionen aus zweiter Hand. Die zwei riesenhaften Imperien China und Rußland, die eine eigene, feste Tradition des bürokratischen Machtstaates hatten, erlebten einen schrecklichen Schock beim Kontakt mit dem Westen. Man muß sich vorstellen oder sich vorzustellen versuchen — ein für Europa beinahe unmöglicher Versuch —, daß es Welten waren, die für sich allein bestanden. Für den Chinesen ist China gefühlsmäßig noch immer das Reich der Mitte — rundherum gab es zweitausend Jahre lang nur Barbaren; zweitausend Jahre lang war es auch die Wirklichkeit, daß die Chinesen das große Zivilisationsvolk in ihrer Welt waren. In Gogols Revisor sagt eine der Personen: „Väterchen, wenn du von hier aus unserer kleinen Stadt Galopp reitest, wirst du ein Jahr lang Galopp reiten und auf keine Staatsgrenze stoßen.“ Für einen Menschen, der in Omsk lebt, sieht ganz Europa auf der Landkarte wie ein kleines Anhängsel Eurasiens aus. Die intellektuelle, technische, wirtschaftliche, politische Überlegenheit Europas mußte ein Schock sein für das Selbstgefühl von Menschen, die — wie die Russen seit tausend Jahren, wie die Chinesen seit zweitausend Jahren — ein eigenes Weltreich hatten. Wie konnten sie dieses Trauma überwinden? Nur dadurch, daß sie sich auf die fortschrittlichste Lehre der betreffenden Krisenzeit warfen (ich meine nämlich 18 50 bis 1900 für die Russen und 1900 bis ungefähr 1940/50 für die Chinesen): Man versuchte die Selbstachtung, das Selbst-und Machtgefühl wiederherzustellen, indem man sich selbst und andere überzeugte, daß man die fortschrittlichste Gesellschaft der Welt aufbaue und daß man also Europa endlich sozial und „geschichtlich“, im Sinne einer metaphysischen Historie, überlegen wäre, es zu sein behauptete. Man kurierte die innere Wunde dadurch, daß man sich ideologisch an die Spitze der Menschheit zu stellen glaubte.

Die kommunistische Revolution in Rußland und in China war eine Bauemrevolution. Sie brachte eine neue Elite an die Macht, sie erfand in Ruß-land aus einer neuen Tradition, die sehr weit, vielleicht sogar bis auf den Mongolenstaat zurückreicht, eine neue Vorrichtung, um die politische Problematik dieser riesenhaften Länder zu bewältigen, die erfand nämlich den modernen totalitären Staat. Politische und soziale Organisationstechniken können exportiert werden. Sie können überall angewandt werden. Ich bin in einem Lande geboren und ausgewachsen, das eine — zwar schlecht funktionierende — parlamentarische Demokratie, einen faschistischen Staat und eine Volksdemokratie nacheinander besaß. Die Deutschen wissen auch, daß dieselbe Gesellschaft verschiedene Organisationstechniken anwenden oder ertragen kann. Diese schreckliche Erfindung der Russen hat sich sehr verbreitet, aber mit sehr wenig Ausnahmen faßte sie nur dort Fuß, wo aus Rückständigkeit oder wegen innerer Spannungen die Demokratie lebensunfähig war. Dagegen scheint die angelsächsische Erfindung der parlamentarischen Demokratie zum festen Bestand der neuen westlichen Gesellschaft, der neuen technologischen, sozialen und auch ideologischen Revolution des Westens zu gehören. Einige Entwicklungsländer ziehen die totalitäre Organisationstechnik und das, was ich die Revolution au« zweiter Hand nenne, nicht deswegen vor, weil sie „besser“ wäre — sie tun es, weil sie der Demokratie noch unfähig sind. Wir vergessen zu leicht, daß Indien mit seinen über 400 Mil-lionen Menschen doch ein riesiges Experiment der Demokratie in einem Entwicklungsland durchführt und es bis jetzt mit Erfolg tut.

Revolution aus zweiter Hand nenne ich also diejenige Revolution, die sich vollzieht, weil der Westen als Herausforderung mit seiner Freiheit, mit seiner Überlegenheit, mit seiner Macht, mit seinem Reichtum da ist. Natürlich kommen Wellenschläge von dieser Revolution aus zweiter Hand (von den kommunistischen Revolutionen) nach dem Westen zurück. Die Russen können uns nämlich zweierlei lehren: Erstens, die Anstrengung und Anspannung aller Kräfte einer großen Nation, um ein Ziel zu erreichen, ein großes Ideal zu verwirklichen. Daß ihr Traumbild unzulänglich ist, daß das Ganze konkret mindestens ein Grad schlechter ist als die heutige westliche Wirklichkeit, das ist eine andere Sache. Nicht die Unzulänglichkeit ihres Zukunftsbildes sollte man lernen, wohl aber die Anspannung der Kräfte einer Nation, die Kunst der gemeinsamen Anstrengung.

Zweitens kann man auch ein anderes lernen, und zwar die Integration des Individuums in die Gemeinschaft und die Integration des Bewußtseins um einen intellektuell-gefühlsmäßigen Kern. Ich meine nicht, daß dieses den Russen vorbildlich gelingt, und außerdem glaube ich, daß der Boden, auf dem sie die Integration durchführen, falsch und unannehmbar ist. Dennoch arbeiten die Russen an der Integrierung des äußeren und inneren Menschen, des Individuums mit der Gemeinschaft, unter dem Zeichen einer gemeinsamen Weltanschauung. Jene Weltanschauung ist schief, unwissenschaftlich und auch vom Metaphysischen, Religiösen, Ethischen her gleichsam um einen Kopf zu kurz. Sie ist unannehmbar, aber das Streben nach einer inneren und äußeren Integration ist durchaus beachtlich und scheint mir mustergültig. Sofern eine solche ideologische Integration durch Forschung, Diskussion und freies Denken zu erreichen ist, sofern ist sie durchaus auch dem Westen zu wünschen.

Stärke und Schwäche des Westens

Ich möchte noch darauf hinweisen, daß der Westen als Gesellschaftstyp expandiert. Japan, eine Nation von hundert Millionen, ist, wie ein Beobachter vor kurzem sagte, „aus Asien herausgetreten" und gehört nunmehr zu jenem Westen, der bis Australien und Neuseeland reicht. Ich möchte auch darauf hinweisen, daß für das Jahr 1970 ein Bruttosozialprodukt der Vereinigten Staaten und Westeuropas von 1540 Milliarden Dollar erwartet wird. Die UdSSR samt China und Satelliten wird, nach ihren sehr optimistischen und nicht immer besonders gewissenhaften Statistiken, höchstens 630 Milliarden Dollar Bruttosozialprodukt erreichen, also etwas mehr als ein Drittel der westlichen Produktionskraft.

Die westliche Wirtschaftsmacht ist immer noch im Wachsen. Die angeführten Statistiken wurden aufgestellt als man noch nicht wußte, daß zum Beispiel Italiens Wachstumsrate im Jahre 1961 über 9 Prozent liegen würde. Die Statistiken legen keinen besonderen Nachdruck darauf, daß zwischen 1950 und 1960 die Wachstumsrate des frei-marktwirtschaftlichen Japan 460 Prozent betragen hat! Diese wirtschaftliche Potenz des Westens dürfte uns, glaube ich, Zuversicht einflößen.

Das heißt aber nicht, daß man die Schwächen des Westens übersehen sollte. Diese sind, finde ich, meist gedanklicher, geistiger Art. Sie sind teilweise auch sozialer und wirtschaftlicher Art. Zum Beispiel kann die ungeheuere Steuerlast, vor allem in den Vereinigten Staaten, sehr leicht lähmend wirken. Die Überorganisation und Überverwaltung der Wirtschaft ist wiederum eine mögliche Lähmungsquelle. Da ist auch das Vorpreschen der Lohnforderungen unter der Führung der Gewerkschaften (eine bewunderungswürdige und, wenigstens für einen Osteuropäer, herzerquickende Angelegenheit); aber es gibt auch die Lohn-Preis-Spirale als Schattenseite derselben Erscheinung. Der Streik der Bau-elektriker kürzlich in New York, welche zum erstenmal in der Geschichte der Arbeit eine 20-Stunden-Woche einführen wollten, ist ein Zeichen einer triumphierenden, aber auch höchst problematischen Zukunft. Wenn das dritte Stadium der industriellen Revolution beginnen wird, wenn nämlich die Kraftquellen hauptsächlich atomar sein werden, dann könnte eine solche Problematik ebenso leicht zum Totalitarismus wie zur Anarchie führen. Es gibt also offene und schwierige Fragen, welche dem Westen gestellt sind.

Es gibt Schwierigkeiten, welche aus veraltetem politischen Denken entspringen, an erster Stelle das Nationalgefühl. Hier stehen die Deutschen durch ihre jüngste Leidensgeschichte an der Spitze der Entwicklung, weil sie eben dies Vorurteil weitgehend losgeworden sind. Wie aber die Briten oder die Franzosen und die Amerikaner in einem neuen, integrierten Westen gefühlsmäßig aufgehen werden, das ist eine der schwierigsten Fragen der Zukunft. Doch kann uns das Verschwinden des alten Hasses zwischen Franzosen und Deutschen in den letzten zehn Jahren Zuversicht einflößen: ein ähnliches kann sich grundsätzlich überall wiederholen. Wenn es der Westen jetzt mit dem schwarzhäutigen, braunhäutigen oder gelben Nationalismus zu tun hat, so verdankt er es sich selbst: erstens, weil er den Nationalismus erfunden hat, zweitens aber wegen der ideologischen Krise, in der der Westen immer noch begriffen ist. Der Westen hat nichts Neues, nichts Besseres zu bieten. Es handelt sich auf keinen Fall um einen Ersatz für Nationalismus. Mit dem Ersatzbegriff stößt man auf eine ideologische Krisenerscheinung des Westens. Der Gedanke an das Nachmachen, an Ersatz, an Defensive, an Erhaltung, das bloße Reagieren auf äußerliche Impulse gehören immer noch zum Passivum des Westens. Nie wird eine weltpolitische Kräfte-strömung das Feld behaupten, welche sich auf reine Erhaltung versteift.

Es gilt universal zu denken

Es gilt nicht mehr, an sich selbst als an eine Welt unter anderen Welten zu denken, sondern wieder einmal, wie das mittelalterliche katholische Europa, wie der Islam, wie das Europa der Reformation, wie der Liberalismus des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, wie der Sozialismus in Europa, wie der Kommunismus, universal zu denken. Ich glaube kaum, daß heute ein Gedankensystem oder eine mentale und gefühlsmäßige Verhaltensweise zum Erfolg berufen ist, welches sich nicht auf die Welt als eir Ganzes bezieht. Der Faschismus, der Nationalsozialismus, waren schon prinzipiell zum Bankerott verurteilt — unter anderem deshalb, weil sie beide national-egozentrisch waren. Der Kommunismus mit allen seinen Gebrechen, den seine eigene innere Krise vielleicht schon innerhalb der nächsten Epoche zum Provinzialismus reduzieren wird, war dem Nationalsozialismus zweifellos auch dadurch überlegen, daß er universal dachte.

Die Wertkrise des westlichen Denkens dürfte unter dem Druck der gesellschaftlichen Revolution der wirtschaftlichen Macht und Expansion, der Originalität des wissenschaftlichen Denkens und des gesellschaftlichen Erlebnisses und aus ihrer eigenen inneren Dynamik heraus in einem neuen Bewußtsein ihre Lösung finden. Die Wertkrise muß überwunden werden und das, was man mit einem sehr abgegriffenen Wort „Weltanschauung" nennt, wieder organisch aufgebaut werden. Wir brauchen eine neue Einstellung und eine neue prinzipielle Verhaltensweise gegenüber den Daseinsstrukturen in der Welt.

Natürlich kann man das nicht nur auf wissenschaftlichem Wege zustandebringen. Die Wissenschaft legt mehr Macht in unsere Hände; sie kann uns aber das Wozu nicht lehren. Wir werden zum Beispiel bald die Vererbung lenken können. Ich frage aber, welche sind die Wert-kriterien, nach denen man die menschliche Ver-erbung lenken möchte? Wer im Westen kann eine klare Antwort auf die Frage geben: Was ist gut? und: Was ist böse? Der Christ gibt darauf die Antwort, die ihn Jesus gelehrt hat. Der Kommunist gibt die Antwort: „Gut ist, was uns dem Kommunismus näher bringt und schlecht ist das Gegenteil.“ Was nun aber wird der typische, in einer inneren Wertkrise begriffene Abendländer auf diese Frage antworten? Man weiß es kaum.

Anerkennung neuer Werte

Es scheint jedoch, daß eine Werttafel im Entstehen begriffen ist, auf die beste, natürliche Art und Weise, nämlich in der Masse der westlichen Bevölkerung. Man beginnt originelle neuartige Reaktionen auf sittliche Fragen zu entdecken. Wer im Westen würde noch annehmen, daß die Menschen unter irgendeinem Gesichtspunkt ungleich sind? Kaum jemand! Dagegen nehmen die Kommunisten immer noch an, daß die Menschen sich in Ausbeuter und Ausgebeutete trennen. Auch nach der vollbrachten kommunistischen Revolution gibt es noch immer Ungleichheit, nämlich zwischen den Pseudo-Priestern der Pseudo-Religion und den unmündigen Untertanen. Das ist implizite gemeint, steht aber darum nicht weniger fest. Dagegen scheint es, daß man im Westen tief und selbstverständlich an die grundsätzliche Gleichwertigkeit der Menschen glaubt.

Die Relation zum Kriegsgedanken ist wiederum bezeichnend. Der Krieg wird vom Abendländer prinzipiell abgelehnt und nur als Selbstverteidigung möglich, als unumgängliches, ausgespro-ebenes Übel, als moralisch und sittlich Schlechtes betrachtet.

Ohne auf die Einzelheiten einer möglichen Werttafel einzugehen, möchte man behaupten, daß die gegenwärtige Situation im Westen auch in ideologischer Hinsicht dynamisch, kraftvoll, revolutionär ist, insofern als der Westen den seichten Optimismus des neunzehnten Jahrhunderts durch Skepsis an der Allmacht und Allgütigkeit der Wissenschaft überwunden hat und den Kulturpessimismus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts auch im Begriff ist zu überwinden. Im Westen ahnt man, daß das Leben des Menschen im Sinne eines Goethe-Wortes weder als einzelnes Individuum, noch als un-differenziertes Kollektivwesen aufzufassen ist, sondern daß „die ganze Menschheit zusammen erst der wahre Mensch (ist) und der einzelne Mensch ... nur froh und glücklich sein (kann), wenn er den Mut hat, sich im Ganzen zu fühlen" — unter Bewahrung, Vervollkommnung und Behauptung der individuellen Persönlichkeit.

Ein neuer Begriff der Sittlichkeit

Es gibt Krisenmomente, die durch die ihnen innewohnende Dynamik auf das baldige Ende der Krise deuten. Ein gelehrter und glänzender Geist drückte eine solche Dynamik unwillkürlich aus, als er von den Vereinigten Staaten als »einer Nation, die das Automobil-und Vorstadtzeitalter hinter sich hat und deren Hauptanliegen größere Familien, Reisen, Konsum-verfeinerung und -differenzierung und verschiedenerlei Arten von Freizeitgestaltung sind“ sprach. Das ist alles sehr schön, und als Sohn des Ostens kann man dazu sagen, daß solche Güter wahrscheinlich das Erste sind, was sich der Mensch wünscht. Aber das ist bei weitem nicht das Letzte und noch weniger das Wich-tigste für den Menschen. Dieser Satz, in dem große Familien, Reisen, Konsumverfeinerung und Freizeitgestaltung als einzige Anliegen der besten und fortgeschrittensten Gesellschaft betrachtet werden, ist unannehmbar. Das ist zu wenig. Doch ich werde dem Westen, meiner kraftvollen, verworrenen, zukunftsträchtigen neuen Welt, nicht das Unrecht antun zu glauben, daß er nicht weiß, daß es etwas gibt, was Martin Buber das ewige Du jedes Menschen nennt: nämlich das Göttliche; daß er nicht weiß, daß es etwas gibt, was die ganze Menschheit heilt; daß es eine persönliche sittliche Verantwortung eines jeden von uns für die ganze Menschheit gibt. Man möchte glauben, daß auf diesen gewaltigen und jungen Körper des Westens gleichsam ein Haupt wachsen muß nämlich eine neue, aber in den alten und ewigen Wurzeln der Menschheit begründete Weltauffassung, ein neuer Begriff der Religiosität unter Beibehaltung der Toleranz und der Achtung vor allem, was anderen Menschen heilig ist, ein neuer Begriff der Sittlichkeit, einer Sittlichkeit nämlich, die allen Menschen, ob „vom Orient oder vom Okzident, vom Lande oder vom Meer“ annehmbar sei. Dies alles auf westlicher technologischer und wissenschaftlicher Grundlage. Denn die Wissenschaft beginnt jetzt, wo sie ins Unbegrenzte stößt, ihre eigenen Grenzen zu empfinden: Jene Grenzen, von wo nur das Postulat der Sittlichkeit und das religiöse Leben weiterführen können.

Mir scheint, daß, wenn die Abendländer sich als Menschen unter Menschen, als Verantwortliche für ihre Brüder (nicht kleinere und nicht schwächere Brüder, sondern schlechthin Brüder) fühlen und sich selbst durch eine große geistige Anstrengung in eine wieder sinnvoll gewordene Welt integrieren, eine neue Methode der Integration der menschlichen Persönlichkeit entdecken; wenn der Westen zum Praeceptor Mundi wird, eine Expansion des guten Beispiels einleitet; dann erst kann man sagen, daß der Westen seine ungeheuere Potentialität wirklich ausgeschöpft hat und daß er seine Pflicht und Schuldigkeit — ich postuliere sie nicht, sondern mir scheint, daß sie aus der objektiven Gegebenheit herausspringt — der Welt gegenüber getan hat. Diese Pflicht und Schuldigkeit ist es nämlich, wie mir scheint, eine einheitliche Weltzivilisation den anderen nicht aufzuzwingen, sondern verfügbar zu machen und allen Menschen zu ihr zu verhelfen: zum Welt-ganzen, worin jeder als ein ganzer Mensch in der Menschengemeinschaft persönlich und doch gemeinsam leben wird. Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT DER NÄCHSTEN BEILAGEN:

Karl Dietrich Bracher: „Plebiszit und Machtergreifung"

Ludwig Dehio: „Deutschland und das Epochenjähr 1945"

C. V. Gross: „Volksfrontpolitik in den dreißiger Jahren"

Romano Guardini: „Der Glaube in unserer Zeit"

Helmut Krausnick: „Unser Weg in die Katastrophe von 1945"

Boris Lewytzkyj: „Der sowjetische Siebenjahrplan — Eine Zwischenbilanz"

Philip E. Mosely: „Chruschtschows Parteikongreß"

Georg Paloczi-Horvath: „Mao Tse-tung — Eine politische Biographie"

Jürgen Rühle: „Situation der Kunst in der Sowjetunion"

Percy Ernst Schramm: „Kaiserkrönung Ottos I."

Carl Günther Schweitzer: „Hat die Weltgeschichte einen Sinn?"

Egmont Zechlin: „Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche (IV. Teil) * * * „Die Rolle des Parlaments bei einer kommunistischen Machtergreifung"

Fussnoten

Fußnoten

  1. Prof Walt Whitman Rostow.

Weitere Inhalte

Anmerkung: Petru Dumitriu, geb. 1924, Schriftsteller, gebürtiger Rumäne, Studium der Philosophie in München 1941— 44 (u. a. bei Prof. K. Huber), dreimal Staatspreis für Literatur der Rumänischen Volksrepublik, bis 1958 Leiter des rumänischen Staatsverlages, bis 1960 Vorsitzender des Verlagsrates im Rumänischen Kultusministerium, 1960 nach Paris emigriert, dann Frankfurt am Main. Neueste Veröffentlichungen: »Die Bojaren*, S. Fischer Verlag, 1960; »Die Revolution findet im Westen statt*, Offene Welt, Nr. 74, 1961.