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Unser Weg in die Katastrophe von 1945. Rechenschaft und Besinnung heute | APuZ 19/1962 | bpb.de

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APuZ 19/1962 Unser Weg in die Katastrophe von 1945. Rechenschaft und Besinnung heute

Unser Weg in die Katastrophe von 1945. Rechenschaft und Besinnung heute

HELMUT KRAUSNICK

Der in dieser Ausgabe der Beilage veröffentlichte Aufsatz stellt eine erweiterte Fassung des ReferainS dar, das der Autor am Juli 1961 auf dem 20.

Deutschen Evangelischen Kirchentag in dessen Arbeitsgruppe III (Politik) in der Berliner Deutschandhalle gehalten hat. — Mit einem ausführlichen nmerkungsapparat versehen wird dieser Aufsatz Hemnächst auch in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für Heimatdienst (Rotationsserie) zum Abdruck gelangen.

Einleitung

Siebzehn Jahre trennen uns heute von einer Katastrophe, wie sie selbst in der an Tiefpunkten reichen Geschichte unseres Volkes einzigartig ist. Mögen auch noch so viele im Zeichen einer fragwürdigen Normalisierung des deutschen Lebens und Denkens versuchen, dem Faktum dieser Katastrophe, der Realität ihrer Ursachen und Folgen auszuweichen, im Grunde sind wir doch alle von ihr gezeichnet, steht unser Volk als ganzes bis heute in ihrem Schatten, und die Grenze, die seinen lebendigen Leib zerteilt, ist nur ihr sichtbarster Ausdrude. Siebzehn Jahre — Zeit genug, die längst schon fließenden Quellen möglicher Erkenntnis für eine Antwort darauf zu nutzen, wie es zu dieser Katastrophe kam und worin sie recht eigentlich bestand, was sie uns also lehrt.

Für Deutschlands ältere Generation ist der Weg zur Katastrophe zumeist ein Teil ihres einstigen Denkens und Handelns, Teil also auch des eigenen Irrweges. Will sie die Gegenwart noch mitgestalten, so muß sie sich Redieiisdtaft geben von dem, was wirklich war, um den Bann der Mächte zu brechen, die jene Zeit bestimmten. Eine mittlere Altersschicht unserer Volkes mag sich von drückender Schuld frei wissen, die jüngste sich nicht betroffen wähnen. Indes, das Gebot der Rechenschaftslegung macht nicht halt vor den Grenzen der Generationen. Die großen Fragen von heute beruhen nun einmal weitgehend auf den Ereignissen von gestern. Will unsere jüngste Altersschicht ihre Aufgabe erfüllen, so muß sie die geschichtlichen Vorbelastungen kennen, die ihr Planen und Handeln in der Gegenwart mitbestimmen. Und will sie sich in der Welt der Mitvölker auch nur zurechtfinden, so muß sie begreifen, was den deutschen Namen in den Augen der anderen beschwert. Daß wir dieser Erwägung Raum geben, bedeutet mitnichten, daß wir die Rechenschaftslegung in der Erwartung auf raschen außenpolitischen Lohn und auf eine prompte Wandlung der Weltstimmung betreiben wollten oder könnten. Vielmehr gilt auch heute noch das Wort eines freimütigen Betrachters wie Ernst Troeltsch, bereits zur deutschen Lage nach 1918: Es geht „nicht um Propaganda und Apologetik nach außen, sondern um Ordnung und Klarheit im eigenen Hause“.

Ein weiterer Hauptgrund für eine Überprüfung des geistigen und politischen Weges ins Dritte Reich aber liegt in der unabweisbaren Erkenntnis, daß es sich dabei nickt um einen bloßen „Betriebsunfall“ der deutschen Geschichte handelt. Hierzu eine bezeichnende „Kontroverse“ aus dem Gründungsjahr der Weimarer Republik: Als im Mai 1919 die Vertreter der neuen deutschen Regierung in Versailles die harten Bedingungen des künftigen Friedens zur Kenntnis nehmen mußten, da bezeichnete dies ein namhafter Professor der Berliner Universität als „eine Katastrophe, die nur einem von Juden und Sozialdemokraten verhetzten Volk zustoßen könne“. Ernst Troeltsch, der uns dies berichtet, griff das Wort „zustoßen" auf und bemerkte zu solch schnellfertiger „Lösung" der Schuldfrage: „Als ob diese Katastrophe ganz von außen her aus unglücklichen Zufällen . . . käme und keinerlei Begründung in Charakter und Entwicklung der letzten deutschen Geschichte, vielleicht in deutscher Weltlage und deutschem Charakter überhaupt hätte."

Was nun die letzte, die nationalsozialistische Etappe unserer Geschichte vor 1945 im eigentlichsten kennzeichnet, das ist das Schwinden der Menschlichkeit aus der Politik im Sinne jener frühen Warnung eines Grillparzer: „Von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität." Wie immer also auch die Mehrheit des deutschen Volkes zu den Verbrechen des Dritten Reiches stand, wir müssen uns der Frage stellen, ob Wege beschritten wurden, die zu einer geistigen und sittlichen Zersetzung deutscher Politik führten, d. h.der Frage nach unserem Verhältnis zu Politik und Moral und damit zu höheren Realitäten. Der deutsche Historiker muß dabei urteilen — unbekümmert um Proteste eines übersteigerten Naionalgefühls, das keine Verantwortung vor letzten Werten kennt, aber auch ohne Rücksicht auf den Verdacht, eine vielfach behauptete innere Folgerichtigkeit und logische Notwendigkeit deutscher Entwicklung zum Nationalsozialismus leugnen zu wollen. Es gilt, die Kontinuität der deutschen Geschichte zu erkennen, ohne die Individualität oder Singularität ihrer jeweils entscheidenden Wirkungskräfte und Persönlichkeiten zu unterdrücken. Lassen Sie mich daher, um ein Mißverständnis zu verhüten, das die historische Darstellung eines Gesamtablaufs unversehens hervorrufen mag, dies eine vorweg-nehmen: Ich bin nicht der Meinung, daß Deutschlands Weg zum Dritten Reich zwangsläufig war. Geschichtliche Entwicklung kennt keine Einbahnstraßen. Ansätze, Tendenzen, Anfälligkeiten waren unleugbar vorhanden; daß sie sich Bahn brachen, sich auswirken konnten, war teils Verhängnis, teils aber auch — und vielleicht überwiegend — unsere historische Schuld.

I. Von der Romantik bis zum Zusammenbruch 1918

Prüfen wir nun redlich Wege und Scheidepunkte unserer neueren nationalen Entwicklung, so tritt uns zunächst der große geistige Umbruch vor Augen, der um die Wende des weltbürgerlichen 18. und 19. Jahrhunderts begann und namentlich durch die Romantik bezeichnet wird. Zweifellos hat sich hier deutsches Denken von der Ideen-welt des übrigen Abendlandes entfernt. Trotz der Französischen Revolution blieb Westeuropa im Grunde auf dem Boden des alten christlichen Naturrechts oder des „Vernutiftredits“. Danach bestimmt die Vernunft die wahre, ideale Natur des Menschen und seine rechtliche Grundordnung. Sie wahrt dem Einzelnen seine Würde und Selbstbestimmung. Humanität, Gleichheit, allgemeine Menschheitsziele und stetiger Fortschritt sind die Leitgedanken. Der Staat — als Zwedtverband — entspringt einem Vertrage der Menschen miteinander und beruht letztlich auf dem Willen des souveränen Volkes, das jedoch eine „Unterabteilung" der Menschheit bleibt.

Im Gegensatz hierzu glaubt nun das neue deutsche Denken nicht an eine allgemeingültige Vernunft. Die Einheit des Weltalls beruht danach vielmehr auf der Fülle des Individuellen und Eigenartigen und seiner geheimnisvollen Harmonie. Individuell aber ist gerade das geschichtlich Gewordene, das sich „organisch" entwickelt hat. Auch der Staat ist eine höhere Individualität. Er folgt seinen eigenen inneren Gesetzen. Und nicht einem künstlichen Vertrage der Einzelmenschen miteinander entspringt er, sondern dem geheimen, unwillkürlichen Wirken des Volksgeistes. Ein mystisch-metaphysischer Zug zur Erhöhung der geschichtlichen Lebensmächte über den Einzelnen gehört zum Wesen solcher Vorstellungswelt. So ist das Volk für den Romantiker Adam Müller „die erhabene Gemeinschaft einer langen Reihe von vergangenen, jetzt lebenden und noch kommenden Geschlechtern, die alle in einem großen innigen Verbände zu Leben und Tod Zusammenhängen“; der Staat aber ist für ihn ein „großes, all die kleinen Individuen umfassendes,'. . .freies, . . . wachsendes Ganzes“. Und gerät der Staat in Kampf mit seinesgleichen, so ist „dieser Rechtsstreit zu groß, als daß der einzelne Mensch weiter darin Richter sein könnte . . .". Vorher schon hat Fidite erklärt, im Ringen der Staaten untereinander gebe es „weder Gesetz noch Recht, außer dem Rechte des Stärkeren". Und Hegel lehrt: „Allen Wert, den der Mensch hat, . . . hat er allein durch den Staat." Dieser „hat keine höhere Pflicht, als sich selbst zu erhalten", er steht über der privaten Moral. Ja, der Kampf der Staaten untereinander wird von Hegel geradezu sittlich verklärt, wenn er die Auffassung vertritt, es siege dabei „die höhere Gerechtigkeit der Natur und der Wahrheit".

Dennoch wäre es verfehlt, vom deutschen Idealismus oder von der Romantik eine gerade Linie zum Jahre 1933 zu ziehen, wie ausländische Historiker — gewiß nicht alle — es tun. Nationaler und Machtstaats-Gedanke blieben vielmehr mit weltbürgerlichen Ideen bei den Vertretern des neuen Denkens noch eng verknüpft, auch bei Hegel. Bloße Selbsterhaltung genügte ihnen als Staatszweck nicht; auch waren sie keineswegs blind für die Versuchungen der Macht, denen ein starker deutscher Nationalstaat erliegen könnte. An einer universalen Aufgabe des deutschen Volkes wie am Gedanken einer europäischen Völkergemeinschaft hielt man durchaus fest. Gewiß erkannten und lehrten die großen deutschen Philosophen und Historiker jener Zeit, daß die Staaten im Kampf miteinander notwendig vom Gebot ihrer Interessen bestimmt sind, und sie wollten damit den Lebensfunktionen der geschichtlichen Mächte gerechter werden. Doch galten ihnen die „ewigen Gesetze der moralischen Weltordnung“ noch wie selbstverständlich.

Erst neue Erfahrungen, mächtige Tatsachen sollten hier weiterführen, vor allem die tiefe Enttäuschung über das Scheitern der Revolution von 1848. Bis dahin hatte in Deutschland neben den romantisch-konservativen Tendenzen ja eine mächtige bürgerlich-liberale Strömung gewirkt — auch sie romantisch beeinflußt, stärker jedoch von der Gedankenwelt Westeuropas geprägt. Ihr Glaube an die Unwiderstehlichkeit ihrer Ideale politischer Freiheit und nationaler Einheit wurde 1848 nicht zuletzt an der Widerstandskraft der deutschen Einzelstaaten und am Veto der europäischen Großmächte zuschanden. Niedergeschlagenheit und Zweifel erfaßten das deutsche Bürgertum und leisteten der Entwicklung zu einem sogenannten Realismus Vorschub, welcher den Wert und die reale Bedeutung universaler Ideen zu verkennen drohte: all das, noch ehe Bismarckscher Weg und Bismarckscher Einfluß zu dieser geistigen Wendung beitragen konnten. „Die Bahn der Macht ist die einzige, die den gärenden Freiheitstrieb befriedigen und sättigen wird", rief Dahlmann schon 1849 in der Frankfurter deutschen Nationalversammlung aus. Vier Jahre später schrieb August Ludwig von Rochau sein erregendes Buch: „Grundsätze der Realpolitik", in dem es hieß: „Weder ein Prinzip, noch eine Idee, noch ein Vertrag wird die zersplitterten deutschen Kräfte einigen, sondern nur eine überlegene Kraft, welche die übrigen verschlingt.“

Methode und Leistung Bismarcks erschienen nun allerdings der Vielzahl seiner deutschen Mitbürger wie die leibhaftige Verkörperung dieses neuen Realismus. Denn schuf Bismarck die deutsche Einheit etwa nicht durch unbekümmerte preußische Machtpolitik, über drei siegreiche Kriege, getreu seinem Worte: nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse würden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch Eisen und Blut? Dennoch war Bismarck nicht „der Apostel von Eisen und Blut", wie es ein amerikanischer Beurteiler will. Trotz allem, was man an seiner inneren Politik tadeln kann: Seine Außenpolitik war nach der Reichsgründung mit Erfolg darum bemüht, durch ihren friedlichen Charakter die Nachbarn „wenigstens bis zu einem tolerari posse mit der neudeutschen Kraftentwicklung zu versöhnen“, wie er selbst es bezeichnend formuliert hat. Bismarck wußte, daß zu den politischen Realitäten keineswegs nur handfeste äußere Macht gehört, sondern auch Gefühl und Interesse eben jener Nachbarn des in die Mitte Europas gelagerten Deutschland. Obgleich in seiner Realistik auch ein Mensch seiner Zeit, stand er doch universaler Überlieferung noch nahe genug, um chauvinistischen und völkisch-nationalistischen Zeitströmungen mit ihrer Sprengwirkung auf das europäische Staatensystem zu wehren. Manche angelsächsische Darstellung scheint die 20 Jahre Friedenspolitik Bismarcks kaum zu kennen. Als hohe Militärs 1887 den Präventivkrieg von ihm verlangten, erklärte er: „Wir sind kein Raubstaat, der Krieg führt, nur weil es eben einigen konveniert."“ Als später die nationalistische Phrase ertönte: „Uns fehlt ein Bismarck", da entgegnete ein deutscher Diplomat treffend: „Die Autorität eines Bismarck fehlt, aber nicht um eine schneidige Politik durchzuführen, sondern um die von ihm festgelegten Grundsätze der Mäßigung und Vorsicht einer unvorsidttig gewordenen öffentlidten Meinung gegenüber zu vertreten und zur Geltung zu bringen.“

Indes, Bismarck wurde von Zeitgenossen und Nachfahren teils mißverstanden, teils zum „Eisernen Kanzler“ in Kürassierstiefeln verfälscht. Zum Mißverständnis seiner „Realpolitik" hat er zweifellos selber beigetragen, nicht nur durch seine äußere Erscheinung, sondern auch durch sein Auftreten, seine zuweilen ostentative Geringschätzung von Rechtsfragen, Menschheitsidealen, geistigen Bewegungen, politischen Parteien, — kurz, durch das demonstrierte Bild des starken Mannes der Tat, nicht der „Reden und Majoritätsbeschlüsse". Doch vor allem war es wohl Bismarcks Erfolg, der im Zuge dieser ganzen Zeit den Blick der Menschen verengte, ihren „Realismus“ verflachte. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, daß in der Politik greifbare materielle Macht eine große Rolle spielte. Jetzt gerieten sie in die Gefahr, daraus den Schluß zu ziehen, daß es in der Politik allein auf die Macht und nicht auf das Recht ankomme. Dann aber machten sie aus einer Erfahrung eine Doktrin und verwandelten Realismus in Zynismus. Der Herold des Bismarckreiches, Heinrich von Treitschke, hält zwar noch daran fest, daß auch der Staat „notwendig unter dem Sittengesetz“ stehe; eine grundsätzlich unsittliche Politik sei „auch im höchsten Maße unpolitisch“; „denn eine Macht, die alles Recht mit Füßen tritt", müsse „schließlich doch zugrunde gehen". Aber wurden solche Warnungen nicht übertönt durch andere Lehrsätze Treitschkes selbst, wie: „Das Wesen des Staates ist zum ersten Macht, zum zweiten Macht und zum dritten nochmals Macht", oder: „Die Verleugnung der eigenen Macht ist für den Staat recht eigentlich die Sünde wider den Heiligen Geist"? Schon 18 87, in Bismarcks letzter Amtszeit, schrieb einer seiner Botschafter sorgenvoll in sein Tagebuch, das robuste Lebensgefühl der jüngeren deutschen Generation, „gepaart mit der auf alle menschlichen Verhältnisse, angewandten, zum Zynismus gesteigerten Bismarckschen Realpolitik“, könne „verderblich werden“. Es mußte für die Zukunft von größter Bedeutung sein, ob die noch vorhandenen christlich-humanitären Schran-ken fest und stark genug bleiben würden, solch verderbliche Entwicklung deutschen Denkens und Strebens zu verhüten.

Das Gegenteil geschah! Die Naturwissenschaften treten ihren Triumphzug an. Industrielle Revolution, Bevölkerungsvermehrung, Hochkapitalismus und moderne Technik — alles drängt in die gleiche Richtung. Mit der rapiden Materialisierung des Lebens und Denkens verliert das Christentum an Macht über die Geister. Diese Entwicklung ergreift seit 1840 die ganze Welt. Doch die Erschütterung des Christentums trifft Deutschland schwerer, weil es keine allgemeinverbindliche politische Überlieferung besitzt. Im Westen wirkt gegenüber den auch dort vorhandenen nationalistischen Strömungen das humanitäre Naturrecht als Bremse: der Einzel-mensch als Geschöpf Gottes oder doch als vernunftbegabtes Wesen verstanden, behält dort sein Recht auf Selbstbestimmung und damit die personale Würde. Im „realistischen“ Deutschland ist dieses Ideal bereits im Verblassen. Wohl denken noch viele so, wie es wiederum Treitschke ausspricht: „Nur dem Staate leben kann kein Christ, weil er seine ewige Bestimmung nicht aufgeben kann." Aber zur gleichen Zeit fordert der gleiche Treitschke: „Das Individuum soll sich opfern für eine höhere Gemeinschaft, deren Glied es ist.“ Und diese Forderung wird von manchen seiner deutschen Mitbürger bereits so verstanden, als ob die höhere Gemeinschaft das Individuum jedem beliebigen Zweck dienstbar machen dürfe, wie dies auch schon aus jenem weiteren Satz Treitschkes selbst herausgelesen werden konnte: „Von dem Recht des Widerstandes der Untertanen gegen eine Obrigkeit, die nach ihrer Meinung unsittlich ist, kann gar keine Rede sein.“

Die großen deutschen Historiker hatten das wahre Wesen der Außenpolitik als einen egoistischen Interessenkampf der Staaten miteinander enthüllt. Aber hinter und über diesem Kampf hatten sie immer noch eine letzte uner-forschliche Macht, die Hand Gottes über der Geschichte, spüren wollen. Wenn sie sich dem Verständnis für die Lebensbedingungen der Staaten und dem Gebot der Staatsräson für den verantwortlichen Staatsmann nicht verschlossen, so schützte sie vor der Gefahr einer Erschütterung der ewigen Wertordnung durch solche Geschichtsdeutung noch das Wissen um ein Unbedingtes — im Sinne der Mahnung eines Gustav Droysen: sein Gewissen sei jedem das absolut Gewisse, es sei für ihn seine Wahrheit und der Mittelpunkt seiner Welt. Aber der Zeitgeist drängte zur „Entzauberung der Welt“. Jetzt meinen die Menschen die letzten Geheimnisse entschleiern zu können. Die Naturwissenschaft entthront die Geschichte. Man sucht nun die Wahrheit gleichsam noch „unter der Geschichte“, nämlich in den „greifbaren“ Gesetzen der Natur, der Biologie. Es kommt die Stunde Darwins und seiner gefährlichen Ausdeuter.

Der englische Naturforscher Darwin meinte das Gesetz für Entstehung und Ausbildung aller lebendigen Arten im „Kampf ums Dasein“ gefunden zu haben. Alle Arten hätten sich durch »natürliche Auslese“ im Kampf allmählich hinaufentwickelt. Darwin und seine direkten Nachfolger blieben noch vorsichtig in ihren Konsequenzen. Um 1900 aber wandten — zumal in Deutschland — die extremen „Sozialdarwinisten“ die neuen Lehren auf Staat und Volk an. War es denn richtig, daß der moderne Staat das schwache Elemente schützte, dem kranken aufhalf, das lebensuntüchtige Element noch stützte? Sollte der Staat nicht lieber das gesunde, starke — „höherwertige“ — Element auf Kosten des sogenannten „minderwertigen“ fördern? Dann aber blieb der Einzelmensch nicht mehr „Mensch", sondern er wurde „Material" — zur beliebigen Verfügung des Staates. Und was wurde aus Recht und universaler Humanität? Schon hören wir (1895): „Die stärkere Rasse hat das Recht, die niedere zu vernichten": „alle kulturellen Errungenschaften, alle gesellschaftlichen Einrichtungen“ sind dem Gesetz des Daseinskampfes zu unterwerfen, sogar „die geltenden Anschauungen über Gut und Böse“; fort mit „Schmarotzern an der Gesamtheit“! Hier stoßen wir bereits auf totalitäres Denken. Und wir werden die absurden Ideen der Sozialdarwinisten gerade bei einem Manne wiederfinden, der Deutschlands Irrweg vollenden half: bei Adolf Hitler. •Hitlers Geburtsjahr (1889) fällt schon in das Zeitalter des Imperialismus. Kapitalismus und Technik, das Gefühl militärischer, wirtschaftlicher und kultureller Überlegenheit treiben die Großmächte in ein Wettrennen um Rohstoffquellen, Absatzmärkte, Siedlungsgebiete, Flottenstützpunkte. Sollte Deutschland, führende Macht und stärkster Industriestaat des europäischen Festlandes, von einer Weltströmung sich künstlich ausschließen? Auf Weltpolitik verzichten, nachdem einmal das Deutsche Reich geschaffen war? Woher sonst, nach Herstellung der deutschen Einheit, noch einen neuen Lebensinhalt nehmen? Und mußte nicht ein großer Staatskörper — nach biologischer Lehre — sich naturhaft entfalten, bis er auf einen anderen stieß, der mächtiger war? Scheiterte man dabei, nun, so hatte eben das sogenannte „Lebensgesetz“ entschieden, war man selber also „nicht schuld“ und im voraus entlastet. Natürlich erschien auch der Krieg nun in einem anderen Licht; er schien gleichsam natumotwendig, schicksalsbedingt, sittlich gerechtfertigt. In allen Ländern feierten moderne Denker ihn jetzt als „Wahrspruch der Macht“, „Erneuerung verfaulender Völker“ oder als „Stahlbad". Überstaatliche Rechtsordnung? Abrüstung? Internationales Schiedsgericht? — Widersinnige Träume, Schwärmereien, feige Sentimentalitäten! Politiker des Auslandes, die für so etwas eintreten, heucheln doch nur, denkt der Durchschnittsdeutsche. Manchmal heucheln sie wirklich. Besagt dies aber etwas gegen das sachliche Recht, den sittlichen Kern, die geistige Macht solcher Ideen?

Aber der Deutsche will „ehrlicher" sein, realistischer, heroischer. Er gefällt sich darin, alle „Illusionen" abzustreifen.

Und doch ging die deutsche Politik zwischen 1890 und 1914 an der grundlegenden außen-politischen Realität ihres Landes mehr oder weniger vorbei: an der Tatsache nämlich, daß Deutschland immer noch in der Mitte Europas lag, zwischen zwei Militärmächten, Frankreich und Rußland, die nun miteinander verbündet waren. Im Grunde war damit unserer praktischen Politik die Entscheidung für England vorgezeichnet, selbst wenn dieses ein förmliches Bündnis verweigerte. Oder es drohte uns Isolierung. Jeder Schritt Deutschlands in Übersee mußte auf diese europäische Situation abgestimmt sein, jeder Mißgriff dort sich hier doppelt auswirken. Bei der Erschließung der Welt fand das verspätet kommende Reich aber kaum einen Platz mehr. Unsicher und unberechenbar tastete seine Weltpolitik hin und her: Kaiser Wilhelms II. impulsives, unstetes Naturell, sein anspruchsvolles Auftreten schienen Ausdrude dafür. Man wird dabei kaum sagen können, daß diese Weltpolitik ausgesprochene Eroberungsziele besaß; sie wollte nur überall dabei sein, ohne das sichere Gefühl Bismarcks für ihre Möglichkeiten und Grenzen. Nah 1900 begann man mit dem Bau einer starken deutschen Kriegsflotte. Sie sollte England von einem Angriff auf Deutschland abschrecken, uns als Bündnispartner begehrenswert mähen, kurz, unser „Mitspracherecht" im Kreise der Weltmähte sihern. Aber der deutshe Flottenbau trieb England erst reht ins russish-französishe Lager und stiftete damit mehr außenpolitishen Shaden, als unsere Flotte im Kriege irgend leisten konnte. Der Flotte aber galt die Begeisterung der Nation, zumal unseres gebildeten Bürgertums. Von Krise zu Krise geriet die Reichsleitung mehr unter den Druck populärer nationaler Strömungen.

Wie sehr hatte sih doh das deutshe Nationalgefühl seit der Romantik gewandelt! Regungen nationaler Anmaßung und eines shwärmerishen Patriotismus, wie sie auh die Auflehnung gegen napoleonishe Fremdherrshaft hervorgerufen hatten, waren damals noh gezügelt worden von der verpflihtenden Idee einer europäishen Völkergemeinshaft. Nah 1871 aber entstand ein neudeutscher Nationalismus. Vom alten Preußentum wirkten in ihm statt Strenge und Nühternheit mehr dessen äußere Qualitäten der Organisation, der Disziplin und des formalen Gehorsams fort. Ein ungeistiger, emporkömmlingshafter Hang nah Geltung, nah Prestige trat hinzu. Im Grunde blieb das deutshe Nationalgefühl dieser Zeit innerlih unsiher. Bald nah 1871 haben Kulturkampf und Sozialistengesetz das junge Reih ja auh shwer belastet. Als Folge des Kulturkampfs wurde die große katholishe Parlamentspartei des Zentrums für Jahrzehnte als national unzuverlässig abgestempelt. Die zwölfjährige Verfolgung der sozialdemokratish organisierten Arbeiter aber — „vaterlandsloser Gesellen“, wie sie Wilhelm II. gar nannte — half eine Kluft zwishen Nationalismus und Sozialismus aufreißen. Deutshes Nationalbewußtsein entartete fast zur Par-teisache, zu einem Monopol der führenden bür-gerlihen Shihten. Sie verkannten, daß eine geshihtlihe Wandlung der Gesellschaft gebot, den Arbeiter zum gleihberehtigten Staatsbürger zu machen. Die inneren Gegensätze der jungen Nation aber steigerten ein begreifliches Verlangen nah Einheit, „Einigkeit", zum förmlihen Komplex, zu einem Fetish unseres innerpolitishen Lebens. Worauf aber die ersehnte innere Einheit gründen?

Wenn man die Machtpolitik und den Nationalstaat verherrlihte, so fehlte eine allgemeinmenshlihe Idee, die auh die europäishen Nachbarn hätte überzeugen können. Für den inneren Gebrauch griff man daher auf die eigene Geschichte, die eigene Volksart zurück, auf die deutsche Vorgeschichte, ja auf die germanisch-heidnische Mythologie. Man gründete die Zugehörigkeit zur deutschen Nation nicht, wie in Westeuropa, auf den freien Willen des Einzelnen, auf das Recht der Selbstbestimmung. Vielmehr wurde die deutsche Nationalität mehr und mehr nach den vom Einzelwillen unabhängigen, naturhaften Merkmalen gemeinsamer Abstammung, Sprache und völkischer Eigenart bestimmt — noch nidit nach den biologischen Kategorien von „Blut und Boden“, aber mit der Richtung dorthin. Es war gewiß kein Zufall, wenn der preußische Alt-Konservative Ludwig von Gerlach schon 1867 warnte, die „unverstandenen Worte“ Staat, Volk und Nationalität verwandelten sich „einem unter den Händen in Natur-substanzen oder Götzen, auf welche göttliches und menschliches Recht sich nicht anwenden läßt“.

Unterdessen trieb die Zeitströmung zum einheitlichen Nationalstaat selbst Bismarck und noch mehr seine Nachfolger in der Auseinandersetzung mit den nationalen Minderheiten des Reiches, namentlich den Polen, weiter als gut war: Denn mit der Bekämpfung der polnischen Sprache auch in der Schule, mit den Versuchen zur Germanisierung des Bodens — seit 1894 unter Vorantritt des unseligen Ostmarkenvereins — wurde im Endeffekt nur eine Vergiftung unseres Verhältnisses zum polnischen Gesamtvolk bewirkt. Und da dieser noch mit halbwegs rechtsstaatlichen Mitteln geführte deutsche Kampf nicht die gewünschten Erfolge einbrachte, wuchs bei radikalen Nationalisten die Neigung, den Weg der Gewalt zu beschreiten. Wie hatte Leopold von Ranke gesagt? „Die religiöse Wahrheit muß den Staat in fortwährender Erinnerung an den Ursprung und das Ziel des irdischen Lebens, an das Recht seiner Nachbarn und die Verwandtschaft aller Nationen erhalten; der Staat würde sonst in Gefahr sein, in Gewaltherrschaft auszuarten, in einseitigem Fremdhaß zu erstarren."

Tatsächlich gewannen die darwinistisch-biologischen Lehren der Zeit in verdünnter Form selbst auf Volksschichten Einfluß, die sich auf ihr Christentum noch etwas zugute hielten. Vollends verhängnisvoll aber wurde, daß die biologisch-totalitäre Denkweise auch die alten Spannungen zu den Juden vielfach in Haßgefühle verwandelte. Jene Biologisten verfügten ja in Gedanken schon über den Menschen wie über eine Sache, und die Unterscheidung zwischen höherwertigen und minderwertigen Arten führte unwillkürlich zur Überhöhung des eigenen Volkes. Wenige Jahre vor Darwins Entdeckungen hatte der Franzose Graf Gobineau die unwissenschaftliche Lehre verkündet, die Rasse sei der schlechthin bestimmende Faktor der Geschichte; die arische sei die wertvollste. Im Gefolge dieses Mannes, der selbst noch kein Antisemit war, griffen nun die Judengegner besonders in Deutschland die neuen Rassenlehren begierig auf, um ihre Haßtriebe zu verbrämen, scheinwissenschaftlich zu legitimieren. Waren aber die Eigenschaften des Juden „rassisch" bedingt, so konnte er sich auch durch die christliche Taufe nicht mehr von seiner Verfluchung lösen. Er war also als Angehöriger seiner Rasse unverbesserlich, von Natur minderwertig, war Schädling, und „Schädlinge" werden ja ausgemerzt. Die mitmenschlichen Beziehungen zum Juden wurden damit zerstört.

An sich war die rechtliche Gleichstellung der Juden in Deutschland seit 1812 weit fortgeschritten. Aber noch immer konnten sie praktisch kaum Reserveoffizier werden; und wie bedeutsam war der Reserveoffizier im Deutschland vor 1914 für die gesellschaftliche Stellung! LInter der Oberfläche wirkte zudem in breiten Schichten die Abneigung gegen die Juden als noch erkennbare besondere Minderheitsgruppe der Gesellschaft fort, deren „geheimnisvolles" Wesen der unausgefüllten Phantasie einer scheinbar so rationalen Zeit Nahrung geben mochte. Nach 1870 — sicherlich gefördert durch die große Wirtschaftskrise dieser Jahre — erschien nun im deutschen Sprachgebiet eine Reihe von Schriften, welche die Juden als Schädlinge bezeichneten, die unter Ausnahmerecht gestellt und eigentlich vernichtet werden müßten. Ja, man erklärte die Juden zum gemeinsamen Menschheitsfeind, der nach der Weltherrschaft strebe. „Erweckt die Bestie im Menschen nicht!", so warnte der linksliberale Abgeordnete Eugen Richter, „denn sie wird vor nichts haltmachen“. Bis 1914 blieb zwar die liberale und humanistische Tradition des deutschen Bürgertums noch stark genug, um den organisierten Antisemitismus über zahlenmäßig unbedeutende Gruppen nicht hinauskommen zu lassen. Doch haben die Werke Richard Wagners und des Engländers und Wahldeutschen Houston Stewart Chamberlain nicht nur die Gedankenwelt eines Adolf Hitler beeinflußt, sondern allgemein die antisemitischen Tendenzen im deutschen Bildungsbürgertum gefördert.

Dies gilt namentlich für jene bürgerlichen Aktivisten, die nach 1891 im „Alldeutschen Verband“ eine über ihre Zahl weit hinausreichende Bedeutung erlangten. Ihr Denken und Streben hat stark auf Hitler abgefärbt. Zusammenfassung aller deutschen Volksgruppen in der Welt, Bekämpfung der sogenannten „Volksfeinde“ in Deutschland, Schärfung des nationalen Selbstbewußtseins, Beherrschung Mitteleuropas, See-geltung, Lebensraum jenseits der Meere und ähnliches proklamierten die Alldeutschen als ihre „völkische“ Politik. Sie verkannten gänzlich, daß solche Überspannung und Vielfalt der Ziele die Existenz des jungen Reiches gefährden mußte, das sie zur Weltmacht erheben wollten. Mit einer erschreckenden Unbekümmertheit stellten sie England als Hauptgegner hin. „Weltmacht oder Niedergang“, „Hammer oder Amboß“ waren ihre Parolen. Gewiß erlangte der Verband keinen unmittelbaren Einfluß auf die amtliche deutsche Politik. Ist aber schon die Rolle beachtenswert, die manche seiner Führer, wie etwa Hugenberg, in späteren Jahren spielen konnten, so darf man erst recht nicht die Wirkung unterschätzen, welche die Alldeutschen kraft ihrer Querverbindungen zu anderen nationalen Organisationen (wie Flottenverein, Wehrverein, Ostmarkenverein) auf das deutsche politische Leben vor 1914 und die Mentalität des damaligen Bürgertums geübt haben. Hinzu kommt der Einfluß, den alldeutsche Schriften, voran die unter dem Decknamen „Einhart“ weit-verbreitete„Deutsche Geschichte" des Verbandsvorsitzenden Claß, noch auf eine nachfolgende Generation gewannen. Und was vielleicht das Schlimmste war: mit ihren überspannten Postulaten richteten die Alldeutschen gleichsam Maßstäbe vermeintlich nationaler Politik und Gesinnung auf, nach denen besonnene und wahrhaft nationale Politiker öffentlich beurteilt, unter Druck gesetzt oder diffamiert werden konnten. Was mußte es für das Verhältnis von Politik und Moral bedeuten, wenn (wie Claß anonym schrieb) „die sogenannte Humanität“ erst wieder „gelten" sollte, „wenn wir politisch ... reformiert" seien, oder wenn es in einer Schrift des Verbandes in „bestem" Sozialdarwinismus hieß: „Wie im Walde auf morschen Pflanzenresten der junge Nachwuchs emporschießt dem Lichte zu, . . . so gründen die Herrenvölker der Erde ihre Reiche auf dem von minderwertigen Arten ihnen bereiteten Boden!“ Noch aber waren solche Gedanken nicht maßgebend für die Mehrheit des deutschen Volkes oder für die Politik seiner Regierung.

War der vielberufene Militarismus ein weiterer Schrittmacher auf dem deutschen Irrweg, zunächst einmal bis 1914? Meint man damit eine bewußte Kriegstreiberei etwa des deutschen Generalstabes, so ist die Frage im ganzen zu verneinen. Aber damit ist das Problem durchaus nicht abgetan. Jahrzehntelang hat man in Deutschland kaum erkannt, was mit dem Vorwurf des Militarismus eigentlich gemeint war. Es geht dabei ja viel weniger um den äußeren Umfang einer Wehrmacht als um den übermäßigen Einfluß des Militärs und militärischer Denkweise in Politik und Gesellschaft. Seit den siegreichen Kriegen von 1866 und 1871 war nun das Ansehen unserer Armee außerordentlich gestiegen. Bismarck feierte sie als „Träger des nationalen Gedankens". Er hat zwar eine einheitliche Politik gesichert, aber nicht die unzweideutige Überordnung der politischen Führung über die militärische erreicht. Durch die bevorzugte soziale Stellung des „Reserveoffiziers“, doch auch durch manche anderen Kanäle, drangen einseitig militärisches Denken wie militärische Sprechweise in breite Schichten des Volkes. Zugleich übten die ungelösten sozialen Spannungen der Zeit hier eine fatale Wechselwirkung. Einem Großteil der sozialdemokratisch organisierten Arbeiterschaft erschien das Offizier-korps wie die Schutzgarde eines monarchischen Klassenstaates, und schon der natürliche politische Gegensatz zwischen „Rechts“ und „Links wurde durch die zunehmende Gleichsetzung von „national" mit „wehrfreudig“ — und von „demokratisch“ mit „wehrfeindlich" bedenklich verschärft.

Es kam der Erste Weltkrieg, den keine Regierung geradezu gewollt oder angezettelt hatte, auch die deutsche nicht. Ein Krieg solchen Ausmaßes stellte den Wirklichkeitssinn unseres Volkes auf eine denkbar schwere Probe. Nadi der ganzen letzten deutschen Entwicklung konnte sie kaum bestanden werden. Nicht nur eine große materielle Übermacht trat Deutschland entgegen, auch ideologisch waren wir völlig isoliert; denn unsere Abkehr von dem Denken der westlichen Welt wirkte sich jetzt verhängnisvoll aus. Ihrer geistigen Kriegführung, die sich zeitgemäßer universaler Ideen wie Selbstbestimmungsrecht , Demokratie und Völkerbund bedienen konnten, vermochte Deutschland eigentlich nur den Anspruch auf seine eigene Gleichberechtigung als Weltmacht entgegenzusetzen. Im Bewußtsein, einen Verteidigungskrieg zu führen, war das deutsche Volk in den Kampf eingetreten. Diesen Kampf zu bestehen, gab es allenfalls eine Chance: unerschütterlich den Charakter des Verteidigungskrieges festzuhalten und vor der Weltöffentlichkeit zu vertreten. Aber die großen Anfangserfolge unserer Soldaten benebelten vollends den Wirklichkeitssinn unseres Volkes und der meisten seiner führenden Geister und Politiker. Der kurzsichtige Nationalismus der Alldeutschen erhielt jetzt mächtigen Auftrieb und massenhaften Zulauf von unpolitischen Köpfen. Um die Kriegsziele entbrannte ein verhängnisvoller Streit. Zahlreiche Projekte deutscher Gebietserweiterung in West, Ost und Übersee wurden entworfen, an der polnischen Grenze z. B. bereits verknüpft mit Vorschlägen einer allerdings noch halbwegs „gewaltlosen“ Aussiedlung fremder Bevölkerungsteile. Schon 1916 schrieb Ernst Troeltsch den radikalen Nationalisten ins Stammbuch, sie dächten „naturalistisch und biologisch oder im Sinne altgermanisch-heidnischen Heldentums . . ., wenn nicht gar im Stile assy-rischer Deportationen“ l Doch die Befürworter eines „Siegfriedens“ verunglimpften jene, die einen Verständigungsfrieden empfahlen, um Deutschland vor Niederlage und Revolution zu bewahren, als Vertreter eines „faulen Verzicht-friedens“. Um den Siegeswillen nicht zu schwächen, verbargen Zensur und Propaganda allzu geflissentlich den Ernst der Lage. Trotzdem zerbröckelte die 1914 Erlebnis gewordene Volks-gemeinschaft. Die Überspannung der Kriegsziele trug das ihre dazu bei, den notleidenden Massen der Großstädte das Vertrauen zur Gerechtigkeit der deutschen Sache und zu den führenden Schichten zu nehmen; reichte doch die nationale Gesinnung dieser führenden Schichten selbst in solcher Zeit nicht so weit, den Arbeitern und Frontkämpfern durch Zustimmung zur Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts endlich die volle politische Gleichberechtigung zu gewähren.

Jetzt rächte sich auch die fortgeschleppte Unklarheit des Verhältnisses zwischen politischer und militärischer Führung. Getragen von der öffentlichen Meinung, konnte die Oberste Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff die politische Führung an sich reißen, um sie mit starrsinniger Ausschaltung aller gebotenen poli-tischen Mittel zu gestalten. Im Spätsommer 1918 stand die militärische Katastrophe bevor. Um sie zu vermeiden, zwang Ludendorff die Reichsregierung zu überstürzter Bitte an den amerikanischen Präsidenten Wilson um Waffenstillstand. Das bedeutete das Eingeständnis der deutschen Niederlage. In dieser Situation war selbst Ludendorff für die Bildung einer parlamentarischen Regierung unter Einbeziehung der deutschen Mittelparteien und der Sozialdemokraten, aber in der erklärten Absicht, ihnen das Odium für die militärische Niederlage aufzubürden, weil sie einen rechtzeitigen Verständigungsfrieden gepredigt hatten. Das war die Vorbereitung der Legende vom Dolchstoß in den Rücken eines vermeintlich unbesiegten Heeres. Mit Aussicht auf Erfolg konnte aber auch ein Ludendorff solch primitive Schuldverschiebung nur betreiben, weil er dabei der Exponent verbreiteter Vorurteile war. Die plötzliche Enthüllung der wahren Lage — nach Jahren ihrer Verkennung, ja Verschleierung — riß das deutsche Volk mit einem Male aus seinen Illusionen. Dies lähmte auch die Staatsgewalt und ihre tragenden Schichten. Schier unaufhaltsam kam es nach der Meuterei der Kieler Matrosen zur Revolution und am 9. November 1918 zum Sturz der Monarchie und zur Ausrufung der Republik.

II. Das Scheitern der Weimarer Republik

1918: unvermittelt, mit einem Ruck sozusagen, sollte Deutschland nun Demokratie werden. Die Voraussetzungen dafür waren wenig günstig, denn allzu viele Belastungen aus deutscher Vergangenheit und Gegenwart erschwerten den nötigen Wandel unserer politischen Grundanschauungen. Schon durch das aufgeklärte Fürstentum des 18. Jahrhunderts mit seiner modernen Verwaltung stand die absolute Monarchie in Preußen-Deutschland in besserem Andenken als in Westeuropa. Das Reformwerk der Freiheitskriege war ein Torso geblieben. Und seitdem hinter der bürgerlichen Erhebung von 1848 das Gespenst der proletarischen Revolution aufgetaucht war, suchte das deutsche Bürgertum Anlehnung an die führenden konservativen Kräfte. Der Sieg der Krone im preußischen Verfassungskampf und Bismarcks erfolgreiche Außenpolitik vollendeten diese Entwicklung. Nationaler Gedanke, Hegeische Überhöhung des Staates, Idealisierung der Macht, Militarismus, Kapitalismus wirkten jetzt zusammen, um deutsches Obrigkeits-und Ordnungsdenken zu fördern. Und das in einer Zeit, da im Zeichen des „Positivismus die Neigung wuchs, vom Staate in Gesetzesform festgelegte Rechtssätze ohne weiteres als Ausdruck und Verwirklichung der Gerechtigkeit anzusehen — also ohne mehr darauf zu achten, ob sie mit unverzichtbaren, inhaltlich bestimmten sittlichen Grundhormen in Einklang blieben. Der Bürger fand an dem wirtschaftlichen Aufstieg Genüge, wurde dafür politisch gleichgültiger und hielt sich an den Staat als solchen, den „Staat über den Parteien“, d. h.den Staat von Adel, Militär und Bürgertum, der ihm mit seiner hervorragenden Verwaltung die Eigenverantwortung abnahm, ihm Schutz vor sozialem Umsturz gewährte und dabei das »nötige Maß" von Recht und persönlicher Freiheit garantierte. Trotz alledem drängten Industrialisierung, Bevölkerungsvermehrung, Volks-bildung, Politisierung, allgemeine Wehrpflicht auch in Deutschland unausweichlich zur Demokratisierung. Aber es fehlte ihren Vorkämpfern bis 1918 an Zahl und Kraft, und der Krieg hatte die Abkehr der deutschen Bildungsschichten vom westlichen Ideengut noch verschärft. Auch die Novemberrevolution war nur eine Folge der militärischen Niederlage, kein entschlossener Durchbruch zu Demokratie und Freiheit. Vielen erschien diese Demokratie jetzt wie ein Import der Sieger, der Deutschland schwächen sollte.

Und auch die deutsche evangelische Kirche war nicht fähig, hier die Rolle eines Mittlers zu übernehmen. Sie verdankte von jeher Schutz und Hilfe des Landesherrn so viel, daß sie sich ein Leben frei und unabhängig vom Staat kaum noch vorzustellen vermochte. Ohnehin konnten die scharfe Betonung der Erbsünde, das Mißtrauen in die Natur des Menschen, einer Überbewertung von Autorität, Obrigkeit und Ordnung Vorschub leisten. Die Ideen der Französischen Revolution, der modernen Demokratie, erschienen danach als vermessene Anschläge menschlichen Aberwitzes auf eine durch Gott und die Geschichte bestätigte Gesellschaftsordnung. Die Verkörperung des Staates war der ausgleichend über allen Parteien stehende Monarch, die Vorstellung eines „Staates" aber als einer Vielheit von Gruppen — ein Greuel. Demokratische Elemente, wie der aufstrebende Arbeiterstand, hatten in solchem Denken keinen Platz.

Es war begreiflich, daß die evangelische Kirche sich von dem atheistischen Marxismus und seinen leibhaftigen Organisationen bedroht fühlte, daß sie also in ein Bündnis mit den Schichten geriet, die diesen militanten Sozialismus bekämpften. Aber blieb denn der evangelischen Kirche kein anderer, kein besserer Ausweg mehr? Konnte sie nicht den Sprung in die Freiheit wagen, sich vom Staate loslösen und — statt karitativen Wirkens für den Arbeiter — im Sinne Wieherns und anderer gemeinsam mit dem Arbeiter Sozialreform betreiben? Kämpfte doch die katholische Kirche — freier vom Staat und dem Naturrecht näher geblieben — mit Erfolg um die Seele des Arbeiters! Im Ersten Weltkrieg kam es dann von Seiten der evangelischen Kirche vielfach zu fataler Gleichsetzung von Christentum und deutscher Sache, ja deutschen Kriegs-zielen. Und schon am 20. Oktober 1918, Wochen vor der Novemberrevolution, findet sich in der „Evangelischen Kirchenzeitung“ das geschichtliche Fehlurteil: „Zusammenbruch hinter der Front — nicht Zusammenbruch unserer Heldenfront. Die Heimat hat nicht durchgehalten.

Entscheidend für eine Gesundung Deutschlands war jetzt, ob es zwei Lehren des Ersten Weltkriegs erkannte und anerkannte: die Realität der militärischen Niederlage und die Notwendigkeit demokratischer Lebensform. An beidem sollte es fehlen. Der schwere Irrtum weiter Kreise unseres Volkes, es habe sozusagen bis fünf Minuten vor zwölf alles noch ganz gut gestanden, bestärkte sie in der Meinung, es sei bei der plötzlichen, schockartigen Wendung des Krieges nicht mit rechten Dingen zugegangen. Der einfachen Wahrheit, daß viele Hunde des Hasen Tod sind, wollte sich ihr verletztes Selbstgefühl nicht beugen. Die wenigsten dachten darüber nach, warum Deutschland geistig in völlige Isolierung geraten war. Und wer die Schuld nicht bei sich selbst und seinen gestürzten Autoritäten suchen will, findet Sündenböcke schnell. Die Legende vom Dolchstoß der „Novemberverbrecher" wurde nicht nur die Lebenslüge eines bedrohten Heeres, wie man gesagt hat, sie wurde mehr oder weniger die Lebenslüge einer bedrohten bürgerlichen Gesellschaft überhaupt. Sie richtete sich gegen die Staatsmänner der neuen Demokratie, die das Erbe der Niederlage und der Fehler einer ganzen Nation auf sich zu nehmen hatten, und diffamierte sie als „Verzichtpolitiker". Es kam hinzu, daß der rasche Abschluß des Waffenstillstandes — von den Militärs dem Zivilisten Erzberger zugeschoben — eine militärische Katastrophe wie die von 1945 verhütet hatte, woraus sich als Kehrseite ergab, daß weiten Kreisen auch die Niederlage selbst nicht recht bewußt wurde.

Der Übergang zur demokratischen Staatsform, der Abschied von altgewohnten Vorstellungen, erforderte vom deutschen Volk ein hohes Maß politischer Vernunft. Aber gerade die Vernunft hatte jetzt an Kurswert stark verloren. Keineswegs nur in Deutschland — nein, in ganz Europa gab es nach 1900 eine Gegenströmung gegen den Rationalismus der modernen technischen Zivilisation, eine Art Triebrevolte, die der Weltkrieg noch verstärkte. In einem Bedürfnis nach seelischem Ausgleich, im Übermaß seines Zweifels, sucht der Mensch nach einem Religionsersatz, und er findet ihn — in Gestalt politischer Heilslehren. Sie erfüllen seine Sehnsucht nach einer besseren Welt, einem besseren Diesseits, geben ihm wieder Autoritäten und Führung und nehmen ihm den Zwang zu eigener Entscheidung ab. Schon der Marxismus mit seinem vermeintlich wissenschaftlich garantierten Glauben an den Endzustand einer klassenlosen Gesellschaft, in der der Mensch über den Weg einer gewaltsamen Diktatur des Proletariats endlich zu sich selber kommt und sich aus eigener Kraft erlöst, war eine solche Heilslehre. Andere politische Heilslehren, wie sie in Frankreich, Italien und Deutschland auftraten, lösen irdische Werte, wie die Nation oder die Rasse, aus der gegebenen Rangordnung heraus und erhöhen sie zu absoluten, zu Glaubenswerten. „Ich ging in die Politik wie in eine Religion", erklärt einer der neuen Propheten in Frankreich, und Alfred Rosenberg, Hitlers fragwürdiger Chefideologe, wird sagen: „Die rassengebundene Volksseele ist der letzte Maßstab unserer Werte.“

Der normale Begriff „Politik" paßte natürlich für eine solche Wert-und Vorstellungswelt, solche Diesseitsreligion in keiner Weise mehr; denn der normale Politiker fordert von seinen Anhängern doch nur Vertrauen oder ihren Stimmzettel bei der Wahl, Mitarbeit in den Organisationen der Partei, aber nicht ihren Glauben, ihre Seele. Die neuen Heilslehren hingegen verkörpern sich in „Bewegungen" unter „Führern“, die, gestützt auf den Totalitätsanspruch ihrer Idee, sich das Gewissen der Gefolgschaft verfügbar zu machen suchen. Aus Idee und Bewegung erwächst der „Mythos" für den politischen Kampf und treibt die Gefolgschaft zu unmittelbaren Aktionen der Gewalt, die als „Blutzeugen" gefeierte Opfer kosten. Auch in Deutschland gewinnt das Denken vieler junger Menschen durch den Krieg einen verstärkten Zug zum Vitalen, Willensmäßigen, und einen scharf antibürgerlichen Akzent. Was mußten die Folgen für ihr Verhältnis zu Politik und Moral sein, wenn ein einflußreicher Denker wie Os-waldSpengler allen Ernstes schrieb: „Der Mensch ist ein Raubtier. All die Tugendbolde, die darüber hinaus gelangen wollen, sind nur Raubtiere mit ausgebrochenen Zähnen, die andere wegen der Angriffe hassen, die sie selber weislich vermeiden. Das Leben in Gefahr, das eigentliche Leben der Geschichte, tritt wieder in sein Recht ... Das uralte Barbarentum ... wacht wieder auf ... Es gibt ein nordisches Weltgefühl . . ., voll Freude gerade an der Schwere des menschlichen Schicksals. Man fordert es-heraus, um es zu besiegen. Man geht stolz zugrunde, wenn es sich stärker erweist als der eigene Wille.“

Nie war eine junge deutsche Generation sich einiger in der Ablehnung westlicher Staatslehren, wie sie soeben der Weimarer Verfassung zum Vorbild gedient hatten. Diese ausgetüftelten Bestimmungen waren nach ihrem Gefühl widerwärtige Erzeugnisse der überschätzten menschlichen Vernunft. Statt dessen griff sie auf die Romantik zurück und stellte das „Volk" vor den „Staat“, aber nicht in demokratischem, sondern in einem mystisch-verabsolutierenden Sinne. Ihr schwebte das Ziel einer „wahren Volks-gemeinschaft“ vor, die im August 1914, wie gesagt, für kurze Zeit Ereignis geworden war und später in der „Schützengrabengemeinschaft“ des Weltkrieges gleichsam metaphysisch verklärt wurde. Man wollte den in Klassen gespaltenen Vorkriegsstaat mit seinem Vereins-und Hurra-patriotismus überwinden, um so die Kluft zwischen „Nationalismus“ und „Sozialismus“ zu schließen. Eine Fülle neuer Ideologien entstand rechts wie links. Gemeinsam waren ihnen ein nervöses und aggressives Element und die Verkennung der Realitäten. Auf der Rechten bemühte sich eine „jüngere“ Gruppe um eine vertiefte Erfassung des Volks-und Nationsbegriffs unter Besinnung auf das deutsche Volkstum und in betonter Solidarität mit Grenz-und Ausländsdeutschen. Der verstorbene Bundestags-präsident Hermann Ehlers hat später an dieser Richtung getadelt, daß sie einen völlig unbegründeten Gegensatz zwischen Demokratie und nationalem Gedanken konstruiert habe. Neben dieser jüngeren agitierte eine „ältere" Richtung, die eine geistig völlig anspruchslose Fortbildung jener antisemitischen Vorkriegsgruppen darstellte, aus deren Halbdunkel auch Hitlers NSDAP hervorging. Die Suche nach Sünden-böcken gab dem latenten Antisemitismus der Vorkriegszeit jetzt mächtigen Auftrieb. Eine hemmungslose, aber wirksame Agitation stempelte neben den „Novemberverbrechern" die Juden zu Urhebern allen deutschen Unglücks.

Daß in den ersten Jahren nach 1918 erhebliche und einflußreiche Teile des deutschen Volkes in den überkommenen Vorstellungen der Monarchie weiterlebten, war begreiflich. Sie verschlossen sich aber darüber hinaus auch der historischen Leistung der sozialdemokratischen Führer, die sich im Winter 1918/19 im Bunde mit Offizieren der alten Armee den radikalen Kräften entgegengestellt und ein Chaos verhütet hatten. Der Sozialdemokratischen Partei andererseits, jahrzehntelang in Opposition gehalten, fiel es schwer, nach dem Vorbild Friedrich Eberts den neuen Staat als den eigenen zu betrachten; sie war noch nicht vertraut mit den Bedingungen staatlicher Macht und Ordnung. Und auch der harte Friedensvertrag von Versailles, samt dem Deutschland einseitig belastenden Kriegsschuldartikel, erschwerte eine Festigung der Weimarer Republik. Deutschland schien mit den berühmten 14 Punkten des Präsidenten Wilson das Opfer eines Betruges geworden zu sein, und die deutschen Demokraten erschienen dabei als eine Art betrogene Betrüger. Auch die völlig unzeitgemäße Politik Frankreichs gab der deutschen Republik bis 1923 keine Chance. Um so mehr erblickte die bürgerlich-nationale Rechte in dem neuen Staat, der auch noch der alten Flagge entsagt hatte, nur eine Übergangserscheinung, die zusammen mit dem Versailler Vertrag wieder verschwinden müsse. Statt die Rolle einer konstruktiven, am Gemeinwohl mitarbeitenden Opposition auszuüben, versteifte sie sich auf eine grundsätzliche Ablehnung der neuen Ordnung. Die Reichswehr verharrte in einer kühlen Neutralität, an die sich hin und wieder Spekulationen der Republikfeinde knüpften. So entzog das fehlende Mindestmaß allgemeiner Überein-stimmung in Grundfragen dem Weimarer Staat die ausreichende Basis, seinem Reichstag und seiner Regierung die volle Arbeitsfähigkeit. Es war ein schwerer Schlag für diesen Staat, daß die Republikaner ihre Mehrheit im Reichstag schon 1920 für immer verloren. Das Übermaß an Zwiespalt aber, das dieser Reichstag infolge der Schwäche der demokratischen Parteien bot, bekräftigte die unpolitischen Deutschen in ihrer Abneigung gegen den modernen Parteienstaat überhaupt. Treffend stellte ein scharfer Beobachter bereits die Frage: „Sollten auch wir die parlamentarische Demokratie vernichten, um Konvent und Terror dafür einzutauschen?“

Dennoch wäre es ungerecht, vom Weimarer Staat simplifizierend als einer „Republik ohne Republikaner“ zu sprechen. Vielmehr gelang es den noch ungebeugten demokratischen Kräften, mit Hilfe einer manchmal schwankenden, am Ende aber loyal bleibenden Armee, die bürgerkriegsähnliche Periode von 1918 bis 1923 mit der Stabilisierung der Währung zu beenden. Frankreichs Versuch einer Abtrennung des Rheinlandes war gescheitert; sein Abenteuer an der Ruhr war schließlich unter dem Druck der angelsächsischen Hochfinanz geraten; Amerika gab seine mehrjährige, auch für Deutschland verhängnisvolle Abkehr von Europa auf. In den folgenden Jahren einer politischen und wirtschaftlichen Festigung seiner Lage erlebte Deutschland die erste Welle einer „Amerikanisierung“. Es war unser Fehler, daß wir dabei mehr von den äußeren Eigenschaften amerikanischer Lebensform aufnahmen als von ihren geistigen Grundlagen. Gustav Stresemann, der zwar unter den Bedingungen seiner Zeit noch kein „europäischer" Politiker im Sinne späterer Maßstäbe sein konnte, sich aber vom Nationalsten zum nationalen Realpolitiker gewandelt hatte, bahnte 1925 in Locarno eine Verständigung mit dem Westn an. Sie bedeutet Frankreichs endgültigen Verzicht auf Festsetzung am Rhein und führt zur Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund. Auf der anderen Seite aber konnten weder die deutschen Staatsmänner noch das deutsche Volk die Belastungen der Vergangenheit so weit überwinden, um auch ein gesundes Verhältnis zu unseren polnischen und tschechischen Nachbarn zu gewinnen, die allerdings durch ihr französisches Bündnis in eine antideutsche Stellung gebracht worden waren. Und doch: war nicht die Zurückdrängung Rußlands das große Positivum der Versailler Ordnung? Im ganzen blieben die Erfolge der Weimarer Republik immer hinter dem zurück, was ein ungeduldiges deutsches Volk von ihr erwartete und forderte. Jeden zeitweiligen Rückschlag erklärten die Gegner der Demokratie zum Beweis dafür, daß die Verständigungspolitik mit dem Westen überhaupt verfehlt sei. Die beschwerliehe Entwicklung des Völkerbundes, der vielen wie ein Bund der Sieger zur Wahrung ihrer Beute erschien, bestärkte manchen jungen Nationalisten in der Verleugnung gemeineuropäischer Werte und Verpflichtungen zugunsten verstiegener Ideen eines Zusammenschlusses mit dem bolschewistischen Osten. Auch innerpolitisch schwelte es unter der Oberfläche fort. Die Grundlagen unserer heutigen Sozialverfassung hatte die Weimarer Republik schaffen, und sie hatte die Reichseinheit sichern können. Auf sozialistische Experimente hatte Friedrich Ebert, bis zu seinem Tode im Jahre 1925 Reichspräsident, angesichts der innen-wie außenpolitischen Not nach 1918 und der Entwicklung in Rußland verzichtet. Die gesellschaftliche Stellung der führenden Schichten des Bürgertums war im Grunde nach wie vor unangetastet; doch an ihrer nega-, tiven Einstellung zur Republik und zur Zusammenarbeit mit den demokratischen Kräften änderte dies nichts. In Hindenburg, dem kaiserlichen Feldmarschall des Weltkrieges, gab die Mehrheit der deutschen Wähler 1925 der Demokratie einen Präsidenten, der kein Demokrat war: deutliches Zeichen für die geringe ideelle Verwurzelung der neuen Ordnung im breiten Volk. Die Reichswehr wurde auch jetzt nicht heimisch in der Republik, und neben der „unpolitischen" Armee standen eine „unpolitische“ Wirtschaft, eine „unpolitische" Bürokratie und eine „unpolitische“ evangelische Kirche — sämtlich mit inneren Vorbehalten gegen den neuen Staat. In einer allzu formalen, nicht einmal die Anerkennung ihrer Grundprinzipien verlangenden Auffassung von Demokratie stellte die Weimarer Republik schließlich selbst ihren erklärten Feinden die demokratischen Mittel in einem Maße zur Verfügung, welches die Aufrechterhaltung der allgemeinen Freiheit gefährdete. Kein Staat aber, der durch eigene Schwäche Zweifel an seiner Daseinsberechtigung aufkommen läßt, kann auf die Dauer bestehen. Daß politischen, zumal verfassungsfeindlichen Gruppen gar militärähnliche Formationen gestattet wurden, war ebenso grotesk wie gefährlich.

Hitlers Partei war 1928 noch schwach. Er hatte aber trotz seines Münchener Putsches von 1923 so milde Richter gefunden, daß er sich längst wieder politisch betätigen konnte. Wie dachte, was wollte er damals?

Soweit Hitler einer Ideologie folgte, war er primitiver Sozialdarwinist. Kampf ist für ihn das Lebensgesetz, denn Selbsterhaltungs-und Fortpflanzungstrieb zwingen nach seiner Meinung die Völker zu ewigem Kampf — um den Lebensraum. „Mehr Lebensraum" verlangt Hitler für Deutschland mit der Behauptung, daß seine hohe Volkszahl eine größere Emährungsbasis erfordere — aber zugleich will er diese Volkszahl ständig vermehrt wissen, damit Deutschland den „jeweils nötigen“ Lebensraum jeweils erkämpfen kann: Machtsteigerung, im Grunde um ihrer selbst willen, schwebt ihm also vor. Und je mehr sich Deutschland seines „höheren Rassewertes“ bewußt werde, desto erfolgreicher könne es „Raumpolitik“ treiben: ein nationalistisches Wunschziel, genährt von nationalistischen Wunschgedanken, welche die realen Machtverhältnisse ignorierten. So will Hitler keineswegs nur die Revision des Versailler Vertrages, will er nicht, wie die „kleinmütigen“ nationalen Bürger, „nur“ alle deutschbewohnten Gebiete heimholen, nein, er will ein deutsches Großreich auf Kosten der Ostvölker, die er für rassisch minderwertig erklärt, so daß sich ihr Grund und Boden Deutschland als lockende Beute geradezu anbietet.

Waren es diese Ziele, war es seine sogenannte „Weltanschauung", womit Hitler sich durchsetzte? Von einer in sich geschlossenen Ideologie kann beim Nationalsozialismus ja nicht die Rede sein, höchstens von gewissen ideologischen Bruchstücken wesentlich biologisch-materialistischer Natur, mit jenem scheinwissenschaftlich genährten Judenhaß als einem Hauptstück — dazu Lebenskampftheorie, Überhöhung des eigenen Volkes und Führerprinzip. Der fragmentarische Charakter des Ganzen hinderte aber keineswegs seine doktrinäre Verhärtung zu einer Art angemaßter Weltanschauung, zu einem „politischen Glauben" von radikaler Dynamik und totalitärem Anspruch auf Unterwerfung des Gewissens unter Partei-und Führerbefehl. Was jedoch Hitler jetzt Anhang verschaffte, das waren mehr vordergründige Parolen und Ziele. Seine „Partei“ wollte ja angeblich mit den Parteien überhaupt aufräumen. Und das bedeutete für viele Zeitgenossen keineswegs eine Bedrohung der Freiheit, sondern eine erlösende Verheißung: das Ende der deutschen „Zwietracht“, die Volksgewemsdtaft — als Ziel und Inhalt einer wieder „sinnvoll“ werdenden Politik! Führerprinzip: scheinbar die Wiederaufrichtung von Autorität und Ordnung — unter Vorrang des Gemeinwohls. Nationalismus: Balsam für das verletzte nationale Selbstgefühl und Garantie für den Wiederaufstieg — denn Mangel an nationaler Leidenschaft sollte ja den Verlust des Krieges verschuldet haben. Sozialismus: in Hitlers Mund eine geistlose, aber werbefähige Parole, letzten Endes zum Zwecke solidarischen „Einsatzes" aller im machtpolitischen Dienste der Führung, nicht im Sinne sozialer Gerechtigkeit um ihrer selbst willen. Ein Großteil der jüngeren deutschen Nationalisten dieser Zeit ist zwar von der Ungeistigkeit des Nationalsozialismus abgestoßen worden. Aber auf Grund ihrer trotzigen Verneinung der außenpolitischen Wirklichkeit, ihrer Sucht nach absoluten Werten und ihrer fatalen Neigung zur Gewalt förderten sie eine Gedankenwelt, deren Auswirkung jenseits ihrer Kontrolle lag. 1926 konnte man bei Friedrich Georg Jünger lesen: „Der Wille des Nationalismus... geht nach dem zuchtvollsten, gegen seine Gegner ungerechtesten Staat.... Er wird getragen von dem glühenden Fanatismus nationalistischer Gesinnung, die auf schonungslose Beseitigung jeder Gegnerschaft ausgeht . . . Im Zeitalter der Maschinen erscheint kein Mittel mehr als verwerflich .. . Die nationale Bewegung will keine Parteien, Parlamente, Wahlrechte mehr, nicht mehr den Hagelschlag des Geschwätzes .. . Die nationalistische Revolution geht ihren Weg. Ihre gärenden Gewitter werden nicht mehr lange auf sich warten lassen. Und man kann von ihnen nur wünschen: Möge der Ausbruch furchtbar sein!“ Soweit der Sieg des Nationalsozialismus einer geistigen Vorbereitung bedurfte, die diesen Namen verdient, haben solche nationalen Gruppen sie für ihn geleistet — gegen ihre Absicht, aber nicht ohne ihre Schuld.

Und nun brach 1929 die Weltwirtschaftskrise wie eine Naturkatastrophe herein. Sie führte in Deutschland zunächst zum Ende des Parteien-staates. Ohne zwingenden Grund kam es zum Sturz der letzten parlamentarischen Reichsregierung. Mehr als je erschienen ja die Parteien als Wurzel allen Übels, obwohl im Grunde nicht die demokratischen Institutionen „schuld" waren, sondern der mangelnde Sinn der Menschen für ihre tragenden Prinzipien und deren Werte und für die pluralistische Entwicklung der Gesellschaft. Nun wollte man mit Hilfe des Reichs-präsidenten gleichsam den einstigen „Staat über den Parteien" wiederherstellen. Die Reichswehrführung hat diese Entwicklung gefördert. Als Chef einer neuen, praktisch nicht mehr an das Vertrauen einer parlamentarischen Mehrheit gebundenen Regierung machte sich der Zentrumsabgeordnete Brüning, ein Mann von hohen Qualitäten, zum Sachwalter der Staatsnotwendigkeiten gegenüber den streitenden Interessengruppen. Aber es sollte sich zeigen, daß seine schließlich halbautoritäre Beamtenregierung mit den bestimmenden politischen Kräften der Zeit nicht mehr fertig wurde. Der scheinbar in kühler Ferne von den Tagesnöten und Stimmungen des Volkes unbeirrt waltenden Sachlichkeit Brünings entzogen am Ende selbst solche Kreise ihre moralische Unterstützung, die zu materiellen Opfern bereit waren. Auch mußten Formen und Klima einer obrigkeitsstaatlichen Regierung, deren Praxis die demokratischen Prinzipien ja zu „widerlegen" schien, die noch vorhandenen Abwehrkräfte gegen den Nationalsozialismus eher lähmen. Dennoch wäre das gefährliche Unternehmen als Übergangslösung vielleicht geglückt, hätte sich der nunmehr ausschlaggebende Faktor, der betagte Reichspräsident von Hindenburg, ebenso vorbehaltlos mit der Staatsräson gleichgesetzt wie sein Kanzler. Brüning wiederum gab den noch möglichen Rückhalt an den staatsbejahenden Parteien des Reichstages mehr und mehr auf und geriet damit in Abhängigkeit von Hindenburg, der stets dem Einfluß seiner nächsten Umgebung zugänglich gewesen war und der persönliche Belastungen scheute. So wurde Brünings Verhältnis zum Reichspräsidenten zur Achillesferse seiner Regierung, ja, im Lichte dessen, was kam, zur Achillesferse von Verfassung und Rechtsstaat.

Eine Arbeitslosenzahl von schließlich sechs Millionen mußte der Radikalisierung Vorschub leisten. Sie sollte jedoch nicht in erster Linie den Kommunisten zugute kommen. Denn neben den Arbeitern traf die Krise die Landwirtschaft und jene bürgerlichen Volksteile, die schon durch Kriegsverlust und Inflation gelitten hatten. Sie traf (in und neben ihnen) den gewerblichen Mittelstand und nicht zuletzt die neue, iasch an Zahl gewachsene Schicht der Angestellten, die sich im Rahmen eines sozialen Umformungsprozesses, marxistischer Theorie zum Trotz, zwischen die Reste des alten Bürgertums und die Arbeiterschaft geschoben hatte. Die Krise bedrohte also mit der Proletarisierung Gruppen, die keine Proletarier werden oder keine mehr sein wollten. Zumal jene breite, bislang politisch indifferente Mittelschicht von Kleinbürgern, gesellschaftlich gleichsam „heimatlos“ einem immer unübersichtlicher gewordenen Wirtschaftsprozeß preisgegeben, neigte in ihrem vagen Ressentiment gegen „System“ und „Parteien"

zu „einfachen“ Erklärungen ihrer Lage und zu „kompromißlosen" Entscheidungen. So flüchteten sich gerade diese Entwurzelten in eine emotiell überspannte Vorstellung von Volksgemeinschaft unter einem „Führer“, der ihnen soziale Gerechtigkeit und Selbstachtung zurückgeben, ja überhaupt ihre aus den Fugen geratene Welt einrenken würde: Sie wurden damit zugleich anfällig für Dynamik und Parolen eines radikalen Nationalismus mit antikapitalistischem Einschlag und totalitärer Tendenz. Dies galt unter der jüngeren Generation der Zeit in besonderem Maße für ein ebenfalls politikfremdes, vorwiegend technisch interessiertes Element, dem „Effektivität“ wichtiger erschien als Diskussion und Toleranz: Hitler wußte, warum er jetzt und später als Anwalt technischen Fortschritts auftrat. Jedenfalls gelang es ihm, durch Radikalität und demonstrierte Kraft in diesen Schichten „Masse" anzusprechen, zu fanatisieren und eben dadurch — wie er sagte — „lenkbar“

zu machen. Um so folgenschwerer war es in solcher Lage, daß Hugenberg — einst Mitbegründer des Alldeutschen Verbandes, jetzt Presse-und Filmmagnat und zugleich Exponent schärfster Opposition seiner Deutschnationalen Partei gegen Weimar — verblendet die Grenze zwischen der alten politischen Rechten und den Nationalsozialisten verwischte und diese trotz ihrer Methoden als Partner akzeptierte. Kreise oder einflußreiche Persönlichkeiten der Schwerindustrie, der Bankwelt und des Großgrundbesitzes folgten in der Annäherung an Hitler, den Überwinder des „Marxismus“, ohne daß dem ausschlaggebende Bedeutung beizumessen wäre.

Es kam die verhängnisvolle Reichstagswahl vom 14. September 1930 mit dem Emporschnellen der nationalsozialistischen Abgeordnetenzahl von 12 auf 107. Jetzt erkannten die Nationalsozialisten erst wirklich ihre Macht und ihre Möglichkeiten. Hitler selbst hatte soviel Zulauf, wie er aus bürgerlichen Kreisen erhielt, ursprünglich gar nicht erwartet. Meinte er doch noch zwei Jahre zuvor, vieles, was ein Nationalsozialist für selbstverständlich halte, erscheine „dem deutschen Bürgertum als unbegreiflich oder gar grauenhaft“ . . , Hitler hat unsere politische Moral zweifellos überschätzt. War aber bei einem Menschen dieser Zeit der Elementarsinn für Humanität in der Politik einmal angeschlagen oder erschüttert, so konnte er der Versuchung des Nationalsozialismus erliegen, der in seiner Vieldeutigkeit jedem etwas zu bieten schien. Für manchen, der noch halbwegs geeignet gewesen war, aus den gegebenen politischen Tatsachen das Beste zu machen, wurde Hitlers Partei nach ihrem großen Wahlerfolg zur verlockenden Chance, alles von Grund auf zu ändern. Andere glaubten, eigene Ideale in der nationalsozialistischen Programmatik wiederzufinden oder die Vereinbarkeit beider entdeckt zu haben. Wieder andere vermeinten, sich der „unwiderstehlichen“ Bewegung, in der soviel echter und verfälschter Idealismus lebte, anschließen zu sollen, um sie vor Irrwegen zu bewahren. Trotzdem behielt der Nationalsozialismus in den Augen zahlreicher bürgerlicher Wähler neben anziehenden Zügen auch abstoßende. Wenn dennoch ein Großteil von ihnen das Negative hinter das vermeintlich Positive zurückstellte, so hat dazu über Kommunistenfurcht, Marxistenund Judenhaß und selbst wohl über soziale Not hinaus das überreizte Nationalgefühl den Haupt-beitrag geleistet. Verstand Hitler es ja auch, eine untrennbare Verknüpfung der nationalen und der sozialen „Knechtschaft“ zu propagieren! Bei den Angehörigen und Sympathisierenden der Partei aber trat nach und nach eine Art Psychose ein, gegen die kein sachliches Argument, keine der Blößen, die der Nationalsozialismus sich selber gab, kein erreichter oder sich anbahnender Erfolg Brünings noch etwas auszurichten vermochten. Denn kein einmal wirklich gewonnener Hitler-Anhänger wollte sich sein Wunschbild mehr zerstören lassen. Dieses Wunschbild war aber weder das Parteiprogramm noch die sogenannte Weltanschauung des Nationalsozialismus, sondern die nationale und soziale Erneuerung durch Überwindung aller inneren Spannungen, die höhere Einheit der Nation.

War nicht erkennbar, was drohte? Sicherlich überstieg das, was nach 1933 und gar nach 1939 geschah, das Vorstellungsvermögen fast aller. Was Hitler in seinem Buche „Mein Kampf" geschrieben hatte, mochte auch in den Augen derer, die es wirklich lasen, keine zwingenden Schlüsse auf sein Handeln im Rahmen harter Realitäten und praktischer Verantwortung gestatten. Aber schon die Form seiner Agitation, die Brutalität, die er vertrat und duldete, seine Falschheit gegenüber dem Partner, mußten eigentlich für sich selbst sprechen. Doch der Sinn für Moral auch in der Politik war bei unseren maßgebenden und erfahrenen bürgerlich-nationalen Politikern nicht sonderlich stärker als bei dem Durchschnitt ihrer Anhänger und jedenfalls nicht stark genug, um sie erkennen zu lassen, mit wem man paktieren darf und mit wem nidit. In nationaler und gesellschaftlicher Befangenheit versäumten sie, gegen Hitler einen Trennungsstrich zu ziehen, wie er etwa von der Soialdemokratie gegenüber den Kommunisten letzten Endes stets gezogen worden ist. Das entscheidende und gefährlichste Element des Nationalsozialismus aber, sein totalitärer Anspruch, sich den Menschen im Zeichen einer verabsolutierten Idee verfügbar zu machen — diese eigentliche Voraussetzung auch der schlimmsten Verbrechen des Hitler-Regimes —, entging in seiner realen Bedeutung offenbar gerade dem „praktischen" Politiker der Zeit, gleich welcher Richtung, so gut wie völlig. Auch einem großen Teil der deutschen Bildungsschicht fehlte hier der sichere Maßstab: soweit er überhaupt die Ereignisse von und vor 1918 innerlich verarbeitet hatte, neigte er in dem von der geistigen Entwicklung geförderten Vorsatz, jeder geschichtlichen Erscheinung in ihrer Eigenart gerecht zu werden, zu einer „Relativierung der Werte“, mit der die Orientierung an einem Unbedingten verlorenging. Lind selbst in den nicht ganz wenigen Warnungen kirchlicher Kreise vor 1933 findet sich jenes entscheidende Element des Nationalsozialismus zumindest auf protestantischer Seite nur selten so klar erkannt und entlarvt wie von einem jüngeren Theologen, der unbeschadet nationaler Einstellung vom Boden des Evangeliums her zur einzig sachgerechten Diagnose gelangte: daß nämlich „die absolute Gehorsamsforderung des Staates, die sich nicht in sich selbst begrenzt weiß durch etwas, was jenseits des Staates ist und seinem Zugriff sich entzieht, . . . eine Entleerung und Erniedrigung des Menschen bedeuten würde“, daß daher die „Absolutsetzung eines politischen Ziels und der Gruppe, die dies Ziel erstrebt . . . mit Grauen erfüllen müsse"; daß im übrigen jener „utopische Revolutionismus“ mit seiner „messianischen Zukunftserwartung“ des Dritten Reiches -ein Utopismus, der „durch das nationale Vorzeichen nicht besser wird" und dessen Propaganda „die Wahrheit der Wirkung unterordnet" — der ärgste Feind des echten Realismus sei!

Dies waren — im Jahre 1932 — mögliche Erkenntnisse, die wenig später für eine wachsende Zahl von Deutschen erlebte Wirklichkeit wurden, vorerst jedoch den meisten verschlossen blieben. Voraussetzung für eine erfolgreiche Bekämpfung des Nationalsozialismus aber wäre ein über weltanschauliche und politische Gegensätze hinweg bewahrtes Bewußtsein für die Gültigkeit fundamentaler Normen gewesen und damit auch für ihre Bedrohung durch Hitler und für die Notwendigkeit ihrer gemeinsamen Verteidigung. Doch der Sinn für Recht, Freiheit und elementare Menschlichkeit war vor 1933 in uns nicht mehr lebendig genug, und so ahnten die allerwenigsten, was auf dem Spiel stand.

So ergibt sich wohl das Bild einer bedrückenden Zwangsläufigkeit. Und solche Täuschung -denn es ist eine Täuschung — liegt nahe, wenn eine erklärende Rückschau verfolgt, wie historische Gegebenheiten, menschliche Schwächen und gewiß auch mächtige Ereignisse, die wiederum Fehlentscheidungen Vorschub leisten, gleich einer Kettenreaktion einander steigern, bis der beschrittene Irrweg endlich wie unentrinnbar der Katastrophe zutreibt. Vom Walten bloßen Verhängnisses über einer deutschen Entwicklung von Jahrzehnten aber wird nur sprechen können, wer verkennt, wie weit denn doch eigenes Versagen — unbeherrschte Emotion, schroffe Mißachtung von Realitäten, Verzicht auf letzte Werte zumal — auch eine historische Schuld begründet: unleugbar selbst vor der Naturgewalt einer Krise, deren besondere Auswirkung in Deutschland kein Zufall war. Gewiß gilt für die geistige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach 1930 weitgehend schon das Wort: „Es ist zu spät, die Waffen zu schleifen, wenn der Kampf beginnt.“ Und doch enthielt der Ablauf der Dinge durchaus noch Möglichkeiten einer Wendung. Hitlers Partei hat sich mehr als eine Blöße gegeben, die entscheidende Maßnahmen der Reichsregierung gerechtfertigt, ja geboten hätte. So etwa die Affäre der „Boxheimer Dokumente", die verdächtige Spekulationen auf einen „Wegfall" der republikanischen Staatsgewalt durch kommunistischen Umsturz enthielten und die einen Begriff davon gaben, wie deren Führung einmal errungene Macht gebrauchen würde. Und was gilt erst von dem „Fall Potempa“! Eben noch, am 12. August 1932, hatte das amtliche Organ der Partei einer Notverordnung der Reichsregierung, die politische Bluttaten mit der Todesstrafe bedrohte, den — so aufschlußreichen — Kommentar gegeben: „Eine nationalsozialistische Notverordnung würde hier ganz anders durchgegriffen haben“, nämlich „durch die sofortige Verhaftung und Aburteilung aller kommunistischen und sozialdemokratischen Parteifunktionäre ... und die Unterbringung Verdächtiger und intellektueller Anstifter in Konzentrationslager“! Als aber einen Tag später fünf Nationalsozialisten einen Kommunisten bestialisch ermordet hatten und dafür zum Tode verurteilt wurden, da erklärte Hitler in einem persönlichen Telegramm an die Täter sich mit ihnen als seinen „Kameraden“ in „unbegrenzter Treue verbunden"! Schon damals verleugnete er offen das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz.

Ohne zwingende Notwendigkeit war inzwischen auch der nunmehr wichtigste politische Faktor, der Reichspräsident von Hindenburg, in seiner Haltung schwankend geworden. Sein Wunschbild war, wie er selber schrieb, „eine gesunde Entwicklung nach rechts". Obgleich Brüning noch in aussichtsvollem Kampfe stand, hat ihn Hindenburg ohne Not entlassen. Auch den letzten Kanzler der Republik, den General von Schleicher, entließ er im Grunde ohne zwingende Not. Hitler wurde Reichskanzler, obwohl er nie einen Zweifel darüber gelassen hatte, daß seine feierlich beschworene Legalität nur für „die Methoden“ galt, aber nicht füt sein „Ziel“, den Staat „in die Form zu gießen, die unseren Gedanken entspricht“. Wem es freilich genügte, daß die bloßen Verfahrensregeln für einen Regierungswechsel gewahrt blieben, wer die Auffassung gelten ließ, daß mit verfassungsändernder Mehrheit auch die Verfassung selbst beseitigt werden durfte, der konnte die Berufung eines Hitler für legal halten. „Selbstverständlich legal im Sinne der äußeren Buchstabentreue“, hat sie ein nationalsozialistischer Verfassungsrechtler von Rang genannt, wobei er jedoch ehrlicherweise hinzufügte: Niemand werde „behaupten, daß es dem inneren Sinn der Weimarer Verfassung entsprochen" habe, „daß hier ihr geschworener Feind an die Spitze des Reiches gestellt wurde". Wie Hitler selbst es mit der „Legalität“ zu halten gedachte, verrät sein Wort nach dem Einzug in die Reichskanzlei: „Keine Macht der Welt wird mich jemals lebend hier wieder herausbringen!"

III. Das Dritte Reich

Die letzten Etappen des Weges zur Katastrophe tragen als Ganzes den Stempel von Hitlers Wesen, Welt-und Menschenbild. Mit den „Lehren“ der Geschichte, die ja ein Abbild des „bisherigen Lebenskampfes der Völker“ sei, begründete er die Politik, die ihm seit langem vorschwebte und die er nun durchführen wollte. Aber nicht um wirkliche Lehren der Geschichte handelte es sich, sondern um Deutungen, die Hitler seiner eigenen Vorstellungswelt entnahm; und diese war wesentlichen Realitäten verschlossen, doch offenbar um so mehr von seinen Wunschzielen bestimmt. Die Erfahrung, daß, wenn es „in der Natur“ zu einem Existenzkampf kam, in der Regel der Stärkere Sieger blieb, übertrug er ohne weiteres auf die Auseinandersetzung menschlicher Organisationen und erhob jene Erfahrung zu einer Doktrin für die praktische Politik. Daß der verantwortliche Staatsmann gewisse Faktoren als unabänderlich anzuerkennen und (in Anbetracht der Gefahren eines Existenzkampfes) den Grenzen der eigenen Kraft von vornherein Rechnung zu tragen habe, wollte Hitler grundsätzlich nicht gelten lassen: denn „Schwäche" war kein mildernder Umstand in „seiner" Weltordnung zugunsten des Stärkeren, die im Sinne einer angeblich höheren Gerechtigkeit den Begriff der Humanität nicht kannte. Wehe daher dem Volk, das eine „falsche Erziehung“ den Gesetzen der Natur entfremdete! „Am Ende“, so schrieb er, „siegt ewig nur die Sucht der Selbsterhaltung. Unter ihr schmilzt die sogenannte Humanität als Ausdruck einer Mischung von Dummheit, Feigheit und eingebildetem Besserwissen wie Schnee in der Märzsonne.“ Den Existenzkampf hielt Hitler im Grunde für unausweichlich: es blieb dann nichts übrig, als sich auf ihn einzurichten und das eigene Volk zum stärksten zu machen. Hitler wollte nicht daran zweifeln, dies Ziel (das seine Anschauungen sichtlich vorbestimmt hat) erreichen zu können, und er war jedenfalls entschlossen, es hemmungslos und mit allen verfügbaren Mitteln anzustreben: selbst die »Ideale", die man dem Volke „gab“, sollten so hat er bezeichnend gesagt) allein diesem „Zweck dienen“ — oder sie waren „von Übel"! Um Macht — und um Macht allein — ging es ihm.

„Sinn“ aller inneren Politik Hitlers war daher, das Kräftepotential des deutschen Volkes zu vervielfachen, um es für seine überspannten außenpolitischen Ziele „einsetzen“ zu können. Das Mittel dazu aber war in seinen Augen die „Gleichschaltung“, zunächst die organisatorische, dann die geistig-seelische. Keineswegs wollte er sie allein mit Gewalt erstreben, so sehr er entschlossen war, seine Denkweise „allen Widerständen zum Trotz dem deutschen Volk aufzuzwingen“. Vielmehr wollte er gerade auch dessen moralische Energien für seine Zwecke mobilisieren. So viel ausgeübter oder angedrohter Terror die Politik Hitlers stets begleitete, so wenig wurde er daher müde, gleichzeitig vertretbare nationale und zumal soziale Ziele aufzurichten, die häufig an edelste Instinkte appellierten, teils freilich so Selbstverständliches besagten, daß auch der Widerstrebende, der ihren wahren Zweck erkannte, sie bejahen „mußte“ — oder allgemeiner Isolierung (und Diffamierung) ausgesetzt war. Kein „geeignetes" Vorbild, auf das er sich nicht berufen, keine bewährte Über-lieferung, der zu folgen er nicht behauptet, keine historische „Parallele“, die er sich nicht zunutze gemacht, kein nationaler (ja, sozialer) Wert, den er nicht verwertet (und damit mehr oder weniger entwertet) hätte! „Zwei“ völlig „verschiedene Wirklichkeiten" bestimmten so das Bild des öffentlichen Lebens in einer den Zeitgenossen verwirrenden Weise: die schrekkende Realität nationalsozialistischer Gewaltsamkeit — und der lockende Schein nationalsozialistischer „Opferbereitschaft“, Leistung und Ordnung. Vorübergehend, so hoffte der „Gutwillige“, der überhaupt noch dachte, würde der Terror sein — von Dauer das „Positive": allein auf „die große Linie“ kam es an, die den Aufstieg verhieß — und in den Abgrund führte. Hitlers Nahziel der organisatorischen Gleichschaltung kam die Stimmung breiter Massen in einzigartiger Weise zugute. Begeisterung ist an-stechend. Einer wachsenden Zahl erschien Hitler als „letzte Hoffnung"; sie sollte, sie durfte nicht scheitern. Seinen Anhängern galt ihr „Führer“ als die Gewähr für den Aufstieg. Schwankende riß deren Dynamik fort. Gegner waren „Böswillige“ schlechthin. Und wer konnte im Grunde ablehnen, was Hitler jetzt — etwa am 1. Mai — bombastisch (und unverbindlich) proklamierte, wer „Nein“ sagen, als er (vorerst) „nur Gleichberechtigung“ für Deutschland verlangte und sie keinem anderen streitig zu machen versprach? (17. 5.) Gestützt auf den Reichspräsidenten hatte er „zum Schutze des deutschen Volkes“ indes alsbald (4. 2.) die Meinungsfreiheit beschränkt. Und zielsicher ergriff er jede weitere Gelegenheit zur Festigung seiner Macht. So nutzte er den Brand des Reichstagsgebäudes (27. 2.) nicht nur als den „psychologisch richtigen Moment“, wie er sagte, die längst geplante und angekündigte „Abrechnung" mit den „Marxisten“ einzuleiten, sondern (mit der Verordnung des Reichspräsidenten vom 28. 2. „zum Schutze von Volk und Staat") zum tödlichen Schlag gegen die Weimarer Verfassung selbst. Denn mit der unbefristeten Aufhebung der Grundrechte schuf Hitler jenen permanenten Ausnahmezustand, auf dem seine Polizeiherrschaft — über alle Deutschen — bis zum Ende seiner Tage beruhte. Der verfassungsmäßige Schutz des Einzelnen vor staatlicher Willkür war damit gefallen, die „Gleichschaltung" der Länder, bald offiziell als solche bezeichnet (31. 3.), angebahnt.

Mit einer Art Siegesfeier des bürgerlichen Nationalismus — dem Staatsakt in der Potsdamer Garnisonkirche vom 21. März mit Hindenburg als Mittelpunkt — kaptivierte Hitler sodann seine bürgerlichen Koalitionspartner — und vor allem deren Gefolgschaft: der revolutionäre Nationalsozialismus bekannte sich zur preußischen Tradition (die er freilich auf seine Weise „fortführen" wollte). Mit diesem grandiosen Täuschungsmanöver, sowie dem vom sehen Gleichschaltung psychologisch im Grunde gesichert. Zwar hatte die NSDAP in der letzten, Jinigermaßen freien Reichstagswahl vom 5. März 1933 immer noch erst 44 Prozent der Stimmen erlangt. Doch schon dieser Erfolg war eindrucksvoll genug, so manche noch Zögernden zu gewinnen, zumal vom bürgerlichen Lager.

Erstrebte Hitler im ganzen nicht die gleichen Ziele wie sie, und steuerte seine „Bewegung“

diese nicht kraftvoller an? Bedurfte es noch der „Parteien“, in denen man bestenfalls notwendige Übel sah — wo es doch galt, die Kräfte zu konzentrieren? Und war Hitler nicht schon der Schöpfer nie zuvor erreichter Einheit? — Der Sog der „Bewegung" schien unwiderstehlich.

Den Rest besorgte der brutale (einstweilen noch „improvisierte“) Terror der Kampfverbände SA und SS, der bereits Hunderten „Andersdenkender* das Leben kostete. Aber im nationalen Gefühlsüberschwang sahen die meisten darüber hinweg, denn längst stand ja die Humanität niedrig im Kurs: „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“, meinten die einen gleichgültig, die anderen zynisch. Kurzum: „das große Überlaufen zur siegreichen Revolution ließ die Funktionäre am Ende allein“. Hatte Hitler mit der Notverordnung vom 28. Februar praktisch die Verfassung, mit dem Ermächtigungsgesetz vom 23.

März den Reichstag suspendiert, so waren nun, im Sommer 1933, sämtliche Parteien — außer seiner eigenen — beseitigt, war die Weimarer Republik in die Diktatur einer einzigen Partei verwandelt. Ihr organisatorischer Grundriß war das Schema, das sich von oben herab auf alle gesellschaftlichen Bereiche senken sollte, um eine politische Lebensgemeinschaft — statt ihrer planvoll-schöpferischen Neuordnung — zu einem lenkbaren Machtapparat abzurichten. Treffend hieß das Verfahren, das die für eine gesunde politische Willensbildung charakteristische Wechselbeziehung der Kräfte verhindern und nur mehr den Fluß des Führerwillens von oben nach unten zulassen sollte, mit einem bezeichnenden technischen Beiklang „Gleichschaltung“.

Doch damit noch nicht genug. Hitler verkündete im Juli 193 3 das Ende der Revolution, deren freier Strom nun in das „sichere Bett der Evolution“ hinüberzuleiten sei, und erläuterte dies auf dem Parteitag 1934 mit den Worten: „Revolutionen beseitigen Machtzustände! Die Evolution allein verändert Sachzustände“. Es ging ihm, wie er anschließend sagte, hinfort um die Durchsetzung seiner „besseren Lebensauffassung", nur die ideologische Gleichschaltung also, die nach der Beschaffenheit der menschlichen Natur nur ein dauernder Prozeß und niemals „vollendet" sein konnte, mithin stets vorweg auf Bildung von „Eliten“ als Kadern und Vorkämpfern der „besseren Lebensauffassung“ abzielen mußte. Der Begriff „Evolution" deckte also nur das Zeitmaß des Vorgangs, nicht dessen Wesen. Vielmehr handelte es sich bei dem, was Hitler vorschwebte, um die wirklidte — als langsamer Zersetzungsprozeß angelegte — nationalsozialistische Revolution, die den Menschen (und sein Bild vom Mitmenschen) betraf — mit dem unausgesprochenen Ziel, seine geistig-seelische Substanz zweckmäßig zu verändern. Galt nationalsozialistischem Denken doch die biologische Einheit der Nation als Endziel und sicherste Gewähr ihrer Selbstverwirklichung und damit die Ausmerzung aller fremden „rassischen"

Elemente als „Abszesse“ aus dem „Volkskörper" als der rechte Weg dorthin. Dazu (und schon für Überwachung und Verfolgung „Unabhängiger und Gegner") bedurfte es einer ausreichenden Zahl von Aktivisten, die nicht nur dem Humanitätsprinzip, sondern auch dem zumutbaren Minimum menschlicher Gesinnung und Haltung abzusagen bereit waren, wenn es der als „historische Notwendigkeit“ verbrämte Machtzweck gerade zu erfordern schien. Hitler kam es wesentlich auf diesen praktischen Effekt an, und auch Goebbels stellte — schon von seiner besonderen Aufgabe her — vornehmlich ihn heraus, wenn er (bereits 1933) sagte: „Wir wollen die Menschen so lange bearbeiten, bis sie uns verfallen sind“. Im Sinne seines Amtes schrieb Rosenberg (1936) mit schlechter Selbstironie: „Wir wollen also, anmaßend, wie wir sind, den ganzen Menschen erfassen .. .“. Und Roland Freisler erklärte in dem Prozeß gegen Graf Moltke (1944): „Eines haben das Christentum und wir Nationalsozialisten gemeinsam, und nur dies eine: Wir verlangen den ganzen Menschen". Wozu? Das braucht der „Gefolgsmann" — und stand er selbst im Range eines Freisler — nicht vorher zu wissen; das sollte er auch noch gar nicht wissen. Das zu bestimmen war Sache des „Führers“, und der wußte: wozu! Mit alledem griff der Nationalsozialismus über den normalen politischen Bereich weit hinaus, er wurde zum „Religionsersatz“ und begriff sich selbst als „politischen Glauben“. Das Unterfangen aber, den Menschen aus seinen höchsten individuellen Bindungen zu lösen, ihn im Zeichen einer verabsolutierten Idee zum verfügbaren Instrument der wechselnden Zwecke eines diktatorisch beherrschten Kollektivs zu erniedrigen — ja, schon die Übersteigerung des Führerprinzips bis zur Unterwerfung des Gewissens unter den Führerbefehl —, machte das Dritte Reich zum totalitären System.

Noch lange zeichnete sich dies für viele Zeitgenossen nur undeutlich ab. Vorerst gab es noch Bastionen rechtsstaatlicher Ordnung, auch mehr oder weniger eigenständige Institutionen, wie den Reichspräsidenten oder die Reichswehr — bei deren Gleichschaltung Hitler sich in Geduld fassen mußte; ja, es gab noch Stützpunkte wirklicher oder möglicher Opposition, zumal bürgerlich-konservativer Prägung. Für ihrer aller Über-windung und damit für die Vollendung der „Machtergreifung“ und die Entwicklung zum absoluten Führer-Regime kommt dem Blutbad vom 30. Juni 1934 wesentlich Bedeutung zu. Die Spannungen zwischen der Reichswehr und der praktisch beschäftigungslos gewordenen, politisch enttäuschen und daher unbotmäßig auftretenden SA (die nach einer Eingliederung in den neuen Staat verlangte) ließ Hitler geflissentlich „ausreifen", bis er die totale, die blutige Lösung halbwegs „plausibel" machen konnte. Ohne jedes Rechtsverfahren ließ er zahlreiche bereits schon verhaftete, also gar nicht mehr aktionsfähige SA-Führer kurzerhand erschießen und benutzte diese Gelegenheit, um gleichzeitig eine Reihe anderer — wirklicher, potentieller und vermeintlicher — politischer Gegner zu liquidieren. Zum „obersten Gerichtsherrn“ des deutschen Volkes" warf er sich selber dabei ausdrücklich auf und proklamierte damit den Führerabsolutismus. Die SS, das gefügige Werkzeug des nachträglich als „Staatsnotwehr" verbrämten Mordens, erhob Hitler nunmehr zur selbständigen — bald mit bewaffneten Regimentern ausgestatteten — Organisation, als welche sie „die Kernzelle der nationalsozialistischen Macht“ werden sollte. Und nach dem Tode Hindenburgs (2. 8. 34) ließ er mit Hilfe einer ihm ergebenen Reichswehrführung eilig und ohne sachlichen Grund eine Neuvereidigung der Truppe vornehmen—auf ihn, das nunmehrige Staatsoberhaupt, persönlich: Damit hatte er einer Periode ein Ende bereitet, in der sich die Armee als Verkörperung des Staates selbst begreifen wollte.

Zwangsläufig war Hitler inzwischen in Kampf mit den beiden christlichen Kirchen getreten. Bereits im Juni 1933 hatte einer seiner Minister anläßlich der Versuche zur Gleichschaltung der evangelischen Kirche in dieser „eine erste Zentrale des Widerstandes — auf dem Wege zur Einheit des Volkes", wie er behauptete — entdecken wollen. Eine solche Widerstandszentrale war die evangelische Kirche bislang nie gewesen; aber noch niemals hatte ja eine deutsche Staatsgewalt ein Monopol auch der geistigen und sittlichen Führung ihres Volkes beansprucht. Sein feierliches Bekenntnis vom 1. Februar 1933 zum „Christentum als Basis unserer gesamten Moral“ verleugnete Hitler zynisch. Im Zeichen einer angeblichen „Entkonfessionalisierung“ suchte er beide Kirchen planmäßig aus dem gesamten öffentlichen Leben zu verdrängen und betrieb in Wahrheit dessen „Entchristlichung". Gerade aber indem die Kirchen ihrerseits zu den spezifisch politischen Fragen keine Stellung nahmen, sondern auf dem Boden des Evangeliums verharrten, trafen ihre Manifeste den Kern der totalen Hybris des Nationalsozialismus in ihrer Mißachtung der elementaren Menschlichkeit. Nach einem vergeblichen und politisch wie psychologisch zweischneidigen Versuch, durch ein Konkordat mit Hitler diesen im Rahmen der Legalität zu halten, wandte sich die katholische Kirche ebenso wie die evangelische Bekenntnis-front mehr und mehr gegen tragende Prinzipien der nationalsozialistischen „Weltanschauung“. In der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ vom März 1937 verwahrte sich Papst Pius'XI. dagegen, daß der Nationalsozialismus „Rasse, Volk und Staat, ja die sterblichen Träger der Staats-gehalt selbst, aus der irdischen Wertskala herauslöse und sie zur höchsten Norm aller, auch der religiösen Werte“ mache. Und der damalige Kardinalstaatssekretär Pacelli konnte mit Recht feststellen, daß der Feldzug der Partei gegen die Kirchen „an Vorbilder gerade aus dem (bolschewistischen) Lager erinnere, das man zu bekämpfen erkläre. Vertreter beider christlichen Konfessionen betonten im übrigen, daß Eid und Gehorsam gegen die Obrigkeit niemals zu Handlungen oder Unterlassungen zwingen könnten, die den göttlichen Geboten zuwiderliefen. Dem Abwehrkampf der Kirchen blieben auch sichtbarer Erfolg und Breitenwirkung nicht versagt. Schließlich vertagte Hitler die geplante Abrechnung mit ihnen auf die Zeit nach dem Kriege.

Zwangsläufig kam es auch zur Auseinandersetzung Hitlers mit einer Heeresführung, welche bei aller Loyalität gegenüber dem Staatsoberhaupt an ihrer christlich-deutschen Tradition festzuhalten gedachte, überdies sich der offensiven Umgestaltung der strategischen Kriegsplanung widerstrebte. Der in normalen Zeiten bewährte Grundsatz, daß der Soldat dem politischen Tageskampf fernzubleiben habe, erwies sich als ungeeignete Verhaltensregel gegenüber einem Regime, das seinerseits über den politischen Bereich grundsätzlich hinausstrebte und auch den Soldaten am Ende ethisch entwurzeln mußte. Noch immer glaubten — der Sachlichkeit ihres Dienstes zugewandt — die meisten Offiziere ebenso wie der Großteil unseres Volkes, als „Übergriffe“ und „Auswüchse“ (zumal der „kleinen“ Hitler) betrachten zu sollen, was in Wirklichkeit wesenhafter Ausdrude eines totalitären Systems war. Der überlieferte „abstrakte“ soldatische Pflichtbegriff, der einer loyalen Haltung des Offizierkorps gegenüber Hitler Vorschub leistete, konnte daher eines Tages keine befriedigende Lösung des Gewissenskonflikts mehr bieten; denn der inhaltlichen Bestimmung jenes Pflichtbegriffs fehlte jetzt die früher als selbstverständlich vorausgesetzte sittliche Integrität. Führende Militärs, wie der Generalstabschef Beck, trugen schwer unter der wachsenden Last moralischer Mitverantwortung des Heeres für das weitere Schicksal Deutschlands. Hitler aber benutzte schließlich einen ihm von seiner Geheimen Staatspolizei gebotenen-Anlaß, den Oberbefehlshaber Generaloberst von Fritsch auf Grund infamer Verdächtigungen zu stürzen, weil er in ihm einen Faktor der Opposition erblickte. Durch die persönliche Übernahme des Oberbefehls über die Wehrmacht (4. 2. 38) konnte Hitler eine wenigstens organisatorische Gleichschaltung auch des Heeres nunmehr vollziehen. Unterdessen hatte sich in den scheinbar „normalen“ Jahren der Hitlerzeit —von 1935 bis 1937 — das Regime auf seine Weise konsolidiert. Der Parteistaat wird vollendet, die Polizei in ihrer Macht gestärkt und unter Himmler zentralisiert, das Terrorsystem der Konzentrationslager von der SS ausgebaut. Mit dem Satz „Recht ist, was dem Volke nützt“ wurde die Rechtsetzung zur Verwirklichung von Zwecken herabgewürdigt. Offen wurde bereits von maßgebender Seite erklärt, die nationalsozialistische Weltanschauung sei die Grundlage der Auslegung der Rechts-quellen, oder: „Das Recht und der Wille des Führers sind eins!“ Das deutsche Volk sollte jetzt lernen, daß es möglich war, jedes Unrecht in gesetzliche Form zu kleiden, wenn die Gerechtigkeit als unbedingter Maßstab aufgegeben war.

Es sollte aber auch die weitere Erfahrung machen, daß ein Tyrann sich weder von Anbeginn noch ständig und überall in seiner wahren Natur zeigt. Dietrich Bonhoeffer hat von der „großen Maskerade des Bösen" gesprochen, das „in der Gestalt des Lichts, der Wohltat, des geschichtlich Notwendigen, des sozialen Gerechten“ erschien und so alle unsere überkommenen Begriffe verwirrte. „Es war doch wirklich nicht alles schlecht unter Hitler“, so hört man heute noch manchmal sagen. Gewiß: „Keiner soll hungern, keiner soll frieren!" Denn jeder sollte »einsatzfähig“ und „einsatzwillig“ werden — für die Ziele des Regimes und seines Führers — und damit Material für eine dem Machtwahn verfallene Politik. Der einzelne entfaltete subjektiv völlig echten Idealismus, der totalitäre Herrscher lebte geradezu davon und konnte, wie Hitler, sich rühmen, die moralischen Energien der Nation mobilisiert zu haben — um sie für seine Zwecke zu mißbrauchen.

In der Außenpolitik dachte Hitler im Sinne eines „Realismus“, der diese Bezeichnung nicht mehr verdiente: Denn Hitler erhob die Erfahrung, daß die Macht bisweilen über das Recht triumphiert, schlechthin zum Grundsatz außenpolitischen Handelns. Verträge sind dazu da, den Partner festzulegen; selber bricht man sie jederzeit nach Belieben und momentanem Interesse. Für den politischen Kredit, den guten Ruf des Staates, von dem Friedrich der Große gesagt hat, er bedeute mehr als die Macht, hat Hitler offenbar kein Organ. Er hält sich außenpolitisch an keine Spielregel, und ein englischer Diplomat hat von Hitlers außenpolitischer Praxis einmal verzweifelt gesagt, es sei unmöglich, mit einem Menschen Schach zu spielen, der darauf bestehe, einen Springer wie einen Turm zu ziehen. Überdies tarnte Hitler zunächst geschickt seine Absichten.'In der Folge, zumal von 1936 an, spielte er dann stets mit einem Risiko, wie es die anderen scheuten, solange sie hoffen konnten, Hitler durch Zugeständnisse zu befriedigen. Erst als sie sehen mußten, daß Hitler gegen sein gegebenes Wort nach dem unblutigen Gewinn des Sudetenlandes in Prag einmarschierte, wurde er für seine Partner vertrauensunwürdig: Sie waren nun überzeugt, daß seine Gewaltpolitik keine Grenzen kannte, so daß seine nächste Aktion — gegen Polen — auf gemeinsame Abwehr stieß. Es steht fest, daß er Ausgleichsverhandlungen mit Polen sabotiert hat und daß seine späten Vorschläge an England lediglich den Zweck verfolgten dieses von Polen zu trennen. Eindeutigsten Warnungen zum Trotz hat Hitler den Krieg mit den Westmächten riskiert und so den Zweiten Weltkrieg entfesselt.

Der Krieg aber gab dem Nationalsozialismus die Möglichkeit schrecklichster Entfaltung. Im Sinne des Euthanasie-Programms sollten bestimmte Ärzte unheilbaren Kranken den Gnadentod gewähren. Aber Hitlers Geheimerlaß war verlogen, denn die nähere Auswahl der Betroffenen wurde wesentlich von der Arbeitsleistung und der Rasse abhängig gemacht. Es handelte sich in Wahrheit um Beseitigung sogenannter unnützer Esser, and man rechnete die für den Staat durch den Mord an diesen Kranken erzielte „Erparnis“ sogar zahlenmäßig aus. Immerhin ist Hitler hier vor den bekannten Einsprüchen, besonders auch von kirchlicher Seite, einmal einen Schritt zurüdegewichen und hat die Aktion eingeschränkt. In Polen befiehlt er nach dem Ende des Feldzugs am 17. Oktober 1939 die Ausrottung der führenden Schichten und läßt sie alsbald durch seine Vollzugsorgane in Angriff nehmen. Im engsten Kreise bemerkt er dazu, „daß es für die Polen nur einen Herrn geben dürfe, und das sei der Deutsche; daher seien alle Vertreter der polnischen Intelligenz umzubringen. Dies klinge hart, aber es sei nun einmal das Lebensgesetz.“ Um es zu erfüllen, will der Generalgouverneur Frank den Erschießungskommandos die Hemmungen nehmen, indem er ihnen bescheinigt, daß sie einen „Richtspruch der deutschen Nation“ vollziehen!

In noch höherem Maße kommt dieser von Nationalsozialismus und biologischem Denken bestimmte Geist in der Verfolgung der Juden zum Ausdruck. Von 193 3 an werden sie diffamiert, terrorisiert und durch eine Unzahl von Ausnahmegesetzen gequält, bis Hitler 1941 ihre Ausrottung befiehlt. Von besonderen Einsatzgruppen durch Erschießen, in einer Reihe von Vernichtungslagern auf polnischem Boden durch Gas, ist dieser Mordbefehl planvoll und systematisch ausgeführt worden. In dem zum Symbol gewordenen größten Vernichtungslager Auschwitz wurden bis zu 9000 Menschen am Tage getötet. Auch hier genügt der Führerbefehl. Wie hätte es ausbleiben können, daß das, was ein totalitärer Staat und sein dämonischer Beherrscher hier verübten, bei seinen deutschen Gegnern Reaktionen horvorrief, die an Ungewöhnlichkeit und Tiefe dem unerhörten Verbrechen entsprachen und bis zum totalen Widerstand reichten! Wenn schon Naturen wie der Kommandant von Auschwitz gestehen muß, daß an ihnen geheime Zweifel nagten, als sie den Mordbefehlen Hitlers nachkamen, was mußte dann für andere gelten, die sich nicht so aller Menschlichkeit entfremdet hatten! Die Zahl derer wuchs, die sich schämten, Deutsche zu sein, weil sie sich mitverantwortlich fühlten für das, was im deutschen Namen geschah. Männer und Frauen unterschiedlicher Lebenskreise, Konfessionen und politischer Richtungen, einig aber in der Wahrung elementarer Menschlichkeit, fanden sich zusammen und sannen auf eine Tat, wie sie dann in jenem Versuch einer Erhebung gegen Hitler vom 20. Juli Ausdruck fand. Jedoch, weshalb kam dies so spät? Eine Antwort hierauf, die nichts entschuldigen will, muß lauten: Erklärte Gegner Hitlers von Anbeginn, entschiedene Demokraten oder Kommunisten, waren für dieses Regime und seine Polizei zumeist so leicht erkennbar, daß sie unschwer ausgeschaltet werden konnten. Von ihnen erhielten sich nur kleinste Einheiten ohne Macht und rechten Ansatzpunkt zu erfolgreicher Aktion. Zu Massenaufständen konnte es in diesem Staat schon gar nicht kommen. Andere Gruppen, unter denen sich auch Träger effektiver Macht befanden, mußten daher zum Widerstand stoßen. Und jeder Widerstand gegen Hitler hatte mit der Tatsache zu kämpfen, daß er sich gegen die eigene Regjerung richten mußte, nicht gegen den Landesfeind, wie in Frankreich oder anderen besetzten Gebieten. Er hatte sich ferner gegen ein Regime zu wenden, das auf Grund seiner Erfolge bis zu gewissem Grade populär wurde und das schließlich im Kriege die nationale Solidarität für sich geltend machen konnte. Deshalb mußte jede Aktionsgruppe einen psychologischen Moment abwarten, der ihr Handeln einer breiteren Öffentlichkeit verständlich machen würde. Zunächst einmal aber mußten sich Angehörige jener bürgerlichen Kreise, die für eine Aktion in Frage kamen, von ihren nationalen Befangenheiten lösen, die sie einst zu Anhängern Hitlers gemacht hatten. Manchem öffnete da der Abwehrkampf der Kirchen, den Hitler als Feind des Christentums beiden christlichen Konfessionen aufzwang, die Augen dafür, daß der Nationalsozialismus sich auch das Gewissen des Menschen unterwerfen wollte. Diese Klärung war um so wichtiger, als jene bürgerlichen Gruppen manche ihnen vertrauten obrigkeitsstaatlichen Bindungen überwinden mußten, zumal wenn sie Beamte waren. Und für eine Armee galt nun normalerweise erst recht der Grundsatz, daß sie das gehorsame Instrument ihrer Staatsführung ist. So wurde es dem Soldaten schwerer als anderen, sich dem Widerstand anzuschließen. Ich spreche von denen, welche nach schwersten Gewissenskonflikten die große Ausnahme von der Regel, die Grenzsituation, erkannten, in der die wahre Rangordnung der Werte offenbar wird. So rangen sie sich, um mit Dietrich Bonhoeffer zu sprechen, jetzt zur freien, verantwortlichen Tat auch gegen Beruf und Auftrag durch, ohne sich zu verhehlen, daß sie im ethischen Zwielicht handelten und daher auf die Gnade Gottes angewiesen blieben. Durch ihre Erhebung gegen Hitler haben sie den militärischen Gehorsam nicht erschüttert, sondern ihm seinen wahren Sinn zurückgegeben. Ich rede von Ludwig Bede, der als Generalstabschef des Heeres denkwürdige Worte über die Grenze fand, die das Gewissen einem verbrecherischen Befehl setzt. Ich rede von einem Grafen Yorck, der das entscheidende Wort über den Nationalsozialismus sprach, wenn er den Totalitätsanspruch des Hitlerstaates verurteilte, der die Verpflichtungen des Staatsbürgers gegen Gott aufzuheben sich erdreiste. Und es macht die seelische Größe der Beck, Goerdeler, Leuschner, Leber Stauffenberg, Delp und Bonhoeffer aus, daß sie schließlich auch ohne Hoffnung auf günstige Friedensbedingungen, allein schon um der moralischen Rehabilitierung Deutschlands willen, gegen Hitler sich erhoben; denn es kam im Sinne des großen Wortes von Tresckow vor allem darauf an, „daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf" gewagt hatte.

So berührt der Fehlschlag des 20. Juli nicht dessen letzten Sinn: ein Zeichen des Protestes aufzurichten gegen ein unmenschliches System und Zeugnis abzulegen für ein „anderes Deutschland". Hitler freilich gewann die Möglichkeit, den sinnlosen Kampf bis zur totalen Katastrophe fortzuführen. Noch erlebte er den Triumph, auch das — zusammenbrechende — Heer dem Totalitätsanspruch seines Systems zu unterwerfen: mit zynischer Offenheit bezeichneten die Gehilfen Martin Bormanns die einst so gefürchtete Armee jetzt — konsequent im Sinne ihres Anspruchs — als „Funktionsträgerin der Partei 1" — Im Zeichen einer verabsolutierten Idee der Nation war Hitler angetreten. Seitdem hatte er alle Macht auf sich konzentriert, alle nationalen Werte auf sich bezogen, alle Loyalitäten für sich in Anspruch genommen — und sich selbst an die Stelle der Nation gesetzt, auf Kosten ihrer von seiner Person in Wahrheit unabhängigen Interessen. „Adolf Hitler ist Deutschland, Deutschland ist Adolf Hitler!“ hatten seine Anhänger einst proklamiert. Jetzt erhielten ihre Worte eine furchtbare Bestätigung. Hitler war faktisch „Deutschland" geworden, aber Deutschland war — auch für ihn — nur mehr „Adolf Hitler": Mochte es also mit ihm zugrunde gehen! Vor drei Jahren schon hatte er erklärt: „Ich vin auch hier eiskalt; wenn das deutsche Volk nicht bereit ist, sich für seine Selbsterhaltung einzusetzen, gut, dann soll es verschwinden!“ Und später zu dem SS-Führer Schellenberg: „Dann soll es krepieren, denn die Besten dieses Volkes werden dann im Kampf gefallen sein, und der Rest soll dann dem biologisdi Stärkeren Platz machen. Versagt es, dann wird das Ende für Deutschland grausam werden, so wie es es sich verdient hat.“ Und zu Speer — auf dessen Protest gegen Hitlers „Verbrannte-Erde-Befehl": Es sei nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das Volk zum Weiterleben brauche, Rücksicht zu nehmen; das deutsche Volk habe sich eben als das schwächere erwiesen, und dem stärkeren Ostvolk gehöre ausschließlich die Zukunft. Das war von der vielberufenen Volksverbundenheit des „Führers“ übriggeblieben, als ihn sein Glück verlassen hatte, desselben Führers, der am 27. August 1939 vor seinen Funktionären erklärt hatte: „Wenn einer glaubt, daß ich nicht nur aus Liebe zu Deutschland handle, gebe ich ihm das Recht, mich niederzuschießen.“

Im übrigen war er, Hitler, an der Katastrophe nicht schuld: Das „Lebensgesetz“ hatte entschieden; seine Theorien waren richtig gewesen, nur sein Baustoff schlecht, das ihm verfügbare „Menschenmaterial" untauglich. Lediglich über die Russen — denen er „keinen solchen inneren Wert“ beigemessen hatte, daß ihre „Zahl zu einer Gefahr für die Freiheit der Welt werden könnte" (I), schien er seine Meinung revidiert zu haben. Wie dem auch sei, im ganzen war Hitler’s Natur keiner Einsicht fähig. Ausmaß und Folgen seiner verbrecherischen Utopie stempeln ihn zu einem grandiosen Herostraten: Träfe das deutsche Volk keine historische Mitschuld an Hitler’s Aufstieg und Wirken, dürfte er in der Tat als eine „monströse Absurdität"

unserer Geschichte gelten. Da es sich jedoch anders verhält, hat das deutsche Volk Grund, mit sich darüber zu Rate zu gehen, was Realpolitik wirklich ist bzw. was zu den Realitäten der Politik gehört.

Eine Rückschau auf den deutschen Weg der Katastrophe von 1945 im Geiste redlicher Rechenschaft muß uns mehr bedeuten als eine bloße Bereicherung unseres Wissens. Denn sie bietet uns Möglichkeiten einer Orientierung über die Grundlagen unserer Gegenwart — mit den Aufgaben, die sie uns stellt, aber auch Fingerzeige für deren Lösung. Im Lichte eines Denkens und Handelns, das wir als verfehlt erkannten, kann dieser Weg kaum anders als zwangsläufig ersd'ieinen. Dennoch gab es Weg-scheiden,an denen eine Wendung zum Bessern denkbar ist. Es hätte wesentlich anders kommen können — das darf wohl selbst der Historiker sagen —, hätten wir die Lehren von 1918 erkannt und anerkannt. Damals wie heute gilt; Eine Versperrung gegen die Wirklichkeit, der Versuch einer Selbstrechtfertigung in Trotz oder in Sentimentalität, ist nicht nur ein Fehler, es ist Schuld. Und eine Erkenntnis drängt sich uns auf: Ein gesundes Verhältnis von Politik und Moral fällt nicht in den Bereich der Illusionen, sondern der Realität. Gewaltpolitik nach außen und Verlust der Freiheit im Innern bedingen sich gegenseitig. Das mögen auch Anhänger einer „perfekten" inneren Ordnung bedenken, deren Kehrseite in aller Regel darin besteht, daß die Staatsführung selber dem Ordnungsprinzip sich entzieht. Die Hitlerzeit hat uns gezeigt, wohin es führt, wenn das Gefühl dafür schwindet, daß ein Grundbestand fundamentaler Rechtssätze gewahrt bleiben muß.

Das Schicksal der Weimarer Republik aber mahnt Regierungs-und Oppositionsparteien, über alle Gegensätze des Tages hinweg sich das Bewußtsein zu bewahren, daß sie nur verschiedene Flügel desselben Hauses bewohnen, das sie gegen Feinde der Freiheit gemeinsam verteidigen müssen. Mißtrauen wir einer sogenannten unpolitischen Haltung, die praktisch auf ein Ausweichen vor der staatsbürgerlichen Mitverantwortung hinausläuft. Nach den denkwürdigen Worten der Münchener Widerstandsgruppe „Weiße Rose" lauern die Dämonen auf die Stunde, „da der Mensch schwach wird und seine ihm von Gott auf Freiheit gegründete Stellung eigenmächtig verläßt und nach dem ersten, freiwilligen Schritt zum zweiten und dritten mit rasender Geschwindigkeit getrieben wird".

Eine der leuchtendsten Gestalten des deutschen Widerstandes aber, Graf Moltke, zog die entscheidende Folgerung aus dem Geschehen der Hitlerzeit mit seinem Ausspruch, es gehe um die Wiederaufrichtung des Menschenbildes im Herzen unserer Mitbürger. Wir können uns von jenem Geschehen ohne innere Auseinandersetzung mit ihm nicht lösen, können aber durch redliches Fragen innere Freiheit und sittliche Orientierung wiedergewinnen. Das ist auch der Sinn eines Wortes, das ich leicht abwandle und das von einem großen Historiker und Patrioten stammt, der in Berlin gelehrt und gelebt hat, Friedrich Meinecke: „Ein unverstandenes Unglück macht uns vollends unglücklich, ein verstandenes Unglück aber gibt uns mit der Klärung des Geistes und der Reinigung des Gewissens auch die Festigkeit des Handelns zurück.“

Fussnoten

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Anmerkung: Dr. Helmut Krausnick, geb. 19. 2. 1905 in Wenden, Kreis Braunschweig, Leiter des Instituts für Zeit-geschichte, München.